Zum Forschungsbegriff in der Psychoanalyse
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Zum Forschungsbegriff in der Psychoanalyse
Vortrag vor dem WAP, 23.10.2012 Zum Forschungsbegriff in der Psychoanalyse Fritz Lackinger Einleitung Ich möchte mit meinem heutigen Vortrag zu einer Auseinandersetzung beitragen, die in der Psychoanalyse seit langem, ja eigentlich von Beginn an, tobt, die uns im Wiener Arbeitskreis aber bisher meiner Meinung nach weniger beschäftigt hat als notwendig wäre. Die Entscheidung der WGKK, Psychoanalyse nicht mehr zu refundieren oder zu bezuschussen, kann – trotz ihrer halbherzigen Rücknahme - als Ausdruck einer mangelnden Rechtfertigung der Psychoanalyse in den Augen bestimmter Institutionen und v.a. Geldgeber betrachtet werden. Sie ist ein aktueller Anlass, aber keineswegs der tiefere Grund für mein Anliegen, sich mehr mit Forschung zu beschäftigen. Die Frage der Forschung in der Psychoanalyse hat zahlreiche Verästelungen und es wäre anmaßend zu meinen, man könnte das Thema in einem einzigen Vortrag auch nur annähernd angemessen behandeln. Forschung hat aber jedenfalls mit dem Wahrheitsanspruch zu tun, den eine bestimmte Lehre wie die Psychoanalyse, stellt. In einer ersten Annäherung an mein heutiges Thema könnte man vielleicht sagen, psychoanalytische Forschung bezeichne all jene Aktivitäten, die auf die Entdeckung und die Begründung jener Aussagen gerichtet sind, aus denen unsere Lehre, eben die Psychoanalyse, besteht. Das ist wie gesagt ein unendlich weites Feld. Ich beschränke mich auf drei Aspekte, die mir persönlich vorrangig erscheinen, und ich meine, dass diese Aspekte zu praktischen Fragen für den Arbeitskreis führen, in deren Zusammenhang ich auch konkrete Vorschläge machen möchte. Ich sage bestimmt niemandem etwas Neues, wenn ich darauf hinweise, wie hoch Forschungsfragen in der Psychoanalyse emotional besetzt sind, und d.h., wie sehr sie mit Unsicherheiten in unserem persönlich-professionellen 1 Selbstverständnis und mit unseren Ängsten vor einem Nichtgenügen gegenüber unseren Idealvorstellungen zusammenhängen. Ist den einen das Freudsche Junktim von Forschen und Heilen der einzig legitime Ansatz in der psychoanalytischen Erkenntnisgewinnung und jede Form von quantitativer Forschung nichts als eine gefährliche Identifikation mit den Aggressoren des „Freud bashing“, so ist ebendiese empirische Forschung für andere der Königsweg für ein Überleben der Psychoanalyse in Zeiten der evidenzbasierten Medizin und das Festhalten an der klassischen Novellenform der EinzelfallStudie nur eine gefährliche romantische Illusion, die den Weg in den Untergang begleitet. Man kann die damit zusammenhängenden Emotionen nicht vermeiden, wenn man Forschung betreiben will, wir können nur versuchen, sie wahrzunehmen und so weit wie möglich zu reflektieren, was sie jeweils abzuwehren versuchen. Marianne Leuzinger-Bohleber (2007) hat die These aufgestellt, dass es auf beiden Seiten dieser Kontroverse um eine unbewusste Abwehrhaltung gegen Offenheit, Nicht-Wissen und Unsicherheit geht. Denn sowohl der empirische Forscher, der sich im Besitz einer unangreifbaren, wissenschaftlichen Forschungsmethodologie wähnt als auch der klinische Psychoanalytiker, der seinen subjektiven Reflexionen und Kohärenzgefühlen unmittelbare Evidenz und direkten Zugang zu den Interaktionen von unbewusst zu unbewusst zutraut, beide also wiegen sich mitunter in falschen Sicherheiten, ahnen das unbewusst und projizieren die eigene Abwehr dagegen auf den jeweiligen Gegner. Wir sind auch heute nicht davor gefeit, in solche projektive Grabenkämpfe zu verfallen. Uns die Gefahr bewusst zu machen, ist aber wohl das beste Mittel, um sich dagegen zu schützen. Die drei Aspekte, die ich aufgreifen möchte, sind: a. Kurze philosophische Vorbemerkungen zur Frage des Gegenstandes psychoanalytischer Forschung b. Ist die psychoanalytische Einzelfall-Forschung ausreichend für die Begründung von Deutungen und Theorien? c. Welche Rolle spielt die außer-klinische Forschung für die Psychoanalyse? Ist sie notwendig und wenn ja, wofür? 2 Zur Debatte um Gegenstand und Methode der psychoanalytischen Forschung Dass der zentrale Gegenstand psychoanalytischer Forschung das menschliche Unbewusste ist, ist vermutlich weitgehend unumstritten. Das Unbewusste zeigt sich dem Psychoanalytiker in der Begegnung mit seinen Patienten und Patientinnen, allerdings niemals unmittelbar, sondern als je individuelles psychodynamisches Geschehen in seinen Auswirkungen auf körperliche Funktionen, emotionale Zustände und kognitive Prozesse, und zwar sowohl beim Patienten als auch beim Analytiker selbst. Die interaktive Inszenierung des Unbewussten ist eines seiner wesentlichen Merkmale. Wenn also das Unbewusste das Zentrum der psychoanalytischen Forschung ist, dann ranken sich darum die vielfachen Wirkungen desselben auf den Körper, das Vorbewusste und das Bewusstsein der an einer Szene Beteiligten. Die Forschung muss von diesen ausgehen, weil sie das Unbewusste niemals direkt zu fassen kriegen kann. So weit so klar. Es stellt sich nun aber die Frage, was das Unbewusste nun eigentlich, gewissermaßen seiner Substanz nach ist. Ist es ein Gegenstand oder eine Kraft, die real existiert, auch wenn sie nicht direkt beobachtbar ist? Die Unbeobachtbarkeit des Unbewussten schließt einen rein positivistischen Standpunkt schon einmal aus, denn für den Positivismus ist das Beobachtbare mit dem Realen identisch. Allerdings gibt es natürlich auch in der Naturwissenschaft zahlreiche Kräfte und Mechanismen, die nur aus ihren Wirkungen erschlossen werden können, wie z.B. die Gravitation, von der man auch bis heute nicht weiß, was sie eigentlich ist, die aber jeder in seinen Auswirkungen spürt. Oder man könnte noch etwas vagere Beispiele aus der Physik wählen, wie etwa die dunkle Materie, die noch nie jemand gesehen hat und deren Existenz nur daraus geschlossen wird, dass wir sonst nicht verstehen könnten, was die Galaxien im Innersten zusammenhält. Um es kurz zu machen, man könnte einen Standpunkt einnehmen, den man unbedingten Naturalismus nennen könnte, und der besagt, dass das Unbewusste der Psychoanalyse eine Konstellation von Kräften ist, die auf ähnliche Weise real sind wie viele Kräfte in der nicht-menschlichen Natur und die unabhängig davon existieren, ob sie beobachtet werden oder nicht. Man könnte dann sagen, dass die Erforschung des Unbewussten ähnlich vorgehen 3 müsste wie die Naturwissenschaft obwohl das Unbewusste ein rein menschliches Phänomen ist. Das eben soll die Bezeichnung unbedingter Naturalismus ausdrücken. Sie alle wissen, dass dieser Standpunkt, den man vielleicht aus einigen Begründungen Freuds zur Metapsychologie herauslesen konnte und der bis zu einem gewissen Grade in der ersten Zeit nach Freud noch verbreitet war, von der Psychoanalyse im Großen und Ganzen aufgegeben worden ist. Einige Wissenschaftstheoretiker, u.a. Karl Popper, hatten die Psychoanalyse als unwissenschaftlich bezeichnet, indem sie nachwiesen, dass sie nicht so funktioniert wie die Physik. Dieser Vorwurf kann heute leicht als verfehlt abgetan werden, nachdem sich das Selbstverständnis der Psychoanalyse weg vom Vorbild der Naturwissenschaften und hin zu Vorbildern in den Geisteswissenschaft gewandelt hat. Seit den 1960er Jahren herrscht in der Psychoanalyse ein hermeneutisches Selbstverständnis vor. Dadurch haben sich auch die Vorstellungen dessen, was das Unbewusste seiner Substanz nach ist, dramatisch verändert. In der Hermeneutik geht es nicht um physikalisch reale Gegenstände und auch nicht um Kausalitäten im Sinne des naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Prinzips. Da der Gegenstand der Untersuchung nun subjektive Sinngestalten, Narrative oder – mehr poststrukturalistisch ausdrückt – linguistische Phänomene und Diskurse sind, geht es auch nicht mehr darum, das Unbewusste als Ursache von irgendwelchen Wirkungen im Körper oder im Vorbewussten zu entschlüsseln, sondern es geht um die Bedeutung unbewusster Konflikte für das Subjekt. Kleine Bemerkung am Rande: Man kann sagen, dass die philosophische Richtung der Hermeneutik die Naturhaftigkeit des Ubw mehr von der Seite der subjektiven Einfühlung und damit der Emotionen her aufzulösen versuchte, während der Strukturalismus und auch der Poststrukturalismus die soziale Konstruktion und die Bedeutung der linguistischen Diskurse an die Stelle der Natur setzte. Ich denke, dass der Wechsel von der naturwissenschaftlichen zur hermeneutischen und strukturalistischen Konzeption der Psychoanalyse tatsächlich etwas Wichtiges klärte und falsche Vereinfachungen auflösen konnte, nämlich dass das Unbewusste tatsächlich kein reiner Naturgegenstand, sondern ein wesentlich zwischenmenschlich und – man könnte sagen – 4 gesellschaftlich bedingtes Phänomen ist. Das hat wichtige Auswirkungen auf die Forschungsstrategien, denn sozial bedingte Phänomene können – im Unterschied zu physikalischen Prozessen – kaum jemals als geschlossene Systeme isoliert und in Experimenten untersucht werden. Die vorherrschende Forschungsmethodologie muss daher eine andere sein. Andererseits haben Hermeneutik und Strukturalismus die Psychoanalyse auch in neue Schwierigkeiten gebracht: - Wie soll festgestellt werden, ob eine psychoanalytische Deutung, geschweige denn eine psychoanalytische Theorie richtig ist? Da es weder im hermeneutischen noch im post-strukturalistischen Denken ein Wahrheitskriterium im Sinne einer Übereinstimmung mit einer objektiven Wirklichkeit mehr gibt, bleibt als Wahrheitskriterium nur die sogenannte „narrative“ oder „diskursive Kohärenz“. Wahrheit kann nur als Kohärenz bestimmter symbolischer Muster oder Diskursakte verstanden werden kann. Im Kontext der Kohärenzztheorie gibt es mehr als eine richtige Beschreibung der Welt. Alle kohärenten Diskurse haben den gleichen Anspruch, als wahr anerkannt zu werden. - Für die Psychoanalyse brachte dies das Problem mit sich, dass es zusehends mehr theoretische Modelle gab, die im Sinne von Metanarrativen ihre interne Kohärenz nachweisen konnten, und deren jeweiliger Wahrheitsanspruch grundsätzlich unentscheidbar ist. Aber damit ist das Problem keineswegs vollständig beschrieben, denn andere nicht-analytische Konzepte in der Psychotherapie konnten das gleiche von sich behaupten. Auch ihre Interpretationen von Fallgeschichten waren in ihrem eigenen (jungianischen, adlerianischen, rogerianischen etc.) System kohärent und damit genauso „wahr“ wie eine psychoanalytische Lesart der gleichen Fallgeschichten. - Als die empirische Psychotherapieforschung aufzeigte, dass diese nichtanalytischen Therapieformen ebenfalls therapeutisch wirksam waren, konnte jede Richtung ihren hermeneutischen Wahrheitsanspruch auch noch dadurch untermauern, dass sie ihre pragmatische Nützlichkeit demonstrierte. Angesichts der Probleme beider traditioneller Positionen möchte ich hier eine dritte Position einbringen, jene des bedingten, kritischen, nichtreduktionistischen Naturalismus. Das ist eine Richtung in der Philosophie, die 5 seit den 1970er in der englisch-sprachigen Welt entstanden ist, und die sich meiner Meinung nach gut für die Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme der Psychoanalyse eignet: Die Sozialwissenschaften sind demnach von den Naturwissenschaften zwar relativ zu unterscheiden, grundsätzlich können sie aber ebenfalls realitätsbezogene Wissenschaften wie die Naturwissenschaften sein. Beide handeln von Realitäten, die zumindest zum Teil unabhängig von den Überzeugungen und dem Wissen der Forscher sind. Dort wo es um symbolisch und narrativ verfasste Subjektpositionen geht, interessiert sich kritischnaturalistische Sozialwissenschaft zwar – wie die Hermeneutik – für deren innere Kohärenz und Stimmigkeit, sie interessiert sich aber immer zugleich auch für deren Korrespondenz mit äußeren Realitäten. In der psychoanalytischen Forschung werden – wie in den Naturwissenschaften – Muster von Ereignissen beobachtet, die nicht-zufällig sind und nach Erklärungen verlangen. Psychoanalytische Deutungen, Konzepte und Modelle bieten solche Erklärungen auf verschiedenen Abstraktionsebenen an. Diese können mehr oder weniger richtig oder eben falsch sein, und dieser Wahrheitsgehalt kann grundsätzlich auch empirisch geprüft werden. Die Prüfungen nehmen allerdings im Vergleich zum Experiment in der Physik oder in der Chemie andere Formen an. Die hermeneutische Position wird – wie gesagt – oft mit dem Argument untermauert, dass die subjektiven Gründe für Verhalten oder für psychische Zustände keine Ursachen im kausalen Sinne seien. Dieses Argument ist meiner Meinung nach falsch und ich kann mich dabei auf wichtige zeitgenössische Philosophen berufen, etwa auf Donald Davidson, der die Fehler in dieser Argumentation aufzeigte. In der Regel sind subjektive Gründe allerdings nicht die einzigen ursächlichen Faktoren, die z.B. ein bestimmtes Symptom oder einen Traum hervorrufen. Freud hatte schon mit seinem Begriff der kausalen Ergänzungsreihe das Zusammenwirken von körperlicher Heredität, unbewusster Disposition als Folge bestimmter Kindheitserlebnisse und aktuellem Anlass benannt. Aber subjektive Gründe sind sehr wohl ursächlich wirksam und entscheiden kausal mit, welche psychischen Zustände und Verhaltensweisen auftreten. Sie brauchen in keiner Weise realistische Abbilder der Wirklichkeit zu sein und sind dies in Regel auch nicht. Aber auch als 6 Verzerrungen der Wirklichkeit sind sie wirksam, und deshalb ist es ja häufig das Ziel der Psychoanalyse, den Bezug des Patienten zur Realität zur verbessern. In analoger Weise geht der kritische Naturalismus davon aus, dass es möglich ist, zwischen besseren und schlechteren Theorien zu unterscheiden, wobei es natürlich niemals eine endgültige oder vollständige Wahrheit geben kann. Der rationale Vergleich von alternativen Theorien in Bezug auf ihre jeweilige Erklärungskraft von bestimmten sozialen oder psychologischen Phänomenen entspricht forschungslogisch dem Experiment in der Naturwissenschaft. Was heißt dies für die psychoanalytische Forschung? Die Innenwelt von Menschen kann zunächst nicht anders als in Form subjektiv gefärbter Narrative erfasst werden. In einem zweiten Schritt wird versucht, zwischen widersprüchlichen Narrativen oder widersprüchlichen Aspekten von Narrativen durch Konzeptualisierung von abstrakteren und tieferen Ebenen zunehmend mehr innere Kohärenz herzustellen. Die Herstellung von interner Kohärenz wäre also der zweite Schritt. Soweit ist das methodische Vorgehen noch ganz mit dem hermeneutischen identisch. Allerdings stoppt das kritisch-naturalistische Vorgehen hier nicht. Die abstrakteren Konzepte sind nun gegen alternative Erklärungsansätze abzuwägen bzw. mit ihnen zu vergleichen, um ihre jeweilige Erklärungskraft abzuschätzen. Und hierfür ist auch die von Strenger (1991) sogenannte externe Kohärenz der entwickelten theoretischen Konzepte bzw. Metanarrative zu überprüfen. Also: Wie weit stehen sie mit den Befunden von Nachbardisziplinen in Übereinstimmung oder im Widerspruch? Z.B. mit Befunden der empirischen Säuglings- und Bindungsforschung oder auch jenen der Neurowissenschaft. Aber auch die Abklärung der externen Kohärenz ist noch nicht alles: Es folgt eine weitere Überlegung: Kann durch die Zusammenfassung mehrerer oder vieler Fälle, die bestimmte Voraussetzungen, z.B. eine bestimmte psychische Struktur, eine bestimmte Psychopathologie, teilen, die Verallgemeinerung von Schlüssen aus dem Einzelfall, besser begründet werden? Dort, wo dies der Fall ist, sollte in der Psychoanalyse auch Forschung jenseits der analytischen Situation betrieben werden. Darauf komme ich im letzten Abschnitt meines Vortrages zurück, jetzt möchte zuerst auf die Aufgaben und Probleme der klinischen psychoanalytischen Forschung eingehen. 7 Zur Methodologie der psychoanalytischen Einzelfallstudie Freuds Hinweis, dass der Analytiker nicht heilen kann, ohne auf neue Erkenntnisse zu stoßen, und dass er zugleich nicht erfolgreich forschen kann ohne die heilsamen Folgen seiner Erkenntnisse zu bemerken, beschreibt die Situation des arbeitenden Analytikers. Dieses sogenannte Junktim von Heilen und Forschen wurde mitunter so ausgelegt, dass die Psychoanalyse ausschließlich diese klinische Art des Forschens benötigen würde. Freud hat sich bekanntlich nicht daran gehalten, ausschließlich aus den klinischen Erfahrungen mit seinen PatientInnen zu lernen bzw. die psychoanalytische Theorie ausschließlich auf die klinische Erfahrung aufzubauen. Er hat sehr häufig auf nicht-klinische Beobachtungen und v.a. auf Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften zurück gegriffen, um bestimmte theoretische Schlüsse zu rechtfertigen. Aber dennoch bleibt unbestritten, dass die klassische psychoanalytische Methode der Begründung von theoretischen Überlegungen deren Stützung auf die klinische Erfahrung ist. Soll diese Stützung deutlich gemacht werden, dient die psychoanalytische Fallnovelle als übliches Format. Der Begriff Fallnovelle greift auf Freuds Verwunderung zurück, dass sich seine Fallstudien häufig wie Novellen lesen. Es hat sich als der klinischen psychoanalytischen Forschung angemessen erwiesen, die Subjektivität nicht nur des Patienten sondern auch des Analytikers in die Falldarstellung einfließen zu lassen. Seit den 1970er Jahren wurde allerdings teilweise auch heftige Kritik an der Einzelfallstudie als primäres Erkenntnisinstrument der Psychoanalyse geübt. Die Hauptzweifel betreffen die Fragen, a) inwieweit das klinische Material von suggestiven Einflüssen ausreichend frei sein kann bzw. wie man mit dem suggestiven Einfluss umgehen kann, wenn man die Triftigkeit einer psychoanalytischen Deutung untersuchen will. Wir alle kennen den Umstand, dass bestimmte, wenn nicht alle Patienten unbewusst den Erwartungen des Analytikers entsprechen wollen. Freud sprach von Gefälligkeitsträumen. Dementsprechend haben bekanntlich die Träume von Patienten bei Freudianischen Analytikern viele typisch Freudianische Merkmale, im Unterschied zu Patienten von jungianischen Analytikern, die eher jungianisch träumen. 8 b) inwieweit die Selektivität des Analytikers bei der Auswahl des Materials, das er zur Deutung heranzieht, reflektiert werden kann bzw. ob es nicht unvermeidlich ist, dass die dem Analytiker bewusst und unbewusst naheliegenden Deutungen in seiner Datenauswahl und der Darstellung des Materials bevorzugt werden, sodass alternative Hypothesen eigentlich nicht ernsthaft geprüft werden können. c) inwieweit durch die Unzugänglichkeit des Materials für außenstehende Forscher eine intersubjektive Überprüfung der entwickelten Deutungen und klinischen Konzepte unmöglich ist. Wissenschaftstheoretiker nennen das die Kontamination der Daten in der Psychoanalyse. Adolf Grünbaum, der Wissenschaftstheoretiker, der sich Mitte der 1980er Jahre skeptisch mit der psychoanalytischen Methode auseinandergesetzt hat, bestreitet wegen der Daten-Kontamination prinzipiell die Möglichkeit, das durch die freie Assoziation von Patienten produzierte Material zur Belegung analytische Deutungen, geschweige denn analytischer Theorien verwenden zu können. Dem Argument von Seiten zahlreicher Analytiker, dass richtige Deutungen für den Analytiker spürbar andere Reaktionen auslösen als falsche, dass sie bspw. zu neuen, tiefer gehenden Einfällen führen, die Übertragungsbeziehung vertiefen oder paranoide Ängste lindern, wird entgegen gehalten, dass alle diese Phänomene auch andere Gründe als die Richtigkeit der eben gegebenen Deutung haben können. Letztlich kann die Möglichkeit, dass neuerlich suggestive Faktoren wie z.B. unbewusste Gefälligkeitswünsche eine Rolle spielen, nie ausgeschlossen werden. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es entgegen Grünbaums Annahme doch eine Reihe guter Gründe gibt, anzunehmen, dass die analytische Situation in einem bestimmten Ausmaß das Überprüfen von analytischen Deutungen ermöglicht. Das bedeutet nicht, dass wir das auch immer oder auch nur meistens tun, aber es bedeutet, dass es unter bestimmten, näher zu bestimmenden Voraussetzungen möglich ist. Das Verständnis des einzelnen Falles entfaltet sich bekanntlich nicht ausschließlich aus dem klinischen Material eben dieses Falles, sondern hängt immer auch mit einem psychoanalytischen Rahmenverständnis zusammen, das in den verschiedenen theoretischen Modellen der Psychoanalyse konzentriert ist. Meine Meinung ist, dass diese Rahmenmodelle nicht ausschließlich aus dem analytischen Material 9 von Einzelanalysen entwickelbar oder dort ausreichend überprüfbar sind. Auf diesen Punkt komme ich im nächsten Abschnitt noch einmal zurück. Ich möchte jetzt kurz zusammenfassen, wie man den Erkenntnisgewinn in der analytischen Situation konzeptualisieren kann, um dann daraus abzuleiten, welche Voraussetzungen für eine wissenschaftlich plausible Einzelfallstudie gegeben sein müssen. Ich lehne mich dabei an Vorstellungen an, die von Ulrich Moser, Marianne Leuzinger-Bohleber und Carlo Strenger vertreten worden sind. Klinische Forschung ist demzufolge abhängig von einer forschenden Grundhaltung des Analytikers, der sich auf einen zirkulären, durch folgende Momente bestimmten Prozess einlässt: i. Haltung und Kompetenz des Analytikers Das psychoanalytische Setting ermöglicht einen einmaligen Erkenntnisprozess, der auf persönliche Einmaligkeit und unbewusste Tiefendimension gerichtet ist. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers ist Ausdruck seines geschulten Sensoriums, mit dem er versucht unbewusste Botschaften des Analysanden aber auch aus seinem eigenen Inneren wahrzunehmen. Der Analytiker wendet dabei keine außernatürlichen Kräfte oder Fähigkeiten an, seine Kompetenzen bestehen lediglich in den durch Training verfeinerten allgemein-menschlichen Fähigkeiten zur Einfühlung in andere und zur Schlussfolgerung von äußeren Beobachtungen auf innere Zustände. Die dabei gemachten Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen dienen zunächst der Hypothesengenerierung in Bezug auf die aktualisierte unbewusste Psychodynamik des Analysanden. Idealerweise verbindet sich die gleichschwebende Aufmerksamkeit mit der erwähnten forschenden Grundhaltung, was bedeutet, dass der Analytiker daran interessiert ist, durch das zwischenmenschlich-einmalige hindurch auch allgemeinere Gestalten und Gesetze des psychischen Funktionieren zu erkennen. ii. Das Funktion des analytischen Paars Im analytischen Prozess kommt es zu gemeinsamen Beobachtungen des analytischen Paares, wobei auf Seiten des Analytikers das durch Ausbildung verfeinerte Sensorium für Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene zum Einsatz kommt, auf Seiten des Analysanden seine Bereitschaft zur freien Assoziation. Beobachtung führt zunächst einmal nicht sofort zum Verstehen, im 10 Gegenteil. Die Toleranz gegenüber dem Nicht-Verstehen und dem Nicht-Wissen ist ein wesentliches Moment im analytischen Prozess, das sich der Analytiker gemeinsam mit seinem Analysanden durch Überwinden von Widerständen immer wieder neu erwerben muss. Der Analytiker kann sich bezüglich der in ihm aufkeimenden Hypothesen nie sicher sein und braucht den Analysanden, um gemeinsam mit ihm über den Wahrheitsgehalt einer Deutung entscheiden zu können. Lear (1999) bezeichnete die Psychoanalyse aus diesem Grund als das demokratischste aller Therapieverfahren. Der Begriff der Wahrheit bezieht sich hier ausschließlich auf die sogenannte „narrative Wahrheit“, die zunächst nichts über die Korrespondenz mit einer objektiven Wahrheit aussagt. iii. Konzeptuelle Formen des Verständnisses Die ersten Hypothesen, die sich im Analytiker und im Analysanden durch sorgfältiges Tasten nach einem Verständnis der unbewusste Prozesse bilden, sind sogenannte private Minitheorien oder einfache Narrative, d.h. erste Symbolisierungsversuche der beobachteten, aber unverstandenen subsymbolischen (affektiven und körperlichen) und teil-symbolischen (bildlichen, para-verbalen) Vorgänge. Diese Minitheorien können in Form von Deutungen umgesetzt und dadurch ein Stück weit einer intersubjektiven Überprüfung unterzogen werden. Die Minitheorien werden durch nachfolgende Schritte der Abstraktion und Verallgemeinerung zunächst mit sogenannten kondensierten Metaphern und schließlich auch mit ausformulierten Konzepten und formalisierten Theorien in Verbindung gebracht. Dabei wird idealerweise ein wechselseitiger Entwicklungsprozess angestoßen, d.h. dass sich einerseits die Vorstellungen des Analytikers über den Einzelfall verändern, andererseits aber auch sein Verständnis der überindividuellen Metaphern und Konzepte vertieft oder kritisch schärft. Eine solche kreative Verbindung gelingt besser, wenn der Analytiker in einer offenen Forschungshaltung ist, und misslingt, wenn er in einer Gegenübertragungsreaktion festsitzt, was ihn dazu verführen könnte, zu intellektualisierenden Clichés oder pseudo-theoretischen Sprachhülsen zu greifen. iv. Theoretischer Rahmen und Hintergrundwissen Die umfassenderen theoretischen Rahmenvorstellungen des Analytikers werden in der Regel durch klinische Erfahrung nicht in Frage gestellt. Schon 11 unsere ersten Beobachtungen in der klinischen Situation sind von unseren Konzepten und Theorien beeinflusst, und die jeweils weiteren Beobachtungen reflektieren natürlich umso mehr den in Gang gekommenen konzeptuellen Prozess, der oben beschrieben wurde. Bion´s „no memory, no desire“ darf nicht naiv missverstanden werden, wir können uns natürlich nur sehr begrenzt von unseren Einstellungen und Vorurteilen befreien. Es kann auch gar nicht um Theoriefreiheit in der Beobachtung gehen, sondern bestenfalls um differenziertes und variationsreiches Hintergrundwissen, das dem Neuen möglichst viel von seiner Neuheit lassen kann und es nicht vorschnell auf Altbekanntes reduziert. Die Fähigkeit zu dieser Offenheit hängt mit der angestrebten forschenden Grundhaltung zusammen. Dieser entspricht auch die Erkenntnis, dass die theoretischen Rahmenvorstellungen auf einer Abstraktionsebene angesiedelt sind, wo sie durch klinische Einzelfälle weder bestätigt noch widerlegt werden können. v. Der Dialog mit eigenem Unbewussten Je sicherer sich der Analytiker seiner unbewussten Fähigkeit zur flexiblen und komplexen Rekombination von Ideen und Konzepten ist, umso eher kann er sich auf das „Fremde“ und das „Nicht-Wissen“ einlassen. Die paranoiden Ängste, die das Fremde in uns allen immer aufs Neue auslöst, können letztlich nur durch die Fähigkeit beherrscht werden, das Unverständliche auf möglichst nicht-reduktive, und d.h. möglichst geschmeidige und schattierungsreiche Weise mit Bekanntem in Verbindung zu setzen. Es geht unbewusst dabei auch um Identifizierungen mit guten psychoanalytischen Objekten, vielleicht um einen inneren Dialog mit seinem Lehranalytiker oder früheren Supervisor. Dabei kann es auch zu Identifizierungen mit primitiv-idealisierten psychoanalytischen Vorbildern oder Schulen kommen, was dann zu einem unkritischen Nachahmen anstatt zu der geforderten forschenden Grundhaltung führt. Ein durchlässiger Dialog mit seinem eigenen Unbewussten gehört jedenfalls zu den Schlüsselqualitäten eines guten psychoanalytischen Forschers. Damit hängt auch die Fähigkeit zusammen, die eigenen privaten Theorien in ihrem Entstehungsprozess zu reflektieren und mit der Reflexion der offiziellen Theorien zusammen zu bringen. Ausgehend von dem hier skizzierten zirkulären Verständnis von klinischer psychoanalytischer Forschung möchte ich nur eine der möglichen 12 Schlussfolgerungen vorstellen, nämlich eine Methode, wie man eine psychoanalytische Einzelfall-Darstellung methodisch diszipliniert, theoretisch offen und intersubjektiv reflektiert erstellen kann. Die Methode lehnt sich an das von der IPA-Projektgruppe für klinische Beobachtung entwickelte Modell der Psychoanalytic Expert Validation an, und besteht aus folgenden Schritten: a) Regelmäßige Präsentation von klinischem Material einer bestimmten Psychoanalyse in einer stabilen Supervisions- oder Intervisionsgruppe durch den sogenannten klinischen Forscher. Kurze, aber systematische Dokumentation der Präsentation und der Ergebnisse der Gruppenbesprechung entlang einer vorgegebenen Struktur, wobei sowohl zustimmende als auch abweichende Sichtweisen dokumentiert werden sollen. b) Die Gruppenmitglieder unterstützen den klinischen Forscher, seine spezifische Forschungsfrage zu finden (z.B. die Rolle von Veränderungen in den manifesten Träumen als Indikator für therapeutische Veränderung; oder bestimmte, sich wiederholende Übertragungskonstellationen in einer bestimmten Patientengruppe etc.). Sie helfen ihm in den folgenden Supervisionen interessantes klinisches Material in Bezug auf seine Forschungsfrage zu finden. c) Der Klinische Forscher schreibt eine erste Version eines umfassenden Therapieberichts, einschließlich einer Reflexion, warum er seine bestimmte Forschungsfrage gewählt hat, bestimmten Literaturverweisen, und einer Erklärung des verwendeten klinischen Materials. Die Gruppenmitglieder lesen diese Version sorgfältig vor der nächsten Gruppensitzung und überlegen sich, ob und wie die „narrative Wahrheit“ des Berichtes in dem ausgewählten klinischen Material zum Ausdruck kommt (im Vergleich zu allem Material, das in den Gruppensitzungen besprochen worden ist). d) Diskussion des Fallberichtes in der Super- bzw. Intervisionsgruppe. Wieder ist es wichtig Übereinstimmungen und Unterschiede zu dokumentieren. Der klinische Forscher ändert seinen Fallbericht im Lichte der Gruppendiskussion ab. e) Der klinische Forscher kann diesen Prozess mehrmals wiederholen, bevor er sich sicher genug fühlt, um den Fallbericht bei einer psychoanalytischen Zeitschrift zur Veröffentlichung einzureichen. 13 f) Der Fallbericht hat eine bestimmte vorgegebene Struktur, die - einleitend die Entwicklung der Forschungsfrage und die Art ihrer Bearbeitung reflektiert, - anschließend die theoretischen Überlegungen darstellt, und diese mit einer Literaturrecherche verbindet, - schließlich den Fallbericht von den Erstinterviews, den diagnostischen Überlegungen zu Strukturniveau, Abwehrstruktur, zentralen Konflikten und Behandlungsindikation, über die biografischen und klinische Vorgeschichte, bis zu dem zusammengefassten Behandlungsverlauf und der Auswahl einiger konsekutiver Sitzungen, die die postulierten Hypothesen des Forschers illustrieren; - abschließend werden die Ergebnisse diskutiert und zusammen gefasst. g) Die Vertraulichkeit gegenüber dem analysierten Patienten wird dadurch gewährleistet, dass die Kooperation mit ihm gesucht und eine Zustimmung zur Veröffentlichung von Material eingeholt wird. Manche Patienten sind bereit den Text zu lesen und zu kommentieren, was eine besondere Form der Validierung der Schlüsse darstellt. Wo dies aus ethischen oder psychoanalytischen Gründen nicht möglich ist, muss die Veröffentlichung in stark abstrahierter und anonymisierter Form erscheinen. Der vollständige Text kann in diesen Fällen evt. für interne Zwecke der betreffenden Psychoanalytischen Gesellschaft verwendet werden, wo von vollkommener Verschwiegenheit ausgegangen werden kann. h) Im Prinzip ist es möglich, in diesem validierten Forschungsprozess noch weitere, auch formalisierte Instrumente zum Einsatz zu bringen. Doch führen uns diese Überlegungen bereits zum nächsten Abschnitt. 14 Zur Methodologie der kontrollierten psychoanalytischen Forschung Ich habe bisher gesagt, dass die klinische Einzelfallforschung, durch disziplinierte und selbstkritische Anwendung hermeneutischer Methoden nicht nur Hypothesen generieren, sondern diese auch an den tatsächlich stattfindenden analytischen Prozessen ein Stück weit überprüfen kann. Seine Ausbildung erlaubt es dem Analytiker, eine gewisse Kontrolle über seine subjektiven Tendenzen zu bewahren, und so plausible von unplausiblen Hypothesen über Art und Wirkung unbewusster Phantasien unterscheiden zu können. Allerdings geht der klinisch tätige Analytiker dabei auch von abstrakteren und übergreifenden psychoanalytischen Modellen aus, die in der Einzelfallforschung nicht überprüfbar sind. Zur kritischen Validierung solcher Modelle kommt nun die extra-klinische Forschung in der Psychoanalyse ins Spiel. Ulrich Mosers Unterscheidung von Online- und Offline-Forschung hat zu einer Entspannung in der oft polemischen Diskussion beigetragen. Online-Forschung meint dabei die Forschung des Analytikers hinter der Couch, wenn er sozusagen „online“ mit dem Patienten und dessen Unbewussten verbunden ist. Offline-Forschung meint die Forschung nach der Analysestunde, wo Fälle verglichen, Literatur recherchiert und auf das klinische Material vielleicht systematischere Methoden und formalisiertere Instrumente angewendet werden als es hinter der Couch möglich wäre. Mosers Begriffe der Online- und der Offline-Forschung zielen darauf, dass hier zwei gleichwertige, wenn auch sehr verschiedenen Forschungsmethodologien in der Psychoanalyse anerkannt werden. Sie sollten weniger unter dem Aspekt des gegenseitigen Ausschlusses als dem der Ergänzung diskutiert werden. Beide sollten – ihm zufolge – durch eine forschende Grundhaltung charakterisiert und an Verdacht und Irrtum orientiert sein. Schon Freud hat nicht nur Einzelfallstudien veröffentlicht, um bestimmte theoretische Konzepte zu begründen und zu illustrieren. In seinem Aufsatz „Ein Kind wird geschlagen“ beruft er sich explizit auf eine ganze Gruppe von sechs Patienten, die alle das gleiche Symptom zeigten, eben besagte Schlagephantasie. Zwei waren Männer und vier waren Frauen. Freud findet systematische Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Art, wie die Phantasie unbewusst aufgebaut ist. Freuds Vorgehensweise bleibt natürlich im 15 Rahmen der Erfahrung, die ein einzelner Analytiker in seiner Praxis sammeln kann. Es zwingt uns allerdings nichts, in diesem Rahmen zu bleiben. Ich erwähne als eines der ersten Beispiele für eine Datensammlung, die die Möglichkeiten einer Privatpraxis weit überstieg, die Entwicklung des Hampstead Index. Das war seit den 1950er Jahren der Versuch, in der von Anna Freud geprägten Hampstead Clinic, das immer mehr anwachsende Material, das die dort arbeitenden Kinderanalytiker dokumentierten, systematisch zu erfassen. So wurden zahlreiche Kategorien und Begriffe entwickelt, von Abwehrmechanismen über Objektbeziehungen bis zu Überich-Funktionen, mit deren Hilfe das Material geordnet und dadurch auch miteinander verglichen werden konnte. Anfänglich waren es 50 Kinderanalysen, die dabei verarbeitet wurden, später stieg die Zahl weiter an. Sandler beschreibt, wie die Erstellung der Kategorien und Schlüsselbegriffe zu immer neuen Diskussionen und – in der Folge davon – zu besseren Definitionen führte. Die Entwicklung des Hampstead Index kann in gewisser Weise als der Beginn einer systematischen Konzeptforschung in der Psychoanalyse bezeichnet werden. In dem Buch „Die Hampstead-Methode“ haben Bolland & Sandler die Psychoanalyse eines zwei-jährigen Kindes mithilfe dieser kategorialen Begriffe beschrieben und damit gezeigt, wieweit eine Psychoanalyse auch in empirisch begründeten, über-individuellen begriffen beschrieben werden kann. Ich mache einen Sprung in die 1970er Jahre, als Thomä & Kächele begannen, die Tonbandprotokolle des sogenannten „deutschen Musterfalles“ der Amalie X. zu analysieren. Amalie X war eine von Thomä analysierte depressive Patientin, deren 517 Sitzungen aufgezeichnet und wörtlich transkribiert wurden. Im dritten Band der Reihe Psychoanalytische Therapie bieten Thomä und Kächele (2006b, S. 121ff.) einen Überblick über die Untersuchungen ihrer Arbeitsgruppe zum Fall Amalie X; unter anderem untersuchten die Arbeitsgruppe die Bedeutung sogenannter „verhaltensrelevanter Mikroereignisse“ wie den Zusammenhang von emotionaler Erfahrung und Übertragung. Andere Studien fokussierten die Veränderungen des Selbstgefühls in Verlauf der Analyse Psychoanalyse oder die Reaktionen der 16 Patienten auf Unterbrechungen der Analyse als Indikatoren für strukturelle Veränderung. Neben manualgeleiteter Forschung sind in Ulm auch computergestützte Studien entstanden. Hierbei interessierten zum Beispiel die Schwankungen der verbalen Aktivität der Patientin zwischen eher emotionalen Narrativen und eher abstrahierenden Reflexionen und inwieweit die Muster dieser Schwankungen mit strukturellen Veränderungen und therapeutischen Fortschritten in Verbindung gebracht werden konnten. Auch von zahlreichen anderen psychoanalytischen Forschern wurden die Transkripte der Amalie X, beforscht, so z.B. von Brigitte Boothe von der Universität Zürich: Die Amalie-Transkripte wurden dort hauptsächlich unter Zuhilfenahme der von Boothe entwickelten Erzählanalyse JAKOB ausgewertet mit Fokus auf die Untersuchung von Alltags- und Traumerzählungen. JAKOB ist ein qualitatives Untersuchungsinstrument, mit dem Alltagserzählungen systematisch untersucht werden. JAKOB ist sowohl ein Kodierverfahren als auch ein Auswertungssystem. Boothe schreibt: Die methodischen und theoretischen Bezugspunkte der Erzählanalyse JAKOB finden sich neben der Psychoanalyse vor allem im Bereich literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien sowie soziologischer und linguistischer Ansätze. Untersucht werden Sprachsequenzen, die in sich geschlossen sind, und fast immer eine klar erkennbare Struktur mit Anfang, Mitte und Schluss besitzen. Die Datenbasis ist der schriftlich fixierte Text; nonverbale Gesprächsanteile werden nicht berücksichtigt. Das Ziel der Analyse besteht in der Erschließung szenischer Arrangements, die in der dynamischen Bauform des Erzählens angelegt sind. Ihre systematische Untersuchung ermöglicht eine wissenschaftlich fundierte psychodynamische Konflikt- und Beziehungsdiagnostik. Die erzählanalytische Auswertung wird unterstützt durch das Computerprogramm AutoJAKOB. Dieses Programm erlaubt es, die vorbereiteten Erzählungen zu erfassen, eine partielle linguistische Morphologie- und Syntaxanalyse durchzuführen und darauf 17 aufbauend die lexikalische Kodierung vorzunehmen. Für die nachfolgende Interpretation stehen vorgefertigte Auswertungsschablonen zur Verfügung, die den Ablauf vereinfachen und standardisieren (Boothe et al., 2002). Es entstanden an der Universität Zürich dutzende Forschungsarbeiten mit einer Vielzahl qualitativer und quantitativer Fragestellungen. Diese Beispiele dienen mir hier als Illustration der großen Vielfalt, die heute in der extra-klinischen psychoanalytischen Forschung besteht. Kächele (1992) unterschied folgende Phasen in der psychoanalytischen Psychotherapieforschung: a) Die ergebnisorientierte Forschung (1930-1970) b) Die kombinierten Prozess- und Ergebnisstudien (1969-1980) c) Untersuchungen der Mirkodynamik des Prozessgeschehens (seit 1980) V.a. in der dritten Periode treten systematische und detaillierte Einzelfallstudien in den Vordergrund zu denen auch die diversen Studien der Transkripte der Amalie X. gehören. Wie vielleicht schon deutlich wurde, ist das inzwischen ein riesiges Gebiet, über das man sich gar nicht so leicht einen Überblick verschaffen kann. Allein die Darstellung der unterschiedlichen Instrumente und Methoden, die in der psychoanalytischen Prozessforschung entwickelt und verwendet werden, bräuchte mehrere Vorträge und ist eigentlich nur in einem längerfristigen Lehrgang machbar. Bevor ich zu meinen Schlussfolgerungen und damit dann auch zum Schluss komme, nur noch eine Querverbindung zu der derzeit von der Wiener Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie geplanten umfangreichen Vergleichsstudie zwischen Psychoanalyse und kognitiver Verhaltenstherapie bei schweren Angst- und Affektstörungen. Der Hauptzweck dieser Studie ist zwar der Vergleich der therapeutischen Effektivität der beiden Behandlungsmethoden, bzw. der Nachweis einer überlegenen und v.a. nachhaltigeren Wirkung der psychoanalytischen Behandlung gegenüber der verhaltenstherapeutischen, aber das dabei gesammelte Material kann und soll auch für zahlreiche qualitative und prozess-orientierte Untersuchungen verwendet werden. Beispielsweise wäre es sehr wünschenswert, wenn sich die an der Studie beteiligten Analytiker in solchen forschungsorientierten Intervisionsgruppen 18 organisieren würden, die ich im vorigen Abschnitt vorgeschlagen habe, und die quantitative Ergebnis-Studie mit zahlreichen qualitativen Einzelfallstudien komplementieren würden. Auch detaillierte Vergleiche zwischen den Ergebnissen der klassischen psychoanalytischen Intervisionsbesprechung von bestimmten Stunden oder auch längeren Verläufen mit formalisierteren Auswertungen der Tonbandprotokolle könnten die Wiener Psychoanalyse Studie zu einer reichen Fundstätte psychoanalytischer Erkenntnis machen. Alle Forscher und Studienanalytiker, die in anderen Ländern bereits solche Projekte durchgeführt haben, stimmen darin überein, dass alleine die Beteiligung an solcher Forschung und die damit verbundene Kommunikation zwischen klinischen und systematischen Forschern einen ungeheuren Schub in der Motivation, aber auch im konzeptionellen Verständnis bei allen Beteiligten bewirkt. Es scheint mir daher bedeutsam, dass sich der Wiener Arbeitskreis positiv zu diesem Forschungsprojekt einstellt und dieses nach Maßgabe unserer Möglichkeiten voll unterstützt. Schluss Ich komme zu meinen Schlussfolgerungen, die teilweise auch direkte Vorschläge für die Praxis des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse sind: In der IPA gibt es seit etwa 1985, seit der Präsidentschaft von Robert Wallerstein, ein Interesse und ein Engagement im Bereich der psychoanalytischen Forschung. Seit dem Kongress in Montreal werden zwei Nachmittage der etwa 5-6-tägigen IPA-Kongresse Panels gewidmet, auf denen im engeren Sinne Forschungsarbeiten vorgestellt wurden. Joseph Sandler, der nächste IPA-Präsident begründete 1991 die Tradition einer jährlichen IPAForschungskonferenz, die jetzt schon seit mehreren Jahren immer in Frankfurt stattfindet. Kurze Zeit danach wurde das IPA-Forschungskomitee begründet, dem seit der Gründung Peter Fonagy vorsitzt. Ich kann hier jetzt nicht genauer auf die Abfolge der verschiedenen Komitees eingehen, die in den Jahren seither gearbeitet und ein beträchtliches Stück gemeinsames, internationales Verständnis von Forschung in der Psychoanalyse entwickelt haben. Mir scheint der Gedanke wichtig, dass diese internationalen Komitees von Gruppen auf nationaler Ebene begleitet und unterstützt werden sollten. In 19 vielen psychoanalytischen Gesellschaften gibt es Arbeitsgruppen für Forschung und ich denke, es könnte bald an der Zeit sein, dass sich auch in Wien eine derartige Gruppe bildet. Es bietet sich an, eine solche Arbeitsgruppe gemeinsam mit der WPV zu betreiben, und möglicherweise mit der psychoanalytischen Akademie zu verbinden. Aufgaben einer solchen Gruppe wäre es, die internationale Diskussion zur psychoanalytischen Forschung zu verfolgen und in den eigenen Gesellschaften bekannt zu machen. Hiefür müssten einige Mitarbeiter dieser Arbeitsgruppe auch die Internationalen Forschungskonferenzen, die jetzt Joseph-SandlerKonferenzen heißen, besuchen und die Ergebnisse in geeigneter Form berichten. Eine weitere Aufgabe wäre es, in Wien einen Lehrgang für psychoanalytische Forschung einzurichten, die fortgeschrittene Kandidaten, Psychoanalytiker und an Psychoanalyse interessierte Experten aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen besuchen könnten. Für diesen Lehrgang müssten wir anfangs internationale Gäste einladen, um das Know-how hier zunächst einmal mehr heimisch zu machen. Natürlich ist auch die Kooperation mit der Wiener UniKlinik für Psychoanalyse und Psychotherapie eine Quelle von Kompetenz, die benützt werden sollte. Längerfristig sollte auch in die Standardausbildung der psychoanalytischen Gesellschaften ein Forschungsseminar aufgenommen werden. Es mag sein, dass sich eine solche Zielsetzung erst realisieren lässt, wenn wir einen MALehrgang für Psychoanalyse und interdisziplinäre Studien eingerichtet haben, und damit die Akademisierung der Psychoanalyse realisieren können. Aber jedenfalls sollte das Verständnis für die sich ergänzende Zweispurigkeit von klinischer und außerklinischer Forschung möglichst früh auch an die KandidatInnen vermittelt werden. Als weitere Idee könnte man überlegen, in welcher Weise die Beratungsstelle des Arbeitskreises zur Umsetzung von Forschungsideen verwendet werden könnte. Ich möchte hier nichts vorwegnehmen, bin auch zu wenig informiert, ob es dort ohnehin bereits Forschung gibt und wenn ja, in welcher Form. Jedenfalls ist das Ziel des zu gründenden Forschungskomitees, dass auch tatsächlich Forschungsprojekte – unter internationaler Beratung – umgesetzt werden. 20 Eine nicht zu vernachlässigende Möglichkeit dafür ist natürlich auch die Kooperation mit der Uni-Klinik in Bezug auf das bereits angesprochene Psychoanalyse-Forschungsprojekt. Bevor ich mich in hochfliegenden Ideen und Vorschlägen verliere, mache ich an diesem Punkt lieber Schluss und freue mich auf die Reaktionen von Euch und die entstehende Diskussion. Fritz Lackinger 44.640 Zeichen 21