Zum Forschungsbegriff in der Psychoanalyse

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Zum Forschungsbegriff in der Psychoanalyse
Vortrag vor dem WAP, 23.10.2012
Zum Forschungsbegriff in der
Psychoanalyse
Fritz Lackinger
Einleitung
Ich möchte mit meinem heutigen Vortrag zu einer Auseinandersetzung
beitragen, die in der Psychoanalyse seit langem, ja eigentlich von Beginn an,
tobt, die uns im Wiener Arbeitskreis aber bisher meiner Meinung nach weniger
beschäftigt hat als notwendig wäre. Die Entscheidung der WGKK,
Psychoanalyse nicht mehr zu refundieren oder zu bezuschussen, kann – trotz
ihrer halbherzigen Rücknahme - als Ausdruck einer mangelnden Rechtfertigung
der Psychoanalyse in den Augen bestimmter Institutionen und v.a. Geldgeber
betrachtet werden. Sie ist ein aktueller Anlass, aber keineswegs der tiefere
Grund für mein Anliegen, sich mehr mit Forschung zu beschäftigen.
Die Frage der Forschung in der Psychoanalyse hat zahlreiche Verästelungen und
es wäre anmaßend zu meinen, man könnte das Thema in einem einzigen
Vortrag auch nur annähernd angemessen behandeln. Forschung hat aber
jedenfalls mit dem Wahrheitsanspruch zu tun, den eine bestimmte Lehre wie
die Psychoanalyse, stellt. In einer ersten Annäherung an mein heutiges Thema
könnte man vielleicht sagen, psychoanalytische Forschung bezeichne all jene
Aktivitäten, die auf die Entdeckung und die Begründung jener Aussagen
gerichtet sind, aus denen unsere Lehre, eben die Psychoanalyse, besteht. Das
ist wie gesagt ein unendlich weites Feld. Ich beschränke mich auf drei Aspekte,
die mir persönlich vorrangig erscheinen, und ich meine, dass diese Aspekte zu
praktischen Fragen für den Arbeitskreis führen, in deren Zusammenhang ich
auch konkrete Vorschläge machen möchte.
Ich sage bestimmt niemandem etwas Neues, wenn ich darauf hinweise, wie
hoch Forschungsfragen in der Psychoanalyse emotional besetzt sind, und d.h.,
wie sehr sie mit Unsicherheiten in unserem persönlich-professionellen
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Selbstverständnis und mit unseren Ängsten vor einem Nichtgenügen
gegenüber unseren Idealvorstellungen zusammenhängen. Ist den einen das
Freudsche Junktim von Forschen und Heilen der einzig legitime Ansatz in der
psychoanalytischen Erkenntnisgewinnung und jede Form von quantitativer
Forschung nichts als eine gefährliche Identifikation mit den Aggressoren des
„Freud bashing“, so ist ebendiese empirische Forschung für andere der
Königsweg für ein Überleben der Psychoanalyse in Zeiten der evidenzbasierten
Medizin und das Festhalten an der klassischen Novellenform der EinzelfallStudie nur eine gefährliche romantische Illusion, die den Weg in den Untergang
begleitet. Man kann die damit zusammenhängenden Emotionen nicht
vermeiden, wenn man Forschung betreiben will, wir können nur versuchen, sie
wahrzunehmen und so weit wie möglich zu reflektieren, was sie jeweils
abzuwehren versuchen. Marianne Leuzinger-Bohleber (2007) hat die These
aufgestellt, dass es auf beiden Seiten dieser Kontroverse um eine unbewusste
Abwehrhaltung gegen Offenheit, Nicht-Wissen und Unsicherheit geht. Denn
sowohl der empirische Forscher, der sich im Besitz einer unangreifbaren,
wissenschaftlichen Forschungsmethodologie wähnt als auch der klinische
Psychoanalytiker, der seinen subjektiven Reflexionen und Kohärenzgefühlen
unmittelbare Evidenz und direkten Zugang zu den Interaktionen von unbewusst
zu unbewusst zutraut, beide also wiegen sich mitunter in falschen Sicherheiten,
ahnen das unbewusst und projizieren die eigene Abwehr dagegen auf den
jeweiligen Gegner. Wir sind auch heute nicht davor gefeit, in solche projektive
Grabenkämpfe zu verfallen. Uns die Gefahr bewusst zu machen, ist aber wohl
das beste Mittel, um sich dagegen zu schützen.
Die drei Aspekte, die ich aufgreifen möchte, sind:
a. Kurze philosophische Vorbemerkungen zur Frage des Gegenstandes
psychoanalytischer Forschung
b. Ist die psychoanalytische Einzelfall-Forschung ausreichend für die
Begründung von Deutungen und Theorien?
c. Welche Rolle spielt die außer-klinische Forschung für die Psychoanalyse?
Ist sie notwendig und wenn ja, wofür?
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Zur Debatte um Gegenstand und Methode der psychoanalytischen
Forschung
Dass der zentrale Gegenstand psychoanalytischer Forschung das menschliche
Unbewusste ist, ist vermutlich weitgehend unumstritten. Das Unbewusste zeigt
sich dem Psychoanalytiker in der Begegnung mit seinen Patienten und
Patientinnen, allerdings niemals unmittelbar, sondern als je individuelles
psychodynamisches Geschehen in seinen Auswirkungen auf körperliche
Funktionen, emotionale Zustände und kognitive Prozesse, und zwar sowohl
beim Patienten als auch beim Analytiker selbst. Die interaktive Inszenierung
des Unbewussten ist eines seiner wesentlichen Merkmale. Wenn also das
Unbewusste das Zentrum der psychoanalytischen Forschung ist, dann ranken
sich darum die vielfachen Wirkungen desselben auf den Körper, das
Vorbewusste und das Bewusstsein der an einer Szene Beteiligten. Die
Forschung muss von diesen ausgehen, weil sie das Unbewusste niemals direkt
zu fassen kriegen kann.
So weit so klar. Es stellt sich nun aber die Frage, was das Unbewusste nun
eigentlich, gewissermaßen seiner Substanz nach ist. Ist es ein Gegenstand oder
eine Kraft, die real existiert, auch wenn sie nicht direkt beobachtbar ist? Die
Unbeobachtbarkeit des Unbewussten schließt einen rein positivistischen
Standpunkt schon einmal aus, denn für den Positivismus ist das Beobachtbare
mit dem Realen identisch. Allerdings gibt es natürlich auch in der
Naturwissenschaft zahlreiche Kräfte und Mechanismen, die nur aus ihren
Wirkungen erschlossen werden können, wie z.B. die Gravitation, von der man
auch bis heute nicht weiß, was sie eigentlich ist, die aber jeder in seinen
Auswirkungen spürt. Oder man könnte noch etwas vagere Beispiele aus der
Physik wählen, wie etwa die dunkle Materie, die noch nie jemand gesehen hat
und deren Existenz nur daraus geschlossen wird, dass wir sonst nicht verstehen
könnten, was die Galaxien im Innersten zusammenhält.
Um es kurz zu machen, man könnte einen Standpunkt einnehmen, den man
unbedingten Naturalismus nennen könnte, und der besagt, dass das
Unbewusste der Psychoanalyse eine Konstellation von Kräften ist, die auf
ähnliche Weise real sind wie viele Kräfte in der nicht-menschlichen Natur und
die unabhängig davon existieren, ob sie beobachtet werden oder nicht. Man
könnte dann sagen, dass die Erforschung des Unbewussten ähnlich vorgehen
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müsste wie die Naturwissenschaft obwohl das Unbewusste ein rein
menschliches Phänomen ist. Das eben soll die Bezeichnung unbedingter
Naturalismus ausdrücken.
Sie alle wissen, dass dieser Standpunkt, den man vielleicht aus einigen
Begründungen Freuds zur Metapsychologie herauslesen konnte und der bis zu
einem gewissen Grade in der ersten Zeit nach Freud noch verbreitet war, von
der Psychoanalyse im Großen und Ganzen aufgegeben worden ist. Einige
Wissenschaftstheoretiker, u.a. Karl Popper, hatten die Psychoanalyse als
unwissenschaftlich bezeichnet, indem sie nachwiesen, dass sie nicht so
funktioniert wie die Physik. Dieser Vorwurf kann heute leicht als verfehlt
abgetan werden, nachdem sich das Selbstverständnis der Psychoanalyse weg
vom Vorbild der Naturwissenschaften und hin zu Vorbildern in den
Geisteswissenschaft gewandelt hat. Seit den 1960er Jahren herrscht in der
Psychoanalyse ein hermeneutisches Selbstverständnis vor. Dadurch haben sich
auch die Vorstellungen dessen, was das Unbewusste seiner Substanz nach ist,
dramatisch verändert. In der Hermeneutik geht es nicht um physikalisch reale
Gegenstände und auch nicht um Kausalitäten im Sinne des
naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Prinzips. Da der Gegenstand der
Untersuchung nun subjektive Sinngestalten, Narrative oder – mehr poststrukturalistisch ausdrückt – linguistische Phänomene und Diskurse sind, geht
es auch nicht mehr darum, das Unbewusste als Ursache von irgendwelchen
Wirkungen im Körper oder im Vorbewussten zu entschlüsseln, sondern es geht
um die Bedeutung unbewusster Konflikte für das Subjekt.
Kleine Bemerkung am Rande: Man kann sagen, dass die philosophische
Richtung der Hermeneutik die Naturhaftigkeit des Ubw mehr von der Seite der
subjektiven Einfühlung und damit der Emotionen her aufzulösen versuchte,
während der Strukturalismus und auch der Poststrukturalismus die soziale
Konstruktion und die Bedeutung der linguistischen Diskurse an die Stelle der
Natur setzte.
Ich denke, dass der Wechsel von der naturwissenschaftlichen zur
hermeneutischen und strukturalistischen Konzeption der Psychoanalyse
tatsächlich etwas Wichtiges klärte und falsche Vereinfachungen auflösen
konnte, nämlich dass das Unbewusste tatsächlich kein reiner Naturgegenstand,
sondern ein wesentlich zwischenmenschlich und – man könnte sagen –
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gesellschaftlich bedingtes Phänomen ist. Das hat wichtige Auswirkungen auf
die Forschungsstrategien, denn sozial bedingte Phänomene können – im
Unterschied zu physikalischen Prozessen – kaum jemals als geschlossene
Systeme isoliert und in Experimenten untersucht werden. Die vorherrschende
Forschungsmethodologie muss daher eine andere sein. Andererseits haben
Hermeneutik und Strukturalismus die Psychoanalyse auch in neue
Schwierigkeiten gebracht:
- Wie soll festgestellt werden, ob eine psychoanalytische Deutung, geschweige
denn eine psychoanalytische Theorie richtig ist? Da es weder im
hermeneutischen noch im post-strukturalistischen Denken ein
Wahrheitskriterium im Sinne einer Übereinstimmung mit einer objektiven
Wirklichkeit mehr gibt, bleibt als Wahrheitskriterium nur die sogenannte
„narrative“ oder „diskursive Kohärenz“. Wahrheit kann nur als Kohärenz
bestimmter symbolischer Muster oder Diskursakte verstanden werden kann.
Im Kontext der Kohärenzztheorie gibt es mehr als eine richtige Beschreibung
der Welt. Alle kohärenten Diskurse haben den gleichen Anspruch, als wahr
anerkannt zu werden.
- Für die Psychoanalyse brachte dies das Problem mit sich, dass es zusehends
mehr theoretische Modelle gab, die im Sinne von Metanarrativen ihre
interne Kohärenz nachweisen konnten, und deren jeweiliger
Wahrheitsanspruch grundsätzlich unentscheidbar ist. Aber damit ist das
Problem keineswegs vollständig beschrieben, denn andere nicht-analytische
Konzepte in der Psychotherapie konnten das gleiche von sich behaupten.
Auch ihre Interpretationen von Fallgeschichten waren in ihrem eigenen
(jungianischen, adlerianischen, rogerianischen etc.) System kohärent und
damit genauso „wahr“ wie eine psychoanalytische Lesart der gleichen
Fallgeschichten.
- Als die empirische Psychotherapieforschung aufzeigte, dass diese nichtanalytischen Therapieformen ebenfalls therapeutisch wirksam waren,
konnte jede Richtung ihren hermeneutischen Wahrheitsanspruch auch noch
dadurch untermauern, dass sie ihre pragmatische Nützlichkeit
demonstrierte.
Angesichts der Probleme beider traditioneller Positionen möchte ich hier eine
dritte Position einbringen, jene des bedingten, kritischen, nichtreduktionistischen Naturalismus. Das ist eine Richtung in der Philosophie, die
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seit den 1970er in der englisch-sprachigen Welt entstanden ist, und die sich
meiner Meinung nach gut für die Lösung der erkenntnistheoretischen
Probleme der Psychoanalyse eignet:
Die Sozialwissenschaften sind demnach von den Naturwissenschaften zwar
relativ zu unterscheiden, grundsätzlich können sie aber ebenfalls
realitätsbezogene Wissenschaften wie die Naturwissenschaften sein. Beide
handeln von Realitäten, die zumindest zum Teil unabhängig von den
Überzeugungen und dem Wissen der Forscher sind. Dort wo es um symbolisch
und narrativ verfasste Subjektpositionen geht, interessiert sich kritischnaturalistische Sozialwissenschaft zwar – wie die Hermeneutik – für deren
innere Kohärenz und Stimmigkeit, sie interessiert sich aber immer zugleich
auch für deren Korrespondenz mit äußeren Realitäten.
In der psychoanalytischen Forschung werden – wie in den Naturwissenschaften
– Muster von Ereignissen beobachtet, die nicht-zufällig sind und nach
Erklärungen verlangen. Psychoanalytische Deutungen, Konzepte und Modelle
bieten solche Erklärungen auf verschiedenen Abstraktionsebenen an. Diese
können mehr oder weniger richtig oder eben falsch sein, und dieser
Wahrheitsgehalt kann grundsätzlich auch empirisch geprüft werden. Die
Prüfungen nehmen allerdings im Vergleich zum Experiment in der Physik oder
in der Chemie andere Formen an.
Die hermeneutische Position wird – wie gesagt – oft mit dem Argument
untermauert, dass die subjektiven Gründe für Verhalten oder für psychische
Zustände keine Ursachen im kausalen Sinne seien. Dieses Argument ist meiner
Meinung nach falsch und ich kann mich dabei auf wichtige zeitgenössische
Philosophen berufen, etwa auf Donald Davidson, der die Fehler in dieser
Argumentation aufzeigte. In der Regel sind subjektive Gründe allerdings nicht
die einzigen ursächlichen Faktoren, die z.B. ein bestimmtes Symptom oder
einen Traum hervorrufen. Freud hatte schon mit seinem Begriff der kausalen
Ergänzungsreihe das Zusammenwirken von körperlicher Heredität,
unbewusster Disposition als Folge bestimmter Kindheitserlebnisse und
aktuellem Anlass benannt. Aber subjektive Gründe sind sehr wohl ursächlich
wirksam und entscheiden kausal mit, welche psychischen Zustände und
Verhaltensweisen auftreten. Sie brauchen in keiner Weise realistische Abbilder
der Wirklichkeit zu sein und sind dies in Regel auch nicht. Aber auch als
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Verzerrungen der Wirklichkeit sind sie wirksam, und deshalb ist es ja häufig das
Ziel der Psychoanalyse, den Bezug des Patienten zur Realität zur verbessern.
In analoger Weise geht der kritische Naturalismus davon aus, dass es möglich
ist, zwischen besseren und schlechteren Theorien zu unterscheiden, wobei es
natürlich niemals eine endgültige oder vollständige Wahrheit geben kann. Der
rationale Vergleich von alternativen Theorien in Bezug auf ihre jeweilige
Erklärungskraft von bestimmten sozialen oder psychologischen Phänomenen
entspricht forschungslogisch dem Experiment in der Naturwissenschaft.
Was heißt dies für die psychoanalytische Forschung? Die Innenwelt von
Menschen kann zunächst nicht anders als in Form subjektiv gefärbter Narrative
erfasst werden. In einem zweiten Schritt wird versucht, zwischen
widersprüchlichen Narrativen oder widersprüchlichen Aspekten von Narrativen
durch Konzeptualisierung von abstrakteren und tieferen Ebenen zunehmend
mehr innere Kohärenz herzustellen. Die Herstellung von interner Kohärenz
wäre also der zweite Schritt. Soweit ist das methodische Vorgehen noch ganz
mit dem hermeneutischen identisch.
Allerdings stoppt das kritisch-naturalistische Vorgehen hier nicht. Die
abstrakteren Konzepte sind nun gegen alternative Erklärungsansätze
abzuwägen bzw. mit ihnen zu vergleichen, um ihre jeweilige Erklärungskraft
abzuschätzen. Und hierfür ist auch die von Strenger (1991) sogenannte externe
Kohärenz der entwickelten theoretischen Konzepte bzw. Metanarrative zu
überprüfen. Also: Wie weit stehen sie mit den Befunden von
Nachbardisziplinen in Übereinstimmung oder im Widerspruch? Z.B. mit
Befunden der empirischen Säuglings- und Bindungsforschung oder auch jenen
der Neurowissenschaft.
Aber auch die Abklärung der externen Kohärenz ist noch nicht alles: Es folgt
eine weitere Überlegung: Kann durch die Zusammenfassung mehrerer oder
vieler Fälle, die bestimmte Voraussetzungen, z.B. eine bestimmte psychische
Struktur, eine bestimmte Psychopathologie, teilen, die Verallgemeinerung von
Schlüssen aus dem Einzelfall, besser begründet werden? Dort, wo dies der Fall
ist, sollte in der Psychoanalyse auch Forschung jenseits der analytischen
Situation betrieben werden. Darauf komme ich im letzten Abschnitt meines
Vortrages zurück, jetzt möchte zuerst auf die Aufgaben und Probleme der
klinischen psychoanalytischen Forschung eingehen.
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Zur Methodologie der psychoanalytischen Einzelfallstudie
Freuds Hinweis, dass der Analytiker nicht heilen kann, ohne auf neue
Erkenntnisse zu stoßen, und dass er zugleich nicht erfolgreich forschen kann
ohne die heilsamen Folgen seiner Erkenntnisse zu bemerken, beschreibt die
Situation des arbeitenden Analytikers. Dieses sogenannte Junktim von Heilen
und Forschen wurde mitunter so ausgelegt, dass die Psychoanalyse
ausschließlich diese klinische Art des Forschens benötigen würde. Freud hat
sich bekanntlich nicht daran gehalten, ausschließlich aus den klinischen
Erfahrungen mit seinen PatientInnen zu lernen bzw. die psychoanalytische
Theorie ausschließlich auf die klinische Erfahrung aufzubauen. Er hat sehr
häufig auf nicht-klinische Beobachtungen und v.a. auf Erkenntnisse aus
anderen Wissenschaften zurück gegriffen, um bestimmte theoretische Schlüsse
zu rechtfertigen.
Aber dennoch bleibt unbestritten, dass die klassische psychoanalytische
Methode der Begründung von theoretischen Überlegungen deren Stützung auf
die klinische Erfahrung ist. Soll diese Stützung deutlich gemacht werden, dient
die psychoanalytische Fallnovelle als übliches Format. Der Begriff Fallnovelle
greift auf Freuds Verwunderung zurück, dass sich seine Fallstudien häufig wie
Novellen lesen. Es hat sich als der klinischen psychoanalytischen Forschung
angemessen erwiesen, die Subjektivität nicht nur des Patienten sondern auch
des Analytikers in die Falldarstellung einfließen zu lassen.
Seit den 1970er Jahren wurde allerdings teilweise auch heftige Kritik an der
Einzelfallstudie als primäres Erkenntnisinstrument der Psychoanalyse geübt.
Die Hauptzweifel betreffen die Fragen,
a) inwieweit das klinische Material von suggestiven Einflüssen ausreichend
frei sein kann bzw. wie man mit dem suggestiven Einfluss umgehen kann,
wenn man die Triftigkeit einer psychoanalytischen Deutung untersuchen
will. Wir alle kennen den Umstand, dass bestimmte, wenn nicht alle
Patienten unbewusst den Erwartungen des Analytikers entsprechen
wollen. Freud sprach von Gefälligkeitsträumen. Dementsprechend haben
bekanntlich die Träume von Patienten bei Freudianischen Analytikern
viele typisch Freudianische Merkmale, im Unterschied zu Patienten von
jungianischen Analytikern, die eher jungianisch träumen.
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b) inwieweit die Selektivität des Analytikers bei der Auswahl des Materials,
das er zur Deutung heranzieht, reflektiert werden kann bzw. ob es nicht
unvermeidlich ist, dass die dem Analytiker bewusst und unbewusst
naheliegenden Deutungen in seiner Datenauswahl und der Darstellung
des Materials bevorzugt werden, sodass alternative Hypothesen
eigentlich nicht ernsthaft geprüft werden können.
c) inwieweit durch die Unzugänglichkeit des Materials für außenstehende
Forscher eine intersubjektive Überprüfung der entwickelten Deutungen
und klinischen Konzepte unmöglich ist.
Wissenschaftstheoretiker nennen das die Kontamination der Daten in der
Psychoanalyse. Adolf Grünbaum, der Wissenschaftstheoretiker, der sich Mitte
der 1980er Jahre skeptisch mit der psychoanalytischen Methode
auseinandergesetzt hat, bestreitet wegen der Daten-Kontamination prinzipiell
die Möglichkeit, das durch die freie Assoziation von Patienten produzierte
Material zur Belegung analytische Deutungen, geschweige denn analytischer
Theorien verwenden zu können. Dem Argument von Seiten zahlreicher
Analytiker, dass richtige Deutungen für den Analytiker spürbar andere
Reaktionen auslösen als falsche, dass sie bspw. zu neuen, tiefer gehenden
Einfällen führen, die Übertragungsbeziehung vertiefen oder paranoide Ängste
lindern, wird entgegen gehalten, dass alle diese Phänomene auch andere
Gründe als die Richtigkeit der eben gegebenen Deutung haben können.
Letztlich kann die Möglichkeit, dass neuerlich suggestive Faktoren wie z.B.
unbewusste Gefälligkeitswünsche eine Rolle spielen, nie ausgeschlossen
werden.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es entgegen Grünbaums Annahme doch
eine Reihe guter Gründe gibt, anzunehmen, dass die analytische Situation in
einem bestimmten Ausmaß das Überprüfen von analytischen Deutungen
ermöglicht. Das bedeutet nicht, dass wir das auch immer oder auch nur
meistens tun, aber es bedeutet, dass es unter bestimmten, näher zu
bestimmenden Voraussetzungen möglich ist. Das Verständnis des einzelnen
Falles entfaltet sich bekanntlich nicht ausschließlich aus dem klinischen
Material eben dieses Falles, sondern hängt immer auch mit einem
psychoanalytischen Rahmenverständnis zusammen, das in den verschiedenen
theoretischen Modellen der Psychoanalyse konzentriert ist. Meine Meinung ist,
dass diese Rahmenmodelle nicht ausschließlich aus dem analytischen Material
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von Einzelanalysen entwickelbar oder dort ausreichend überprüfbar sind. Auf
diesen Punkt komme ich im nächsten Abschnitt noch einmal zurück.
Ich möchte jetzt kurz zusammenfassen, wie man den Erkenntnisgewinn in der
analytischen Situation konzeptualisieren kann, um dann daraus abzuleiten,
welche Voraussetzungen für eine wissenschaftlich plausible Einzelfallstudie
gegeben sein müssen. Ich lehne mich dabei an Vorstellungen an, die von Ulrich
Moser, Marianne Leuzinger-Bohleber und Carlo Strenger vertreten worden
sind. Klinische Forschung ist demzufolge abhängig von einer forschenden
Grundhaltung des Analytikers, der sich auf einen zirkulären, durch folgende
Momente bestimmten Prozess einlässt:
i.
Haltung und Kompetenz des Analytikers
Das psychoanalytische Setting ermöglicht einen einmaligen Erkenntnisprozess,
der auf persönliche Einmaligkeit und unbewusste Tiefendimension gerichtet ist.
Die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers ist Ausdruck seines
geschulten Sensoriums, mit dem er versucht unbewusste Botschaften des
Analysanden aber auch aus seinem eigenen Inneren wahrzunehmen. Der
Analytiker wendet dabei keine außernatürlichen Kräfte oder Fähigkeiten an,
seine Kompetenzen bestehen lediglich in den durch Training verfeinerten
allgemein-menschlichen Fähigkeiten zur Einfühlung in andere und zur
Schlussfolgerung von äußeren Beobachtungen auf innere Zustände. Die dabei
gemachten Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen dienen zunächst der
Hypothesengenerierung in Bezug auf die aktualisierte unbewusste
Psychodynamik des Analysanden. Idealerweise verbindet sich die
gleichschwebende Aufmerksamkeit mit der erwähnten forschenden
Grundhaltung, was bedeutet, dass der Analytiker daran interessiert ist, durch
das zwischenmenschlich-einmalige hindurch auch allgemeinere Gestalten und
Gesetze des psychischen Funktionieren zu erkennen.
ii.
Das Funktion des analytischen Paars
Im analytischen Prozess kommt es zu gemeinsamen Beobachtungen des
analytischen Paares, wobei auf Seiten des Analytikers das durch Ausbildung
verfeinerte Sensorium für Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene
zum Einsatz kommt, auf Seiten des Analysanden seine Bereitschaft zur freien
Assoziation. Beobachtung führt zunächst einmal nicht sofort zum Verstehen, im
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Gegenteil. Die Toleranz gegenüber dem Nicht-Verstehen und dem Nicht-Wissen
ist ein wesentliches Moment im analytischen Prozess, das sich der Analytiker
gemeinsam mit seinem Analysanden durch Überwinden von Widerständen
immer wieder neu erwerben muss. Der Analytiker kann sich bezüglich der in
ihm aufkeimenden Hypothesen nie sicher sein und braucht den Analysanden,
um gemeinsam mit ihm über den Wahrheitsgehalt einer Deutung entscheiden
zu können. Lear (1999) bezeichnete die Psychoanalyse aus diesem Grund als
das demokratischste aller Therapieverfahren. Der Begriff der Wahrheit bezieht
sich hier ausschließlich auf die sogenannte „narrative Wahrheit“, die zunächst
nichts über die Korrespondenz mit einer objektiven Wahrheit aussagt.
iii.
Konzeptuelle Formen des Verständnisses
Die ersten Hypothesen, die sich im Analytiker und im Analysanden durch
sorgfältiges Tasten nach einem Verständnis der unbewusste Prozesse bilden,
sind sogenannte private Minitheorien oder einfache Narrative, d.h. erste
Symbolisierungsversuche der beobachteten, aber unverstandenen
subsymbolischen (affektiven und körperlichen) und teil-symbolischen
(bildlichen, para-verbalen) Vorgänge. Diese Minitheorien können in Form von
Deutungen umgesetzt und dadurch ein Stück weit einer intersubjektiven
Überprüfung unterzogen werden.
Die Minitheorien werden durch nachfolgende Schritte der Abstraktion und
Verallgemeinerung zunächst mit sogenannten kondensierten Metaphern und
schließlich auch mit ausformulierten Konzepten und formalisierten Theorien in
Verbindung gebracht. Dabei wird idealerweise ein wechselseitiger
Entwicklungsprozess angestoßen, d.h. dass sich einerseits die Vorstellungen
des Analytikers über den Einzelfall verändern, andererseits aber auch sein
Verständnis der überindividuellen Metaphern und Konzepte vertieft oder
kritisch schärft. Eine solche kreative Verbindung gelingt besser, wenn der
Analytiker in einer offenen Forschungshaltung ist, und misslingt, wenn er in
einer Gegenübertragungsreaktion festsitzt, was ihn dazu verführen könnte, zu
intellektualisierenden Clichés oder pseudo-theoretischen Sprachhülsen zu
greifen.
iv.
Theoretischer Rahmen und Hintergrundwissen
Die umfassenderen theoretischen Rahmenvorstellungen des Analytikers
werden in der Regel durch klinische Erfahrung nicht in Frage gestellt. Schon
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unsere ersten Beobachtungen in der klinischen Situation sind von unseren
Konzepten und Theorien beeinflusst, und die jeweils weiteren Beobachtungen
reflektieren natürlich umso mehr den in Gang gekommenen konzeptuellen
Prozess, der oben beschrieben wurde. Bion´s „no memory, no desire“ darf
nicht naiv missverstanden werden, wir können uns natürlich nur sehr begrenzt
von unseren Einstellungen und Vorurteilen befreien. Es kann auch gar nicht um
Theoriefreiheit in der Beobachtung gehen, sondern bestenfalls um
differenziertes und variationsreiches Hintergrundwissen, das dem Neuen
möglichst viel von seiner Neuheit lassen kann und es nicht vorschnell auf
Altbekanntes reduziert. Die Fähigkeit zu dieser Offenheit hängt mit der
angestrebten forschenden Grundhaltung zusammen. Dieser entspricht auch die
Erkenntnis, dass die theoretischen Rahmenvorstellungen auf einer
Abstraktionsebene angesiedelt sind, wo sie durch klinische Einzelfälle weder
bestätigt noch widerlegt werden können.
v.
Der Dialog mit eigenem Unbewussten
Je sicherer sich der Analytiker seiner unbewussten Fähigkeit zur flexiblen und
komplexen Rekombination von Ideen und Konzepten ist, umso eher kann er sich
auf das „Fremde“ und das „Nicht-Wissen“ einlassen. Die paranoiden Ängste,
die das Fremde in uns allen immer aufs Neue auslöst, können letztlich nur
durch die Fähigkeit beherrscht werden, das Unverständliche auf möglichst
nicht-reduktive, und d.h. möglichst geschmeidige und schattierungsreiche
Weise mit Bekanntem in Verbindung zu setzen. Es geht unbewusst dabei auch
um Identifizierungen mit guten psychoanalytischen Objekten, vielleicht um
einen inneren Dialog mit seinem Lehranalytiker oder früheren Supervisor.
Dabei kann es auch zu Identifizierungen mit primitiv-idealisierten
psychoanalytischen Vorbildern oder Schulen kommen, was dann zu einem
unkritischen Nachahmen anstatt zu der geforderten forschenden Grundhaltung
führt. Ein durchlässiger Dialog mit seinem eigenen Unbewussten gehört
jedenfalls zu den Schlüsselqualitäten eines guten psychoanalytischen Forschers.
Damit hängt auch die Fähigkeit zusammen, die eigenen privaten Theorien in
ihrem Entstehungsprozess zu reflektieren und mit der Reflexion der offiziellen
Theorien zusammen zu bringen.
Ausgehend von dem hier skizzierten zirkulären Verständnis von klinischer
psychoanalytischer Forschung möchte ich nur eine der möglichen
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Schlussfolgerungen vorstellen, nämlich eine Methode, wie man eine
psychoanalytische Einzelfall-Darstellung methodisch diszipliniert, theoretisch
offen und intersubjektiv reflektiert erstellen kann. Die Methode lehnt sich an
das von der IPA-Projektgruppe für klinische Beobachtung entwickelte Modell
der Psychoanalytic Expert Validation an, und besteht aus folgenden Schritten:
a) Regelmäßige Präsentation von klinischem Material einer bestimmten
Psychoanalyse in einer stabilen Supervisions- oder Intervisionsgruppe
durch den sogenannten klinischen Forscher. Kurze, aber systematische
Dokumentation der Präsentation und der Ergebnisse der
Gruppenbesprechung entlang einer vorgegebenen Struktur, wobei
sowohl zustimmende als auch abweichende Sichtweisen dokumentiert
werden sollen.
b) Die Gruppenmitglieder unterstützen den klinischen Forscher, seine
spezifische Forschungsfrage zu finden (z.B. die Rolle von Veränderungen
in den manifesten Träumen als Indikator für therapeutische
Veränderung; oder bestimmte, sich wiederholende
Übertragungskonstellationen in einer bestimmten Patientengruppe etc.).
Sie helfen ihm in den folgenden Supervisionen interessantes klinisches
Material in Bezug auf seine Forschungsfrage zu finden.
c) Der Klinische Forscher schreibt eine erste Version eines umfassenden
Therapieberichts, einschließlich einer Reflexion, warum er seine
bestimmte Forschungsfrage gewählt hat, bestimmten
Literaturverweisen, und einer Erklärung des verwendeten klinischen
Materials. Die Gruppenmitglieder lesen diese Version sorgfältig vor der
nächsten Gruppensitzung und überlegen sich, ob und wie die „narrative
Wahrheit“ des Berichtes in dem ausgewählten klinischen Material zum
Ausdruck kommt (im Vergleich zu allem Material, das in den
Gruppensitzungen besprochen worden ist).
d) Diskussion des Fallberichtes in der Super- bzw. Intervisionsgruppe.
Wieder ist es wichtig Übereinstimmungen und Unterschiede zu
dokumentieren. Der klinische Forscher ändert seinen Fallbericht im
Lichte der Gruppendiskussion ab.
e) Der klinische Forscher kann diesen Prozess mehrmals wiederholen, bevor
er sich sicher genug fühlt, um den Fallbericht bei einer
psychoanalytischen Zeitschrift zur Veröffentlichung einzureichen.
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f) Der Fallbericht hat eine bestimmte vorgegebene Struktur, die
- einleitend die Entwicklung der Forschungsfrage und die Art ihrer
Bearbeitung reflektiert,
- anschließend die theoretischen Überlegungen darstellt, und diese mit
einer Literaturrecherche verbindet,
- schließlich den Fallbericht von den Erstinterviews, den diagnostischen
Überlegungen zu Strukturniveau, Abwehrstruktur, zentralen Konflikten
und Behandlungsindikation, über die biografischen und klinische
Vorgeschichte, bis zu dem zusammengefassten Behandlungsverlauf und
der Auswahl einiger konsekutiver Sitzungen, die die postulierten
Hypothesen des Forschers illustrieren;
- abschließend werden die Ergebnisse diskutiert und zusammen gefasst.
g) Die Vertraulichkeit gegenüber dem analysierten Patienten wird dadurch
gewährleistet, dass die Kooperation mit ihm gesucht und eine
Zustimmung zur Veröffentlichung von Material eingeholt wird. Manche
Patienten sind bereit den Text zu lesen und zu kommentieren, was eine
besondere Form der Validierung der Schlüsse darstellt. Wo dies aus
ethischen oder psychoanalytischen Gründen nicht möglich ist, muss die
Veröffentlichung in stark abstrahierter und anonymisierter Form
erscheinen. Der vollständige Text kann in diesen Fällen evt. für interne
Zwecke der betreffenden Psychoanalytischen Gesellschaft verwendet
werden, wo von vollkommener Verschwiegenheit ausgegangen werden
kann.
h) Im Prinzip ist es möglich, in diesem validierten Forschungsprozess noch
weitere, auch formalisierte Instrumente zum Einsatz zu bringen. Doch
führen uns diese Überlegungen bereits zum nächsten Abschnitt.
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Zur Methodologie der kontrollierten psychoanalytischen Forschung
Ich habe bisher gesagt, dass die klinische Einzelfallforschung, durch
disziplinierte und selbstkritische Anwendung hermeneutischer Methoden nicht
nur Hypothesen generieren, sondern diese auch an den tatsächlich
stattfindenden analytischen Prozessen ein Stück weit überprüfen kann. Seine
Ausbildung erlaubt es dem Analytiker, eine gewisse Kontrolle über seine
subjektiven Tendenzen zu bewahren, und so plausible von unplausiblen
Hypothesen über Art und Wirkung unbewusster Phantasien unterscheiden zu
können. Allerdings geht der klinisch tätige Analytiker dabei auch von
abstrakteren und übergreifenden psychoanalytischen Modellen aus, die in der
Einzelfallforschung nicht überprüfbar sind. Zur kritischen Validierung solcher
Modelle kommt nun die extra-klinische Forschung in der Psychoanalyse ins
Spiel.
Ulrich Mosers Unterscheidung von Online- und Offline-Forschung hat zu einer
Entspannung in der oft polemischen Diskussion beigetragen. Online-Forschung
meint dabei die Forschung des Analytikers hinter der Couch, wenn er
sozusagen „online“ mit dem Patienten und dessen Unbewussten verbunden ist.
Offline-Forschung meint die Forschung nach der Analysestunde, wo Fälle
verglichen, Literatur recherchiert und auf das klinische Material vielleicht
systematischere Methoden und formalisiertere Instrumente angewendet
werden als es hinter der Couch möglich wäre.
Mosers Begriffe der Online- und der Offline-Forschung zielen darauf, dass hier
zwei gleichwertige, wenn auch sehr verschiedenen Forschungsmethodologien
in der Psychoanalyse anerkannt werden. Sie sollten weniger unter dem Aspekt
des gegenseitigen Ausschlusses als dem der Ergänzung diskutiert werden. Beide
sollten – ihm zufolge – durch eine forschende Grundhaltung charakterisiert und
an Verdacht und Irrtum orientiert sein.
Schon Freud hat nicht nur Einzelfallstudien veröffentlicht, um bestimmte
theoretische Konzepte zu begründen und zu illustrieren. In seinem Aufsatz „Ein
Kind wird geschlagen“ beruft er sich explizit auf eine ganze Gruppe von sechs
Patienten, die alle das gleiche Symptom zeigten, eben besagte
Schlagephantasie. Zwei waren Männer und vier waren Frauen. Freud findet
systematische Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Art, wie die
Phantasie unbewusst aufgebaut ist. Freuds Vorgehensweise bleibt natürlich im
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Rahmen der Erfahrung, die ein einzelner Analytiker in seiner Praxis sammeln
kann.
Es zwingt uns allerdings nichts, in diesem Rahmen zu bleiben. Ich erwähne als
eines der ersten Beispiele für eine Datensammlung, die die Möglichkeiten einer
Privatpraxis weit überstieg, die Entwicklung des Hampstead Index. Das war seit
den 1950er Jahren der Versuch, in der von Anna Freud geprägten Hampstead
Clinic, das immer mehr anwachsende Material, das die dort arbeitenden
Kinderanalytiker dokumentierten, systematisch zu erfassen. So wurden
zahlreiche Kategorien und Begriffe entwickelt, von Abwehrmechanismen über
Objektbeziehungen bis zu Überich-Funktionen, mit deren Hilfe das Material
geordnet und dadurch auch miteinander verglichen werden konnte. Anfänglich
waren es 50 Kinderanalysen, die dabei verarbeitet wurden, später stieg die Zahl
weiter an. Sandler beschreibt, wie die Erstellung der Kategorien und
Schlüsselbegriffe zu immer neuen Diskussionen und – in der Folge davon – zu
besseren Definitionen führte. Die Entwicklung des Hampstead Index kann in
gewisser Weise als der Beginn einer systematischen Konzeptforschung in der
Psychoanalyse bezeichnet werden. In dem Buch „Die Hampstead-Methode“
haben Bolland & Sandler die Psychoanalyse eines zwei-jährigen Kindes mithilfe
dieser kategorialen Begriffe beschrieben und damit gezeigt, wieweit eine
Psychoanalyse auch in empirisch begründeten, über-individuellen begriffen
beschrieben werden kann.
Ich mache einen Sprung in die 1970er Jahre, als Thomä & Kächele begannen,
die Tonbandprotokolle des sogenannten „deutschen Musterfalles“ der Amalie
X. zu analysieren. Amalie X war eine von Thomä analysierte depressive
Patientin, deren 517 Sitzungen aufgezeichnet und wörtlich transkribiert
wurden.
Im dritten Band der Reihe Psychoanalytische Therapie bieten Thomä und
Kächele (2006b, S. 121ff.) einen Überblick über die Untersuchungen ihrer
Arbeitsgruppe zum Fall Amalie X; unter anderem untersuchten die
Arbeitsgruppe die Bedeutung sogenannter „verhaltensrelevanter
Mikroereignisse“ wie den Zusammenhang von emotionaler Erfahrung und
Übertragung. Andere Studien fokussierten die Veränderungen des
Selbstgefühls in Verlauf der Analyse Psychoanalyse oder die Reaktionen der
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Patienten auf Unterbrechungen der Analyse als Indikatoren für strukturelle
Veränderung.
Neben manualgeleiteter Forschung sind in Ulm auch computergestützte
Studien entstanden. Hierbei interessierten zum Beispiel die Schwankungen der
verbalen Aktivität der Patientin zwischen eher emotionalen Narrativen und
eher abstrahierenden Reflexionen und inwieweit die Muster dieser
Schwankungen mit strukturellen Veränderungen und therapeutischen
Fortschritten in Verbindung gebracht werden konnten.
Auch von zahlreichen anderen psychoanalytischen Forschern wurden die
Transkripte der Amalie X, beforscht, so z.B. von Brigitte Boothe von der
Universität Zürich:
Die Amalie-Transkripte wurden dort hauptsächlich unter Zuhilfenahme der von
Boothe entwickelten Erzählanalyse JAKOB ausgewertet mit Fokus auf die
Untersuchung von Alltags- und Traumerzählungen.
JAKOB ist ein qualitatives Untersuchungsinstrument, mit dem
Alltagserzählungen systematisch untersucht werden. JAKOB ist sowohl ein
Kodierverfahren als auch ein Auswertungssystem.
Boothe schreibt:
Die methodischen und theoretischen Bezugspunkte der Erzählanalyse JAKOB
finden sich neben der Psychoanalyse vor allem im Bereich
literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien sowie soziologischer und
linguistischer Ansätze. Untersucht werden Sprachsequenzen, die in sich
geschlossen sind, und fast immer eine klar erkennbare Struktur mit Anfang,
Mitte und Schluss besitzen. Die Datenbasis ist der schriftlich fixierte Text;
nonverbale Gesprächsanteile werden nicht berücksichtigt.
Das Ziel der Analyse besteht in der Erschließung szenischer Arrangements, die
in der dynamischen Bauform des Erzählens angelegt sind. Ihre systematische
Untersuchung ermöglicht eine wissenschaftlich fundierte psychodynamische
Konflikt- und Beziehungsdiagnostik. Die erzählanalytische Auswertung wird
unterstützt durch das Computerprogramm AutoJAKOB. Dieses Programm
erlaubt es, die vorbereiteten Erzählungen zu erfassen, eine partielle
linguistische Morphologie- und Syntaxanalyse durchzuführen und darauf
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aufbauend die lexikalische Kodierung vorzunehmen. Für die nachfolgende
Interpretation stehen vorgefertigte Auswertungsschablonen zur Verfügung, die
den Ablauf vereinfachen und standardisieren (Boothe et al., 2002).
Es entstanden an der Universität Zürich dutzende Forschungsarbeiten mit einer
Vielzahl qualitativer und quantitativer Fragestellungen.
Diese Beispiele dienen mir hier als Illustration der großen Vielfalt, die heute in
der extra-klinischen psychoanalytischen Forschung besteht. Kächele (1992)
unterschied folgende Phasen in der psychoanalytischen
Psychotherapieforschung:
a) Die ergebnisorientierte Forschung (1930-1970)
b) Die kombinierten Prozess- und Ergebnisstudien (1969-1980)
c) Untersuchungen der Mirkodynamik des Prozessgeschehens (seit 1980)
V.a. in der dritten Periode treten systematische und detaillierte
Einzelfallstudien in den Vordergrund zu denen auch die diversen Studien der
Transkripte der Amalie X. gehören. Wie vielleicht schon deutlich wurde, ist das
inzwischen ein riesiges Gebiet, über das man sich gar nicht so leicht einen
Überblick verschaffen kann. Allein die Darstellung der unterschiedlichen
Instrumente und Methoden, die in der psychoanalytischen Prozessforschung
entwickelt und verwendet werden, bräuchte mehrere Vorträge und ist
eigentlich nur in einem längerfristigen Lehrgang machbar.
Bevor ich zu meinen Schlussfolgerungen und damit dann auch zum Schluss
komme, nur noch eine Querverbindung zu der derzeit von der Wiener
Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie geplanten
umfangreichen Vergleichsstudie zwischen Psychoanalyse und kognitiver
Verhaltenstherapie bei schweren Angst- und Affektstörungen. Der Hauptzweck
dieser Studie ist zwar der Vergleich der therapeutischen Effektivität der beiden
Behandlungsmethoden, bzw. der Nachweis einer überlegenen und v.a.
nachhaltigeren Wirkung der psychoanalytischen Behandlung gegenüber der
verhaltenstherapeutischen, aber das dabei gesammelte Material kann und soll
auch für zahlreiche qualitative und prozess-orientierte Untersuchungen
verwendet werden.
Beispielsweise wäre es sehr wünschenswert, wenn sich die an der Studie
beteiligten Analytiker in solchen forschungsorientierten Intervisionsgruppen
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organisieren würden, die ich im vorigen Abschnitt vorgeschlagen habe, und die
quantitative Ergebnis-Studie mit zahlreichen qualitativen Einzelfallstudien
komplementieren würden. Auch detaillierte Vergleiche zwischen den
Ergebnissen der klassischen psychoanalytischen Intervisionsbesprechung von
bestimmten Stunden oder auch längeren Verläufen mit formalisierteren
Auswertungen der Tonbandprotokolle könnten die Wiener Psychoanalyse
Studie zu einer reichen Fundstätte psychoanalytischer Erkenntnis machen. Alle
Forscher und Studienanalytiker, die in anderen Ländern bereits solche Projekte
durchgeführt haben, stimmen darin überein, dass alleine die Beteiligung an
solcher Forschung und die damit verbundene Kommunikation zwischen
klinischen und systematischen Forschern einen ungeheuren Schub in der
Motivation, aber auch im konzeptionellen Verständnis bei allen Beteiligten
bewirkt. Es scheint mir daher bedeutsam, dass sich der Wiener Arbeitskreis
positiv zu diesem Forschungsprojekt einstellt und dieses nach Maßgabe unserer
Möglichkeiten voll unterstützt.
Schluss
Ich komme zu meinen Schlussfolgerungen, die teilweise auch direkte
Vorschläge für die Praxis des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse sind:
In der IPA gibt es seit etwa 1985, seit der Präsidentschaft von Robert
Wallerstein, ein Interesse und ein Engagement im Bereich der
psychoanalytischen Forschung. Seit dem Kongress in Montreal werden zwei
Nachmittage der etwa 5-6-tägigen IPA-Kongresse Panels gewidmet, auf denen
im engeren Sinne Forschungsarbeiten vorgestellt wurden. Joseph Sandler, der
nächste IPA-Präsident begründete 1991 die Tradition einer jährlichen IPAForschungskonferenz, die jetzt schon seit mehreren Jahren immer in Frankfurt
stattfindet. Kurze Zeit danach wurde das IPA-Forschungskomitee begründet,
dem seit der Gründung Peter Fonagy vorsitzt. Ich kann hier jetzt nicht genauer
auf die Abfolge der verschiedenen Komitees eingehen, die in den Jahren seither
gearbeitet und ein beträchtliches Stück gemeinsames, internationales
Verständnis von Forschung in der Psychoanalyse entwickelt haben.
Mir scheint der Gedanke wichtig, dass diese internationalen Komitees von
Gruppen auf nationaler Ebene begleitet und unterstützt werden sollten. In
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vielen psychoanalytischen Gesellschaften gibt es Arbeitsgruppen für Forschung
und ich denke, es könnte bald an der Zeit sein, dass sich auch in Wien eine
derartige Gruppe bildet. Es bietet sich an, eine solche Arbeitsgruppe
gemeinsam mit der WPV zu betreiben, und möglicherweise mit der
psychoanalytischen Akademie zu verbinden.
Aufgaben einer solchen Gruppe wäre es, die internationale Diskussion zur
psychoanalytischen Forschung zu verfolgen und in den eigenen Gesellschaften
bekannt zu machen. Hiefür müssten einige Mitarbeiter dieser Arbeitsgruppe
auch die Internationalen Forschungskonferenzen, die jetzt Joseph-SandlerKonferenzen heißen, besuchen und die Ergebnisse in geeigneter Form
berichten.
Eine weitere Aufgabe wäre es, in Wien einen Lehrgang für psychoanalytische
Forschung einzurichten, die fortgeschrittene Kandidaten, Psychoanalytiker und
an Psychoanalyse interessierte Experten aus anderen wissenschaftlichen
Disziplinen besuchen könnten. Für diesen Lehrgang müssten wir anfangs
internationale Gäste einladen, um das Know-how hier zunächst einmal mehr
heimisch zu machen. Natürlich ist auch die Kooperation mit der Wiener UniKlinik für Psychoanalyse und Psychotherapie eine Quelle von Kompetenz, die
benützt werden sollte.
Längerfristig sollte auch in die Standardausbildung der psychoanalytischen
Gesellschaften ein Forschungsseminar aufgenommen werden. Es mag sein,
dass sich eine solche Zielsetzung erst realisieren lässt, wenn wir einen MALehrgang für Psychoanalyse und interdisziplinäre Studien eingerichtet haben,
und damit die Akademisierung der Psychoanalyse realisieren können. Aber
jedenfalls sollte das Verständnis für die sich ergänzende Zweispurigkeit von
klinischer und außerklinischer Forschung möglichst früh auch an die
KandidatInnen vermittelt werden.
Als weitere Idee könnte man überlegen, in welcher Weise die Beratungsstelle
des Arbeitskreises zur Umsetzung von Forschungsideen verwendet werden
könnte. Ich möchte hier nichts vorwegnehmen, bin auch zu wenig informiert,
ob es dort ohnehin bereits Forschung gibt und wenn ja, in welcher Form.
Jedenfalls ist das Ziel des zu gründenden Forschungskomitees, dass auch
tatsächlich Forschungsprojekte – unter internationaler Beratung – umgesetzt
werden.
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Eine nicht zu vernachlässigende Möglichkeit dafür ist natürlich auch die
Kooperation mit der Uni-Klinik in Bezug auf das bereits angesprochene
Psychoanalyse-Forschungsprojekt.
Bevor ich mich in hochfliegenden Ideen und Vorschlägen verliere, mache ich an
diesem Punkt lieber Schluss und freue mich auf die Reaktionen von Euch und
die entstehende Diskussion.
Fritz Lackinger
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