die neue ordnung

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die neue ordnung
Herausgeber:
DIE NEUE
ORDNUNG
Institut für
Gesellschaftswissenschaften
Walberberg e.V.
Redaktion:
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)
Heinrich Basilius Streithofen OP †
Bernd Kettern
begründet von Laurentius Siemer OP
und Eberhard Welty OP
Nr. 1/2007
Februar
Redaktionsbeirat:
61. Jahrgang
Editorial
Wolfgang Ockenfels,
Der „streitbare“ Dominikaner
Stefan Heid
Martin Lohmann
Edgar Nawroth OP
Herbert B. Schmidt
Manfred Sp ieker
Rüdiger von Voss
Redaktionsassistenz:
2
Andrea und Hildegard Schramm
Druck und Vertrieb:
Paul-Josef Cordes, Paradigmenwechsel für
die Agenturen der Nächstenliebe
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831
53708 Siegburg
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891
4
Hans Braun, Darf man noch vom
Sozialstaat reden?
15
Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden.
Stationen des islamischen Antisemitismus
23
Die Neue Ordnung erscheint alle
2 Monate
Bezug direkt vom Institut
oder durch alle Buchhandlungen
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Einzelheft 5,- €
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ISSN 09 32 – 76 65
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Stephan Georg Schmidt, „Ich selbst und
mein Schöpfer“. Zur Newman-Forschung
45
Harald Bergsdorf, Rechtsextreme Populisten
im Fernsehen
52
Ansgar Lange, Demokratie lädt zur
Wahlenthaltung ein
Anschrift der
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57
Andreas M. Rauch, Rudolf Freiherr von
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Editorial
Der „streitbare“ Dominikaner
Pater Basilius fehlt einem sehr. Vor allem als anregend provozierenden Streitpartner vermissen wir ihn. Er starb am 5. Dezember 2006 in „seinem“ Bonner
Institut, plötzlich und unerwartet, wie es seine Art war. Einige pikierte Zeitgenossen hielten ihn für einen bloßen Polemiker – und verkannten dabei die erkenntnisfördernde Wirkung der Polemik, des fröhlichen Kampfes, des spielerischen Streits. Jedenfalls hat er mit seiner Kunst der Vereinfachung und Zuspitzung keinen gleichgültig gelassen oder gar gelangweilt. Überdies kam er bereits
mit dem Namen Streithofen zur Welt, und er legte großen Wert darauf, nicht
Friedhofen zu heißen. Nun liegen seine sterblichen Überreste auf dem Melatenfriedhof zu Köln.
Der Tod war ihm vertraut von Kindesbeinen an. Am 20. Dezember 1925 in Hüls
(bei Krefeld am Niederrhein) in einer mittelständischen Familie geboren, verlor
er früh seinen Vater. Zu seiner Verwandtschaft gehörten Zeitungsverleger und
Politiker, die sein starkes politisches Interesse geweckt haben mögen. Nach einer
Lehre als Textilkaufmann diente er im Zweiten Welt krieg als Fallschirmjäger,
nicht bei der SS, wovor ihn seine katholische Mutter bewahrte. Nach Kriegsende
besuchte er das Gymnasium und trat nach dem Abitur 1950 in den Dominikanerorden ein. Er studierte an der Theologisch-Philosophischen Hochschule der Dominikaner in Walberberg (bei Bonn) und wurde schon früh Mitarbeiter von Pater
Eberhard Welty OP. Von 1958 bis 1962 wirkte er als Beichtvater und Prediger
im Düsseldorfer Dominikanerkonvent. Von dort aus engagierte er sich bereits
seelsorglich-politisch in der rheinischen CDU, journalistisch (er war Mitbegründer der rheinischen Gruppe katholischer Publizisten) und gewerkschaftlich. Sein
Engagement für die „Chris tlichen Gewerkschaften“ brachte ihn jedoch in einen
Konflikt mit Welty, der Befürworter der Einheitsgewerkschaften (DGB) war.
1962 wurde Pater Basilius zwangsweise nach Fribourg/Schweiz versetzt und
begann unter der Betreuung von Arthur F. Utz OP mit einem Promotionsstudium, das neben der Sozialethik auch Volkswirtschaft umfaßte. Das Thema seiner
Dissertation lautet: „Wertmaßstäbe der Gewerkschaftspolitik“ (1967). Auch
während seines Fribourger Studienaufenthaltes wirkte Streithofen politisch und
journalistisch. Wie alle Utz-Schüler wurde er vom großen Meister zum Skifahren
angeleitet; Pater Basilius hat es aber nie richtig gelernt. Dennoch setzte Utz seinen Mitarbeiter - ein tüchtiger Organisator mit einflußreichen Verbindungen zu
politischen, journalistischen und unternehmerischen Kreisen - 1967 als Ge schäftsführer des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ ein.
Pater Basilius setzte die Arbeit von Utz in einem eher praxisbezogenen Sinne
fort. Vor allem wirkte er als Publizist, Organisator von Symposien und als politischer Berater der CDU. Durch seine Freundschaft mit Bruno Heck, dem Bundesminister und Generalsekretär der CDU, gewann er in den siebziger Jahren
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auch Einfluß auf die CDU-Programmatik, besonders auf die Personalpolitik
dieser Partei. Namentlich setzte er sich für Helmut Kohl ein und förderte dessen
Karriere zum Bundeskanzler. Durch seine Medienpräsenz und –wirksamkeit
gewann Pater Basilius, der kirchlich wie politisch als „konservativ“ galt, das
Ansehen eines „streitbaren Paters“.
1983 übernahm Streithofen in neuer Trägerschaft des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ die Redaktionsleitung der von den Dominikanern Laurentius Siemer und Eberhard Welty gegründeten Zeitschrift „Die
Neue Ordnung“. Er rettete sie damit vor dem Untergang. Im Orwell-Jahr 1984
mußte das Institut von Walberberg nach Bonn verlagert werden, und auch Pater
Streithofen wohnte und wirkte seitdem in der damaligen Bundeshauptstadt, mitten im Regierungsviertel. Zum zweiten Mal war er „versetzt“ worden und wandelte die Niederlage in einen Sieg. 1994 bekam er von Arthur F. Utz - nicht ohne
Streit - den Vorsitz des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“.
Zahlreiche Vorträge, Publikationen und sonstige weitgespannte Aktivitäten
zeichneten den unermüdlich aktiven Lebensstil von Pater Basilius aus. Vor einigen Jahren überstand er tapfer eine schwere Krankheit, aber sie hatte ihn stark
gezeichnet. Zuvor schon, mit dem Regierungs- und Hauptstadtwechsel, waren
seine Wirkmöglichkeiten erheblich eingeschränkt.
Pater Basilius verstand sich als ein praktischer Interpret und Vermittler der Katholischen Soziallehre - in der Tradition des Thomas von Aquin. Vielfach geschätzt wurde er als vertrauter Ratgeber und, meist unbemerkt, auch als Seelsorger und verläßlicher Freund, der vielen notleidenden Menschen - über Konfessions- und Parteigrenzen hinweg - geholfen hat. Über vieles Bedrückende und
Bedrohliche konnte er sich hinwegsetzen, und sein Humor hat viele Mutlose
aufgerichtet und Verzweifelte getröstet. Bei allem gesellschaftlichen Engagement blieb er immer der väterliche Seelsorger, der um das Heil und Wohl der
ihm Anvertrauten besorgt war. Seit fast vierzig Jahren leitete er die Geschicke
des Instituts und prägte es auf seine kraftvoll überzeugende Weise nachdrücklich. Zu seinem eigenwilligen Lebens- und Arbeitsstil paßt gut das Lied von
Frank Sinatra: „I did it my way“. In Kirche und Politik gehörte er zu jener, inzwischen fast ausgestorbenen Gattung der „starken Persönlichkeiten“.
Er hatte noch viele Pläne - und manche Überraschungen parat. Hätte er eine
ebenso schonungs- wie schamlose Autobiographie hinterlassen, die über das
harmlos Anekdotische hinaus auch das vertraulich-politische Nähkästchen geöffnet hätte, wären ihm einige posthume Schlagzeilen sicher gewesen. Aber
darauf hat er, der einfach zuviel wußte, bewußt verzichtet. Dafür schulden ihm
Dank gerade jene, die sich von ihm distanzierten. Vielleicht war er einer der
letzten profilierten Vertreter eines „politischen Katholizismus“ in Deutschland.
So „streitbar“ und kämpferisch sich Pater Basilius gelegentlich in den Medien
gab, so ging es ihm schließlich um das Gemeinwohl von Kirche, Staat und Gesellschaft. Deshalb gebührt ihm der Dank des Ordens, dem er in Treue angehörte, und die Anerkennung einer Öffentlichkeit, die ihn vermissen wird.
Wolfgang Ockenfels
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Paul-Josef Cordes
Paradigmenwechsel für die
Agenturen der Nächstenliebe?
Neue Akzente der Enzyklika „Deus caritas est“
Der eben beendete Besuch der Deutschen Bischöfe in Rom galt den Gräbern der
ersten Apostel Petrus und Paulus sowie den verschiedenen vatikanischen Dikasterien. Er betraf jedoch nicht weniger persönliche Gespräche mit Papst Benedikt XVI. Bei seiner Schlußansprache am 18.11.2006 faßte dieser seinerseits
seine Beobachtungen und Impulse zusammen. Er unterstrich u. a. lobend die
Großherzigkeit der Kirchen und ihrer Glieder seines Heimatlandes. Die deutschen Katholiken haben ja einmal dank ihrer renommierten Hilfswerke überall in
der Welt einen guten Ruf; sie können ferner nicht ohne Stolz darauf blicken, daß
sie mit der Stiftung der CARITAS vor mehr als hundert Jahren für viele Ländern
zum Schrittmacher wurden und in MISEREOR ein effizientes Modell des Kampfes gegen das Elend in der Welt entwickelten. Dieses Modell regte in Deutschland noch zu andern ähnlichen Initiativen an und wurde weltweit in manchen
Regionalkirchen nachgeahmt.
Das Lob des Papstes darf nicht als wohlfeile captatio benevolentiae abgewertet
werden. Kardinal Ratzinger stand als Präfekt der Glaubenskongregation in dem
Ruf, in der Kirche vor allem auf die Orthodoxie zu achten, in seinen Weisungen
und Publikationen das kirchliche Engagement für Armut und Gerechtigkeit aber
wenig zu fördern. So erwartete man denn auch in reservierten Kreisen, daß sich
seine erste große Glaubensunterweisung eher einer dogmatischen Streitfrage
gewidmet hätte – eventuell der Verurteilung von Irrigem. Doch eine solche Einschätzung des neuen Papstes verkennt seinen pastoralen Realismus für die Führung der Kirche und seine mitmenschliche Sensibilität.
„Deus caritas est – Gott ist die Liebe“ (DCE) überraschte darum manchen und
belehrte ihn eines Besseren – vor allem wenn der generell programmatische
Charakter der ersten päpstlichen Lehrschreiben bedacht wird: Der Papst zielt vor
allem auf die Verkündigung Gottes, der das Beste des Menschen will. Mit seinem Pontifikat tritt er bewußt auf die Seite derer, die das Leben aller zu Frieden,
Gerechtigkeit und Würde führen wollen.
Diese seine Absicht wurde auch bei andern Gelegenheiten wieder und wieder
erkennbar. So beklagte er etwa gegenüber den Teilnehmern der 33. Konferenz
der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisationen der Vereinten Nationen
(FAO) am 24.11.2005 die Paradoxie, daß trotz der neuen und positiven Fortschritte im Bereich der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technologie eine
ständig zunehmende Armut zu beobachten wäre. Gemeinschaften einheimischer
Bevölkerung wären häufig profitbezogenen widerrechtlichen Aneignungen aus4
gesetzt; sie zu beschützen, sei eine dringliche Aufgabe. Schauplätze gewaltsamer
Konflikte, die von internationalen Organis ationen als „interne, ethnische oder
stammesbedingte Auseinadersetzungen“ deklariert würden, und durch die Millionen von Menschen zu Hunger, ja zum Hungertod verurteilt würden, seien öffentlich anzuprangern. Ähnlich kritisierte er am Erntedankfest des letzten Jahres
die „strukturellen, mit dem Steuerungssystem der Weltwirtschaft verbundenen
Ursachen“ des Elends; sie seien zu beseitigen, „denn durch dieses System fällt
die Mehrheit der Ressourcen des Planeten einem kleinen Teil der Bevölkerung
zu“. Es sei nötig, „im Modell der globalen Entwicklung eine ‚Umkehr’ zu bewirken“; das fordere „nicht nur der Skandal des Hungers, sondern auch die Notstände der Umwelt und der Energieversorgung“ (12.11.2006).
Kultur des Helfens in der Ersten Welt
Offensichtlich haben bei Papst Benedikt Verkündigung und Tat der Liebe Rang.
Die Kirche kann auf ihre Proklamation nicht verzichten, auch wenn ein engagierter Humanismus in unseren Tagen mindestens in der westlichen Welt fester Bestandteil unserer Kultur geworden zu sein scheint. Eine nicht neue Sensibilität
hat offenbar an Verbreitung und Dichte zugenommen; denn immer schon wurde
ja der Mensch durch die Bedrängnisse der Mitmenschen bewegt. Sie reagierte
auf mannigfache Weise – entsprechend der Art des Mangels, dem abzuhelfen
war: Hier setzte sich der Einzelne gegen Hunger und Ungerechtigkeit zu Wehr,
dort sammelte man sich im Kampf gegen Naturgewalten und Seuchen.
In den vergangenen Jahrhunderten vollzog sich menschlicher Beistand oft in der
diskreten Betreuung von Kranken und Mittellosen. Später wurde die so praktizierte Nächstenliebe häufig zur gemeinschaftlichen Verpflichtung: Ihre materiellen Aspekte übernahm die Gesellschaft, und für eine Zeit träumte die Allgemeinheit vom „Vorsehungsstaat“, in dem die Bevölkerung eines Landes sich
solidarisch der irdischen Bedürfnisse aller annähme; totalitäre Regierungssysteme hängen noch immer dieser Auffassung nach.
Gewiß ist dem Staat letztlich das Wohl und Wehe seiner Bürger anvertraut; doch
der „Vorsehungsstaat“ ist weder mit dem fundamentalen Hilfswillen von Einzelnen und Gruppen noch mit einem heute allgemein akzeptierten Staatsverständnis
in Einklang zu bringen. Auch widerspricht es einer gesunden Bestimmung von
Beistand oder – besser – von menschlicher Würde, den oder die Mittellosen an
fortwährende Versorgung zu gewöhnen und sie auf diese Weise zur Passivität zu
verurteilen. Hilfe muß immer „Hilfe zur Selbsthilfe“ sein. Und inzwischen erwuchs ein eindrucksvoller Kosmos unterschiedlichster Initiativen der Nächstenliebe.
Über die Volksgemeinschaft hinaus erreicht die Sorge um den Nächsten die
Weltebene. Menschen schließen sich auf individuelle oder gemeinschaftliche
Initiative hin zu Verbänden mit humanitären Zielen zusammen. Staatliche Instanzen sekundieren beachtlich durch Subventionen und Steuervergünstigungen.
Sie leisten maßgebliche Beiträge. Auch Wirtschaftskonzerne treten mit Wohltä-
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tigkeit und Spenden hervor. So übersteigt die Solidarität der Zivilgesellschaft die
von Privatpersonen ansehnlich.
Dabei wird auch das Mäzenatentum großer Unternehmen erkennbar, durch das
diese humanitäre Aktionen betreiben und dabei u. U. in der Nebenabsicht auf die
Werbung für ihren eigenen Namen zielen. Ferner formen sich Nicht-RegierungsOrganisationen (NGO), die bei den verschiedenen Sekretariaten der Vereinten
Nationen und anderen globalen Institutionen ihre sozial-politischen Interessen
einbringen (lobbying) und sich gewöhnlich auch philanthropischen Aufgaben
widmen.
Gemeinsames Ringen von Kirche, Staat und Gesellschaft
Nur mit Freude kann der Christ all diese Formen humanitären Beistands zur
Kenntnis nehmen. Er vermutet, daß das Gebot der Nächstenliebe eine umfassendere Resonanz in den Herzen der Zeitgenossen gefunden hat als jede andere
biblische Weisung. Freilich sind die Wurzeln philanthropischer Kultur oft verschattet und vergessen. Und vielleicht mag sogar der Glaubende selbst das Erbe
aus dem Auge verloren haben, das ihn zur Anteilnahme am Schicksal des Nächsten drängt. Die Pflicht zur guten Tat brauchte ja in der Vergangenheit für ihn
kaum eine Begründung. In der kirchlichen Unterweisung galt der Imperativ der
Liebe immer als mit dem Indikativ des Glaubens unmittelbar mitgemeint – als
Kehrseite der Medaille. Lehramt und Theologie sahen sich nicht veranlaßt zu
einer systematischen Darstellung der Caritas.
Im Gegensatz zu dieser Gewohnheit hat das Vaticanum II erstmals in der Ge schichte der konziliaren Erklärungen die Nächstenliebe thematisiert, indem es
solche Aufgaben benannte, die ihr zuzuordnen sind (vgl. etwa LG 12, 46; GS 42,
69; AA 8, 31); es richtete also sein Augenmerk auf diese Seite der kirchlichen
Sendung. Ferner scheint die Kirche dem erwähnten Zeitgefühl so vieler, die von
der Not anderer betroffen sind, Rechnung tragen zu müssen – nicht zuletzt weil
die Vielstimmigkeit des Chores der Gutwilligen sie drängt, sich ihres eigenen
Parts zu versichern; sie möchte sich schließlich treu bleiben und nicht einfach
ihre spezifische, ihr vorgegebene Melodie den energischeren Stimmen opfern.
Solche Selbstbesinnung wird sie freilich nicht zur Abkapselung von anderen
Institutionen verleiten. Sie ist gar nicht fähig, ohne Bundesgenossen aus anderen
Lagern ihrem Auftrag zu genügen. Ihr Selbstverständnis nötigt sie, sich auf vielfache Weise unterstützen zu lassen. Sie tut ihren Dienst am Menschen „mitten in
der Welt“ (vgl. Jo 17,11).
Gesellschaft und öffentliche Strömungen beeinflussen die Kirche. Ihr Verhältnis
zum Staat ist geprägt von Nähe und Abstand in einem „Ineinander von irdischem
und himmlischem Gemeinwesen“ (GS 40). Dabei gilt in diesem Fall noch stärker
als sonst, daß „Kirche“ für viele heute fast ausschließlich „kirchliche Organisation“, und „Staat“ einen Ausschnitt von Welt meint. Beide sind aufeinander verwiesen, und ihr Verhältnis ist nicht das einer schlichten Koexis tenz. Das gemeinsame Ringen der beiden Instanzen zum Besten des Menschen gelingt im dialogischen Austausch der jeweils spezifischen Beiträge von Kirche und Staat – weder
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unter Vermischung der Kompetenzen noch in einfacher Trennung der Vollzüge.
Die Forderung nach Zusammenwirken ist somit unausweichlich. Welt und
Heilsgeschichte durchdringen sich fortwährend. Die Kirche wirkt mit dieser
Welt. Sie kann sich nicht manichäisch ins „Jenseits“ verflüchtigen.
Das legitimiert und nötigt sie, im öffentlichen Raum zu intervenieren. Darum
nimmt sie auch hochbekümmert die „Strukturen der Sünde“, die „soziale Sünde“
und die „Situationen der Sünden“ wahr, wie sie Papst Johannes Paul II. in seinen
verschiedenen Sozialenzykliken beklagt hat. Seine Redeweise war neu und überraschte vielleicht, weil die Kirche sie aus der Welt übernommen hat. Doch die
Wendungen des verstorbenen Papstes werden auch von der Heiligen Schrift
bestätigt. Schon der Apostel Paulus lehrt uns, daß die Sünde wie eine umfassende Macht die Menschen in den Griff genommen hat (hamartia): Sie umgarnt das
Herz aller Lebenden, und sie nutzt ihren bösen Einfluß auf dieses Herz, um sich
unheilvoll auf die Dinge des täglichen Lebens, auf die Geschichte und sogar auf
Natur und Schöpfung auszuwirken (vgl. Röm 5,12 ff.; 8,18ff).
Die Kirche beachtet demnach zu Recht bei ihrem Einsatz für den Menschen und
seine Würde die Strukturen, in denen der Mensch lebt. Wie diese ihm zum Unheil sein können, so mögen sie anderseits auch sein Heil beflügeln. Christen
sollen folglich Initiativen setzen, die der Heillosigkeit entgegentreten und neue
Ordnungen schaffen, die auch das Umfeld des Alltags bessern. So suchen wir die
Nähe des Staates und gesellschaftlicher Kräften, gerade wenn Elend und auch
Unrecht zu bewältigen sind. Personen und Agenturen tun sich zusammen, um in
gemeinsamer Anstrengung der solidarischen Aufgabe nachzugehen. Oft sind
eben Projekte eines einschneidenden Neuanfangs allein durch nicht-kirchliche
Finanzierungen – diese allein bringen die Höhe des geforderten Betrags auf – zu
erreichen.
Im Miteinander von Kirche und Staat haben sich seit einigen Jahrzehnten neue
Strukturen gebildet, in denen sich auch Katholiken zu sozialen Zwecken zusammenschließen. Sie sind unter den Bezeichnungen „Nicht-Regierungs-Organisation“ oder „Internationale katholische Organisation“ ein fester Bestandteil des
kirchlichen Kampfes für die Würde des Menschen und für soziale Gerechtigkeit.
Ihre Träger übernehmen es – oft unter hohem persönlichen Einsatz – den Armen
beizustehen und versuchen, aktuelle Notsituationen zu wenden. Sie weisen auf
schreiendes Elend hin und mobilisieren private wie öffentliche Mittel.
Den Sinn christlichen Engagements kann unter Gutwilligen gleichfalls die Frustration verdunkeln. Es gibt außerhalb und innerhalb der Kirche wahrhaft großmütige Helfer, die unter dem Eindruck leiden, ihre Mühe habe denselben Effekt
wie die des Sisyphos der griechischen Sage: Wie dieser immer neu einen Felsblock den Berg erfolglos hinaufwälzte, weil der Stein von diesem Gipfel wieder
herunterrollte, so erscheint auch ihnen ihre Last des Beistands unnütz und aussichtslos. Statt von langsamem und ermüdendem Einsatz versprechen sie sich die
Bewältigung der Misere ausschließlich vom gesellschaftlichen Umsturz; diesem
gilt darum ihre Anstrengung. Andere zielen darüber hinaus auf lediglich materielle Bedürfnisse. Oder sie lehnen die Kirche als ihren Partner „vor Ort“ ab,
arbeiten vielmehr allein mit politischen Instanzen.
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Das christliche Spezifikum
Es verwundert nicht, daß die mindestens in der sogenannten Ersten Welt verbreitete Kultur des Helfens und die vielen Formen der Kooperation sich auf das
kirchliche Engagement auswirkten. Die moderne Sicht des Menschen und die
Art seiner Nöte, die Zielrichtung der Programme und die Methoden der Arbeit
beeinflußten kirchliches Tun – oft keineswegs zu dessen Schaden. Dennoch sind
bei aller Gemeinsamkeit auch die Kategorien festzuhalten, die die biblischen
Wurzeln der Nächstenliebe unter Christen sichern. Weder ist das reiche Erbe
eines Martin von Tours oder einer Elisabeth von Thüringen zu verschleudern,
noch darf vergessen werden, daß der Glaube nicht nur für dieses, sondern auch
für das künftige Leben Hoffnung bereithält.
Bei der vielfältigen Kooperation mit andern gesellschaftlichen Kräften werden
darum christliche Körperschaften und gläubige Einzelne naheliegende Allianzen
nicht in unerleuchteter Einfalt suchen. Klugheit und Treue zu den eigenen Wurzeln wird sie davor schützen, ihre Identität aufzugeben. Erst recht ist für jede
Solidarisierung mit politischen Bewegungen und Parteien Vorsicht geboten.
Auch wenn sich die Politik Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger eines Staates
zur Aufgabe macht, so mag doch ihre Beschreibung, „Streben nach Machtanteil
oder Beeinflussung der Machtverteilung“ (Max Weber) zu sein, hellhörig machen; in politischen Koalitionen sind darum kirchliche Gruppen besonders wachsam, ihre eigenen Wurzeln und Ziele zu erhalten; andernfalls büßen sie ihre
Kirchlichkeit ein.
Hier setzte nun der Papst bei seiner Schlußadresse an die deutschen Bischöfe
seinen zweiten Schwerpunkt. Er beschränkte sich nämlich keineswegs auf die
Bestätigung der großen kirchlichen Hilfswerke. Er insistierte auf deren Verankerung in der Heilsbotschaft. Einstieg ist ihm das bekannte Bekenntnis des Apostels Paulus: „Die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14). In ihm sieht Benedikt
das „innere Prinzip der Hilfswerke berührt“; denn wenn die Gläubigen in
Deutschland darangehen, den in Armut lebenden Menschen zu ihrem Recht auf
die Güter der Welt zu verhelfen, sehen sie sich ja von der genannten selben Liebe Christi bewegt und befähigt. Darum fordert Papst Benedikt dazu auf, „daß die
Hilfswerke in ihren Programmen und Aktionen wirklich diesem inneren Impuls
der vom Glauben gedrängten Liebe entsprechen“.
Nicht zum ersten Mal hob Benedikt den genannten Aspekt für die kirchliche
Hilfstätigkeit hervor. Schon während seiner jüngsten Reise nach Bayern versuchte er, Kenntnisse des Fortschritts, Fertigkeiten, technisches Können und Lebensqualität mit der Botschaft in Einklang zu bringen, die verkündet, daß letztlich
erst Gott das Heil des Menschen ist. Darum solle kein Verantwortlicher der katholischen Hilfsagenturen den Standpunkt vertreten, „die sozialen Projekte mü sse man mit höchster Dringlichkeit voranbringen; die Dinge mit Gott oder gar mit
dem katholischen Glauben seien doch eher partikulär und nicht so vordringlich“.
Statt dessen müsse „die Evangelisierung vorangehen“ in der Überzeugung, „daß
der Gott Jesu Christi bekannt, geglaubt, geliebt werden, die Herzen bekehren
muß, damit auch die sozialen Dinge vorangehen“ (10.9.2006). Die Aktualität der
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päpstlichen Anweisungen ergibt sich zwingend aus dem beschriebenen philanthropischen „Klima“, aus der unausweichlichen Bürokratisierung und dem um
sich greifenden Säkularismus. Auch wenn sich die einzelnen Werke verschiedenen Aufgaben – Hygiene, Nahrung, Wohnen, Bildung, Pastoral – widmen und
nicht unterschiedslos allen alles aufgetragen ist, verdienen sie aufmerksames
Bedenken.
Da ist einmal die Vielzahl der Hauptamtlichen, die diese Dimension kirchlicher
Sendung realisieren: Gegen 500.000 Mitarbeiter sind allein der deutschen CARITAS zuzuzählen – ohne die Full-time-Angestellten der anderen genannten
Werke zu erwähnen. Zum anderen spielt die hohe finanzielle Potenz der deutschen katholischen Agenturen eine Rolle: Im Jahr 2005 standen ihnen nach dem
Rechenschaftsbericht der Deutschen Bischofskonferenz für die Hilfe in aller
Welt rund eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung – ein stolzer Betrag, der
anderseits für Geber und Empfänger eine Perspektive technisch-funktionaler
Effizienz nahelegt.
Die Weisungen des Papstes dürften nicht nur innerhalb der katholischen Kirche
Gehör finden. Sie werden auch andere christliche Hilfswerke stimulieren. Denn
auch diese lassen sinnvoller Weise die Glaubenswurzeln nicht aus dem Blick.
Dazu raten schon – warum sie unterschlagen? – die Werbungsspezialisten. Nach
ihnen kann sich unter Marketing-Gesichtspunkten die Verbreitung eines „Produktes“ nur verbessern, wenn mögliche Käufer die „Produzenten“ und ihre Unternehmensphilosophie wahrnehmen und von anderen Unternehmen unterscheiden können (Gesellschaft für strategisches Informations- und Kommunikationsmanagement Abels und Grey, Düsseldorf). Demnach hätten die christlichen
Agenturen innerhalb der Vielzahl der philanthropischen Initiativen, die sich
glücklicherweise gegenwärtig der Not in der Welt annehmen, sogar ihrer gesellschaftlichen Resonanz wegen ihrer Eigentümlichkeit inne zu werden und sie
herauszustellen: ihre Verankerung in Gottes Menschenfreundlichkeit.
„Deus caritas est – Gott ist die Liebe“
Den definitiven Schlüssel gibt wohl erst die genannte Enzyklika dem, der ermessen möchte, warum der Papst die Hilfswerke so ostentativ an ihren Glaubensgrund bindet. In ihr wird der Kirche erstmals ein offizielles Lehrschreiben zur
Nächstenliebe vorgelegt. Der heutige Papst fand noch aus der Zeit Johannes
Pauls II. Entwürfe zu einer diesbezüglichen Verlautbarung vor, die dem einzelnen Christen, den kirchlichen Gruppen und deren Organisationen die Sorge um
den bedürftigen Nächsten nahelegte. Die Redaktionsgeschichte des Textes zeigt,
daß sich Papst Benedikt nicht mit einer Ermunterung zur guten Praxis begnügen
will. Er zielt, wie es ihm als Theologen entspricht, auf eine tiefere Durchdringung dieser seit dem Urchristentum geübten Diakonie. Er knüpft an bei der göttlichen Offenbarung, beginnt wie mit einem Paukenschlag und hebt zunächst die
Wahrheit heraus, die selbstlose Anteilnahme am menschlichen Elend erst ermö glicht: Definitives Heil kommt dem Menschen allein aus Gott durch dessen Sohn
Jesus Christus. Seine Verkündigung ist, ohne den Menschen zu vergessen, ein-
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dringlich theozentrisch; besser: Er hält fest, daß für den Glaubenden erst das
Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe integrales Heil ermöglicht – ein
Heil, das gegebenenfalls auch über den Tod hinaus dauert. Und das weltweite
Echo auf seinen Text sowie die große Zustimmung – bis hin zur frontpage der
„New-York-Times“ – belegen, daß der Ruf des römischen Bischofs die Herzen
der Zeitgenossen erreichte.
Wer im Licht der Enzyklika Benedikts darüber nachdenkt, warum der Papst
gegenüber seinen deutschen Landsleuten die Glaubenswurzeln für alle Nächstenliebe betont hat, der entdeckt mehr als eine pastorale Direktive. Papst Benedikt
nähert sich im Feld des Helfens einer Problematik, die bislang fast unartikuliert
blieb: Er überschreitet Initiativen und Programme, um sich neben dem Helfen
mit den Helfern zu befassen. Hier liegt eine Anregung, die nicht unterschlagen
werden darf. Sie eröffnet eine neue Sicht auf den Kampf gegen die Not. Denn
während die katholische Soziallehre, die bislang generell die Zielvorstellungen
für die kirchliche Diakonie umriß, objektive Normen und damit sachliche Sollens-Vorstellungen formulierte, wendet sich Benedikt, planvoller und detaillierter
als es bisher üblich war, nun auch noch den Handlungsträgern zu.
Grenzen rechtlicher Verpflichtung
Kirchliche Soziallehre möchte bekanntermaßen solche Strukturen und Akteure
für das menschliche Zusammenleben heraufführen, die sittliches Ve rhalten ermöglichen und fördern. Dazu erfaßt sie gesellschaftliche Problemstellungen und
stößt mit Hilfe von Maximen Lösungsversuche an. Sie tut das auf der Basis reflektierter Prinzipien durch das Befragen der Vernunft und der christlichen Anthropologie. Als Frucht ihrer Verbreitung erwartet sie sich eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung. Ihr Weisungssystem und die Promulgation auch von
staatlichen Gesetzen sollen zu ihr beitragen; alles Recht zielt ja die Effizienz des
formulierten Wollens und dessen Auswirkung auf die Realität an. Nicht in einem
einzigen Kraftakt, sondern als „grundlegende Aufgabe jeder Generation“ (DCE
28). Denn ein ständig neues Aggiornamento muß sich der jeweiligen Gegenwart
stellen.
Recht ist erfahrungsgemäß ein sozialer Faktor erster Ordnung, der dem Individuum und der Gesamtheit der Menschen auch erlaubt, vertrauensvoll die eigene
Zukunft zu planen. Freilich bleiben Gesetz und Recht dem Ich äußerlich, und sie
können außerdem die Freiheit und Autonomie der Person nur im empirischen
Raum festlegen. Weil aber die kirchliche Soziallehre als normative Disziplin auf
gesetzliche Regeln verwiesen bleibt, krankt sie unausweichlich an der Einschränkung und Relativierung, an der alle durch Gesetze angezielten Ordnungen
leiden.
Drei Gründe sollen kurz genannt werden als Antwort auf die Frage, warum die
Auswirkung von Gesetzen unvollkommen bleiben muß. Der erste – Soziologen
bezeichnen ihn als „technischen“ Grund (Werner Stark) – besagt, daß die Ahndung des Fehlverhaltens ggf. auch unterbleiben kann: Nur die grobe und öffentliche Mißachtung des Gesetzes wird von der Rechtsordnung aufgedeckt und
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durch Bestrafung zur Rechenschaft gezogen. – Der zweite besteht darin, daß
allein äußerlich prüfbare Taten geboten werden können; auch wenn Denken und
Fühlen durch das Gesetz tangiert sind, so bleibt doch ein inneres Anstreben des
Gebotenen im Dunkeln und steht allein in der verborgenen, privaten Verantwortung des Herzens. – Schließlich hat die soziale Kontrolle meistens negativen
Charakter: Verhalten aus Liebe ist definitionsgemäß kein Tun nach der Norm;
was soziale Kodizes der Liebe nahelegen, läßt sich nicht einklagen.
In ihrem Rechtscharakter und mit ihrer strukturellen Zielsetzung erfaßt die kirchliche Soziallehre – so vollkommen sie sein mag – nicht primär den inneren Menschen; sie greift zu kurz und ist unausweichlich unvollständig. Solche Ergänzungsbedürftigkeit muß schon für die abstrakte Ebene der Wissenschaftstheorie
festgehalten werden. Man kann sie noch weniger – und das ist bedeutsamer für
das diakonische Engagement der Kirche – in Abrede stellen für all die, die sich
in der organisierten Nächstenliebe engagieren und sich folglich selbst durch
Arbeitsverträge u. ä. in das Feld kirchlicher Soziallehre berufsmäßig einordnen.
Der angesprochene Mangel einer Orientierung am Recht allein affiziert demnach
nicht nur die Umsetzung des Anspruchs von Christlichkeit im Helfen; auch wer
sich professionell an ein Hilfswerk bindet, sieht sich für sein eigenes Engagement dieser Gefährdung ausgesetzt.
Bei der Hinführung zum sittlichen Tun hat die Rechtsordnung – so läßt sich
zusammenfassen – darum lediglich fragmentarische Effizienz. Gottes Offenbarung ist hingegen in der Lage, uns zu einem tieferen Verständnis der Problematik
zu führen. Sie spart für alle Gläubigen ja nicht mit Hinweisen darauf, daß die
Paränese über das Pochen auf Gesetz und Recht hinauszuzielen hat und legalistische religiöse Praxis nicht hinreicht. Klassisch drängen schon die alttestamentlichen Propheten auf die sittlich-personale Entscheidung der Glieder Israels für
Jahwe; der Gott Israels fordert mehr als eine äußerliche Befolgung der KultGesetze.
Jesus Christus selbst verstand sich niemals als rabbinischen Gesetzeslehrer. Er
wandte sich wieder und wieder gegen eine buchstabengerechte Observanz der
religiösen Vorschriften. Beispielhaft sind die Antithesen der „Bergpredigt“ (vgl.
Mt 5,1ff. parr.). Barmherzigkeit etwa oder Feindesliebe lassen sich eben nicht
durch Gesetze verordnen. Auch wenn sie dringende Pflicht sind, lassen sie sich
nicht kodifizieren. Letztlich muß das Herz eingeben, daß und wie sie zu üben
sind. In diesem Sinne ist Jesus ein „Sittenlehrer“; er weist den Weg zur Verinnerlichung des Gebotenen.
Die Unvollständigkeit des Gesetzes mit dem Anspruch des Evangeliums zu vergleichen, verweist wohl auf einen „springenden Punkt“ für alles gläubige Engagement gegen die menschliche Not. Ihn zu erkennen setzt voraus, daß die Anweisung zur Nächstenliebe unter dem Gebot ständiger Interiorisierung steht: Die
diakonische Sendung der Kirche kann sich nicht auf eine objektiv-sachhafte
Präsentation ihres Gegenstandes beschränken; nur wenn sie beim Engagierten
den inneren Menschen erreicht, wird sie ihrem Sinn gerecht. Die Schule der
Nächstenliebe steht und fällt folglich mit ihrer spirituellen Dimension; d. h. ihre
Leitlinien und deren Vermittlung sind noch unvollständig, wenn der spirituelle
11
Impuls karitativer Lehre nicht aufscheint. Kirchliche diakonia ruft nach Katechese; letztere muß auch die gebotene Haltung in das Leben der Helfer umsetzen.
Für eine diakonale Spiritualität
Im zweiten Teil der Enzyklika finden sich manche Fingerzeige, die für die Vorund Fortbildung der haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter des kirchlichen
Dienstes am Notleidenden Beachtung verdienen; sie bringen die vom Thema
„Liebe“ inspirierten Richtpunkte ein. Kennzeichnend ist für diese Aussagen des
Papstes, daß die Sorge um den Mitmenschen „nicht mehr ein sozusagen von
außen auferlegtes Gebot ist“ (31a); er will also einem legalistischen Mißverständnis wehren. Auch läßt Papst Benedikt immer neu die praktisch-empirische Perspektive hinter sich und befaßt sich kaum mit einschlägigen soziologischen und psychologischen Ratschlägen; diese sind ja ohnehin generell akzeptiert. Die zentralen Aussagen des Lehrschreibens entstammen nicht dem wissenschaftlichen Diskurs, sondern der unmittelbar eingängigen pastoralen Alltagssprache. Dennoch sind sie mehr als eine „Façon de parler“.
Sie gelten einmal der Person des Nächsten, der Mangel leidet. Dieser brauche,
wie es heißt, „mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung“. Über sie hinaus bedürfe er der „Menschlichkeit“, der „Zuwendung des Herzens“ (31a). Auch
Glaubensverwurzelung und Gottverbundenheit sind für die Begegnung mit ihm
gefragt. Oft fehle es nämlich an mehr als an Essen und Trinken, an Wohnung
und Gesundheit, weil beim Notleidenden „gerade die Abwesenheit Gottes der
tiefste Grund des Leidens“ sei (31c).
Der Einsatz der Kirche gegen die Not in der Welt führt diese letztlich noch hinaus über die Absicht, irdischem Elend zu wehren. Die Enzyklika gewinnt an
einer Stelle apostolisch-missionarischen Elan. Beim Hinweis auf die „Volontäre“
beachtet sie die Chance, die karitativer Einsatz den Mitarbeitern für menschliche
Reifung und für die Erziehung zur Selbstlosigkeit bietet. „Der Anti-Kultur des
Todes … tritt damit die Liebe entgegen, die nicht sich selbst sucht, sondern gerade in der Bereitschaft des Sich-Verlierens für den andern (vgl. Lk 17,33 par.)
sich als eine Kultur des Lebens erweist“(30b). Ein andermal ist von der „Verteidigung Gottes“ gegen alle Versuche, „ohne Gott auszukommen“(31c), die Rede.
Demzufolge hat der „Mitarbeiter jeder katholischen Organisation“ wohl Elend zu
lindern, aber letztlich steht er unter dem Auftrag, „dafür zu arbeiten, daß sich die
Liebe Gottes in der Welt ausbreitet“ (33).
Aus diesen Vorgaben folgen nach dem Text des Papstes die Anforderungen an
die Mitarbeiter der Diakonia – seien sie nun als Professionelle oder freiwillig
angetreten; auch die angewachsene Administration hat je auf ihre Weise in den
beschriebenen Horizont einzutreten. Auf die fachliche Qualität eines jeden Einsatzes wird ohne Abstriche bestanden: Der Papst wünscht sich „zunächst berufliche Kompetenz“. Doch es heißt auch, daß „sie nicht genügt“ (31a). Helfer brauchen „neben der beruflichen Bildung vor allem Herzensbildung“. Die Enzyklika
nennt die Frucht solcher Schulung in der unnachahmlichen Sprache des Papstes
„ein ‚sehendes Herz’“ (31 a und b). Der Text scheut sich nicht, im Anspruch an
12
den Helfer sehr weit zu gehen. Er fordert von ihm „Demut“ (35), damit die Gabe
den Empfänger nicht erniedrigt; mehr noch: Das Wort des Papstes erwartet vom
Helfer, dem Bedürftigen „nicht etwas von mir, sondern mich selbst zu geben“
(30b).
Die relativ kurze Enzyklika enthält gleich zwei Nummern (36 und 37) zum
Thema „Gebet“; sie können hier nicht referiert werden. Sie belegen aber einmal
mehr das Gewicht, das Papst Benedikt der spirituellen Dimension der diakonalen
Sendung der Kirche geben möchte.
Mit den genannten theologischen Daten eröffnet die Enzyklika dem kirchlichen
Helfer – ob inner- oder außerhalb der Agenturen – einen neuen Horizont des
Selbstverständnisses. Sie lassen erkennen, daß nicht lediglich professionelle
Effizienz zählt, wenn der Kampf gegen das Elend aufzunehmen ist. Mitarbeiter
der kirchlichen Werke und freiwillige Helfer sind einer spezifischen „Philosophie“ eingeordnet, die im Sinne erfolgreichen Marketings die ganze Institution
zu kennzeichnen hat. Mehr noch nötigt alle die Botschaft Jesu Christi, den Imp erativ des Einsatzes immer am Indikativ des Glaubens festzumachen. Die Liebe
ist uns im Doppelgebot aufgetragen. Wir stehen unter dem ständigen Appell, uns
selbst der Botschaft von Gottes Liebe zu öffnen; wir können uns nicht auf sachhaft-unpersönliches Anstreben der Ziele beschränken. Nur wenn unsere Absicht
die Glaubensbelange einbezieht, wird sie uns als Helfern gerecht. Die selige
Mutter Teresa von Kalkutta ist ein untrügliches Beispiel, daß solche Sensibilität
nicht zu Lasten der Durchschlagskraft geht.
Paradigmenwechsel
Durch die Jahrhunderte hin fühlten sich in Deutschland eine Vielzahl von Ordensgemeinschaften dem Kampf gegen Armut und Elend verpflichtet. Annähernd 700.000 Männer und Frauen standen etwa im Jahr 1910 in diesem Dienst
Christi. Sie hatten in ihrer Vorbereitung auf den Ordenseintritt und als Ordenschristen in der ständigen Begleitung eine verläßliche theologisch-spirituelle Begleitung. So waren sie gegen alle Versuchung gewappnet, ihre Arbeit allein
pragmatisch-empirisch anzugehen. Die Nicht-Ordenschristen, die sich als Freiwillige ihnen oftmals anschlossen, erhielten Inspiration durch kraftvolle Glaubensgestalten, ein prägendes Gemeinschaftsleben und entsprechende Zusammenschlüsse.
Heute stellt sich die Bewältigung menschlicher Not wesentlich komplizierter dar
als in früheren Zeiten. Sie in Angriff zu nehmen, meint sich differenzierten Aufgaben politischer, ökologischer, sanitärer, anthropologischer und administrativer
Art zuwenden zu müssen. All das verlangt eine technisch korrekte Durchführung
mit gediegener Vorbildung, der auch Kurse und Examen entsprechen.
Nichts desto weniger kann jedoch in unseren Tagen auf das Glaubensfundament
und das christliche Zeugnis der Träger kirchlicher Liebestätigkeit verzichtet
werden; es ist in der „Postmoderne“ keineswegs schlicht vorauszusetzen oder gar
verzichtbar. Weil die diakonia zu den drei Grundsendungen der Kirche gehört,
und wir – wie beschrieben – in die Kultur einer generellen Philanthropie einge13
treten sind, nötigt sie zu einem neuen Aufbruch. Die Voraussetzungen für die
Glaubensweitergabe und für die Verantwortung beim Gottesdienst – die anderen
beiden kirchlichen Hauptaufgaben – wurden immer schon reflektiert und eingefordert; zahlreich sind Überlegungen und Verlautbarungen etwa für die Weitergabe des Evangeliums in der Katechese; das Kirchenrecht formuliert klar die
Bedingungen, unter denen Männer und Frauen mit liturgischen Funktionen beauftragt werden können. Die neue Enzyklika lehrt, daß für den dritten Grunddienst der Kirche, die Diakonia etwas Ähnliches ansteht.
Papst Benedikt XVI. drängt die Glieder der Kirche selbstredend, sich wie bisher
für den Kampf gegen die Not in der Welt einzusetzen, wirksame Ziele zu formulieren und deren Realisierung anzustreben. Gleichzeitig nimmt er beim Blick auf
das Helfen einen Paradigmenwechsel vor: Angesichts einer gewandelten Welt
muß zu Programmen und Projekten ein Zweites kommen: Die Personen, die im
Namen der Kirche Zeugnis geben von der Liebe Gottes, sind vom Glauben her
zu formen und zu prägen. Mit der Glaubensorientierung christlicher Helfer steht
und fällt das Spezifikum im Kampf gegen die Not, das nur die Kirche der
Menschheit anbieten kann. Den Hirten der Kirche kommt damit die Verantwortung zu, das fällige Curriculum zu erstellen. Die geschichtliche Vorreiterrolle
genau wie die große Zahl der Engagierten legt gerade den deutschen Diözesen
eine sensible Rezeption dieses päpstlichen Impulses nahe. In der deutschen Welt
kirchlichen Sozialengagements ist Handlungsbedarf angesagt.
Erzbischof Dr. Paul-Josef Cordes ist Präsident des Päpstlichen Rates Cor unum
in Rom.
14
Hans Braun
Darf man noch vom Sozialstaat reden?
I. Der Sozialstaat als „kulturelle Leistung“
Bei der Verleihung des Oswald von Nell-Breuning-Preises der Stadt Trier an den
früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte dieser am 18. Oktober 2005: „Das
20. Jahrhundert hat zwei Weltkriege erlebt. Es hat Hitler und Stalin und Mao
Zedong erlebt. Aber es hat auch den europäischen Wohlfahrtsstaat hervorgebracht. Er ist in meinen Augen die bedeutendste kulturelle Leistung, welche die
europäischen Nationen im Laufe des schrecklichen zwanzigsten Jahrhunderts
zustande gebracht haben.“1 Nun ist der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ in Deutschland häufig negativ besetzt, nämlich als ein Gebilde, das seine Bürger „von der
Wiege bis zur Bahre“ betreut, damit aber auch bevormundet und in ihrer Freiheit
beschränkt. So findet sich, Norbert Hinske zufolge, schon bei Kant eine Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat mit seinem Paternalismus und ein Plädoyer für
den Sozials taat.2 Nun sprach Helmut Schmidt in dem zitierten Passus zwar von
Wohlfahrtsstaat, im weiteren Verlauf seiner Ausführungen war aber von Sozialstaat die Rede. Vor allem meinte er in der Sache das, was wir in Deutschland
gewöhnlich unter Sozialstaat verstehen. Im internationalen Kontext ist die Unterscheidung zwischen Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat im übrigen weitgehend
unbekannt.
II. Die Idee des Sozialstaats
Worin besteht nun aber die kulturelle Leistung des Sozialstaats? Sie besteht
darin, daß einem ele mentaren Strukturprinzip menschlichen Zusammenlebens,
nämlich der Solidarität, ein organisatorischer Rahmen gegeben wird, der den
Lebensbedingungen in der modernen Gesellschaft entspricht.3 Gewiß ist auch für
die Menschen in der modernen Gesellschaft die Solidarität, die sie in der Familie, im Freundeskreis oder bei ehrenamtlichem Engagement erfahren, nach wie
vor von existenzieller Bedeutung. Und diese Form der Solidarität wird auch
nicht durch die organisierte Solidarität des Sozialstaats ersetzt werden können. In
diese Richtung nur zu denken, wäre schon im Ansatz verfehlt. Wohl aber kann
sozialstaatlich organisierte Solidarität dazu beitragen, daß vorgelagerte Formen
der Solidarität auf für die Beteiligten verläßliche Weise praktiziert werden können. Wenn die alten Eltern nicht mehr in dem Maße, wie es in vergangenen Jahrhunderten der Fall war, wirtschaftlich von ihren erwachsenen Kindern abhängig
sind, und wenn diese erwachsenen Kinder wiederum nicht bei allem, was sie tun,
überlegen müssen, wie sich dies auf die Versorgung ihrer alten Eltern auswirkt,
dann trägt dies sicherlich auch zur Entspannung der Beziehungen zwischen den
Generationen bei.
15
Die sozialstaatlich organisierte Solidarität manifestiert sich vor allem in den
Bereichen Einkommenssicherung und Gesundheit. Dazu kommen die Bereiche
Wohnen und Bildung. Durch ein staatliches Engagement in diesen Bereichen
wird gewiß nicht die conditio humana verändert – ein Anspruch, den manche
Kritiker den Befürwortern des Sozialstaats unterstellen. Wohl aber trägt der
Sozialstaat mit seinen Institutionen und Programmen dazu bei, daß eine Diagnose wie die von Thomas Hobbes, das Leben sei „nasty, brutish, and short“ in ihrer
Geltung abgeschwächt wird.4 Der Sozialstaat kann kein Wohlbefinden garantieren. Wohl aber eröffnet er dadurch, daß er ein gewisses Maß an sozialer Sicherung bietet, breiten Bevölkerungskreisen die Chance größerer Selbstbestimmung
bei der Gestaltung des eigenen Lebens.
Eine andere Funktion des Sozialstaats besteht darin, den inneren Zusammenhalt
der Gesellschaft zu sichern. Diether Döring sieht hierin geradezu die „Kernaufgabe jeder Sozialstaatspolitik“.5 In Deutschland wird diese Aufgabe traditionell
unter Beteiligung der freien Wohlfahrtspflege erfüllt – ein alles in allem bewährtes Modell.6 In der Vergangenheit stärkte der Sozialstaat den inneren Zusammenhang der Gesellschaft vor allem dadurch, daß er massenhafte soziale Exklusion, nämlich die Exklusion der Arbeiterschaft, verringerte durch die Inklusion
dieser Bevölkerungsgruppe in Systeme der sozialen Sicherung. Dies gilt im übrigen nicht nur für das 19. Jahrhundert und den Umgang mit der drängenden Arbeiterfrage. Die Exklusion verringernde Wirkung des Sozialstaats läßt sich auch
in der Geschichte der Bundesrepublik feststellen. Angesichts der gewaltigen
gesellschaftlichen Probleme, die auf der 1949 gegründeten Bundesrepublik lasteten7 , ist aus heutiger Sicht festzustellen: Das mit der sozialen Marktwirtschaft
verbundene System der sozialen Sicherung trug entscheidend zur Akzeptanz des
neuen Staatswesens und letztlich zum sozialen Frieden bei. Und dieser soziale
Friede war wiederum ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil der Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb. Der Historiker Josef Mooser stellte
dazu schon vor Jahren fest, der in den 50er Jahren einsetzende Ausbau des Sozialstaats sei der „am eindeutigsten politisch zurechenbare Faktor in der Lage der
Arbeiter in den vergangenen 100 Jahren und wohl die hauptsächlichste Quelle
ihrer Loyalität zum politischen System der Bundesrepublik“.8
III. Unbefriedigende Antworten auf zentrale Herausforderungen
Wenn seine Wirkungen alles in allem positiv waren, wie konnte es dann aber
dazu kommen, daß der Sozialstaat so in Verruf geraten ist? In gewissen Kreisen
gehört es ja geradezu zum guten Ton, über die negativen Seiten des Sozialstaats
zu diskutieren oder ihn gar als den Ausdruck einer gesellschaftlichen und politischen Fehlentwicklung schlechthin zu betrachten. Eine eigene Spezies sind dabei
die gut besoldeten Sozialstaatskritiker im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Sie
beklagen gerne ein überzogenes Sicherheitsdenken und eine unersättliche Begehrlichkeit der Bürger, erheben aber gegen jeden Beihilfebescheid Einspruch,
weil sie der Auffassung sind, ihnen stünden ein paar Cent mehr zu.
16
Nun gibt es natürlich genug Gründe, Kritik am Sozialstaat zu üben – wie an
jedem anderen Staatstyp auch. Und solche Kritik liegt insbesondere in einer
Situation nahe, in der eine gewisse Hilflosigkeit der Politik unübersehbar ist, mit
Konzepten, die über den Tag hinaus Bestand haben, auf die heutigen Herausforderungen zu reagieren. Dabei geht es insbesondere um vier Herausforderungen.
1. Eine erste Herausforderung stellt die demographische Entwicklung dar. Nahezu alle entwickelten Länder sind, natürlich in unterschiedlichem Maße, mit der
Tatsache konfrontiert, daß im Zusammenspiel von sinkenden Geburtenraten und
steigender Lebenserwartung der Anteil der alten Menschen – die political correctness würde eigentlich verlangen, von Senioren zu sprechen – an der Gesamtbevölkerung wächst. Setzt man Alter mit der Nichtbeteiligung am Erwerbsleben
und damit dem Fehlen von Erwerbseinkommen gleich, dann bedeutet dies, daß
die Aufwendungen für die wirtschaftliche Sicherung dieser in ihrem Umfang
zunehmenden Bevölkerungsgruppe wachsen müssen. Dies wirkt sich bei umlagenfinanzierten Systemen unmittelbar als steigende Belastung derjenigen aus,
die im Erwerbsleben stehen – es sei denn, man kürzt die Renten. Bei kapitalgedeckten Systemen ist dieser Zusammenhang abgeschwächt, längerfristig bleiben
aber auch diese Systeme vom demographischen Wandel nicht unberührt.
Neben dem System der Alterssicherung ist auch das System der Gesundheitsversorgung von der demographischen Entwicklung betroffen. Es ist nun einmal eine
nicht zu leugnende Tatsache, daß Menschen mit steigendem Alter vermehrt me dizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Mit der Zunahme der Zahl der
Hochbetagten wächst zudem auch der Bedarf an ambulanten Betreuungs- und
Pflegediensten sowie an entsprechenden teilstationären und stationären Einrichtungen. Zwar ist Alter nicht von vornherein gleichbedeutend mit Hilfe- oder
Pflegebedürftigkeit, doch wächst mit steigendem Alter die Wahrscheinlichkeit,
auf die Hilfe und Pflege durch andere angewiesen zu sein.9
2. Unter Druck gerät der Sozialstaat auch aufgrund der Entwicklung am Arbeitsmarkt. In den hohen Arbeitslosenzahlen spiegeln sich noch immer die Folgen des Zusammenbruchs der Wirtschaft in der ehemaligen DDR und die dadurch notwendig gewordene Anpassung von Unternehmen und Arbeitskräften an
neue Gegebenheiten wider. In den Zahlen kommen aber auch die Folgen eines
seit mehr als zwei Jahrzehnten zu beobachtenden Prozesses zum Ausdruck, bei
dem sich der Sockel an Arbeitslosen von einer wirtschaftlichen Krise zur nächsten erhöhte. Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt in Deutschland wie auch in
unseren Nachbarländern zu. Der Gefahr, arbeitslos zu werden oder arbeitslos zu
bleiben, sind besonders Menschen ohne Berufsausbildung, solche im fortgeschrittenen Lebensalter und solche mit gesundheitlichen Einschränkungen ausgesetzt.
3. Belastungen erwachsen dem Sozialstaat weiterhin aus der zunehmenden Individualisierung der Lebensgestaltung bei gleichzeitiger Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Die Individualisierung der Lebensgestaltung führt unter gesamtgesellschaftlicher Betrachtung zu einer Vielzahl von gleichzeitig nebeneinander bestehenden Lebensformen, eben zu der in den Sozialwissenschaften hinlänglich betrachteten Pluralisierung der Lebensstile. In diesem Prozeß der Plura17
lisierung geht der Anteil der „Normalfamilien“ zurück, die Zahl der Alleinerziehenden steigt, nichteheliche Lebensgemeinschaften gewinnen an Akzeptanz, die
Zahl der Alleinlebenden wächst. Dies muß nicht notwendigerweise zu einer
Isolierung des einzelnen und zum Rückgang wechselseitiger Unterstützung führen. Wohl aber kann die Erfüllung von Aufgaben, die traditionell mit der Le bensform „Familie“ verbunden war, nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit erwa rtet werden, wie noch vor 40 oder 50 Jahren. Zusammen mit der
Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen, von Zeitarbeit und von Scheinselbständigkeit führt die Individualisierung der Lebensgestaltung dazu, daß bei
immer weniger Menschen von einer „Normalerwerbsbiographie“ gesprochen
werden kann. Unter diesen Umständen kann ein System der Alterssicherung, das
an die kontinuierliche Erwerbsbeteiligung gebunden ist, seine Sicherungsfunktion nicht mehr erfüllen.
4. Schließlich ist als vierter Faktor in diesem Zusammenhang die Globalisierung
zu nennen. Aufgrund einer dramatischen Verringerung von Transaktionskosten,
insbesondere von Transportkosten und Kommunikationskosten, kommt es zu
einem verstärkten internationalen Wettbewerb. Es ist dies ein Wettbewerb um
die Attraktivität von Standorten. Dabei spielen neben Faktoren wie natürliche
Ressourcen und Verkehrsanbindung auch die staatliche Regulierungsdichte und
die Lohnkosten eine Rolle. Und hier scheinen entwickelte Sozialstaaten zunächst
einmal im Nachteil zu sein. Allerdings ist bei der Standortdiskussion zu bedenken, daß es neben Faktoren wie Verkehrsinfrastruktur und Lohnkosten auch
„weiche“ Standortfaktoren gibt. In diesem Sinne sprach der amerikanische Ökonom Dani Rodnik schon vor zehn Jahren davon, daß es eher die institutionelle
Ausstattung einer Gesellschaft (domestic institutions) sei, die Einfluß auf Investitionsentscheidungen habe, als Arbeitskosten oder Steuern. Zu der Qualität der
Institutionen zählte er Rechtsstaatlichkeit, „good governance“, soziale und politische Stabilität, eine angemessene Infrastruktur und eine ausgebildete Arbeitnehmerschaft.10 Dennoch, und dies ist nicht zu bezweifeln, setzt natürlich die Globalisierung den Sozialstaat unter Druck – und sei es auch nur in der Form, daß
„Globalisierung“ als Waffe im öffentlichen Diskurs benutzt wird. Ohne Zweifel
hat diese Waffe zu einem Meinungsklima beigetragen, das Michael Stolleis so
charakterisiert: „Plötzlich erscheint vielen das ‚Soziale’ als parasitäre Schlingpflanze am Baum des Bruttosozialprodukts, die man herunterreißen oder doch
wenigstens beschneiden muß.“11
IV. Strukturprobleme
Zu den exogenen Herauforderungen, welche Zweifel an der Problemlösungsfähigkeit des bisherigen Sozialstaatsmodells nähren, kommen nun noch endogene
Probleme.
1. Da ist zunächst einmal die Tatsache, daß Sozialpolitik Teil des gesamten politischen Prozesses ist. Über die Gewährung von sozialen Leistungen kann man
Wählerstimmen gewinnen. Umgekehrt riskieren Parteien den Verlust von Wählerstimmen, wenn sie sich dafür einsetzen, daß Sozialleistungen zurückgeschnit-
18
ten werden. Dies führt dazu, daß die großen Parteien oftmals vor grundlegenden
Reformen zurückschrecken.
2. Ein zweites strukturelles Problem resultiert aus den – gut gemeinten – Bestrebungen, Leistungen möglichst zielgenau und auf die Lebensbedingungen der
Menschen abgestimmt zu erbringen. Gerade wenn die Leistungen aber immer
spezifischer werden, wird es als besonders problematisch empfunden, wenn sie
aus der Sicht der Adressaten letztlich doch nicht auf ihre besondere Situation
passen. Die Differenzie rung von Leistungen führt weiterhin dazu, daß das Sozialleistungssystem immer weniger durchschaubar wird. Die Intransparenz eines
für die Menschen so wichtigen Systems wie des Sozialleistungssystems hat aber
Gefühle der Unsicherheit bei den Bürgern zur Folge. Das heißt in letzter Konsequenz, daß ein von seiner Zielsetzung her auf die Herstellung von Sicherheit,
nämlich von sozialer Sicherheit, angelegtes System wiederum Unsicherheit erzeugt. Man könnte hier von Unsicherheit zweiter Ordnung sprechen. Gleichzeitig
verstehen es „Forderungsexperten“, für sich Vorteile aus dem System herauszuholen, die der Mehrzahl der Bürger angesichts der Komplexität der Systeme
nicht zugänglich sind. Auch dies wird von den Menschen als fehlende soziale
Gerechtigkeit angesehen.
V. Wandel zur Erhaltung der Substanz
Ist der Sozialstaat also doch am Ende? Sollten wir vom Sozialstaat am besten
nicht mehr reden, oder allenfalls in dem Sinne, daß es sich um ein historisches
Phänomen handelt? Die Antwort: Wir sollten auch weiterhin vom Sozialstaat
reden, nämlich als Träger organisierter Solidarität, worin ja letztlich seine „kulturelle Leistung“ besteht. Mit seinen Institutionen und Programmen gibt der Sozialstaat für die Menschen in den meisten entwickelten Ländern einen Rahmen ab,
in dem sich individuelle Lebensentwürfe entfalten und persönliche Beziehungen
losgelöst von direkten ökonomischen Abhängigkeiten entwickeln können. Insofern kann dem Sozialstaat eine freiheitsfördernde Funktion zugeschrieben werden. Der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio formulierte dies so: „Soziale
Sicherheit ist ein gutes Stück weit eine Voraussetzung, um als Person nicht nur
im formellen Sinn ‚frei’ genannt zu werden, sondern sich in seiner Freiheit auch
bewähren zu können.“12
Allerdings kann durch sozialstaatliche Entwicklungen Freiheit auch beschnitten
werden. Etwa wenn der Sozialstaat, weil seine Repräsentanten zu wissen glauben, was für die Bürger gut ist, unmittelbar in deren Lebensalltag eingreift. Dies
verbinden wir Deutschen im übrigen gewöhnlich mit der Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat. Verlust von Freiheit kann auch dadurch entstehen, daß Menschen
Freiheit selbst aufgeben, indem sie sich gleichsam in sozialstaatlichen Systemen
einnisten und sich auf den Konsum sozialstaatlicher Leistungen spezialisieren.
Wird dies zu einer massenhaften Erscheinung, dann wird der Sozialstaat unweigerlich überstrapaziert. Und er wird es dann umso mehr, wenn politische Parteien versuchen, mit Sozialleistungen ihre Klientel zu bedienen, um sich deren
Wählerstimmen zu sichern.
19
Indessen ist das Einwerben von Wählerstimmen durch die Expansion von Sozialleistungen schon seit längerem vorbei. Heute geht es darum, sich politische Unterstützung dadurch zu verschaffen, daß man notwenige Umstrukturierungen von
bestimmten Gruppen möglichst lange abwendet. Dies ist freilich kein spezifisches Problem des Sozialstaats, sondern erfährt in diesem lediglich eine eigene
Ausprägung. Mitunter hat es zudem den Anschein, daß Politiker die Einsicht der
Bürger in die Notwendigkeit von Umstrukturierungen unterschätzen. Nicht selten geht der Unmut der Bürger darauf zurück, daß Umstrukturierungen nicht
angemessen kommuniziert wurden. Was die Bürger nämlich sehen wollen, ist,
welcher Logik die Einschnitte folgen, die sie treffen. Und sie wollen sehen, in
welchem Verhältnis diese Einschnitte zu den Einschnitten bei anderen Gruppen
stehen. Was aber sind die Strukturentscheidungen, die getroffen werden müssen,
um den Sozialstaat als Rahmen organisierter Solidarität zu erhalten? Es geht vor
allem um fünf Strukturentscheidungen.
1. Zunächst einmal geht um die stärkere Abkoppelung der Mittelaufbringung
vom Arbeitsverhältnis, um die Arbeitskosten nicht weiter ansteigen zu lassen.
Das heißt, daß soziale Sicherung zukünftig stärker als heute finanziert wird
durch die Einbeziehung verschiedener Einkommensarten und in manchen Bereichen auch über das Steuersystem. In diesem Zusammenhang, darin sind sich die
meisten Ökonomen einig, wird es auch darum gehen, das dominierende Umlageverfahren durch kapitalgedeckte Systeme sowie durch individuelle Vorsorge zu
ergänzen. Letzteres ist natürlich nur dann möglich, wenn die Menschen die entsprechenden Mittel dazu haben, was im konkreten Fall eben auch heißen kann,
daß individuelle Vorsorge bis zu einem gewissen Grad subventioniert wird.
2. Zweitens ist sicherzustellen, daß bei der Gewährung von Leistungen an heutige Generationen berücksichtigt wird, welche Lasten dadurch zukünftigen Generationen aufgebürdet werden. Wolfgang Prisching zufolge lebt die heutige Gesellschaft nämlich „in mancher Hinsicht von einer unverschämten Ausbeutung
der Kinder- und Enkelgeneration“.13 Was die Verteilung der Lasten auf die Ge nerationen anbelangt, so stehen heute etwa in Gestalt der „Generationenbilanzierung“ durchaus Instrumente zur Verfügung, welche die Belastung zukünftiger
Generationen sichtbar machen. Erforderlich ist der politische Wille, diese Instrumente bei der Entscheidung über die Neujustierung bestehender und die
Einführung neuer Sozialleistungen auch tatsächlich einzusetzen.
3. Drittens sind sowohl die Mittelaufbringung als auch die Leistungsprogramme
einfacher und damit transparenter zu gestalten. Sicherlich wird man auf diese
Weise dem Einzelfall weniger gerecht als mit differenzierteren Programmen.
Doch auch differenzierte Programme werden immer hinter der noch differenzierteren Wirklichkeit zurückbleiben und vor allem denen zugute kommen, welche
etwa als Angehörige höherer Statusgruppen über ein besseres Wissen verfügen.
Alles in allem dürfte die „Ungerechtigkeit“, die durch einfache Lösungen entsteht, geringer sein als die „Ungerechtigkeit“, die aus differenzierten Lösungen
dadurch erwächst, daß vor allem „Forderungsexperten“ davon profitieren. Dies
gilt im übrigen auch für das Steuersystem.
20
4. Viertens geht es darum, die Bereitschaft der Bürger zu erhalten, solidarisch
zur Aufbringung der Mittel für sozialstaatliche Leistungen beizutragen. Das
bedeutet, und dies ist in manchen Kreisen ein sehr unpopulärer Gedanke, daß
diejenigen, welche durch ihre Beiträge und Steuern Sozialleistungen finanzieren,
sehen, daß auch die Empfänger solcher Leistungen bereit sind, sich im Rahmen
ihrer Möglichkeiten an der Sicherung ihres Lebensunterhalts zu beteiligen. Hier
liegt auch das eigentliche Problem dessen, was in den letzten Jahren als Sozialhilfemißbrauch diskutiert wird. Es ist, bislang zumindest, nicht die Höhe, in der
Sozialleistungen unberechtigterweise in Anspruch genommen werden. Es ist die
Tatsache an sich. Denn jeder bekannt gewordene Fall von Mißbrauch trägt dazu
bei, daß die Be reitschaft von Beitrags- und Steuerzahlern schwindet, sich mit den
Benachteiligten der Gesellschaft solidarisch zu zeigen.14 Diese Gefahr wird derzeit in unverantwortlicher Weise unterschätzt.
5. Schließlich geht es um die Anerkennung der Tatsache, daß zu einer über den
Tag hinausreichenden Sozialstaatspolitik Investitionen in Bildung gehören. Damit sind nicht nur Exzellenzinitiativen im Hochschulbereich gemeint. Es geht
auch und vor allem um Bildungsmaßnahmen im schulischen und beruflichen
Bereich. Wenn die Diskussion um eine neue Unterschicht eines gezeigt hat, dann
das, daß unzureichende schulische Bildung und fehlende Berufausbildung entscheidend zur Verfestigung von prekären Lebenslagen beitragen. Mit Modellen
zur gezielten schulischen und beruflichen Förderung von jungen Menschen aus
sozial schwachen Milieus werden wir nicht das Problem aus der Welt schaffen,
daß nicht alle den Anforderungen unserer modernen Gesellschaft gerecht werden. Wohl aber läßt sich dieses Problem reduzieren.
Die zu lösenden Aufgaben sind gewiß nicht einfach – als einzelne nicht und in
ihrer Gesamtheit schon gar nicht. Und die Widerstände sind unübersehbar. Wie
Umfragen zeigen, ist die Akzeptanz des Sozialstaats in der Bevölkerung allerdings immer noch hoch. Dies mag zum Teil in nach wie vor bestehenden unrealistischen Vorstellungen von dessen Leistungsfähigkeit begründet sein. Wichtiger dürfte aber ein Zusammenhang sein, auf den Wolfgang Zapf schon vor zwei
Jahrzehnten verwies, daß nämlich Menschen dann eher Risikobereitschaft zeigen
und zu der heute unverzichtbaren Flexibilität bereit sind, wenn sie auf ein gewisses Maß an Daseinssicherheit zählen können.15 Und solche Daseinssicherheit
erwartet man eben vom Sozialstaat. Wer aber will, daß dieser Sozialstaat in seiner Substanz erhalten bleibt, der muß zu weitreichenden Änderungen an seinen
Formen bereit sein. Solche Änderungen in praktikable Konzeptionen zu gießen
und diese verständlich zu kommunizieren, ist gewiß mühsam. Es ist aber, und
dies könnte man auch als gute Nachricht für Politiker und Wissenschaftler ansehen, auch nicht langweilig!
Anmerkungen
1) Helmut Schmidt: Dankrede anläßlich der Verleihung des Oswald-von-Nell-BreuningPreises am 18. Oktober 2005. In: Neues Trierisches Jahrbuch. 46. Band. Trier 2006, S.
243.
21
2) Norbert Hinske: Kants Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat und sein Plädoyer für den
Sozialstaat. In: Maximilian Wallerath (Hrsg.): Fiat iustitia. Recht als Aufgabe der Vernunft. Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag. Berlin 2006, S. 627-637.
3) Siehe hierzu Hans Braun: „Und wer ist mein Nächster?“ Solidarität als Praxis und als
Programm. Tübingen 2003, S. 15-19.
4) Thomas Hobbes: Leviathan or the Matter, Forme & Power of Commonwealth, Ecclesiastical and Civill. Herausgegeben von A. R. Waller. London 1904, S. 84.
5) Diether Döring: Der verlorene Charme des Sozialstaats. Ein Vergleich der verschiedenen europäischen Strategien und ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2006, Nr. 180, S. 13.
6) Siehe Hans Braun: Die Wohlfahrtsverbände im Markt sozialer Dienstleistungen. In:
Die Neue Ordnung, 4/1997, S. 259-268.
7) Siehe hierzu Hans Braun: Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale
und politische Ursachen und Erscheinungsweisen. In: Archiv für Sozialgeschichte. XVIII.
Band, Bonn 1978. S. 283-288.
8) Josef Mooser: Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive. In: Werner Conze, M. Rainer
Lepsius (Hrsg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem. Stuttgart 1983, S. 163.
9) Siehe hierzu Hans Braun: „Lebensqualität“ im Alter. Gesellschaftliche Vorgaben und
individuelle Aufgaben. In: Die Neue Ordnung, 4/2003, S. 251 f.
10) Dani Rodrik: Upside. Downside. The benefits of globalization could be jeopardized if
governments fail to address the problems it engenders. In: Time, 7. Juli 1997, S. 41.
11) Michael Stolleis: Armut und Reichtum in der Industriegesellschaft. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 2/2006, S. 74.
12) Udo di Fabio: Das bedrängte Drittel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Oktober
2006, Nr., 251, S. 8.
13) Manfred Prisching: Der Sozialstaat in Turbo-Zeiten. In: Alexandra Caster, Elke Groß
(Hrsg.): Sozialpolitik im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Festschrift für
Hans Braun. Frankfurt 2001, S. 31.
14) Siehe Hans Braun: Zwischen Spontaneität und Organisation: Probleme der Solidarität
in der modernen Gesellschaft. Reden an der Universität Trier. Trier 2004, S. 19.
15) Siehe Wolfgang Zapf u.a.: Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur
Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. München 1987.
Prof. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier.
22
Hans-Peter Raddatz
Allah und die Juden
Historische Stationen des islamischen Antisemitismus
I. Judentum und Zeitenwende
Seit es das Volk Israel gibt, verknüpfte sich seine Existenz so grundlegend mit
Jahwes geschichtlichem Wirken und seinen prophetischen Kräften, daß es auch
den Eliten unmöglich wurde, sich vom Interesse des Volkes zu distanzieren.
Immer dann, wenn sie es dennoch taten, wenn sie die Glaubenspraxis veränderten oder in den Lauf der Geschichte eingriffen, nahmen sie negative Folgen in
Kauf, die – je nach Tragweite – bis an die Existenz selbst gingen. Mit anderen
Worten: Jüdisches Denken und Handeln sind im Interesse des eigenen Könnens
und Vorteils frei, bedürfen aber im Interesse der Gemeinschaft und ihres praktisch gelebten Glaubens der ständigen Selbstbesinnung und Selbstbefragung –
also des Gewissens.
Das babylonische Exil hatte diesen Kontext eindrucksvoll bestätigt. Unter denkbar größtem Druck, sublimiert durch die Propheten, erreichten das Gottesbild
und der Glaube daran neue Stufen der Abstraktion. Das Heilige und die Gegenwart Gottes weiteten sich in eine grenzenlose Qualität aus, die die Bindung des
Volks an das Land aufhob und dem geschichtlichen Judentum eine universale,
aber weiter an das Volk gebundene Dimension gab.
Die Symbiose zwischen gedachtem Heiligtum Jerusalem und gedachter Gegenwart Gottes hob Volk und Glaube in eine geschichtliche Transzendenz, die sie
sozusagen „diasporafähig“ machte. Seither pflegten die Anhänger dieser Religion ein historisches Gottesbewußtsein auf komplexerer Ebene und suchten danach
auch ihr ethisches Netzwerk der Selbsttreue weiter zu entwickeln: Förderung der
Fähigkeiten, Achtung vor dem Leben, Stärkung der Gemeinschaft und Ehrfurcht
vor den Geboten.
Die Jahwe-Verheißung, aus dem Niedergang der Fremdherrschaft einen neuen
Aufstieg zu beziehen, hatte sich für die Juden in der Tat schon mehrfach erfüllt.
Daß sie immer wieder auch selbst von solcher Dekadenz erfaßt werden konnten,
bestätigte sich einmal mehr in der wirren Abfolge israelitischer Despoten, deren
Treiben schließlich die neue Weltmacht der Römer ein Ende setzte.
Wie so oft in der Geschichte, hatte auch in Israel der doppelte Druck aus innerem
Zerfall und äußerer Herrschaft die Neigung zu apokalyptischem Denken gefördert, das den Boden für die jüdisch-christliche Zeitenwende vorbereitete. Neben
den gesetzestreuen Pharisäern gab es aktive Kräfte wie die Zeloten, die die
„Heerscharen des Gottesreiches“ unterstützen wollten, um die Freiheit Israels
wieder herzustellen. Nicht zuletzt formierten sich allerlei Sekten wie die Essener,
23
die den Glauben ethisch lebten und sich spirituell auf ein neues, nicht näher
bestimmbares Zeitalter fixierten.
Die in solchen Situationen – und besonders auch in dieser Zeit – wirkende Furcht
ließ allen Parteien die diffuse Zukunft als „Finsternis“ erscheinen, der man selbst
als Vertreter des „Lichts“, des „Friedens“, des „Guten“ überhaupt gegenübertrat.
Diese Sicht schloß auch die Eliten – die eigenen und die fremden – als das „Böse“ ein, weil sie die Herrschaft und Zukunft besetzten und damit Teil des Problems waren. In dieser Lage begann nun der Wander- und Wunderprediger Jesus
von Nazareth von sich reden zu machen.
Indem er eine Lehre gegen geistige und physische Gewalt verkündete, die den
einzelnen Menschen ansprach – „ich aber sage euch“ – wurde er zum Exponenten des Widerstands gegen Glaubens- und Machtmißbrauch. Da in apokalyptischen Zeiten Gottes- und Weltreichideen verschwimmen, machten sich nicht nur
die Friedenssekten, sondern auch die Kreise, die von einer profanen Befreiung
Israels träumten, verstärkte Hoffnungen. Sowohl die Kämpfer – „macht euch die
Welt untertan“ – als auch die Dulder – „mein Reich ist nicht von dieser Welt“ –
konnten sich an den Leitsätzen dieses eigentümlichen Aufrührers bedienen.
Da sich seine Lehre eindeutig gegen die Eliten richtete, bewirkte sie eine Allianz
der römischen Macht mit den führenden Juden. So wie Statthalter Pontius Pilatus, so wuschen auch die Pharisäer bei der Verdammung Jesu „ihre Hände in
Unschuld“, weil er ihre Gesetze, ihre Amtshoheit und ihre Schuldlosigkeit in
Frage stellte: „... der werfe den ersten Stein!“
Der Tod Jesu überstieg alles bis dahin Gekannte. Indem ihn die „schuldlosen
Hände“ ans Kreuz nagelten, meinten die Eliten, ihre lädierte Unantastbarkeit zu
heilen, stellten statt dessen jedoch die Machtfrage für alle Zeit zur Disposition.
Es erscheint als göttliche Ironie, daß sie entgegen ihrer Intention ein übergeschichtliches Gewissen freisetzten, das sich der untrennbaren Bindung zwischen
Gott, Macht und Mensch bewußt geworden war. Indem der Verzicht auf Macht
den Anspruch auf Macht überwindet, der Geist den Buchstaben überschreitet –
wie Jesus sagt, „das Gesetz erfüllt“ – stellt sein Tod um so schonungsloser die
Banalität der Gewalt bloß, die sich aus der simplen Usurpation des Buchstabens
ergibt.
Einmal in die Welt getreten, war dieses neue Bewußtsein – wie die Auferstehung
symbolisiert – unzerstörbar geworden und hatte die Wende der Zeiten eingeleitet. Wer nach diesem singulären Ereignis fortfuhr, machtbildende Maßnahmen
mit dem „unerforschlichen Ratschluß Gottes“ zu begründen, brachte den Geist
Jesu sozusagen nicht mehr in die Flasche zurück. Ob er wollte oder nicht – er
mußte Rechenschaft ablegen, welche Rollen das Volk und die Eliten in diesem
„Ratschluß“ spielen sollten.
Nachdem die Römer den jüdischen Staat in den Jahren 70 vorläufig und 135 n.
Chr. endgültig zerschlagen und das Volk Israel in alle Winde vertrieben hatten,
spielte dessen kollektives Ethiknetz eine um so größere Rolle und wurde zu den
unaufgebbaren Grundlagen jüdischer Existenz. Im Sinne des individuellen Wissens, Könnens und Vorteils sind die Juden frei; als Teil des kollektiven Gewis24
sens in der Diaspora sind sie jedoch an die Pflicht gebunden, ihre geistigen Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten (Ps. 10,15;112,1-3) in den Dienst des
Gemeinschaftsinteresses zu stellen.
II. Das Siegel von Medina
1. Definition der Gegenreligion
In diesem Geist lebten auch die Juden, die es auf einer der großen Fluchtlinien
aus dem Gelobten Land nach Arabien verschlagen hatte. Während die Christen
ein Zentrum in Nadjran (Nordjemen) bildeten, hatten sich die vertriebenen Juden
vornehmlich im Südjemen und im westarabischen „Medina“ niedergelassen.
Nicht nur diesen aramäisch-arabis chen Namen (Stadt, Gerichtsbezirk) erbten die
Muslime von den Juden,1 sondern die Stadt selbst, in der sie immerhin die Hälfte
der Bevölkerung stellten. Um Verwechslungen zu vermeiden, ergänzten sie den
Namen später zur „Stadt des Propheten“. Nicht ganz unberechtigt läßt sich also
von Medina als einer „jüdischen Gründung“ sprechen.
Als der Islamverkünder um 610 in die Geschichte trat, stieß er also mit dem
Juden- und Christentum in Arabien auf Religionen, die der Verantwortung des
Menschen vor Gott einen hohen Stellenwert einräumten. Da es ihn zur Schaffung
einer alternativen Religion nebst dazu passender Schrift drängte und dieses Zentrum des Glaubensgeistes weitgehend gefüllt war, wich er auf die noch freien,
von Juden und Christen gemiedenen Denkräume aus. Damit diese Gegenwelt
wiederum „glaubwürdig“ werden konnte, waren die etablierten Religionen allerdings zu „Verfälschungen“ und die vorislamische Zeit zu „Unwissenheit“ zu
erklären.
Um sich gegen das Gewissen – Selbstwahrnehmung des Menschen in Gott bzw.
Gegenwart Gottes im Menschen – definieren zu können, mußte sich Muhammad
somit der jüdisch-christlichen Dimension „negativ unterwerfen“. Das heißt, daß
nur dann eine neue Religion und/oder Ideologie entstehen konnte, wenn er sie
unter dem Zwang der Exis tenz dieser Religionen und aus dem Gegensatz zu
ihnen, aus der Ablehnung des Nichtislam insgesamt, definierte.
So wie dieser Zwang den Islam erzeugte, so zwingt er allerdings auch seine
Anhänger, sich von diesem Zwang zu befreien, d.h. Juden- und Christentum
existentiell zu bekämpfen, zu vertreiben, im Zweifel auch zu vernichten. Wie
noch zu zeigen ist, sind Djihad – Kampf gegen den Nichtislam – und Dhimma –
die Unterdrückung des Juden- und Christentums – die unverzichtbaren Lebensbedingungen ihres Glaubens.
Um seine kontroverse Schöpfung in der Praxis zustande zu bringen, mußte Muhammad die Störenfriede nicht nur zu besagten „Verfälschern“ erklären, sondern
auch bei der Entstehung des Koran Selektionen und Korrekturen vornehmen, die
die noch freien Denkräume an die laufende Realität seiner Zeit anpaßten. Der
französische Geschichtsphilosoph Ernest Renan (gest. 1892) sah es ganz ähnlich:
„Wenn Mohammed Judentum und Christentum genau studiert hätte, dann hätte
er keine neue Religion daraus gezogen.“2
25
Muhammad auf diese Weise in einen distanzierten Blick zu nehmen, war keine
Selbstverständlichkeit. Nicht nur den christlichen Eiferern, sondern auch vielen
Aufklärern erschien er als Hochstapler, Betrüger und „blutdürstiger Schurke“
(Voltaire). Sogar Lessing, Pionier religiöser Toleranz, warf ihm vor, den Arabern
nur „Betrug, Gewalt, Unsinn und Irrtum“ gebracht zu haben.3
Der Durchbruch zu einer kühleren, wissenschaftlichen Sicht kam nicht aus dem
christlich-westlichen, sondern aus dem jüdischen Denken. In seiner vielbeachteten Dissertation („Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“)
schrieb ihm der Rabbiner und Reformjude Abraham Geiger (gest. 1874) durchaus die Vision einer neuen Religion zu. Zu sehr dem arabischen Erbe verhaftet,
habe er dabei jedoch nicht über eine defekte Sicht des Judentums hinausgelangen
können:
„So war doch theils die Macht, die die Juden in Arabien erlangt hatten, bedeutend genug, daß er sie als Anhänger zu haben wünschen mußte, obgleich er
selbst unwissend, den anderen Glaubensgemeinden überlegen, die auch durch
göttliche Eingebung verliehen worden zu sein er vorgeben mußte, sowie er dies
überhaupt gerne von allem seinem Wissen angab.“4
Muhammad habe sich bemüht, sofern er „damit gegen keine seiner anderen Absichten verstieß, ... recht Vieles dem Judenthume zu entlehnen und seinem Korane einzuverleiben.“5 Allerdings habe er nicht nur durch Fehler bei der mündlichen Übernahme, sondern auch durch willkürliche Anpassung jüdischer Traditionen an seine persönlichen Zwecke das Ziel einer neuen Religion verfehlt, vielleicht aber auch gar nicht angestrebt.
Sowohl mit der moralischen Abwertung der Juden als auch mit der Übernahme
heidnischer Traditionen (Anbetung Adams – Koran 38/73-77) habe Muhammad
sich christlichen Praktiken genähert, aber auch an lokale Bräuche gehalten.6
Indem Geiger diese und andere kritische Aussagen aus Vergleichen mit Talmud
und Midrasch (Bibelauslegung) herleitete, zwang er die westliche Wissenschaft
und christliche Theologie, nicht nur Muhammad, sondern auch die von ihnen
abgelehnten jüdischen Grundlagen in objektiverem Licht zu sehen.
Unter diesen Bedingungen konnten auch andere, bislang kaum beachtete Gesichtspunkte ins Blickfeld rücken, wie die Tatsache, daß Juden- und Christentum
in der arabischen Diaspora selbst unter dem Einfluß der Lokalkultur gestanden
hatten. Im weiteren Verlauf entspannte sich die westliche Einschätzung des Islam als eine Lehre, die in sehr kurzer Zeit in einem historischen Kontext entstanden war und sich den eher fabrizierten Charakter einer „säkularen Religion“
zugezogen hatte.
In der Tat beruht sie – nach einer formativen Phase von etwa 200 Jahren – auf
dem politischen Gesetz Allahs, das autoritäre Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen nach innen bindet und aggressiv nach außen ausrichtet. Im Gegenwartsgerede vom „einen Gott mit den Muslimen“ erscheint es nicht unangemessen, den Ursachen dieses Zwangsverhaltens nachzugehen. Immerhin wird der
islamische Gegensatz gegenüber anderen Religionen und Weltbildern von mehr
als einer Milliarde Anhängern Allahs als einzig mögliche Wahrheit empfunden,
26
die in unserer Zeit offenbar nicht ohne Konflikte auskommt. Für die große
Mehrheit von ihnen ist das „Modell von Medina“, Muhammads Urgemeinde,
auch nach 1.400 Jahren der unverändert zentrale Bezug.
Um ihn zu begründen, mußte der Verkünder eben jenen Gottesraum abstecken,
den Juden- und Christentum freigelassen hatten. Während er in die religiössoziale Materie seiner Zeit eindrang, erfaßte ihn eine innere Überzeugung, zur
Verkündung einer alternativen Eingott-Religion und eines Buches für die Araber
berufen zu sein. Er gehörte zur Sippe der Hashim, einer Seitenlinie der mekkanischen Quraysh, die den Handel in der Region und das Kultzentrum der Ka'ba
beherrschten. Im Rahmen des Klanrechts stand er nicht nur unter ihrem erweiterten Schutz, sondern hatte sich auch durch Heirat der wohlhabenden, 15 Jahre
älteren Kauffrau Khadidja wirtschaftlich abgesichert.
2. Bruder Muhammad
Den Quraysh war klar, daß die Juden in Medina eine ernst zu nehmende Kraft
darstellten. Mit ihrem überlegenen Wissen in Landwirtschaft und Bewässerung
bildeten sie ein prosperierendes Wirtschaftspotential, das erhebliche Vermögen
angehäuft hatte und entsprechende Begehrlichkeiten weckte. Eine gewisse Aggression war schon in vorislamischer Zeit aufgekommen, indem man den Juden
vorwarf, den „Schacher und Wucher im Blute“ zu haben.7 Hinzu kam ihr exklusiver Glaube, der sich jedem Einfluß entzog, insbesondere dem heidnischen
Kultbetrieb, in dem die Quraysh den Hauptgott „Allah“, den „Gott des Sirius“
anrufen ließen.8
Treibende Kraft der Kultverwaltung war die Hums -Bruderschaft (arab.: hums =
(religiös) stark, rigoros, ausdauernd). Der Einfluß der Brüder, auch „Hirmi“
(arab.: Verborgener, Pilgermantel) genannt, reichte weit über den Hidjaz hinaus
und umfaßte Herrscherfamilien in Syrien, Irak und Jemen. Ebenso kontrollierten
sie die Heiligtümer der Umgebung, zu denen auch die führenden MedinaStämme der Aus und Khazradj pilgerten. Ihr hervorstechendes Merkmal waren
exklusive Kultprivilegien, die sie kastenartig über die gewöhnlichen Menschen
hinaushoben.9
Wenn wir die Information zur Kenntnis nehmen, daß Muhammad selbst ein
„Hirmi“, ein Angehöriger der Bruderschaft war,10 kann seine Hidjra, die „Auswanderung“ von Mekka im Jahre 622, in verändertem Licht erscheinen. So wie
er sich über den altarabischen Ehrbegriff hinwegsetzte und den Auftragsmord zur
islamischen Ehrenpflicht machte, so setzte er auch die von ihm selbst verordnete,
vorislamische „Unwissenheit“ außer Kraft. Denn wenn es um Bruderschaften
ging, sollte man an den „Bündnissen der Djahiliya“ festhalten.11
Nachdem im Vorjahr Verhandlungen mit äthiopischen Christen ergebnislos verlaufen waren, kam 621 mit den Medina-Stämmen der Aus und Khazradj eine
Vereinbarung zustande. Danach würde Muhammad im Folgejahr mit seinen
Anhängern in ihre Stadt übersiedeln, um dort eine von ihm als „Prophet“ geführte Allianz zu bilden. Ein wichtiges Motiv waren dabei aussichtsreiche Verbindungen zu den Medinenser Judenstämmen, die der Aus zu den Nadir und Quray27
za, die der Khazradj zu den Qaynuqa. Berichte, nach denen Muhammads Schar
in Mekka der Verfolgung ausgesetzt gewesen sein soll, gehören eher in den Bereich der Legende. Die überwiegend junge Mehrheit der Anhänger gehörte den
oberen Schichten an und hatte von der Obrigkeit nichts zu befürchten.12
Seine Umsiedlungs-Verhandlungen mit den beiden Medina-Stämmen bekommen
ein anderes Gewicht, wenn Muhammad sie nicht als angeblich bedrängter Aussenseiter, sondern als Hirmi-Bruder geführt hat, der über bestimmte Verbindungen verfügte. Unter dem weiteren Aspekt der Klan-Loyalität zu den Quraysh und
deren Interesse am jüdischen Vermögen ließen sich theologische Differenzen
ohnehin relativieren. Jedenfalls schienen die Mekkaführer bereit, sich mit ihrem
exalt ierten Bruder zu arrangieren. Der Ältestenrat machte einen Vorschlag, der
an Pragmatismus kaum zu übertreffen ist:
„Neffe! Du gehörst zu uns, das weißt du genau, du bist einer der Wohlgeborenen
des Stammes, und deine Vorfahren sind Vornehme. Du hast deinen Stamm vor
ein schwieriges Problem gestellt, du hast die Gemeinschaft entzweit und ihre
Träume lächerlich gemacht, du hast ihre Götter verleumdet und ihren Gottesdienst. Du hast ihre verstorbenen Vorfahren zu Ungläubigen erklärt. Höre, ich
werde Vorschläge machen, die du dir überlegen kannst ... Wenn du mit dieser
Geschichte, die du bei uns angezettelt hast, nur Geld machen willst, wollen wir
alle unseren Beitrag zahlen, um dir so viel zu geben, daß du der Reichste unter
uns bist. Wenn du nach dem Prestige verlangst, wollen wir dich zu unserem
Häuptling machen, so daß wir nichts beschließen, ohne mit dir darüber zu sprechen. Wenn du die Herrschaft begehrst, erheben wir dich zu unserem König.
Wenn du von einem bösen Geist besessen bist, wollen wir dir einen Arzt suchen
...“13
Hauptmotiv dieses Vorschlags war die nicht unberechtigte Sorge, die Kontrolle
über die lukrativen Heiligtümer zu verlieren. Muhammad hatte immerhin die
Mekkamacht als „Königtum“ und den Handels - und Wallfahrtsbetrieb als „Götzendienst“ angeprangert. Solche Unbotmäßigkeit brachte zwar Popularität beim
Volk, konnte aber auch das Prestige und die Profite der Herrschenden beschädigen. Eine tiefer gehende Furcht leitete sich ohnehin aus der neuen Lehre selbst
ab: Wenn der neue Eingott zu abstrakt würde, könnte überhaupt jedes Heiligtum
entfallen!
Die Judenstämme der Qurayza und Nadir betrieben Oasenwirtschaft und hatten
in innerarabischen Streitereien die Aus gegen die Khazradj unterstützt, wobei
häufig ihre üppige Bewaffnung erwähnt wird. Der dritte Stamm der Qaynuqa
betrieb die Goldschmiedekunst und unterhielt durch Handelsaktivitäten aller Art
lebhaften Kontakt zur arabischen Bevölkerung. Nachdem Muhammad sich in
Medina etabliert hatte, nahm er Kontakte zu ihnen auf, die offenbar von fest
umrissenen Vorstellungen ausgingen.
Danach sah er zunächst keinen gravierenden Unterschied zu seiner koranischen
Botschaft: „Zu dir wird nichts anderes gesagt, als was zu den Gesandten vor dir
gesagt worden ist“ (41/43). Sie wird lediglich auf arabische Erfordernisse zugeschnitten: „... eine Schrift, deren Verse auseinander gesetzt sind als ein arabi28
scher Koran, für Leute, die Bescheid wissen“ (41/3). Aber es ist eben dieser
Aspekt der arabischen Sendung, der den Graben auf beiden Seiten aufreißen
wird. Weder können die Juden jemals etwas über ihr Ethiknetz der Selbsttreue
stellen, noch konnte Muhammad sich dauerhaft von jüdischer Hilfe abhängig
machen, so stark auch die gemeinsame Abneigung gegen den Götzendienst sein
mochte.
Auf die gleichen Probleme stießen konkrete Bestandteile des Ritus, die der Ve rkünder des Islam in seine neue Religion einbauen wollte. Das Gebet kommt
sowohl mit der Einleitung – „steht demütig ergeben vor Gott“ – als auch mit den
Gebetszeiten aus dem Judentum: „wenn die Sonne sich neigt, bis die Nacht dunkelt und die Rezitation am frühen Morgen“ (17/78) bzw. „haltet die Gebete ein,
auch das mittlere“ (2/238). Dabei wies die Richtung nach Jerusalem, genauer
nach Syrien. Ebenso wurde der Sabbat übernommen, allerdings auf den Freitag
verlegt und arabischen Verhältnissen angepaßt.
Auch am Beispiel des Fastens mußte Muhammad zur Kenntnis nehmen, daß die
von ihm geplante Übernahme unmöglich war, weil Buße und Sühne besonders
exklusiv für das Volk Israel reserviert sind. Schon an diesem so einfachen wie
wichtigen Einzelpunkt wurde – repräsentativ für viele andere Aspekte – deutlich,
daß der Jahwe der Juden und der Allah des kommenden Islam nicht vereinbar
sein würden.
3. Stufen zur Vernichtung
Der Verkünder schien zunächst noch keine Konsequenzen ziehen zu wollen.
Zumindest nahm er die Juden in seine Gemeindeordnung für Medina auf, obwohl ihm bereits hätte klar sein müssen, daß die Maßnahme sinnlos war: „Wenn
einer unter den Juden uns folgt, hat er Recht auf dieselbe Hilfe und Unterstützung (Art. 16) ... Wenn über eine Angelegenheit unter euch Uneinigkeit entsteht,
dann soll sie vor Gott und Muhammad gebracht werden“ (Art. 23) ... Die Juden
teilen die Kosten des Krieges in demselben Maße wie die Gläubigen, solange sie
im Kriege sind“(Art. 24).
Abgesehen davon, daß die Juden an einem „Dialog“ ohnehin nicht interessiert
waren, sah sie Muhammad offenbar selbst nur als sekundären Teil seiner Ordnung. Das Judentum sollte Dienstfunktionen in einem primär dominanten Islam
versehen; die Ordnung war ke in Vertrag, sondern ein Erlaß. Es ging nicht um
eine Regelung zwischen Gleichberechtigten, sondern zwischen einem Herrn und
seinem Knecht. Wie J. Bouman zutreffend formuliert, „konnten die Juden die
islamische Antwort, die Muhammad brauchte und von ihnen verlangte, nicht
geben“.14
Neben der grundsätzlichen Verpflichtung auf Jahwe erkannten die Juden Muhammad nicht als Propheten an, weil er den Standards ihrer Tradition nicht entsprach. Aus ihrer Sicht strebte der Verkünder zum einen nach weltlicher Herrschaft, zum anderen folgte er seinen „sexuellen Begierden“ – beides Eigenschaften, die ihn zu Änderungen seiner angeblich heiligen Texte zwangen und – nicht
nur aus jüdischer Sicht – als ernsthaften Propheten disqualifizierten.
29
Während das Trauma der Vernichtung des Staates und Volkes Israel sich tief
eingegraben hatte, fehlten auch die Zeichen Jahwes, die die Annahme eines Propheten hätten rechtfertigen können, ohne schon wieder neue Katastrophen in
Kauf zu nehmen. Außerdem war es generell angebracht, den Arabern als Abkömmlingen der Hagar (Nebenfrau Abrahams),15 welche die Bibel „Hagariten“
und Feinde Israels nennt (Psalm 83), mit Vorsicht zu begegnen. Ohnehin hatte
sich das theologische Denken von der Prophetie auf das Studium von Thora und
Talmud verlagert, das hohe Ansprüche an das Religionswissen stellte.
Aus all dem folgten große Bedenken der Theologen, sich mit Muhammads Vorstellungen überhaupt zu befassen. Sie standen einem intelligenten, nicht minder
ehrgeizigen und rigorosen Autodidakten gegenüber, der eine Fülle von Fehlern
und Widersprüchen als Offenbarungen ausgab und zur Basis eines so religiösen
wie politischen Anspruchs machte. Wenn sie etwas anerkannten, „was ihnen wie
die Hirngespinste eines Ignoranten vorkam“,16 stellten sie nicht nur ihr theologisches Renommee in Frage, sondern stärkten diesen Emporkömmling auch als
Konkurrenten in Medina. Zuallerletzt konnte jemand den Anspruch des Propheten erheben, der offensichtlich Interessen verfolgte, die nicht die jüdischen waren.
Es kam, was kommen mußte. Wer wie Muhammad seine Lehren aus dem Gegensatz speiste, formte auch seine Weltsicht aus dem Verhalten seines Gegenübers, das entweder für oder gegen ihn war. Wenn die Theologen ihn nicht akzeptierten, konnten ihre Lehren nicht zutreffen, mußten also Fälschungen sein,
die die Ausbreitung seiner Lehre gefährdeten. Damit wurden sie und ihre Ge meinschaft zu einem Gefahrenherd und Feind, dessen Einfluß in der Region der
eigenen Wahrheit im Wege stand.
Aus der psychologischen Logik ergibt sich die muslimische. Den Gläubigen
erscheint dieser Ablauf plausibel, weil schon dem Knaben Muhammad rückwirkend geweissagt wurde, daß ihm dereinst Gefahr von den Juden drohen würde.17
Wie immer auch die Juden sich verhalten mochten – sie erfüllten die Weissagung der Legende und die Forderung des Feindbilds.
Dabei ging Muhammads Schwarz-Weiß-Sicht über die einfache Paranoia hinaus.
Ihm zufolge hatten die Juden nicht nur die Schrift verfälscht, sondern auch die
Passagen gelöscht, die seine Legitimation als Gesandter Gottes bewiesen. Auch
sonstige Teile seien unterschlagen oder aus anderen Gründen – z.B. Habgier –
mißbraucht worden.18 Hier nimmt Muhammads Gegenlogik die Form des universalen Passepartouts an, mit dem er und die nachfolgenden Generationen jeden
Inhalt beliebig begründen und widerlegen können. Vor allem wird der Koran
fortan in den Bereich des Unerschaffenen, Unantastbaren und Unanalysierbaren
entrückt. Mühelos lassen sich die ethischen Leerstellen der bekämpften Religionen besetzen, nicht zuletzt auch der metaphysische Bund der Juden:
„Diejenigen, die verheimlichen, was wir an klaren Beweisen und Rechtleitung
hinabgesandt haben, werden von Gott verflucht und von denen die verfluchen
(2/159). – Und weil sie den Bund brachen, haben wir sie verflucht. Und wir
machten ihre Herzen verhärtet, so daß sie die Worte (der Schrift) entstellten und
30
sie von der Stelle, an die sie gehören, wegnahmen. Und sie vergaßen einen Teil
von dem, wozu sie gemahnt worden waren. Und du bekommst von ihnen immer
wieder Falschheit zu sehen“ (5/13).
Diese Gegenlogik wird sich später mit Verschwörungsdenken allgemein und mit
dem modernen Manifest der Weltverschwörung, den „Protokollen der Weisen
von Zion“ speziell harmonisch verbinden. Wie es scheint, bestand auch schon in
früher Zeit Kenntnis von der Judenfeindschaft der Christen. Muhammad konnte
Kontakt mit Christen gehabt haben, die ihm von den Streitreden Jesu gegen die
Juden bzw. den patristischen Klischees vom „verfluchten Volk“ berichteten.
Danach hatten sie Unheil gestiftet, weil sie ihren eigenen Propheten nicht glaubten.19 Wer konnte denn wirklich wissen, ob sich ihr Schicksal nicht an ihm, Muhammad, erneut erfüllen würde? – „Diejenigen von den Kindern Israels, die
ungläubig waren, wurden durch die Zunge Davids und Jesu, des Sohnes der
Maria, verflucht. Dies dafür, daß sie widerspenstig waren und übertraten“ (5/78).
Da die Juden zu Ungläubigen erklärt waren, konnten nicht nur, sondern mußten
die Muslime künftig auch das vom Judentum übernommene Tötungsverbot unter
den Tisch fallen lassen: „Wenn einer jemanden tötet, ... soll es so sein, als ob er
die Menschen alle getötet hätte“ (5/32).20 Dieses Einzelverbot wurde dann folgerichtig durch zahlreiche Tötungsgebote des Koran verdrängt.
Den harten Konsequenzen dieser umfassenden Fabrikation würden die Medinenser Juden auf Dauer nicht entgehen können. Überdies trugen sie eine Haltung aus
Reserve, Exklusivität und Wohlstand zur Schau, die Muhammads Ego zusätzlich
herausforderte. Seine Einstellung nahm rasch an Schärfe zu und wurde in eine
weitere „Offenbarung“ gekleidet, die mit offenen Drohungen nun auch den herrischen Tenor der Gemeindeordnung hinter sich ließ:
„Und entscheide zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge
nicht ihrer Neigung! Und hüte dich vor ihnen, daß sie dich (nicht) in Versuchung
bringen von einem Teil dessen, was Gott dir herabgesandt hat. Und wenn sie sich
abwenden, dann mußt du wissen, daß Gott sie wegen eines Teils ihrer Schuld
treffen will. Viele von den Menschen sind Frevler. Wünschen sie sich die Entscheidungsweise des Heidentums? Wer könnte für Leute, die überzeugt sind,
besser entscheiden als Gott?“ (5/49f)
Mit der „Entscheidungsweise des Heidentums“ zog er das von ihm selbst erstellte Orakel Allahs in den Bereich des Unangreifbaren. Die „Entscheidung“ konnte
nur zugunsten der Muslime ausfallen, zumal ihnen auch Lüge und Täuschung
erlaubt wurden. Die Weichen dafür waren schon in mekkanischer Zeit gestellt
worden: „Die Ungläubigen schmieden Ränke und auch ich (Allah) schmiede
Ränke. Gewähre du den Ungläubigen eine Frist, gib ihnen ruhig noch ein wenig
Zeit (86/16f.) – Habt ihr, denen das alles zu Bewußtsein gebracht wird, noch die
Stirn, mich überlisten zu wollen? Ich vermag viel bessere Ränke zu schmieden“
(77/39).
Drohung und Täuschung bereiteten nun die Legitimation von Gewalt vor. Der
Stifter höchstselbst schaltete den Islam auf die künftige Funktion als geschichtlicher Prüfstand der jüdischen Diaspora. Im Jahre 624 stellte Muhammad die Qay31
nuqa und Nadir unter diversen Vorwänden vor die Alternative, zum Islam überzutreten oder bei Mitnahme einer begrenzten Habe Medina zu verlassen. Da die
Konversion nicht in Frage kam, wanderten die Juden nach Syrien bzw. in die
Oase Khaybar aus – die Wohn- und Finanzprobleme der jungen Islamgemeinschaft waren gelöst.
Allmählich kam die Profanität ihrer Religion zum Vorschein, deren „Offenbarungen“ eine mit ihrem Nützlichkeitsgrad variierende Gewalt freisetzten: „Gott
gibt seinem Gesandten Gewalt über was er will (59/6) ... Er ist es, der diejenigen
von den Leuten der Schrift, die ungläubig sind, aus ihren Wohnungen vertrieben
hat ... Wenn Gott nicht die Verbannung für sie bestimmt hätte, hätte er sie im
Diesseits bestraft. Im Jenseits haben sie die Strafe des Höllenfeuers zu erwarten.
Dies dafür, daß sie gegen Gott und seinen Gesandten Opposition getrieben haben“ (59/2,4; Betonung v. Verf.).
Der verwickelte Ausdruck kann nicht den Nachdruck verhüllen, mit dem sich
Muhammad und damit die führenden Muslime der islamischen Zukunft an die
Stelle Allahs und dessen Machtfülle setzen. Kein Wunder, daß die Quraysh die
Aktivitäten ihres „Bruders“ mit großem Mißtrauen verfolgten. Im Jahre 625
zwangen sie ihn am Berge Uhud zum Kampf, der für ihn verlustreich ausging
und seinen Siegernimbus zunächst schwächte.
Der noch verbliebene Judenstamm der Qurayza stand Muhammads Machtamb itionen nun besonders störend im Wege. Da er überdies im Verdacht stand, mit
den Mekkaführern zu paktieren, bot sich der Anlaß, ein Exempel religionspolitischer Gewalt zu statuieren. Dabei vermieden es die Aus, sich mit dem Führer
Medinas anzulegen, und lieferten die früheren Verbündeten „Allahs Ratschluß“
aus, den Muhammad selbst vorbereitet hatte.
Im Jahre 627 ließ der Verkünder des Islam eine nicht näher bekannte Zahl männlicher Personen (600 bis 800) in ein eigens ausgehobenes Massengrab steigen
und in seiner Gegenwart hinrichten.21 Während dieses Vorgehen – auch den an
Gewalt gewöhnten Zeitgenossen – nicht als Norm gelten konnte, so doch die
Konsequenzen: Konfiskation des Vermögens sowie Versklavung und Verkauf
der Frauen und Kinder. Die Juden von Medina waren der erste Ausdruck des
islamischen Daueropfers, des übergeschichtlichen Zwangs, die Welt von nichtislamischen Elementen zu befreien (s.u.S.).
Das Massaker von Medina wurde zum historischen Trauma für die Juden und
zum Vorbild für die Muslime. Ihm ging eine Intrige von hohen Graden voraus,
die sich aus dem „Grabenkrieg“, einem weiteren Waffengang mit den Mekkanern ergab. Muhammad hatte einen Keil zwischen die Aus und Qurayza getrieben und den Führer der Aus zum Schiedsrichter, zum Sprachrohr eines mit ihm
abgesprochenen „Gottesurteils“ gemacht.22 Wenngleich Allahs Entscheidung
feststand und die Weichenstellung ganz „legitim“ in den Tod führte, schien es
dennoch notwendig, im kommenden Koran die „göttliche“ Begründung nachzuschieben:
„Und Gott schickte die Ungläubigen mit ihrem Groll zurück, ohne daß sie einen
Vorteil gehabt hätten. Und er verschonte die Gläubigen damit zu kämpfen. Gott
32
ist stark und mächtig. Und er ließ diejenigen von den Leuten der Schrift (Qurayza), die sie (Mekkaner) unterstützt hatten, aus ihren Burgen herunter kommen
und jagte ihnen Schrecken ein, so daß ihr sie zum Teil töten, zum Teil gefangen
nehmen konntet. Und wir gaben euch ihr Land, ihre Wohnungen und ihr Vermö gen zum Erbe und Land, das ihr nicht betreten hattet. Gott hat zu allem die
Macht“ (33/25ff.; Zusätze v. Verf.).
4. Beginn der Djihad-Ideologie
Erneut bestätigte sich die frühislamische Doktrin, der zufolge der Muslim sich in
Allahs Recht weiß, wenn er Andersgläubige tötet und vertreibt. Um so mehr
hatte sich die jüdische Selbsttreue erfüllt, wobei der frühe Tod oder Selbsttod der
Rayhana bint Zayd, einer schönen Opferwitwe, die sich in Muhammads Harem
wiederfand, als Beispiel individueller Tragik gelten kann. Von eher übergeordneter Bedeutung ist das gewaltsame Ende des Ka'b Ibn Ashraf, eines halbjüdischen
Satirikers, der die Mekkaner in ironischen Gedichten zu Maßnahmen gegen den
Emporkömmling in Medina ermuntert hatte.
Wie sich im modernen Karikaturenstreit zeigte, war Humor um die Jahreswende
2005/06 ebenso Gift für den Islam, wie er es 627 war. Keiner wußte das besser
als der Verkünder selbst. Er mußte Gottesbild und System der neuen „Religion“
vor nichtislamischen Elementen – Heuchlern, Spöttern, Verleumdern, Abweichlern, Ungläubigen und nicht zuletzt ungehorsamen Frauen schützen, wenn es
sich gegen die – jüdisch-christlich besetzte – Selbständigkeit des menschlichen
Bewußtseins behaupten wollte.
Die Gemeinschaft dieses neuen Eingottes und sein „Prophet“ hatten keinerlei
Sinn für alternative Weltbilder, geschweige denn Ironie und brachten die Schöpfer unangenehmer Wahrheiten ebenso um wie jene, die sich politisch, religiös
oder sogar wirtschaftlich in den „Weg Allahs“ stellten, indem sie ihm den Tribut
verweigerten. „Wer bewahrt mich vor meinen Feinden?“ lautete die historische
Frage Muhammads, welche die islamische Institution des Auftrags- und „Ehren“-Mords begründete. Allerdings handelte es sich hier um eine Ehre neuen
Typs, die bei den stolzen Arabern als niedrig und perfide galt.23
Ka'b Ibn Ashraf war nicht das erste, aber ein bekannteres Opfer des mörderischen Charismas, dessen Ruhmesliste für den frühen Islam im Katechismus des
spanischen Qadi Al-Yahsubi (gest. 1148) nachzulesen ist.24 Seither ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, Mörder zu bestrafen, die „auf dem Weg Allahs“
getötet haben, weil sie sich auf unzählige Legitimationen in Koran und „Propheten“-Tradition berufen können.
Zu diesem Instrumentarium gehört die Täuschung, die Allah, der „beste Ränkeschmied“, seinen Anhängern auf den nämlichen Weg gibt. Wiederum fungiert
Muhammad als Vorbild, dem die nach Khaybar geflohenen Juden keine Ruhe
ließen. Er lud eine Delegation zu Verhandlungen ein, angeblich um über Verbesserungen der Beziehungen zu sprechen. Stattdessen ließ er ihnen auf dem Weg
nach Medina auflauern und sie bis auf einen Mann niedermachen, der nur durch
33
großes Glück entkam. „Krieg ist Täuschung“ ist ein oft zitiertes Wort des Ve rkünders.25
Unschwer erkennbar, können die „Gläubigen“, hinreichend indoktriniert, in
einen dynamischen Wettbewerb treten, in dem sie, sich ständig überbietend, um
den verdienstvollsten Glaubensbeweis konkurrieren. Die Morddiener Muhammads, die Assassinen des Mittelalters und die modernen Selbstmordattentäter
verdanken sich dieser Logik. Sie alle folgen dem Motto des Verkünders: „Mir ist
geboten, die Menschen zu bekämpfen, bis sie sagen: ‚Es gibt keinen Gott außer
Allah!’“ Zwar ging damals wie heute die Masse der Muslime harmlosen Tätigkeiten nach, doch ändert dies nichts daran, daß in den Grundlagen ihres „Glaubens“ beunruhigend oft vom Töten die Rede ist, allein im Koran 187mal, ganz zu
schweigen von der Sunna, der Tradition des Verkünders.
Muhammad sorgte dafür, daß sich mit der Ausweitung der Loyalität vom Stamm
auf den Islam auch das Feindbilddenken vom Gegnerstamm auf den Nichtislam
ausdehnte. Die Gemeinschaft und die Welt spalteten sich in jeweils zwei Lager:
der Islam in rechtlose Abweichler und Rechtgläubige, die berechtigt waren und
sind, sie zu beseitigen: „Wer vom Glauben abfällt, den tötet“ (4/89).26 In der
diesseitigen Welt spaltet sich vom Islam der Nichtislam, dessen Menschen alles
Schlechte und Abzulehnende hervorbringen: „Bekämpft sie, bis alle Versuchung
aufhört und die Religion Allahs allgemein verbreitet ist“ (8/40).
Es ging damals nicht, und es geht auch heute im Islam nicht um eine Religion im
Sinne einer von mehreren geistigen Lebensformen. Es geht um die ultimative
Lebensform an sich, die alles Denken und Verhalten einschließt. In den Suren 33
und 66 heißt es ausdrücklich: „Es ziemt den gläubigen Männern und Frauen
nicht, wenn Allah und sein Gesandter irgendeine Sache beschlossen haben, sich
die Freiheit herauszunehmen, anders zu wählen.“ Daß fortan das Leben überhaupt nur noch nach den Vo rschriften des Islam denkbar ist, führt der Koran auf
einen existentiell unausweichlichen Punkt: „Unglaube und Versuchung sind
schlimmer als Töten“ (2/191-8/40).
Mit der Annahme des Islam erlangen die „Gläubigen“ zwei Vollmachten: Die
eine läßt sie entscheiden, wann, wo und wie Unglaube und Versuchung sowie
die „Verfolgung“ durch sie vorliegen, und die andere ermächtigt sie, sich zu
Richtern und Henkern derer zu machen, die Allah im Wege stehen, ihnen auf
sonstige Weise nichtislamisch erscheinen oder wie es heute heißt, das „Feindbild
Islam“ verbreiten.
In vielen Varianten der Tradition verweist der Verkünder Muhammad auf die
Pflicht der Gläubigen, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, wenn es um
islamische Interessen geht. In Verbindung mit den Anweis ungen des Koran entsteht ein unendlicher Regreß zwischen individueller und kollektiver Gewalt:
„Derjenige der in einer Weise kämpft, daß Allahs Wort siegt, befindet sich auf
dem Wege Allahs.“27 Und weniger verblümt heißt es: „Meine Gemeinschaft wird
in zwei Parteien zerfallen. Aus der einen entstehen die Ketzer, und die andere ist
berechtigt, sie zu töten.“28
34
Dementsprechend gestaltet sich der „Djihad“ (arab.: Anstrengung, Kampf), der
von der individuellen Seelenreinigung bis zur kollektiven Reinigung des Islam
vom Schmutz des Unglaubens, dem Massaker reicht. Dabei scheint im Begriff
der „Verfolgung“ die paranoide Komponente auf, die seit Muhammad das orthodoxe Muslimdenken umtreibt. Die Existenz nichtislamischer Elemente bzw.
allein die Vermutung, daß es solche geben könnte, erzeugt eine Aura der latenten
Bedrohung und Verfolgung, die nach klassischer Freud-Manier zurückprojiziert
wird und in Bedrohung und Verfolgung des Nichtislam umschlägt. So dienten
alle Kriege des Islam bis in unsere Zeit der „Verteidigung“, wie auch die Spitzen
der gegenwärtigen Imamschaft zu bestätigen nicht müde werden.29
Das massenpsychologische Motiv wird durch den wirtschaftlichen Anreiz der
Beute entscheidend verstärkt: „Wer für die Religion Allahs kämpft, mag er umkommen oder siegen – wir geben ihm großen Lohn (4/75) – Und wer ist wohl in
seinen Verheißungen gewissenhafter als Allah? Freut euch daher eures Handels,
den ihr gemacht habt, denn er bringt große Glückseligkeit“ (9/111). Ob mit ma teriellem oder ideellem Glück – die Aneignung fremden Vermögens im Diesseits
und der Ruhm des Glaubenskampfes liegen demnach „auf dem Weg Allahs“. Für
dessen „Märtyrer“, die Bomber der Moderne, wird er zu einer überirdischen
Allee, die mit den Palmen des Paradieses gesäumt ist.
Damit ging ein weiterer Kernsatz Muhammads einher: „Auf der arabischen Halbinsel kann es keine anderen Religionen geben.“ Er verwirklichte ihn zunächst in
der islamischen Umwidmung jüdischer Fundamente. Danach hatte Abraham, der
„weder Jude noch Christ“, sondern Muslim war, mit Sohn Ismael die Ka'ba erbaut. Hier war der jüdische Gründungsmythos als „Djahiliya“ – Unwissenheit –
gelöscht. Denn als der Erzvater sich einst aufmachte – „ich will (jetzt) zu meinem Herrn gehen, er wird mich rechtleiten“ (37/99) – hatte er alles andere als
Arabien vor Augen. Er ging in das ihm verheißene Land Kanaan und legte nicht
den Grundstein für die Ka'ba, sondern für das Gesetz der Juden und die friedliche Seßhaftigkeit im Gelobten Land, vor der Muhammad eindringlich warnte.30
Wer dem Gesandten Allahs folgte, wählte dagegen das kriegerische, nichtabrahamitische Nomadentum, das in der Anthropologie des islamischen Herrschaftsprinzips fortlebte. Nach dem Massenmord von Medina war dessen oberstes
Feindbild, das Heidentum, um die Juden erweitert : „Sicherlich findest du, daß
unter allen Menschen die Juden und die Götzendiener die erbittertsten Gegner
der Gläubigen sind“ (5/82). Seither richtet sich dieses Prinzip auf das Macht- und
Finanzpotential des Nichtislam und läßt sich von einer Gottheit führen, die unter
dem Anspruch des „Glaubens“ die Ausbeutung und Überwindung der Anderen
fordert. Wer dem nicht folgte, war damals genau so Feind Muhammads, wie er
nach heutiger „Dialog“-Propaganda ein Opfer der „Islamophobie“ wird.
Die Gebetsrichtung wechselte von Jerusalem nach Mekka (2/145), die gesamte
Prophetie verschmolz im „Siegel“ Muhammad (33/40) und damit im Gesetz
Allahs insgesamt. Nicht weniger als den Ursprung der gesamten Geschichte
übernahm Arabien nun von Israel, dessen Wurzeln daher ausgerottet werden
mußten. In diesem spezifisch judenfeindlichen Sinne wurde das Massaker von
Medina zum Siegel des Islam, das die gesamte anschließende Verfolgung bis in
35
unsere Zeit bestimmte. Insofern gehört der Antisemitismus – entgegen der
Wahrnehmung des Historikers Bernard Lewis’ – zu den „Geburtswehen“, unter
denen Allah zustande kam. 31
Wer heute von den „abrahamitischen Religionen“ spricht, dehnt das Siegel Muhammad auch auf das Christentum aus. Über den islamisch geprägten Abraham
wird das Gesetz Allahs zum Siegel des Gesetzes überhaupt, das den islamischen
Antisemitismus einschließt. Wenn die Protagonisten des heutigen „Dialogs“ die
„Kulturfacetten“ des Islam preisen, drücken sie dem „modernen“ Rechtsstaat das
Siegel der Scharia auf und fusionieren durch die Hintertür der „Toleranz“ den
Antisemitismus Europas mit den Judenhaß des Islam.
In der Folgezeit füllte Muhammad seine Truppen auf, ließ sie im Jahre 628 drohend vor die Tore von Mekka ziehen und die Kämpfer einen Treueschwur auf
sich ablegen. Zu deren großer Enttäuschung griff er die Stadt jedoch nicht an,
sondern führte die Einigung von Hudaybiya herbei, einen zehnjährigen Nichtangriffspakt gegen die wichtige Zusage, im Folgejahr seine neuartigen Riten an der
Ka'ba vollziehen zu können.
Den Ärger seiner Getreuen lenkte er geschickt auf die Juden in Khaybar. Ihren
harten Widerstand brach das Modell von Medina im Jahre 629 und leitete das
Ende der Juden in Mittelarabien ein. Den Schlußpunkt setzte wenig später der
zweite Kalif Umar I. (gest. 644): „Im Grunde wurden (jetzt) alle Juden, die in
Medina und Khaybar überlebten, zusammen mit den Juden und Christen auf der
Halbinsel, gemäß dem Edikt Muhammads, enteignet und vertrieben.“32 Das
beträchtliche Vermögen und die Frauen teilte der Führer unter den Siegern auf
und besänftigte vorläufig die frustrierten Gemüter.
Auf einen Freiraum übergeordneter Art deutet die wechselseitige Zurückhaltung
in der mekkanischen Problemfolge Uhud – Grabenkrieg – Hudaybiya hin. Vor
allem aus der Sicht Muhammads als Mitglied der Hums -Bruderschaft läßt sich
die Lesart vertreten, daß elitäre Überlegungen es ratsam erscheinen ließen – wie
auch der Ältestenrat bewies – sich das Leben gegenseitig nicht allzu schwer zu
machen. Wenn sich der neue Machtfaktor in Arabien und die Quraysh mit ihren
etablierten Kontakten verbanden, statt sich ruinös zu bekämpfen, war den Interessen der Beteiligten eher gedient.
III. Das Modell von Cordoba
1. Dhimma – „Schutz des Islam“
Aus ihnen gingen die Umayyaden als erste Dynastie des Islam hervor, die natürlich noch kein theologisches System hatten, sondern sich zunächst auf die syrochristliche Basis stützte. Sie stimmte nicht nur in der Ablehnung der Trinität mit
den eindringenden Muslimen überein, sondern hatte Muhammads Entwicklung
selbst darin beeinflußt. Vor diesem Hintergrund bildeten Persien und Spanien
Sonderfälle.
In Persien faßte die Islamvariante der Schia Fuß, in deren Vorstellungen vom
Mahdi, dem „Verborgenen Imam“, auch jüdisch-christliche Messiasgedanken
einflossen. Im frühen Schia-Zentrum Kufa stellte man dem Mahdi einen Thron
36
auf, der die Bundeslade ersetzen sollte, wobei wiederum Anhänger des „Juden“
Ibn Saba eine Rolle spielten, der die Märtyrerrolle des Schia-Gründers Ali vorangebracht hatte.33
Die Pestwellen der 680er Jahre trugen zu apokalyptischen Strömungen bei, die
auch die Juden erfaßten. Sie erhofften nun die Rettung durch Ismael, den Erzvater der Araber, nachdem die Weissagung vom „Zeichen des Messias“, nämlich
der Zug in den Jemen, teilweise eingetroffen war. Der Kern blieb unerfüllt, weil
er die Endzeit selbst ist (Jesaja 59, 20). Danach soll der letzte Kaiser Roms, der
„König von Edom“, auf den Berg Zion geführt und vom Messias getötet werden.34
Zunächst richteten die Umayyaden im spanischen Diesseits um die Mitte des 8.
Jahrhunderts ein neues Reich auf, in dem Raum für die jüdisch-christliche Rationalität entstand. Über Umwege war Abd ar-Rahman, der letzte syrische Umayyade, nach Cordoba gelangt, nachdem er dem blutigen Machtkampf mit den Abbasiden entkommen war, die ihrerseits die Nachfolge im Kernland antraten.
Den Umayyaden kam der spanische Arianismus entgegen, eine christliche Variante, die ähnlich der syro-arabischen Basis – mit anderer Begründung – die Dreieinigkeit Gottes verneinte.35 Nach ihrer Überwindung durch die Orthodoxie im 4.
Jahrhundert konnte diese Richtung bei einigen germanischen Völkern überleben.
Zu ihnen gehörten die spanischen Westgoten, die den ab 711 eindringenden
Islamkämpfern nicht viel entgegen zu setzen hatten.
Juden sollen ihnen die Tore von Toledo und anderen Städten geöffnet haben,
eine nicht gesicherte, aber wahrscheinlich zutreffende Nachricht. Denn sie hatten
seit 693 unter extremem Druck der Machthaber gestanden. Ihnen wurde nachgesagt, mit Glaubensbrüdern auf der afrikanischen Seite der Gibraltarstraße eine
Erhebung geplant zu haben, die den Süden Spaniens unter ihre Kontrolle bringen
sollte. Aber auch ohne jüdische Kollaboration konnte das Reich vom begabten
Militärtalent Tariq leicht übernommen werden. Wegen Finanzmangel bestand
die Armee zu über der Hälfte aus Leibeigenen, die eher gemeinsame Sache mit
den Muslimen machten, als ihre Haut für die Unterdrücker zu Markte zu tragen.36
Sie und ein großer Teil der übrigen Bevölkerung entwickelten sich zur Spezies
der „Mozaraber“ – christlichen Mutanten, die die muslimische Lebensform kopierten. Man konnte sie als beschleunigte Variante des gleitenden, syroarabischen Strukturwandels auffassen, der allmählich das Christentum der Mehrheitsbevölkerung überwand und um 750 durch das Bagdader Imamat des abbas idischen Islam-Imperiums ersetzt wurde.
Allerdings gab es – wie im Kernland und in Nordafrika – so auch in Spanien
keine Veranlassung zur Hoffnung, die Muslime hätten die Korantheorie umsetzen und den jüdisch-christlichen Dhimmi-Bevölkerungen den koranisch zugesagten „Schutz“ (arab.: dhimma) tatsächlich geben können. Die Steuereintreiber
von Cordoba schwankten wie alle ihre Kollegen zwischen dem Versuch, die
Vorschriften zu beachten, und der Versuchung, sich durch Prügelung, Vergewaltigung und Tötung ihrer „Schützlinge“ persönliche Vorteile zu verschaffen.
37
Die niedrigen Ethikhürden der religiösen Theorie luden hier ebenso oft zum
Überspringen ein wie im übrigen Islamland. Dabei sorgte die Beuteverteilung für
eine mafiose Auspressungspraxis, die sich auch über koranische Vorschriften
hinwegsetzte, um die Einkünfte zu maximieren. Die Folge war, daß Dhimmis,
die sich gegen den muslimischen Mißbrauch des „Schutzvertrags“ wehrten, die
Sippenhaft riskierten. Nicht nur ihre Gemeinschaft, sondern auch Nachbardörfer
hatten dann die Plünderung und Schlimmeres zu gewärtigen.37
Im Rahmen des islamischen „Friedens“ als neuer Leitkultur hebt der „Dialog“ in
Europa als leuchtendes Vorbild aller Kultur das „Modell von Cordoba“ hervor
und empfiehlt es seinen Gesells chaften zur Einübung und Verinnerlichung. Hier
geht es um die Blütezeit der spanischen Umayyaden, die nach dem Emirat ab
756 im Jahre 929 das Kalifat ausriefen und sich endgültig von Bagdad abkoppelten.
Wenn überhaupt von einer Phase der Toleranz die Rede sein soll, dann wäre sie
allenfalls in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts zu plazieren, als eine Reihe
günstiger Umstände zusammentraf.38 Auch die Cordobesen waren an die Dhimmi-Regeln gebunden, ansonsten sie kaum ihren so bewunderten, höfischen Glanz
hätten entfalten können.
Allerdings leistete die Kollaboration des „christlichen“ Klerus ebenso regelhafte
Beiträge. Wie viele „Dialog“-Geistliche und „Islamreferenten“ unserer Tage, so
agierten auch Bischöfe und Prälaten jener Zeit oft als vorauseilende Helfer der
islamischen Macht, die gegen muslimische Milde und/oder Entlohnung das
Wohlverhalten ihrer „Glaubensschafe“ sicherstellten.
Rabi', Kopf der christlichen Gemeinde Cordobas, führte die christliche Sklavenmiliz Al-Hakams I. (gest. 822), um die Steuern der Glaubensbrüder beizutreiben.
Gegen hohe Bezahlung durch Abd ar-Rahman II. (gest. 852) sorgten der Metropolit von Sevilla und die andalusischen Bischöfe für die gänzliche Anpassung
ihrer Gemeinschaft an die Belange der Obrigkeit.39 Sowohl in Spanien als auch
später im Osmanenreich agitierten die Religionsführer gegen ihre Klientel und
unterliefen die Interessenwahrung der Gemeinde als „Kampf gegen Gott.“40
Unter dem Druck der islamischen Macht praktizierten die Dhimmi-Eliten eine
islamorientierte, nach koranischer Forderung „demütige“ Loyalität, ohne die
weder das Kalifat von Cordoba noch irgendeine andere islamische Obrigkeit
hätte bestehen können.41
2. Juden definieren Allah
Aufgrund ihrer weitaus geringeren Zahl und zugleich exklusiveren Verbindungen konnte die jüdische Elite ihren Geschäften in der Regel ungestörter nachgehen. Einer ihrer Größten, Samuel ben Nagrela (gest. 1055), stand mit den Weisen von Babylon in regem Briefwechsel und galt als eine der fähigsten Autoritäten für den babylonischen Talmud. Sein Einfluß war so groß, daß er den berühmtesten Philosophen seiner Zeit, Salomo ben Gabirol (gest. 1070), unter den
Schutz des Hofes stellte und seinen Sohn als Nachfolger im Amt des Wesirs
einsetzte. Solches mußte Mißgunst erzeugen, die sich denn auch in den intrigan-
38
ten Worten des Abu Ishaq, Konkurrent des großen spanischen Theologen und
Literaten Ibn Hazm (gest. 1064), Luft machte:
„Der Herr dieser Affen hat seinen Palast mit Marmor-Inkrustationen ausgestattet;
er ließ Fontänen einbauen, denen das allerreinste Wasser entspringt, und während er uns an seiner Pforte warten läßt, spottet er über uns und unsere Religion.
Mein König, wenn ich sagen würde, er sei ebenso reich wie Sie, dann würde ich
die Wahrheit sagen. Auf! Beeilen Sie sich, ihn zu erwürgen und ihn als Ganzopfer zu schlachten; opfern Sie ihn – er ist ein fetter Widder! Schonen Sie aber
auch nicht seine Verwandten und seine Verbündeten; auch sie haben unermeßliche Schätze angehäuft.“42
Beide, Ibn Hazm und Abu Ishaq, befehdeten sich im intellektuellen Betrieb von
Granada, waren sich aber in der Judenfrage einig. Mit aggressiven Tiraden
machten beide deutlich, wie dünn der Firnis der Kultiviertheit war und wie
schnell der atavistische Haß auf diese offenbar tierhafte und dennoch höchst
gebildete und wohlhabende Spezies durchbrach. Sie trugen nicht unwesentlich
zur Radikalisierung jener Zeit bei, die schließlich in das historische Pogrom von
1066 mündete.43
Der jüdische Wesir, der zu mächtig geworden war, mußte auf Dhimmi-Maß
gestutzt werden. Berberische Agenten streuten Gerüchte, er habe den Koran
geschmäht und sich am Vermögen der Gläubigen bereichert. Wenig später raste
eine entfesselte Masse durch die Straßen Granadas, die etwa viertausend Juden
tötete und den Größten von ihnen, Samuel ben Nagrela, kreuzigte.44 Sie bestätigte auf ihre Weise, warum der König den gebildeten Juden an den Hof geholt
hatte: „Seine Berber verstanden sehr gut, sich zu schlagen, Städte einzunehmen,
zu plündern und niederzubrennen, aber sie waren nicht im Stande, auch nur eine
Zeile richtig in der Sprache des Korans zu schreiben.“45
In der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift haben wir auf die wichtige Rolle des
Gersonides (gest. 1344) hingewiesen, der zwar in Südfrankreich lebte, aber im
weiteren Sinne zum Kreis der jüdischen Philosophie Spaniens gehört. Als Nebenprodukt seines Gedankengebäudes, das ein technisches Gesellschaftsmodell
begründete, entstand die wichtige philosophische Struktur, die Allah seinerseits
als technisches Konstrukt „offenbarte“.
Es basiert auf der logischen Unmöglichkeit, daß die Dinge ewig sind und zugleich von Gott bewirkt werden. Um das Unmögliche zu ermöglichen, muß dieser Gott die Dinge ständig neu schaffen, die im Wechsel von Werden und Ve rgehen ihren substantiellen Bestand verlieren.46 Der Allah des Islam ist ein solcher Gott. Er schöpft nicht nur permanent, sondern identifiziert sich auch mit der
Zeit,47 – einer der Gründe für die Vernunftbewegung der mu’tazila (arab.: Isolierung), die den Koran als erschaffen ansah. Ein zeitlicher Allah bestätigt selbst,
nicht ewig zu sein, denn die Zeit gibt es nur in der Welt, im menschlichen Bewußtsein und im geschichtlichen Geschehen.
Von Maimonides (gest. 1204), dem größten jüdischen Philosophen überhaupt,
wissen wir, daß die Einsheit Gottes den Ausschluß des Gegensatzes bedingt.
Gott ist existent, weil er nicht nichtexistent ist, d.h. er ist mit seinen Eigenschaf39
ten identisch und kann – zwar allmächtig, aber der eigenen Schöpfung vorgegeben – nicht deren Gegensatz sein. Ein Gott, der den Gegensatz ausdrücklich
einschließt, muß die Welt ständig neu schöpfen und kann dann auch ewig und
nicht ewig, wahr und nicht wahr, eins und nicht eins sein. Dieser Gott ist lediglich kontingent – eine Möglichkeit. Sie stimmt wiederum zwingend mit dem
Umkehrschluß aus dem Gottesbeweis überein, der auf dem bloß möglichen Sein
der Dinge beruht.48 Der logische Kreis schließt sich über die Zeit: Ein Gott, der
wie Allah mit der Zeit identisch ist, nimmt die Subjektivität des menschlichen
Bewußtseins an und wandelt die göttliche Macht in die Legitimation weltlicher
Gewalt um.
So können uns der Jude Gersonides und sein geniales Technik-Modell in besonderer Klarheit vor Augen führen, daß Allah eine Konstruktion, eine metaphysische Spekulation ist, deren technischer Charakter von Anbeginn unvermeidbar
schien. Wie erläutert, war die geistige Grundmasse, aus der Glaubensschmied
Muhammad die neue Religion modellieren konnte, durch Juden- und Christentum begrenzt. Um so verständlicher wird es, daß Papst Benedikt XVI. die Juden
„Brüder“ und die Muslime „Freunde“ nennt.
Das wußten allerdings auch schon die Juden in vorkoranischer Zeit. Muhammad
zitiert sie selbst (5/65): „Die Juden sagen: Allahs Hand ist gebunden“, (d.h. er
kann nicht gütig sein).49 Die Gebundenheit erstreckt sich für diesen Gott auf
zwei fundamentale Bereiche: Zum einen kann er keine Wissenschaften zulassen,
die das Glaubenswissen in Frage stellen. Zum anderen sind er und seine Lehren
durch die Existenz des Judentums (und Christentums) eingeschränkt. Und nicht
nur das: Weil er die Welt ständig neu schöpft und dabei unbeschränkte Gewalt
entfaltet, muß er, um die Welt immer islamischer zu gestalten, die jüdischchristlichen Fesseln sprengen und die Träger dieser Lehren beseitigen.
Aus der Besetzung der jüdisch-christlichen Leerstellen – für Jahwe und Gott das
Nichts – ergab sich, daß Muhammads Kreation zum Herrschaftsanspruch an sich
wurde, der universale, damit auch nihilistische Dominanz verlangt. Deren historische Konsequenz drückt sich im wahrhaft „gewaltigen“ Erfolg seiner Anhänger
aus. Ausmaß und Geschwindigkeit ihrer Eroberungen stehen in der Weltgeschichte ohne Beispiel.
Vor allem bestätigte auch das Verhalten des „christlichen“ Klerus die Attraktivität des Muhammad-Konzepts. Als er sich über die Regeln ihres Stifters hinwegsetzte und in der Inquisition zu Herrschern göttlicher Macht aufschwang, hatte er
nichts anderes getan, als den Christengott in Allah zu verwandeln. Und als sie in
der Moderne anfingen, „mit den Muslimen den einen Gott anzubeten“, setzten
die Kirchenfürsten die lange Kette der Versuche fort, der Masse Demut zu predigen, aber auf Elitenebene am Privileg muslimischer Machtausübung teilzuhaben.
Denn Allahs Quintessenz ist: „Mein Reich ist von dieser Welt“. Den Juden ist
diese Option verschlossen, weil sie – und dies ist eine tiefe Erkenntnis des deutschen Philosophen Schelling – nicht staatlich handeln können.50
Wie das Gersonides-Modell zeigt und die politische „Dialog“-Praxis bestätigt,
sind solche Vorgänge mit einer binären Zwangsblockade des Bewußtseins ver40
bunden. Denn nun verschließt sich ihnen die Freiheitsdimension des trinitarischen Gottes, der nicht in das speziell Weltliche eingreift. Die Macht von Allahs
Gnaden läßt keinen freien Willen und keine Entwicklung zu, weil er ewig, wahr
und eins, aber zugleich auch das Gegenteil ist. Da zudem das „Siegel“ Muhammad jede individuelle Wissensautonomie und Prophetie verhindert, wird die
Verbindung zwischen allgemeinem und speziellem Wissen, zwischen Gott und
Welt, mithin die Gewissensentscheidung über Drohung und Gewalt abgeschnitten. Der Geist, der individuelles Wissen und die Verantwortung vor Gott ermö glicht, zieht sich zurück. Mit ihm verschwindet nicht zuletzt auch der Humor.
So wird verständlich, warum viele „christliche“ Kleriker auch heute wieder Allahs treueste Sympathisanten sind, die sich im „Dialog“ mit besonderer Disziplin
unterwerfen und den Skeptikern völlig humorlos entgegen treten. Die moderne
„Toleranz“ schuf eine Art Herdeninquisition, in der die Hirten die islamophile
Herde umkreisen und die „unkorrekten“ Abweichler wegbeißen, die dem „Frieden des Islam“ nicht trauen wollen. Daß sich zugleich auch eine Wiedervereinigung von Staat und Kirche (und/oder Moschee) anbahnt, können die neuen Diener Allahs an der säkularen Vielfalt von Politik, Justiz, Universität, Medien erkennen, die sich mit ihnen in „Respekt“ vor dem Islam versammeln.51
Indem sie Macht vermittelt und ethische Behinderungen umgeht, übte Allahs
Gewaltlizenz also nicht ohne Grund seit jeher große Anziehung aus. Da er das
Gegenteil von sich selbst sein kann und dabei zwischen der Ferne unnahbarer
Bewegungslosigkeit und der nächsten Nähe der „Halsschlagader“ (50/16) schillert, vereint er die Aspekte einer kosmisch-gnostischen und irdisch-offenbarten
Gottheit, die klare Forderungen stellt.
Der Zwittergott zwischen Kosmos und Mensch verlangt ein Reinigungsopfer,
das die Welt aus ihrem provokant unreinen Zustand befreit und in die eigentliche
Welt, so wie sie sein soll, also in die reine Gemeinschaft Allahs, umwandelt.
Diese übergeschichtliche Forderung verwirklicht sich in den geschichtlichen
Einrichtungen des Djihad und der Dhimma, die latent bestehen und immer dann
akut werden, wenn es die aktuellen Umstände erforderlich machen und/oder
begünstigen.
Die gewaltbesetzte Gleichförmigkeit von interner Vereinheitlichung und externer
Machtausweitung formte die einzigartige Kulturlandschaft eines übergeschichtlichen Darwinismus und damit auch die Nähe zu den westlichen Politreligionen.
Der historische Ablauf zeigt bis heute, daß Djihad und Dhimma automatisch
aufleben, sobald sich die Kräftewaage zugunsten des Islam neigt, unabhängig
davon, ob der Islam stark oder die Gegenseite schwach wird. Insofern versteht
sich, daß die Befreiung vom Unglauben eine Weltpflicht ist, die sich nicht nur
auf das Islamland, sondern besonders auch auf das Nochnicht-Islamland erstreckt. Darauf deutet allein schon dessen offizielle Bezeichnung „Kriegsland“
hin, in dem als Gegner der Westen und als unveränderter Hauptfeind „der Jude“
auftauchen.
Mithin wird auch die die spezifische Bedeutung des „Märtyrers“ (arab.: = shahid) verständlich, die sich in völligen Gegensatz zum jüdisch-christlichen Begriff
41
stellt. Der „Shahid“ ist ein Gläubiger, der im „Djihad“, im Heiligen Krieg gegen
die Ungläubigen stirbt. Es ist einsehbar, daß die ahistorische Logik des Islams ystems dem Märtyrer einen hohen Stellenwert einräumen muß. Indem er Allah sein
Leben opfert, geht er ins Paradies ein, während die Ungläubigen, ob getötet oder
nicht, die Hölle erwartet.
Aus dieser Kombination ergab sich die Strategie des „messianischen Darwinismus“, auf die Europa bisher – außer Anpassung und Gehorsam – keine Antwort
gefunden hat. Ihre Institutionen sind die Hizbollah als iranische und die Hamas
als arabische Variante. Mit systematischem Terror, der in zunehmendem Maße
Selbstmörder einsetzt, zermürben sie den Libanon und Israel. Über ihre Organisationen – vor allem den EAD (European Arab Dialogue) – unterstützt die EU
diesen „Frieden des Islam“ mit Zuschüssen von mehreren hundert Millionen
Euro jährlich.
Zugleich fördert sie zahllose Symposien und Veranstaltungen, in denen die einschlägigen Rituale des „Respekts“ eingeübt und verinnerlicht werden. Keine
Frage, daß sich hier die beiden Gewaltgruppen „auf dem Weg in die Demokratie“ befinden, während sich zugleich Israel nicht nur zu einem „Terrorstaat“,
sondern inzwischen zu einem Gewaltgebilde kosmischen Ausmaßes entwickelt.
Die Paranoia, die sich bei den Islamisten und in besonderem Maße bei den Phantasten der ultra-radikalen Apokalyptik-Literatur aufbaut, findet auch Sympathisanten bei der terrorphilen Avantgarde des westlichen „Dialogs“. Auf beiden
Seiten – im Westen (noch) etwas verdeckter – wird „der Jude“ zu einem Dämon
aufgebläht, dessen Vernichtung nicht mehr tabuisiert wird. Auf die iranische
Forderung des „Ausradierens Israels“ reagierten die Eurokraten „besonnen“, also
gar nicht. Für die Scharfmacher des Islam liegt der Fahrplan fest: Ihr Endgericht
beginnt, wenn alle Juden getötet sind, und es endet, wenn Jesus alle Christen
getötet hat.
Pater Basilius Streithofen, der unlängst von uns gegangen ist, war als aufrechtem
Menschen bei seinem Lob für den „untadeligen Moslem Bassam Tibi“ (NO
6/04) die Technik der Mehrdeutigkeit nicht geläufig, die auch Tibi braucht, um
im „Dialog“-Geschäft erfolgreich zu sein. Weder ist Tibi Moslem, sondern Agnostiker, noch meinte er den Gegenstand des Lobs ernst, vorliegend das islamische „Feindbild Westen“. Denn wäre dem so, hätte er den von ihm selbst mitgeformten Schlußstein aus dem „Friedens“- und „Respekts“-Gebäude des antisemitischen Euro-„Dialogs“ längst entfernt: „Der Islam ist eindeutig frei von Antisemitismus!“ 52
Anmerkungen
1) Propyläen 5, 41.
2) Grunberger/Dessuant, 296.
3) Pfannmüller, Handbuch, 173.
4) Geiger, Muhammad, 6.
5) Ebd., 22.
42
6) Ebd., 98, 88f.
7) Wellhausen, Medina vor dem Islam, 4.
8) Nagel, Theologie, 16f.
9) EI III, 577f.
10) Nagel, Theologie, 16.
11) Goldziher, Muhammedanische Studien I, 69.
12) Rodinson, Muhammad, 104.
13) Ebd., 107.
14) Bouman, Der Koran und die Juden, 68.
15) Vgl. Raddatz, Von Gott zu Allah?, 330.
16) Rodinson, Muhammad, 157.
17) Ebd., 54.
18) Busse, Theologische Beziehungen, 49.
19) Bouman. Juden im Islam, 96.
20) Busse, Beziehungen, 71.
21) Gibbon, Islam, 336.
22) Bouman, Koran, 85f.
23) Goldziher, Muhammedanische Studien I, 69.
24) Iyad Ibn Musa al-Yahsubi, Ash-Shifa (Muhammad, Messenger of Allah), Granada
1991.
25) Rodinson, Muhammad, 214; Peters, From Time Immemorial, 144.
26) Schacht. Katl. in: Encyclopaedia of Islam, Vol. IV. E. J. Brill: Leiden, 1990, S. 766722, hier: S. 771.
27) Bukhari, Kitab al-Tauhid, 413f.
28) Peters, Rudolph, Jihad, 52.
29) Aufbauend auf dem Universal-Prinzip des Ibn Taymiya (gest. 1228) predigt die Muslimbruderschaft den generellen Kampf gegen den Unglauben, der in jedem Falle eine
Bedrohung und damit den permanenten Verteidigungsfall bedeutet. Mithin ist jeder Angriff der Muslime ein Akt der Verteidigung, wie der Großmufti von Ägypten, Muhammad
Tantawi, am Beispiel der Spanien-Eroberung (711-15) bestätigte (Süddeutsche Zeitung,
21.9.2001).
30) Grunebaum, Propyläen 5, 63.
31) Lewis, Juden, 83.
32) Peters, Joan: From Time Immemorial, 145.
33) Möhring, Weltkaiser der Endzeit, 382.
34) Ebd., 369.
35) Der Priester Arius (gest. 336) aus Alexandria verbreitete eine nach ihm benannte
Lehre, die Jesus die Göttlichkeit absprach, große Diskussionen in der Kirche auslöste und
im Konzil von Nicäa 325 verworfen wurde. Während dieser Beschluß unter Kaiser Constans erging, gelang es den Arianern, unter Kaiser Constantius II. ein Konzil in Antiochia
(341) abzuhalten, das den Arianismus teilweise rehabilitierte. Nachfolgende Wirren wurden durch das Konzil von Konstantinopel (381) zugunsten des trinitarischen Glaubens
43
beendet. Bei einigen germanischen Völkerschaften, u.a. bei den spanischen Westgoten,
lebte der Arianismus noch bis zu Beginn des 8. Jahrhunderts fort, bevor er im Ansturm
der Muslime unterging.
36) Dozy, Die Mauren in Spanien I, 263f.
37) Bostom, Legacy of Islam, 56.
38) Bat Ye’or: Decline, 128 ff.
39) Werner, Osmanen, 139.
40) Werner, Osmanen, 139; die spaltende Wirkung der Angst vor den osmanischen Truppen ging quer durch die Christenheit. Zuweilen war die Schadenfreude der Lateiner über
die Schwäche der Byzantiner kaum zu bändigen, denn „die Feindschaft gegen die schismatischen Griechen war nicht geringer als gegen den Islam“ (ebd., 152).
41) Nicholson, Literary History, 411f.
42) Ebd., 95.
43) Lewis, Juden, 55f.
44) Dozy, Die Mauren in Spanien II, 301, 303.
45) Ebd., 250.
46) Guttmann, Philosophie, 240.
47) EI II, 95.
48) Guttmann, Philosophie, 259.
49) Koran ed. Ullmann, München 1959, S. 98.
50) Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß, S. 279.
51) Bat Ye’or, Eurabia, 48 ff.
52) Tibi, Islam in Deutschland, 160.
Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist, Volkswirt und Systemanalytiker, ist KoAutor der „Encyclopaedia of Islam“ und Autor zahlreicher Bücher über den
Islam.
Bericht und Gespräch
44
Stephan Georg Schmidt
„Ich selbst und mein Schöpfer“
Impulse aus der englischsprachigen Newman-Forschung
Bildhafter hat vielleicht kaum je mand das Gottesbild der Moderne in Sprache
gefaßt als James Joyce in seinem autobiographisch geprägten Roman Porträt des
Künstlers als junger Mann aus dem Jahr 1916. Darin vergleicht er den kreativen
Menschen mit dem Schöpfergott, der sich gleichgültig und gelangweilt aus dem
einmal vollbrachten Werk seiner Hände heraushalte. Gleichsam „aus der Existenz hinausraffiniert“, stehe dieser Künstler-Gott abseits und „manikürt sich die
Fingernägel“.1 Die Vorstellung eines abwesenden Gottes, der die Welt sich selbst
überläßt, ist geradezu ein Kennzeichen jener Epoche geworden, die sich Moderne nennt, und die mit zwei Weltkriegen und zwei totalitären Systemen reiche
Belege zu bieten scheint für die Annahme, daß Gott entweder gar nicht existiere
oder aber, falls es ihn doch gebe, sich um seine Schöpfung nicht kümmere.
Es ließe sich gewiß darüber streiten, ob eine solche Betrachtungsweise nicht
vielleicht Ursache und Wirkung vertausche, ob nicht also die Leugnung Gottes
oder sein „Hinausraffinieren“ aus der Schöpfung durch Naturwissenschaft, Psychologie, Kunst und Philosophie erst den Weg gebahnt habe zu den Gewaltexzessen des vergangenen Jahrhunderts. Auf das auch in politischer Hinsicht gefährliche Glatteis einer solchen Debatte sollte man sich jedoch – auch als überzeugter Christ übrigens – nicht ohne Not begeben, denn für die Annahme, daß
die Welt, wie sie sich zeigt, es einem wach um sich blickenden Menschen bisweilen schwermache, an einen allmächtigen und zugleich guten Schöpfergott zu
glauben, gibt es Kronzeugen auch unter durch und durch christlichen Denkern,
und zwar lange schon, bevor von Massenvernichtungswaffen und Konzentrationslagern die Rede war. Eine der in diesem Sinn zeitgenössisch anmutenden und
zugleich prophetischen Gestalten ist der englische Konvertit und Kardinal John
Henry Newman, dessen Leben nahezu das gesamte 19. Jahrhundert umspannt.
„Die Welt“, schreibt Newman in seiner Autobiographie Apologia pro Vita sua
aus dem Jahr 1864, „scheint einfach die große Wahrheit Lügen zu strafen, von
der mein ganzes Wesen erfüllt ist, und die Wirkung auf mich ist notwendig nicht
weniger verwirrend, als wenn dieselbe Welt meine eigene Existenz leugnete.
Wenn ich in einen Spiegel blickte und darin mein Gesicht nicht sähe, so hätte ich
ungefähr dasselbe Gefühl, das mich jetzt überkommt, wenn ich die lebendige,
geschäftige Welt betrachte und das Spiegelbild ihres Schöpfers nicht in ihr finde.
[...] Wäre es nicht diese Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und in
meinem Herzen spricht, ich würde bei der Betrachtung der Welt zum Atheisten,
Pantheisten oder Polytheisten.“2
45
Damit greift Newman – ein halbes Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs und dem darauf folgenden Zusammenbruch der bis dahin gültigen
gesellschaftlichen und weltanschaulichen Systeme – geistig den Entwicklungen
voraus, die sich dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich zeigten. Ve reinfachend betrachtet, ließe sich zunächst vor allem eine Tendenz zum Atheismus unter Künstlern, Schriftstellern und Philosophen feststellen. Die beispiellose
Grausamkeit und offenkundige Sinnlosigkeit des Sterbens auf den Schlachtfeldern und in den Terrorlagern führte sie zur Leugnung Gottes. In den letzten Jahrzehnten dagegen scheinen sich vor allem die beiden anderen von Newman genannten Alternativen durchgesetzt zu haben. Atheismus in Reinform gilt derzeit
als überholt, zumal gerade jene Ideologie, die sich mit wissenschaftlichem Anspruch auf ihn stützte, buchstäblich abgewirtschaftet hat. Die gleichsam gottlose
Autonomie des Menschen erscheint angesichts einer immer komplexer, unberechenbarer und beliebiger sich zeigenden Welt als ein kaum haltbarer Standpunkt.
Man mag gleichwohl zeitkritisch fragen, wie lange das wohl so bleibt, wenn man
sieht, wie die Fortschritte mancher wissenschaftlicher Disziplinen wie beispielsweise der Hirnforschung zur Widerlegung des religiösen Glaubens in Stellung
gebracht werden. Indes zeigen Umfragen in verschiedenen Ländern bisher, daß
eine große Mehrheit durchaus an irgendeine transzendente Macht glaubt, wenngleich diese nur selten mit einem persönlichen Gott identifiziert wird. Wer oder
was diese übernatürliche Instanz sein könnte, bleibt vielfach ungeklärt, doch
unbesetzt bleibt diese geistige Leerstelle deswegen nicht, sondern der typische
Eklektizismus der Postmoderne schafft sich hier seinen Ersatz nach dem sogenannten Cafeteria -Prinzip. Unter Rückgriff auf vorchristliche und fernöstliche
Gottes- und Heilsvorstellungen wird eine Mixtur aus allen möglichen religiösen
und philosophischen Versatzstücken hergestellt, die man am ehesten bezeichnen
könnte als Pantheismus – frei nach dem Motto: „Gott ist überall und nirgends“,
was Arthur Schopenhauer „die vornehme Form des Atheismus“3 genannt hat –
oder angesichts mancher esoterischen Entlehnungen aus dem Hinduismus oder
aus dem altgermanischen Asenkult auch als regelrechten Polytheismus. Eine
neuartige, diffuse Religiosität macht sich breit, doch ist die Situation im Grundsatz unverändert: Der Gott der christlichen Offenbarung, von dem der katholisch
erzogene Joyce noch ausging, als er sein Porträt schrieb, bleibt im Abseits.
Newman – so könnte man mit einigem Recht behaupten – hat dies zu seiner Zeit
nicht nur vorausgeahnt, sondern in gewisser Weise sogar selbst durchlitten. Er
war sich der Gefahr durchaus bewußt, die die „Betrachtung der Welt“ für den
eigenen Gottesglauben mit sich bringt und der heutzutage viele erliegen. Vor
allem auch deswegen wohl versucht die neuere Newman-Forschung, insbesondere in englischsprachigen Ländern, den großen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ins Gespräch zu bringen mit den gegenwärtigen philosophischen und
(pseudo-)religiösen Ideen. Nach Ansicht von Terrence Merrigan (Katholische
Universität Leuven, Belgien), einem der Wortführer dieser neuen Tendenz, lassen sich aus Newmans Denken „wertvolle Lehren“ ziehen „für das Verständnis
jenes verstörten Wesens, das wir als das moderne und/oder postmoderne Subjekt
kennen“.4
46
Der Rekurs auf Newman beschränkt sich jedoch nicht auf eine bloße Beschreibung und Bestätigung der gegenwärtigen Zustände – schließlich bleibt auch
Newman selbst nicht bei der „Betrachtung der Welt“ stehen, sondern erwähnt mit
Nachdruck die „Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und meinem Herzen spricht“ und die ihn angesichts des Weltgeschehens eben gerade nicht vom
Glauben an den Schöpfergott abfallen läßt. Aus der Zusammenführung der
Weltbetrachtung und der „inneren Stimme“ ergibt sich Newmans Relevanz für
die Gegenwart. Wenn Newman die Grundprobleme der heutigen Situation gesehen und sich zu eigen gemacht hat und wenn er diesen ein deutliches Bekenntnis
zum Glauben an die Seite stellt, dann – so könnte man als These vielleicht formulieren – müßten sich Mittel und Wege finden lassen, sein Denken auch heute
fruchtbar werden zu lassen.
Die Schwierigkeiten beginnen allerdings, sobald es darum geht zu bestimmen,
was denn die „innere Stimme“ sei, von der Newman spricht. Deren Gleichsetzung mit der Stimme Gottes, die sich im Gewissen eines jeden einzelnen Menschen zu Wort meldet, ist vielen Zeitgenossen ja nicht mehr ohne weiteres eingängig. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Gewissen definiert als „die
verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott,
dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“5 Das deckt sich mit
Newmans Standpunkt, der das Gewissen als ein „Echo der Stimme Gottes“ bezeichnet.6 Anderswo wird er noch deutlicher: „Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi, ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner
Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und Bannflüchen.“7 Mit derselben Klarheit verurteilt er jene relativistische Vorstellung, wonach das Gewissen
allenfalls „eine Art Sinn für das Schickliche [sei], eine Geschmackssache, die
uns das eine oder das andere zu tun lehrt“.8
Auch die psychoanalytische Sicht, die das Gewissen auf Schuldgefühle und
Komplexe („schlechtes Gewissen“) reduzieren will, ist seinem Denken fremd.
Merrigan sieht in Newmans Gewissensbegriff regelrecht eine „dialektische Beziehung“ zwischen gutem und schlechtem Gewissen: „Während ersteres die Güte
der göttlichen Vorsehung enthüllt und uns so vor der Verzweiflung bewahrt, die
unser Streben nach dem Guten behindern würde, erschüttert letzteres durch die
Bekanntgabe der gerechten Urteile Gottes, unsere Selbstgenügsamkeit und inspirie rt uns dazu, nach sittlicher Vollkommenheit zu streben.“9 Der Mensch erfährt
die Äußerungen seines Gewissens nicht wie ein vom Über-Ich geknechtetes
Wesen, sondern indem sich im Gewissen die Stimme Gottes äußert, entwickelt
sich ein inneres Zwiegespräch zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer.
Diese sind denn auch – nach einem häufig zitierten Satz aus Newmans Apologia
– die beiden einzigen Wesen, „die absolut und von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“.10 Und an anderer Stelle: „Das
Gewissen lehrt uns ferner nicht nur, daß Gott ist, sondern auch was er ist. Es
versieht den Geist mit einem wirklichen Bild von [Gott], als einem Medium der
Anbetung.“11
Was nach Verinnerlichung aussehen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung
als Akt innerer und äußerer Freiheit. Das wird besonders deutlich, wenn man
47
Newmans Gewissensbegriff absetzt gegen spätere Theorien, die sich ausdrücklich von christlichen Vorstellungen abwenden. Den Unterschied zur Psychoanalyse etwa weist Michael J. Buckley (Boston College, USA) unter anderem am
Verhältnis zur persönlichen Freiheit auf: Während das Über-Ich mit (Kindheits-)
Erfahrungen und Schuldgefühlen das Individuum zu konditionieren und zu determinieren suche, wende sich das Gewissen nach Newmans Vorstellung gerade
„an die Freiheit, an einen Sinn für Selbstverantwortung oder Selbstbestimmung“;
konfrontiert mit einer sittlichen Wahl, erfahre die menschliche Person auf radikale Weise „ihre eigene Freiheit, ihre Verantwortung für das, was sie erwägt und
wofür sie sich entscheidet – ja, geradezu die Verantwortung für ihr ganzes Leben.“12
Um so erstaunlicher, wenn heute dieser freiheitliche Aspekt von Newmans Gewissensbegriff weitgehend übersehen wird und man sich statt dessen mit einem
psychoanalytis ch oder naturwissenschaftlich verbrämten Determinismus, Geschmacksfragen oder – die vielleicht typischste Ausdrucksform des postmodernen Relativismus, wie ihn beispielsweise der amerikanische Philosoph Richard
Rorty vertritt – mit den Vorgaben gesellschaftlicher Mehrheiten zufrieden gibt.
In einer scharfsichtigen Kritik an diesem Phänomen hat Joseph Kardinal Ratzinger, der jetzige Papst Benedikt XVI., darauf hingewiesen, „daß der Relativismus
seinen eigenen Dogmatismus in sich trägt: Er ist sich seiner selbst so gewiß, daß
er auch denen auferlegt werden muß, die ihn nicht teilen. Im letzten ist hier der
Zynismus unausweichlich [...]: Wenn die Mehrheit – wie etwa im Fall des Pilatus – immer recht hat, dann muß das Recht mit Füßen getreten werden. Dann
zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich einzunehmen weiß.“13
Daß trotzdem der Zusammenhang zwischen christlich gebildetem Gewissen und
persönlicher Freiheit derzeit kaum gesehen wird, hängt möglicherweise mit dem
intellektuellen Zersetzungsprozeß zusammen, der in den zurückliegenden zwei
Jahrhunderten die Begriffe des religiösen Subjekts und mithin auch den des Gewissens erfaßt hat. Buckley nennt dafür beispielhaft Feuerbach und Freud, die
den Gegenstand des religiösen Glaubens zu einer Projektion des Menschlichen
auf ein erdachtes Göttliches herabgestuft hätten.14
Diesen Grundfehler kreidete schon Newman den Vertretern der neuen wissenschaftlichen Richtungen an: die Anwendung rationalistischer Prinzipien in Fragen der religiösen Offenbarung, wodurch der eigene begrenzte „Verstand zum
Standard und Maßstab der offenbarten Lehren“ erhoben werde.15 Dies sei ein
„Mißbrauch der Vernunft“, der die nach Newmans Auffassung bedeutendste
natürliche Erkenntnisquelle über Gott – die Stimme, die im Gewissen und im
Herzen spricht – bewußt blockiere, so daß die bloße Betrachtung der Welt und
der Geschichte einen Menschen, dessen innere Stimme zum Schweigen gebracht
sei, leicht „zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten“ machen könne. Auch
die anderen natürlichen Erkenntniswege, auf denen ein Mensch, sofern er dafür
offen ist, näher zu Gott kommen kann, scheinen durch den Rationalismus versperrt, der nur gelten läßt, was empirisch verifizierbar und logisch deduzierbar
ist. Dabei lehrt schon die menschliche Erfahrung, daß gerade die für das eigene
48
Leben prägendsten Kenntnisse und Beziehungen nicht durch Logik und Empirie
zustande kommen.
Newman bringt das auf den Punkt in seiner Zustimmungslehre, einer erkenntnistheoretischen Arbeit, die übrigens für die Auseinandersetzung mit dem postmodernen Denken sicherlich noch vieles leisten kann: „Das Herz wird gemeinhin
nicht durch den Verstand erreicht, sondern durch die Einbildungskraft [imagination], aufgrund unmittelbarer Eindrücke, durch das Zeugnis von Tatsachen und
Ereignissen, durch Geschichte, durch Beschreibung. Personen beeinflussen uns,
Stimmen schmelzen uns, Blicke bezwingen uns, Taten entflammen uns. Manch
ein Mensch wird leben und sterben auf ein Dogma hin; kein Mensch will der
Martyrer einer Schlußfolgerung sein.“16 Literarisch hat George Bernard Shaw
1924 in seinem nobelpreisgekrönten Drama über die hl. Johanna von Orléans
dies prägnant zum Ausdruck gebracht. Als die Titelheldin einem französischen
Offizier ihre militärischen Dienste aufdrängt und sich dabei auf Gottes Stimme
beruft, spottet dieser, jene Stimme, die sie da angeblich höre, komme doch bloß
aus ihrer eigenen Vorstellung (imagination). Die entwaffnende Antwort, die
Shaw der Heiligen in den Mund legt: „Selbstverständlich. So erreichen uns Go ttes Botschaften nun mal.“17
Subjektstellung des Menschen
Dieses Grundvertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes
erscheint der Postmoderne fremd, wenn nicht gar befremdlich naiv. Schon die
Vordenker des Rationalismus trauten dem Menschen, was das Wahrnehmen des
Göttlichen betrifft, nicht mehr allzu viel zu. Wo Gott aus der Welt „hinausraffiniert“ war, da gab es eben nicht mehr viel zu erkennen. Zum Leidwesen der
Rationalisten blieb jedoch der von ihnen angestoßene Zersetzungsprozeß in diesem Stadium nicht stehen. Moderne Philosophen und Naturwissenschaftler des
19. und 20. Jahrhunderts hatten, auch wenn sie dem Menschen die Gottfähigkeit
absprachen, immerhin noch an der Autonomie des Subjekts festhalten können;
der vom Absoluten abgeschnittene, sozusagen von den überkommenen Gottesvorstellungen befreite Mensch war ja in ihren Augen überhaupt erst der wirklich
autonome Mensch. Inzwischen aber hat selbst dies keinen Bestand mehr, jedenfalls wenn man Michel Foucault, einem Vordenker der Postmoderne, glauben
will. Dessen „Anti-Subjektivismus“ läßt von der angeblichen Autonomie, auf die
sich die Moderne noch so viel zugute hielt, kaum etwas übrig – einfach weil für
Foucault schon das Subjekt an sich als Träger irgendwelcher Autonomie nur
„Fiktion“ ist.18
Obwohl diese Vorstellung erkennbar Lichtjahre entfernt ist von Newmans Menschenbild, erblicken Newman-Forscher offenbar gerade hier neue mögliche Anknüpfungspunkte, um die Stimme des Kardinals aus dem 19. Jahrhundert in die
Diskussion mit der Postmoderne einzubringen. Bemerkenswert scheint in diesem
Zusammenhang der Begriff des „dynamischen Subjekts“19 , den der bereits zitierte Theologe Terrence Merrigan vorschlägt. Auch für Newman sei der Mensch zu
Lebzeiten als religiöses Subjekt nie mals fertig, sondern befinde sich „in einem
49
Prozeß andauernder Entwicklung (oder Veränderung). Man könnte sogar von
einem Prozeß einer unablässigen Neuerschaffung sprechen“. Newman selbst
spricht dies unter anderem in seinem bekannten Wort aus, auf Erden „heißt leben
sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt haben.“20 Kardinal
Ratzinger hat in einem Vortrag über Newman den engen Bezug dieses Satzes zu
Newmans eigener Biographie betont: „Newman ist in seinem ganzen Leben ein
Sich-Bekehrender gewesen, ein Sich-Wandelnder, und so ist er immer er selbst
geblieben und immer mehr er selbst geworden.“21
Doch ein solcher Entwicklungsprozeß – auch das lehrt der Blick auf Newmans
Leben – ist kein blindes, zielloses Tappen zwischen den zahllosen Möglichkeiten, die das dynamische Subjekt hat. Für Kontinuität sorge „der Eine, der unablässig das Ich zu einem authentischen Selbst-Sein in der Liebe ruft“, schreibt
Merrigan, um dann ganz überraschend eine mögliche Gemeinsamkeit zwischen
dieser dynamischen Kontinuität und der postmodernen Skepsis gegenüber dem
Subjekt anzudeuten: In sich selbst habe das einzelne Ich auch nach Newmans
Auffassung keine Basis, sondern es werde „stets durch ,das Andere’ konstituiert:
die anderen [Menschen], für die es jeweils Verantwortung trägt, und den Anderen [Gott], vor dem es sich zu verantworten hat. Sein Dasein ist also im wesentlichen Gabe (oder Gnade) und Aufgabe (oder Ruf): etwas, das sich aktualisiert in
jeder authentischen Antwort auf die Stimme des Gewissens. Außerhalb dieser
Antwort – das heißt, jedesmal wenn das Gewissen beiseite geschoben oder seine
Ansprüche geleugnet werden – verliert das Subjekt seinen Urgrund, zerfällt in
Fragmente und wird zur Beute der disparaten Begierden, die aus einer zunehmend aggressiven Konsumgesellschaft herrühren oder von dieser geschaffen
werden.“ In diesem Sinn sei auch Newmans Subjekt wie das der Postmoderne
immer nur „vorläufig“.22
Vor diesem Hintergrund gewinnt Newmans Gebet an den unwandelbaren Gott
womöglich ganz neue Aktualität: „Ich erkenne, o mein Gott, daß ich mich ändern muß, wenn ich Dein Antlitz schauen will. [...] Mein wirkliches Sein, meine
Seele, muß durch eine wahre Wiedergeburt umgestaltet werden. [...] O stärke
mich in dieser großen, furchtbaren und doch glückbringenden Veränderung mit
der Gnade Deiner Unveränderlichkeit! Meine Unveränderlichkeit hienieden ist
fortwährendes Sich-Verändern. Gib, daß ich Dir täglich ähnlicher werde und von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit umgewandelt werde durch den Aufblick zu Dir und
die Kraft Deines Armes! [...] Welches Los meiner wartet, ob ich reich bin oder
arm, gesund oder krank, Freunde habe oder nicht, alles wird mir zum Übel gereichen, wenn der Unveränderliche mich nicht behütet, alles wird mir zum Heile
sein, wenn Jesus mit mir ist, Jesus, gestern und heute derselbe und für alle Ewigkeit.“23
Anmerkungen
50
1) James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, London 1977, S. 194f. (Deutsche Übersetzungen aus Werken, die mit englischem Titel zitiert sind, stammen vom
Autor.)
2) John Henry Newman, Apologia pro Vita Sua (Band I der Ausgewählten Werke), Mainz
o. J., S. 278f.
3) Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 221991, S. 539.
4) Terrence Merrigan, „‚Myself and my Creator’: Newman and the (Post-)Modern Subject“ (Vortragsmanuskript zur Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 1;
vgl. dazu auch Robert Barron, „Newman among the Postmoderns“, in: Newman Studies
Journal, Bd. 2/1 (Frühjahr 2005). S. 20-31.
5) Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 16.
6) John Henry Newman, Sermon Notes, London 1913, S. 327.
7) Ders., Polemische Schriften (Band IV der Ausgewählten Werke), Mainz 1959, S. 162.
8) Ders., Sermon Notes, S. 327.
9) Merrigan, a.a.O., S. 14.
10) Newman, Apologia, a.a.O., S. 22.
11) Ders., Entwurf einer Zustimmungslehre (Band VII der Ausgewählten Werke), Mainz
1961, S. 274; für eine Zusammenfassung der Grundlagen von Newmans Gewissenslehre
und der wichtigsten Belegstellen aus seinem Schrifttum vgl. Hermann Geißler, Gewissen
und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman, Frankfurt/Main 21995, S. 21-27.
12) Michael J. Buckley, „‘The Winter of my Desolation’: Conscience and the
Contradictions of Atheism according to John Henry Newman“ (Vortragsmanuskript zur
Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 25.
13) Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg i. B. 2005, S.
57f.
14) Buckley, a.a.O., S. 10.
15) John Henry Newman, „On the Introduction of Rationalistic Principles into Revealed
Religion“ (Tract 73), in: Essays Critical and Historical, Vol. 1, London 1907, S. 31.
16) Ders., Zustimmungslehre, a.a.O., S. 64f.
17) George Bernard Shaw, St. Joan, London 1970, S. 67; vgl. Merrigan, a.a.O., S. 14.
18) Merrigan, a.a.O., S. 7f., 16.
19) Ebd., S. 17.
20) John Henry Newman, Über die Entwicklung der Glaubenslehre (Band VIII der Ausgewählten Werke), Mainz 1969, S. 41.
21) Joseph Kardinal Ratzinger, „Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche“
(Nachdruck eines Vortrags aus dem Jahr 1990), in: L’Osservatore Romano (Wochenausgabe in deutscher Sprache) 22/2005, S. 9.
22) Merrigan, a.a.O., S. 17; vgl. dazu die verschiedentlich als Zeichen der Abkehr von der
radikalen Subjektkritik gedeuteten Vorlesungen Foucaults aus dem Jahr 1982 (Michel
Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt/Main 2004).
23) John Henry Newman, Betrachtungen und Gebete, München 1952, S. 214f; vgl. Merrigan, a.a.O, S. 18.
Stephan Georg Schmidt ist Anglist, Skandinavist und Historiker. Er ist Pressesprecher des Erzbistums Köln und Chefredakteur der Kölner Kirchenzeitung.
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Harald Bergsdorf
Rechtsextreme Populisten im Fernsehen
Diagnose und Therapie
Seit einigen Jahren feiern rechtsextreme Parteien wieder Wahlerfolge in
Deutschland: Die jüngsten Wahlen unterstreichen diesen Trend. Nach den NPDErfolgen gibt es nun verstärkt Debatten über Gegenmaßnahmen. Weitgehende
Einigkeit herrscht in einem Punkt: Nur ein Bündel an Aktivitäten wird zum Erfolg führen.
Doch so wichtig gerade im Osten eine stärkere Aktivität der (allerdings mitgliederschwachen) Kirchen und gemäßigten Parteien gegen Rechtsextremismus ist:
Auch das Fernsehen muß helfen, Demokratiefeinde zu bekämpfen. Durch Aufklärung kann es einen Beitrag leisten, Demagogen zu enttarnen und zurückzudrängen (zum Beispiel agitieren Rechtsextremisten in den jungen Ländern bekanntlich gegen Ausländer; eine starke Minderheit der Bürger dort meint laut
Repräsentativumfragen sogar, der Ausländer-Anteil liege im Osten über 25%;
faktisch liegt er bei rund 2%).
Am 17. September 2006 gelang es einem Moderator am Wahlabend in Schwerin,
dem NPD-Polit iker Udo Pastörs zumindest ansatzweise die Maske herunterzuziehen: So bestätigte der rechtsextreme Politiker am Sonntagabend in der ARD
einen Satz über Hitler, den er im Wahlkampf abgesondert hatte: „Er ist ja ein
Phänomen gewesen dieser Mann, militärisch, sozial, ökonomisch – er hat ja
wahnsinnige Pflöcke eingerammt auf fast allen Gebieten.“ Pastörs wörtlich in
der Sendung: „Das ist übrigens ein korrektes Zitat.“ Er wolle seinen Satz über
das Phänomen Hitler allerdings „wertfrei geäußert“ haben – „nur gemessen an
den objektiv meßbaren Ergebnissen auf vielen Gebieten“.
Der NDR-Chefreporter beendete sein konfrontatives Kurzgespräch mit den treffenden Worten: „Adolf Hitler wertfrei und damit zurück nach Hamburg.“ Auf
die Frage, ob er sich für einen Neonazi halte, antwortete der NPD-Politiker:
„Wenn Sie damit meinen, daß ich ein Mann bin, der national denkt und fühlt und
sozial handelt, dann fühle ich mich durchaus richtig mit einer Bezeichnung bezeichnet.“ Pastörs läßt sich, wie er selbst sagt, „unter bestimmten Aspekten als
Neonazi bezeichnen“. Weiter äußerte er, die DDR habe sehr viele sozialpolitische Ansätze gehabt, die er unterschreibe – ebenso das Dritte Reich, zum Beispiel in der Beschäftigungspolitik, aber auch auf anderen Politikfelder, die er
nicht näher beschrieb. Schließlich enthüllte Stefan Köster, NPD-Chef von Mecklenburg-Vorpommern, wie wenig er fundamentale finanzpolitische Fakten des
nordost-deutschen Bundeslandes kennt.
Ein markantes Beispiel hingegen, wie die (Selbst-)Enttarnung von Rechtsext remisten scheitert, war der Wahlabend nach dem NPD-Erfolg in Sachsen 2004:
52
Als sich die rechtsextremen Demagogen vor laufenden Kameras äußerten, reagierten ihre Interviewer von ARD und ZDF wie ein „aufgescheuchter Hühnerhaufen“, so Hellmuth Karasek . Keine fundierte Auseinandersetzung, sondern
eher Alibi-Journalismus. Bezeichnend die rhetorische Frage, auf die sich Bettina
Schausten, ZDF-Journalistin, am damaligen Wahlabend beschränkte, als sie den
NPD-Politiker Holger Apfel interviewte: „Wann sagen Sie Ihren Wählern endlich, daß Sie Neonazis sind?“ Wolfgang Donsbach, renommierter Medienwissenschaftler aus Dresden, bemerkte: „Es war ein Trauerspiel des Fernsehjournalismus, was in Sachsen am Wahlabend abgelaufen ist. Journalisten sind keine Richter …“
Wie sollen Journalisten mit solchen Populisten umgehen – und wie nicht? Ausblenden oder Aufklärung? Wie präsentieren sich solche Demagogen ihrerseits in
Fernsehstudios? Peter Glotz, kürzlich verstorbener Kommunikationswissenschaftler und SPD-Politiker, plädiert (ähnlich wie Donsbach) für Aufklärung: Er
will rechtsextreme Demagogen in offenen, direkten Auseinandersetzungen (stärker) demaskieren. Deshalb diskutierte Glotz, Verfasser eines lesenswerten Buches über Rechtsextremismus, nach der Wahl in Sachsen im Fernsehsender N24
mit dem NPD-Chef und Diplom-Politologen Voigt. Glotz enttarnte in seiner
Diskussion mit Voigt dessen Äußerungen und deren Konnotationen. So nutzte
Glotz die trickreiche Bemerkung Voigts, er halte Hitler lediglich deshalb für
einen großen Staatsmann, weil der Diktator – quantitativ – große Veränderungen
herbeigeführt habe, um an Hitlers Angriffskrieg und massenhaften Judenmord zu
erinnern.
Voigts faktenferne Behauptung, deutsche Politiker ignorierten das Leid deutscher
Opfer im Zweiten Weltkrieg, widerlegte Glotz, indem er auf das Engagement
deutscher Politiker gegen Vertreibungen ebenso hinwies wie auf Besuche deutscher Politiker auch auf deutschen Soldatenfriedhöfen. Als der NPD-Chef
bestritt, ein Judenfeind zu sein, präsentierten seine wohl präparierten Diskussionspartner Glotz und Claus Strunz, Moderator der Sendung, ein jüngeres NPDFlugblatt, auf dem es heißt: „Den Holocaust hat es nie gegeben.“ Zwar handelt es
sich dabei um ein provozierendes, aufrüttelndes Zitat einer Initiative für das
Holocaust-Denkmal. Doch wie die NPD den Satz „Den Holocaust hat es nie
gegeben“ tatsächlich meint, unterstreicht Voigts Äußerung, die Stelen des
Denkmals eigneten sich als Fundament einer neuen Reichskanzlei – die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Allerdings konnte Voigt im Gespräch mit Glotz kaum widersprochen erklären,
Deutschland verkomme zu einem fremdbestimmten Land. In Wirklichkeit hat
Deutschland zum einen, gerade seit 1990, an Souveränität gewonnen; zum anderen kann ein Nationalstaat heute viele Herausforderungen nur noch in Kooperation mit anderen meistern und damit stark bleiben. Als Glotz und Strunz dem
NPD-Chef vorhielten, seine Partei entwickele sich zum Sammelbecken für
Schläger, entgegnete Voigt, ähnlich wie die rot-grüne Bundesregierung betreibe
die NPD „Resozialisierung“ – doch es macht nach wie vor einen Unterschied, ob
tatsächlich beziehungsweise angeblich geläuterte Schläger (oder Funktionäre
eines totalitären Regimes) zu einer demokratischen Partei wechseln oder zu einer
53
extremistischen Kraft. Auch wenn die Sendung für den NPD-Chef zu keinem
Desaster geriet, kürte eine große deutsche Zeitung Glotz nach der Sendung zum
„Gewinner des Tages“, der Voigts Parolen „zerfetzte“: „Klarer Punktsieg für die
Demokratie.“ Wie hinterhältig Voigt und seine Leute mitunter mit dem Fernsehen umgehen, zeigen die wohlkalkulierten Entgleisungen der NPD im Landtag
von Sachsen, mit denen die Partei erhebliche Aufmerksamkeit, ja Aufregung
provozierte, um in die Medien zu gelangen – Stich wort „Bomben-Holocaust“.
Anders als Glotz überschätzten sich andere Journalisten, die mit rechtsextremen
Demagogen debattierten – und unterschätzten ihre Gesprächspartner: So diskutierte Thomas Gottschalk 1992 im Fernsehsender RTL mit Schönhuber. Der
Entertainer bot dem rechtsextremen Politiker die gute Gelegenheit, sich einem
Millionenpublikum zu präsentieren. Vor laufenden Kameras und Mikrofonen
erklärte der damalige REP-Chef, er verabscheue Gewalt und Nationalismus. Die
REP bekämpften sogar Ausländer-Haß und garantierten Recht und Ordnung.
Angeblich gebe es auch keine „Antisemiten“ bei den REPs. Doch rückten die
Medien seine Partei gerne in ein falsches Licht.
Gottschalk zeigte sich weit überfordert. In der Sache konnte er dem rechtsextremen Fernsehprofi Schönhuber kaum etwas entgegenhalten. Vor allem versagte
Gottschalk davor, frühere Äußerungen Schönhubers zu thematisieren und zu
entschlüsseln. Beispielsweise hatte sich Schönhuber mehrfach apologetisch über
das „Dritte Reich“ geäußert. So hatte er in einem Buch behauptet, Hitler habe
sich in den Zweiten Weltkrieg treiben lassen. Auch hatte er einmal Juden als
„Stinker“ bezeichnet. Im Interview mit Gottschalk betonte der langjährige REP Chef in einer trickreichen Formulierung, er verabscheue die millionenfache Ermordung von Juden im Dritten Reich lediglich deshalb, weil Hitler damit
Deutschland in eine „Katastrophe“ geführt habe und „Antisemitismus“ heute
zum „Untergang“ Deutschlands führen werde.
Auch der „Spiegel“ zeigte sich 1994 in einem Interview mit Schönhuber unfähig,
dessen trickre iche Formulierungen zu enthüllen. Ähnlich wie Hitler, der die
Attentäter des 20. Juli 1944 bekanntlich eine „kleine Clique ehrgeiziger ... Offiziere“ genannt hatte, befand Schönhuber in diesem „Spiegel“-Interview, seine
innerparteilichen Gegner bildeten „eine kleine Clique ehrgeiziger Funktionäre“.
Diese Formulierung Schönhubers entschlüsselten die Redakteure des Spiegels im
weiteren Verlauf des Interviews mit keinem Wort. Gottschalk hatte die Auseinandersetzung mit Schönhuber nach ausländerfeindlichen Morden gesucht. In
direkter Konfrontation mit Schönhuber wollte der Entertainer ein Zeichen setzen
gegen xenophobe Menschenverachtung. Sein hehres Ziel verfehlte Gottschalk
nach der Auffassung zahlreicher Kommentatoren deutlich: Er zeigte sich
schlecht vorbereitet und bot kaum mehr als „Betroffenheit“, „charmante Ahnungslosigkeit“ und „hilflose Appelle an die Menschlichkeit“. Gottschalk mißlang es, Schönhubers Versuche, sich selbst zu verharmlosen, zu konterkarieren.
Micha Guttmann, Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, qualifizierte
das Verhalten Gottschalks deshalb als Ve rstoß „gegen jede journalistische Ethik“. Weil Gottschalk an der Aufgabe gescheitert war, den angeblichen „Biedermann“ Schönhuber als „geistigen Brandstifter“ zu entlarven, nannte ein SPD54
Politiker den Talkmaster sogar „Bildschirmtäter“. Immerhin hatte Gottschalk in
der Sendung offen eingestanden: „Wir wollen doch hier nicht politisch diskutieren. Das kann ich nicht.“ Vor der Sendung hatte Gottschalk offenbar die wenig
vergnügliche Aufgabe umschifft, sich gründlich statt nur oberflächlich auf seinen
Gast vorzubereiten, insbesondere auf dessen Vorleben, Partei und Politik. In
seinem Gespräch mit Schönhuber offenbarte Gottschalk , frei nach Hermann
Lübbe, eher Gesinnung als Urteilskraft. Schönhuber bedankte sich schließlich für
den „Glücksfall dieser Sendung“, die für Gottschalk einen Reinfall bedeutete.
Wie extremistische Populisten im Fernsehen agieren, unterstreicht Jörg Haiders
Auftritt beim früheren Spiegel-Chefredakteur Erich Böhme vor einigen Jahren:
Ein Diskutant bei Böhme wollte von Haider wissen, wie er zu einem FPÖPolitiker stehe, der geäußert haben solle, Kindern müßte es verboten sein, den
Film „Schindlers Liste“ zu schauen. Es solle sich dabei um den FPÖ-Mann Walter Rauter gehandelt haben. Haider entgegnete, es existiere kein Walter Rauter
in der FPÖ und habe auch nie eine Person mit diesem Namen in der FPÖ gegeben. Damit war dieses Thema in der Sendung des überforderten Böhme erledigt.
Es schien, als habe der (damalige) FPÖ-Star spektakulär gepunktet. Offenbar
hatte Haider seine Widersacher blamiert beziehungsweise diese sich selbst.
Tatsächlich stammt die inkriminierte Äußerung von einem Mann, der nicht Walter Rauter heißt, sondern Wolfgang Rauter, dem langjährigen FPÖ-Klubobmann,
das heißt Fraktionsvorsitzenden, im Burgenland. Deshalb: Auf solche Halbwahrheiten und Tricks muß vorbereitet sein, wer in Debatten mit Extremisten und
Populisten bestehen oder gar punkten will. Doch Böhme hatte kritischen Journalismus nur simu liert, wie auch andere Passagen seines Gespräches mit Haider
zeigten. Vor der Sendung hatte Böhme noch vollmundig erklärt, er wolle den
„Mädels“ (Sabine Christiansen und Maybrit Illner) zeigen, wie der FernsehProfi Böhme den FPÖ-Star entlarvt – Christiansen hatte Jörg Haider zuvor erst
ein-, dann aber nach heftigen Protesten wieder ausgeladen. Nach der Sendung
bei Böhme war klar: Haider hatte den Talkmaster enttarnt – nicht umg ekehrt.
So schwierig der Umgang mit extremistischen und populistischen Politikern sein
mag: Zu den legitimen Rechten jeder relevanten Partei gehört es, sich auch im
Fernsehen zu präsentieren. Bereits Voltaire bemerkt: „Ich hasse Ihre polit ischen
Vorstellungen, doch ich würde mich töten lassen, damit Sie das Recht behalten,
sie vorzutragen.“ Tatsächlich gründet die freiheitliche Demokratie gerade auch
auf Parteienpluralismus und Meinungsvielfalt; beide mögen zwar mitunter unbequem sein, sind aber in der freiheitlichen Demokratie unverzichtbar, zumindest
grundsätzlich. Relevante, unverbotene Parteien müssen gelegentlich die Chance
bekommen, sich auch im Fernsehen zu präsentieren. Doch zuweilen fordern jene,
die für einen Medien-Boykott gegen rechtsextreme und –populistische Politiker
und Parteien oder gar für ein entsprechendes Parteiverbot eintreten, mehr direkte
Bürgerbeteiligung durch Plebiszite und mehr „Selbstbestimmung“ der Bürger,
weil diese ernst zu nehmen seien – um dann aber viele, brisante Themen von
Volksabstimmungen wieder auszuschließen.
Wer rechtsextreme Parteien hingegen, solange sie unverboten sind, grundsätzlich
aus dem Fernsehen verbannen will beziehungsweise verbannt, auch wenn sie
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politische Relevanz erlangt haben und Mindestregeln des Anstands einhalten,
bietet den Leitfiguren der betroffenen Parteien auch noch die Chance, sich als
Hüter der Pressefreiheit zu gerieren und gegen „Feindmedien“ zu agitieren. Keinesfalls dürfen, so der frühere Verfassungsrichter Ernst Benda, „Intendanten aus
noch so guten Absichten ... eine eigene Bewertung vornehmen. Das steht ihnen
als Staats bürger frei, aber sie können eine solche Bewertung der Parteien nicht
dem Wähler aufnötigen. Der Wähler, den wir so gern den mündigen Wähler
nennen, entscheidet selbst. Wir sollten bei rechtsradikalen Parteien nicht weggucken, sondern vielleicht noch sehr viel genauer hinschauen und darauf vertrauen,
daß der Bürger ausländerfeindliche Propaganda durchschaut. Wenn wir kein
Vertrauen mehr in die Bürger haben, dann sind wir am Ende der Demokratie.“
Allerdings unterschätzte Benda, wie schwierig es mitunter ist, in der FernsehWirklichkeit die Demagogie von Populisten zu widerlegen. Schwierig vor allem
dann, wenn die beteiligten Journalisten inhaltlich unzureichend vorbereitet sind.
Darin liegt die Mitverantwortung von Journalisten im Kampf gegen Rechtsextremismus. Was aber, wenn ein rechtsextremer Populist vor laufenden Kameras
und Mikrophonen einschlägige Hetzparolen ausstößt? Dann bleibt immer noch
die Möglichkeit, das Gespräch zu beenden.
Fazit: Das Fernsehen fordert und fördert Personalisierung, Emotionalisierung,
Vereinfachung und Negativismus. Insofern eignet es sich besonders für Populisten. Um so wichtiger scheint es, solche und andere Populisten und Extremisten
dann, wenn sie nach ihren Wahlerfolgen im Fernsehen diskutieren, wohlvorbereitet, sachlich und präzise zu befragen, um sie stärker zu enttarnen, gleichermassen jenseits von Dramatisierung und Verharmlosung – ganz ausblenden lassen
sich Parteien nicht, die in drei ostdeutschen Parlamenten hocken. Ziel muß es
sein, mit solcher Aufklärung manchen verirrten Wähler extremistischer Kräfte zu
den verfassungstreuen Parteien zurückzuführen – es gibt zwar einfachere, aber
auch schwierigere Aufgaben.
Wer sich hingegen von Demagogen vorführen läßt, schadet wahrscheinlich dem
Anliegen, die Feinde der Demokratie zurückzudrängen. Nikolaus Brender bilanziert im September 2006: „Presse und Fernsehen sind weder Architekten noch
Klempner gesellschaftlicher Entwicklungen – wir sind Beobachter.“ Üblicherweise ist das Fernsehen aber außer Stande, einen Demagogen zu „machen“; es
kann ihn allenfalls fördern oder hemmen. Deshalb: So bedeutsam es ist, Extremisten inhaltlich zu widerlegen – wichtiger bleibt es, differenziert jene schwierigen Probleme zu lindern oder zu lösen, derentwegen extremistische Vereinfacher
punkten (können). Entscheidend sind die Wertmaßstäbe der Wahlberechtigten
und ihre Stimmabgabe beziehungsweise Wahlabstinenz.
Dr. Harald Bergsdorf arbeitet als Politikwissenschaftler in Düsseldorf.
Ansgar Lange
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Demokratie lädt zur Wahlenthaltung ein
Der Begriff „Politikverdrossenheit“ ist zu einem modischen Schlagwort geworden, das keinen mehr verschreckt. Eigentlich müßte korrekter von der „Politikerverdrossenheit“ die Rede sein. Doch dies hören die Damen und Herren nicht
mehr so gern, die jüngst „mehr Ehrfurcht“ von Unternehmern und Managern
forderten. Kritik am Zustand unserer Demokratie ist noch gefährlicher, denn der
derjenige, der sie vorbringt, könnte als Anti-Demokrat ins moralische Abseits
gestellt werden. Diese Erfahrung mußte vor 45 Jahren auch der konservative
Publizist Winfried Martini machen, der in seinem Werk „Freiheit auf Abruf“
(1960) schrieb: „Seitdem vor wenigen Jahren mein Buch ‚Das Ende aller Sicherheit’ herausgekommen ist, gilt es als ausgemacht, daß ich kein Demokrat sei.“
Womit hatte sich der blendende Stilist, der bisweilen zum Zynismus und zum
Aussprechen unangenehmer Wahrheiten neigte, diesen Vorwurf eingehandelt? In
seinem 1954 erschienenen Buch über das Ende aller Sicherheit hatte er die These
aufgestellt, daß die moderne Demokratie ihren Höhepunkt überschritten habe.
Die demokratische Organisation des Staates sei den praktischen Anforderungen
der Gegenwart und Zukunft nicht mehr gewachsen. Martini definierte die Freiheit als obersten Wert. Die Demokratie hingegen stelle keinen Wert an sich dar,
sondern sei „nur ein organisatorisches Mittel, um bestimmte Zwecke zu erreichen“.
Die moderne Demokratie hat ihren Höhepunkt überschritten
Aus heutiger Sicht waren manche Befürchtungen des Autors unbegründet. Martini sah die westlichen Demokratien in der Defensive, da sie in einem Fall kriegerischer Auseinandersetzung dem Feind aus dem Osten wenig entgegenzusetzen hätten. Hintergrund dieser Überlegung war wohl, daß er übersteigerten Individualismus, mangelnde Wehrbereitschaft und gewisse Dekadenzerscheinungen
einseitig den Gesellschaften des Westens zuschob, während er die Kampfkraft
und Mobilisierungsbereitschaft in Osteuropa doch stark überschätzte.
Ein Kapitel seiner Streitschrift widmete der Verfasser, der als Kommentator des
Bayerischen Rundfunks viele Hörer erreichte und vorzugsweise für konservative
Regionalzeitungen sowie „Die Welt“ und „Christ und Welt“ schrieb, dem „überfragten Wähler“. Und ein Unterkapitel beschäftigt sich mit dem abstinenten
Wähler. Wahlabstinenz – so Martini – sei fast immer ein Zeichen von Aufrichtigkeit: „Sie ist ein stummer Protest gegen die Zumutung, fortgesetzt ein Urteil
über Dinge und Personen abzugeben, denen man doch so fern wie möglich
steht.“ Die Abstinenten seien nicht urteilsfähiger als die Wählenden, aber sie
maßten sich auch kein Urteil an, sie posierten nicht als Politiker. Sie „bekennen
sich offen zum politikfreien Leben, nach dem doch die meisten Wählenden eine
heimliche Sehnsucht haben wie nach dem verlorenen Paradies: eben deswegen
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ziehen sich die Abstinenten den Haß der Demokraten und ihrer roten wie braunen Abkömmlinge auf sich, die bei den Wahlen selbst die Altersheime und die
Krankenhäuser plündern, weil sie noch nicht einmal den Alten und Kranken den
Frieden des Unpolitischen gönnen“.
Wählermobilisierung in Alters- und Pflegeheimen
Martini schließt sich dem Diktum Rousseaus an, wonach die Demokratie nur in
armen und kleinen Staaten funktionieren könne: „In der Tat: die Großdemokratie
vermag nur als ‚Pseudodemokratie’ zu funktionieren.“ Die permanente Mobilmachung der Wählerschaft, die tatsächliche Verdrängung des freien zugunsten
des imperativen Mandats, die Degradierung des Parlaments und andere Maßnahmen seien Kennzeichen wie Folgen einer zunehmenden Jakobinisierung.
Dieser Prozeß der Jakobinisierung, so Martini im Jahr 1954, habe alle Großdemokratien ohne Ausnahme erfaßt. Diese Überlegungen bringen den Autor dann
auf einen Gedankengang, der damals wie heute sicher auch Widerspruch findet:
„Der Gegensatz zwischen der modernen Großdemokratie und dem totalitären
Staat brauner oder roter Prägung ist also heute in der Praxis zwar noch bedeutend, im Grundsätzlichen aber weitaus geringer, als es den Anschein hat.“
Der konservative Schriftsteller und Publizist präferierte den starken Staat und
sah diesen insbesondere auch in seinem zweiten großen Buch „Freiheit auf Abruf“ (1960), welches den Untertitel „Die Lebenserwartung der Bundesrepublik“
trug, massiven Gefährdungen ausgesetzt. Viele der damals formulierten Gedanken – kaum ein „rechter“ Autor in der Bundesrepublik konnte so gut schreiben
wie Martini, weshalb Armin Mohler ihn zur „glänzendsten Feder“ unter dieser
Spezies erklärte – waren der Zeit geschuldet. Martini hatte die starke Befürchtung, daß der „verweichlichte“ und nur noch auf das Materielle eingeschworene
Westen der ideologischen Kraft des Ostens unterliegen könne. Heute können wir
mit Befriedigung feststellen, daß der Westen den kalten Krieg gewonnen und
Martinis Formel „Freiheit geht vor Einheit“ in Deutschland aufgegangen ist.
Andere Ideen Martinis klingen hingegen sehr vertraut. So kritisierte er den Hang
einiger Politiker und Wirtschaftsvertreter, ausschließlich in ökonomischen Kategorien zu denken. Die zurückliegende Bundestagswahl hat eindrucksvoll gezeigt,
wie man mit einer solchen Strategie Schiffbruch erleiden kann, weshalb der
Kanzlerin mittlerweile aus der CSU und der NRW-CDU geraten wurde, in den
sozialen Schmuse-Sound einzuschlagen, der von den Fischer-Chören des Jürgen
Rüttgers gesummt wird. Martini machte seine Kritik an der ökonomischen Ikone
der CDU, Ludwig Erhard, fest, dem wie den meisten Wirtschaftlern der „innere
Zugang zum Wesen des Politischen“ fehle.
Konformismus gilt als Ausweis von Zivilcourage
Schenkt man dem Autor Glauben, dann war auch schon vor einem halben Jahrhundert der Konformismus eine Geißel der Gesellschaft, die sich die Narrenkappe des Querdenkertums aufsetzt. Konformismus, schrieb Martini, gelte den
meisten als besonderer Ausdruck von Zivilcourage. Wohlfeile Antifa-Kampag58
nen, moralisierendes Gerede von drittklassigen Politikern wie Wolfgang Thierse,
der in seiner Amtszeit als Bundestagspräsident Parteiinteressen für Staatsinteressen hielt, oder inhaltsleere Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ zeigen, daß
die von Martini beschriebenen Zeiterscheinungen noch nicht der Vergangenheit
angehören.
Die in „Freiheit auf Abruf“ geäußerten Thesen mündeten in ein Plädoyer für
einen konstruktiven Pessimismus. Martini sah die Zukunft oder die Lebenserwartung der Bundesrepublik sehr pessimistisch, wollte aber keine Panikstimmung erzeugen. Und während sich Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung
ein verdruckstes, Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) abgelauschtes
„Mehr Freiheit wagen“ abrang, erkannte er die „Rettung“ in einem überzeugenden Bekenntnis zur Freiheit, um eine kampflose Kapitulation des Westens oder
die Möglichkeit eines „bundesrepublikanischen Koreas“ zu vermeiden.
Es gehört zur Geschichte der Bundesrepublik dazu, daß man sie immer wieder
am Abgrund sah. Ein Beispiel für neuere Krisenliteratur ist das Buch des ZDFJournalisten Wolfgang Herles:
Wolfgang Herles: Dann wählt mal schön. Wie wir unsere Demokratie ruinieren. Piper Verlag: München 2005, 240 Seiten
Herles’ Buch erreicht selbstverständlich nicht das Niveau der zuvor erwähnten
Bücher. Es ist flott dahingeschriebenen und läßt sich auf einer Zugfahrt von
Berlin nach Bonn gut lesen. Das Erfreuliche an der Lektüre ist aber, daß der
meinungsfreudige Journalist Herles einige heilige Kühe schlachtet. Am Ende
spricht er sich mehr oder weniger unumwunden dafür aus, nicht mehr zur Wahl
zu gehen, weil keine echten Alternativen bestehen. Das Buch erschien wohlgemerkt vor der Bundestagswahl; doch nach der Besiegelung des DinosaurierBündnisses kann sich Herles bestätigt fühlen. Alles bleibt in Deutschland letztlich beim Alten, nur unter Ausschaltung der in sich zerstrittenen Opposition aus
Liberalen, Grünen und Linkspartei, die am liebsten alle auch gern mitregieren
würden. Dann wählt mal schön? Nein danke.
Keine Reform des Landes ohne Reform der Parteien
Wenn Herles auch manchmal allzu plakativ formuliert und man am Ende nicht
weiß, worauf er eigentlich hinauswill, so lohnt sich die Beschäftigung mit seinem neuesten Titel allemal. Man darf seine Streitschrift als polemischen Angriff
auf unseren „Konsens- und Geschlossenheitskult“ lesen, der sich in der schon
oben erwähnten „Du bist Deutschland“-Kampagne oder in der häufig zu hörenden Mahnung zeigt, jetzt müßten doch endlich alle an einem Strang ziehen.
Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Sozialdemokraten und Christdemokraten,
Christen und Muslime, Ausländer und Inländer, Homosexuelle und Heterosexuelle, Weintrinker und Biertrinker nicht dauernd an einem Strang ziehen, dann ist
die deutsche Seele nicht im Gleichgewicht. In den Parteien wird ja schon seit
langem nur selten öffentlich gestritten; und wenn parteiintern zwei Kandidaten
sich um ein Amt bewerben, dann ist das gleich eine Kampfkandidatur. Leider
fällt diese Art der Gehirnwäsche kaum noch jemandem auf. Um noch einmal auf
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Martini zurückzukommen: Wenn man sich einige Personalentscheidungen in den
Parteien genauer anschaut, dann ist der Unterschied zwischen den Zuständen in
der DDR und der Bundesrepublik nicht mehr allzu groß. Deshalb ist Herles nur
zuzustimmen: „Keine Reform des Landes ist möglich ohne eine Reform der
Parteien.“
Das demokratische Fundament in Deutschland bröckelt. Schon Götz Aly hat in
seinem umstrittenen Buch „Hitlers Volksstaat“ die These aufgestellt, daß sich
der „Führer“ die Loyalität der Geführten vor allem auch mit sozialen Wohltaten
erkauft hat. Das Ehegattensplitting und die Mitgliedschaft der Rentner in der
gesetzlichen Krankenkasse oder auch die Kilometerpauschale sind Errungenschaften, die auf die Nationalsozialisten zurückgehen. Natürlich sind diese sozialen Wohltaten nicht deshalb schlecht, weil sie auf dem Mist des „Dritten Reiches“ gewachsen sind. Sie belegen nur die These, daß die politische Führung in
Deutschland sich in diktatorischen und in demokratischen Zeiten die Gunst des
Bürgers schlicht erkauft hat. Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft sorgte
dafür, daß sich die Demokratie hierzulande so rasch etablierte. Wäre dieser Erfolg nicht eingetreten, wäre den westlichen Alliierten die Umerziehung der
Westdeutschen vielleicht nicht geglückt.
Virus der Lethargie
Martini hielt den Wert der Freiheit für entscheidend. Doch in schwierigen Zeiten
– und in denen leben wir zweifelsohne – sinkt der Wert der Freiheit. „Ordnung
und Gerechtigkeit sind in Deutschland allemal verführerische Werte, viel verführerischer als Verantwortung und Freiheit“, schreibt Herles. Schlimmer noch, der
„Virus der Lethargie“ breitet sich immer mehr aus. Keine neue 68er-Revolte ist
in Sicht, da die Vertreter dieser Generation ihre fetten Ruhebezüge genießen und
langsam aus der ersten Reihe abtreten. Den Jüngeren blieb nicht mehr so viel
Luft zum Atmen. Sie stellen nach den Worten des Historikers Paul Nolte die
verunsicherte Generation, die kein Zutrauen mehr in das eigene Können hat, weil
die egoistischen Kulturrevolutionäre den Mittagstisch kahl gefressen haben,
bevor die Jüngeren überhaupt zu Tisch gebeten wurden. Die ständige Sorge um
den Arbeitsplatz und die einseitige Fixierung auf die materiellen Werte haben
ihnen den Mut zur eigenen Meinung und zu eigenen Ideen genommen. Man muß
sich nur den Typus des pragmatischen Netzwerkers und frischen SPD-Ge neralsekretärs Hubertus Heil anschauen, der mit seinen Anfang 30 so wirkt, als
habe er schon zu August Bebels Zeiten Politik gemacht. Leidenschaft, Visionen,
gute Ideen, rhetorische Brillanz, Esprit, charismatisches Auftreten, ordentliche
berufliche Erfahrungen: alles Fehlanzeige. Heil betet die SPD-Leier herunter wie
in seligen Zeiten der automatenhaft auftretende Olaf Scholz.
Herles’ Zorn trifft alle Parteien gleichermaßen. Die ständige Beschäftigung mit
Altkanzler Kohl wirkt auf die Dauer allerdings etwas ermüdend, weil King Kohl
den meisten mittlerweile ziemlich gleichgültig sein dürfte. Nett zu lesen ist aber
Herles’ saftige Polemik über grüne Gutmenschen: „Quertreiber, die sich als
Umweltschützer aufspielen, bekommen vor Gericht auch noch Recht. Sie ja m-
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mern über Arbeitslosigkeit, beklagen den Stillstand im Land, gefährden aber
selbst Tausende von Arbeitsplätzen, weil sie die Maßstäbe verlieren. Ein paar
hundert Kamm-Molche sind ihnen wichtiger als die Wohlfahrt einer ganzen
Region. So verzögern sie den Bau der Autobahn von Kassel nach Gießen. Die
Liebe einiger Menschen zum Feldhamster verhindert den Bau eines hochmodernen Braunkohlekraftwerks am Niederrhein. Der Einsatz für einige Exemplare der
Großtrappe, eines kranichartigen Vogels in Brandenburg, kostet die Bundesbahn
Abermillionen für Erdwälle beiderseits der neuen Strecke Berlin-Hannover, die
stolze Hauptstadt wird auch zwanzig Jahren nach der Wiedervereinigung noch
keinen Großflughafen haben, weil Hausbesitzern der Lärm mißfällt.“
Angesichts des Wegfalls der kommunistischen Bedrohung von außen könnten
eigentlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, den von Herles als
miserabel bezeichneten inneren Zustand der Republik zu beheben. Sicher übertreibt der Autor oft gewaltig; doch dies ist ein legitimes Mittel für einen politischen Beobachter, der Aufsehen erregen will. Sein Bannstrahl trifft nicht nur die
mittelmäßigen Politiker und die mittelmäßigen Wähler, sondern auch die Kaste
der Manager, die nach der Gier-ist-geil-Mentalität verfährt.
Unter Berufung auf John Kenneth Galbraith spricht Herles vom „System der
Konzerne“. Nichts anderes sei die Marktwirtschaft in Deutschland. In Deutschland möchte jeder im öffentlichen Dienst oder in einem Konzern arbeiten; der
Mut zum Unternehmerischen ist weniger stark ausgeprägt. Und während die
Intellektuellen ihre geistigen Schrebergärten pflegen – wer nimmt es schon noch
ernst, wenn Günter Grass die Gruppe 47 wieder beleben will? –, stecken sich die
Politiker das Geld in die Taschen. Den Wählern predigen sie Einschnitte bei der
Rente und ermahnen sie zur Eigenvorsorge. Politiker zahlen nichts für ihre Altersversorgung. Bei rund 11.000 Euro Pension pro Monat kann Hans Eichel nur
müde darüber lächeln, wie sich sein Nachfolger Peer Steinbrück nun bemüht,
den Scherbenhaufen wieder zusammenzukehren.
Die Volksvertreter pflegen die Vollkaskomentalität: „Beamte, die ins Parlament
einziehen, werden beurlaubt. Sie riskieren nichts, werden während ihrer Tätigkeit
als Parlamentarier sogar befördert. Auch Angestellte genießen Kündigungsschutz, während sie ihr Mandat ausüben.“ Und was ist mit denen, die diesen
„Saustall“ ausmisten wollten, ja die eine andere Republik anstrebten? „Die Union degeneriert immer in dem Moment zum Kanzlerwahlverein, in dem sie die
Macht zu riechen beginnt“, so Herles, und man muß Merkels Adjutanten Volker
Kauder nur zuschauen, wie er seine Kanzlerin frenetisch beklatscht und wie er
während seiner Zeit als CDU-Generalsekretär auf jeden zarten Versuch einer
intellektuellen Führung verzichtete, um einen Beleg für diese These zu finden.
Dann werden die Reformen halt nicht gemacht, sagt sich die Union, der Wähler
hat es ja so gewollt, und wir blähen lieber die Ministerien mit treuen Gefolgsleuten auf. Daß allerdings ausgerechnet Nimmersatt und Partykönig Laurenz Meyer
als wirtschaftspolitischer Sprecher wieder auferstehen würde, damit hat wohl
niemand in seinen schlimmsten Träumen gedacht.
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Dem Land fehlt eine gehörige Portion an Liberalismus, Meinungsfreude, Debatten innerhalb der Parteien, und es mangelt vor allem an knorrigen Gestalten, die
sich nicht nur als Kofferträger und Abnicker verstehen. Herles analysiert den
Abgang von Friedrich Merz, der sicher auch erhebliche Defizite hat, der aber
wenigstens für einen dezidierten Standpunkt eintrat, völlig richtig: „Merz’ vorläufiger Abschied aus der Politik mußte sie mehr treffen, als wenn er mit zusammengekniffenen Pobacken auf seinem Posten geblieben wäre. Denn Merz
zeigte auf der Kaiserin neue Kleider. Unter ihrem Reformkostüm im Businesslook trägt sie die Angoraunterwäsche des alten Kohlschen Kanzlerwahlvereins.“
Keine Maggie Thatcher, nirgends.
Alles in allem betrübliche Aussichten. Doch während Martini noch ein wenig
gegen Windmühlen kämpfte, denn die Politiker seiner Zeit waren doch in der
Regel hochkarätiger als die heutigen Vertreter, ist im Jahr 2005 der Ernstfall
eingetreten. Schon wenige Wochen nach der Wahl ist bei vielen Ernüchterung
eingetreten. Die wichtigen Fragen werden vertagt. Die große Koalition betreibt
Schadensbegrenzung. Ist derjenige, der dann resignierend den Urnengang verweigert, ein Anti-Demokrat? Oder handeln nicht gerade die Musterdemokraten
fahrlässig, die einfach immer weiterwurschteln wie bisher und dies dann auch
noch als neue Nüchternheit ausgeben?
Ansgar Lange wirkt als Politikwissenschaftler und Publizist in Bonn.
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Andreas M. Rauch
Randolph Freiherr von Breidbach-Bürresheim
Ein katholischer Offizier im Widerstand gegen das NS-Regime
Schon im Jahre 1946, also nur wenige Monate nach dem Tod des Randolph
Freiherr von Breidbach-Bürresheim, wird dieser als ein Gegner des nationals ozialistischen Regimes genannt. Dies ist den Akten des Bundesarchivs Berlin zu
entnehmen. Eine Auflistung für eine Ehrentafel der Toten vom 20. Juli 1944
führt seinen Namen neben so bekannten Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Carl Friedrich Goerdeler oder Wilhelm Canaris.
Doch während über einzelne Angehörige des 20. Juli 1944 dicke Bücher verfaßt
wurden, findet sich zu Breidbach-Bürresheim wenig. Erst im Deutschen Martyrologium des 20. Jahrhunderts, welches Helmut Moll im Auftrag der Deutschen
Bischofskonferenz 1999 herausgibt, wird ein mehrseitiger Aufsatz zu Breidbach
veröffentlicht. Der in Bonn geborene Breidbach wird heute als Märtyrer des
Erzbistums Köln verehrt.
Der Lebenslauf des Oberleutnants Dr. iur. Randolph von Breidbach-Bürresheim
stellt sich als ein dramatischer Werdegang dar. Am 10. August 1912 geboren
verbringt Breidbach einen großen Teil seines Lebens auf dem großelterlichen
Landsitz Burg Satzvey bei Euskirchen. Aufgrund der politischen und sozialen
Spannungen im Deutschen Reich im Kontext des I. Weltkrieges zieht die Familie
1918 auf das Familiengut Schloß Fronberg bei Regensburg um. Ab 1922 besucht
Breidbach das Humanistische Gymnasium in Metten und macht 1931 auf dem
Max-Gymnasium in München das Abitur. Im gleichen Jahr beginnt er noch sein
Studium der Rechtswissenschaft.
Mit seinem Beitritt in die SA-Reitertruppe umgeht Breidbach zunächst seine
Eingliederung in die SA-Studentenstürme im November 1933. Nach Ableistung
des Militärdienstes besteht er 1936 das 1. Staatsexamen. 1939 wurde Breidbach
aus der SA ausgeschlossen. Im Mai 1938 promoviert er und tritt in die Kanzlei
Dr. Josef Müller – einem Mitbegründer der späteren bayerischen CSU – ein. Mit
Bonhoeffer reist der Katholik Müller mehrfach nach Rom, wo er enge Kontakte
zu Angehörigen des Heiligen Stuhles pflegte. Damit kommt im Lebensbild des
Randolph von Breidbach auch eine ökumenische Dimension zum tragen. Im
November wird Breidbach Oberleutnant der Wehrmacht und an die Abwehrstelle München versetzt, wo er über Müller geheime Kontakte zum Heiligen Stuhl
pflegen kann, um durch die Einschaltung Großbritanniens das Dritte Reich zum
Frieden zu zwingen. Müller wurde auch Admiral Canaris persönlich vorgestellt.
Im Frühjahr 1940 nimmt Breidbach am Frankreichfeldzug teil und leistet im
Januar 1941 sein 2. Staatsexamen erfolgreich ab. Danach erfolgt seine Rückkehr
zum Militär und an die Ostfront. 1942/43 erkrankt Breidbach an Gelbfieber und
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wird dadurch psychisch und physisch geschwächt. Am 5. April 1943 werden
Hans von Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer und Josef Müller verhaftet. Im Ergebnis führt dies zum Auffinden der sogenannten „Breidbach-Berichte“ in der Kanzlei Müller, in denen über Verbrechen der Wehrmacht berichtet wird. Vor diesem
Hintergrund wird Breidbach am 5. Mai 1943 durch einen Militärgerichtsrat verhaftet, weil Breidbach gegen das Heimtückegesetz von 1934 verstoßen haben
soll. Das „Heimtückegesetz“ gehört mit zum Schlimmsten, was die nationals ozialistische Gesetzgebung hervorgebracht hatte. Denn mit diesem Gesetz war die
rechtliche Basis gelegt, jeden zu verfolgen, der sich nicht der nationalsozialistischen Bewegung aufgeschlossen zeigte. Damit konnte die totalitäre Herrschaft
Hitlers weiter gefestigt werden.
In den drei bei Müller gefundenen Berichten geht es um Ostprobleme, Vor- und
Nachteile des Bolschewismus und die Frage einer Wiedererrichtung Polens.
Breidbach äußert kritisch, daß in Osteuropa nicht wie „im preußischen Sinne“
der Krieg als „Spaß“ wahrgenommen oder gar verherrlicht werde. Es wird von
Breidbach dargelegt, „wie der russische Mensch halb verachtend, halb wohlwollend belehrend ‚nei Kultura’ sagt, wenn z.B. von den deutschen Besatzungstruppen von einer nach hunderten zählenden Menschenmenge mitten in einer Stadt
Verurteilte erhängt oder mit dem Genickschuß erledigt würden.“ An anderer
Stelle sagt Breidbach, daß die russischen Arbeitskräfte im deutschen Industrieeinsatz vielfach „sehr schlecht behandelt würden“.
Breidbach führt in seinen Berichten aus, daß trotz aller Strafen und drakonischen
Maßnahmen jeder Pole von nationaler Haltung durchdrungen und gleichzeitig
tief religiös sei: „Auf dem Lande knien die Mensche nieder, wenn gerade ein
Priester vorüberkommt, um von dessen Hand den Segen zu empfangen. SSPosten, die dies bemerken, schlagen die Priester bewußtlos und stoßen die
Knienden in den Straßengraben.“
Außerdem berichtet Breidbach, daß viele polnische Aristokraten getötet, verfolgt
und enteignet würden: „Manche ihrer Frauen sind mit anderen Angehörigen der
weiblichen polnischen Intelligenz im SS-Bordell gezwungen …“
Am 3./4. März 1944 finden in Berlin Gerichtsverhandlungen zum Fall Müller
und Breidbach statt, die mit einem Freispruch enden. Doch vom Reichssicherheitshauptamt wird weiter Haftfortsetzung angeordnet. Im Frühjahr 1944 bittet
die Mutter Randolphs Oberst Graf Schenk von Stauffenberg um Hilfe für ihren
Sohn. Stauffenberg ist wie Breidbach Angehöriger der Reiterstaffel 17 und zudem ein Verwandter. Bei diesem Gespräch garantiert Stauffenberg einen positiven Ausgang, wobei er wohl die Pläne um die Beseitigung Hitlers im Blick hat.
An 20. Juli 1944 scheitert das Attentat gegen Hitler. Am 6. November 1944 wird
Breidbach zusammen mit anderen Beschuldigten im Kontext des 20. Juli 1944 in
das Gestapo-Gefängnis nach Berlin -Moabit verlegt, um Geständnisse zu erzwingen, was nicht gelingt. Am 20. Februar 1945 erfolgt ein Sammeltransport von
Häftlingen des 20. Juli in das Konzentrationslager Sachsenhausen, wo Breidbach
aufgrund fortschreitender Tuberkulose am 13. Juni 1945 trotz fürsorglicher Pflege im Krankenlager des bereits befreiten Konzentrationslagers verstirbt. Da
Breidbach bereits in den Monaten zuvor unwiderruflich den Todeskeim aufgrund
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seiner schweren Kerkerhaft und seiner Krankheit in sich trug, wird er heute als
Märtyrer des Erzbistums Köln verehrt.
Begegnung mit einer Zeitzeugin
Der Welt entrückt, irgendwie unwirklich: so erscheint Burg Satzvey dem Besucher auf den ersten Blick. Zwei bronzene Löwen, Symbole von Macht, Herrschaft und Edelmut, säumen das mittelalterliche Tor von Burg Satzvey – gleichsam als Wächter eines kleinen Paradieses in der Nähe der Stadt Euskirchen bei
Bonn. Zugleich betritt der Besucher jenen Ort, in dem Randolph Rudolph Friedrich Hubertus Maria Reichsfreiherr von Breidbach-Bürresheim, genannt von
Riedt, zunächst als Kind während des I. Weltkrieges, dann als junger Mann in
den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und schließlich als Soldat in den ersten
Jahren des II. Weltkrieges häufig zu Gast war. Diese großzügige mittelalterliche
Burganlage im ländlichen Idyll der Voreifel schien für Randolph von Breidbach
einen Hort der Sicherheit, der Geborgenheit und Beständigkeit auszustrahlen,
sowohl in ihrer steinernen wie auch in ihrer geistigen Architektur und gerade
angesichts der tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Gerade die Repräsentationsräume von Burg Satzvey strahlen eine fürstliche
Erhabenheit aus, gemischt mit dem Bewußtsein einer alten Familientradition und
einer langen Familiengeschichte. Jeder, der sich in diesen Räumen aufhält, spürt,
daß dies ein ganz besonderer Ort ist – und sein Besucher ein Auserwählter.
Kaum jemand kann sich dem schönen Charme dieser Zimmerflucht entziehen –
und so dürfte es auch Randolph von Breidbach ergangen sein. Wer sich hier
länger aufhält oder gar lebt, der mag einen veränderten, selbstbewußten und
distanziert kritischen Blick auf viele Dinge des Lebens gewinnen. Die mittelalterliche Wasserburg in ihrer heutigen Erscheinung stellt sich als ein Gesamtkunstwerk dar, geschaffen von der Natur und inszeniert von Randolphs Großvater Graf Dietrich Wolff Metternich zur Gracht (1853-1923).
An der Burg vorbei führt ein Turm in den ersten Stock, wo die im Jahr 2006 88jährige Adeline Gräfin Beissel von Gymnich, eine Cousine Randolphs und ihr
neunzigjähriger Mann leben. Die Wohnung ist mit dunklen, schweren Möbeln
eingerichtet, an den Wänden hängen Photografien von lebenden und toten Ve rwandten. Im Speisesaal blicken mit ernstem, erhabenem Blick alte Familienportraits aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf den Betrachter.
Gräfin Beissel von Gymnich erzählt, sie charakterisiert ihren Vetter Randolph,
den sie aus Kinder- und Jugendtagen gut kannte. Gradlinig, durchsetzungsstark
und zielstrebig sei er gewesen und er habe eine gute Ausbildung erfolgreich
durchlaufen. Wie alle Breidbachs sei Randolph ein Gemeinschaftsmensch gewesen, wenngleich seine Bücherliebe und sein intellektueller Geist mitunter zu
einer gewissen Zurückgezogenheit führten. Zudem sei er ein fro mmer Mensch
gewesen, ganz unter dem Einfluß seiner dominanten Mutter stehend, die ihn vor
den Geschwistern Maria Christina (1917-1922), Goswin (geb. 1920) und Huberta (geb. 1923) bevorzugte. Seine Schwester Maria Christina verstarb tragischer65
weise mit fünf Jahren, was sicherlich auf Randolphs christlichen Glauben Einfluß nahm. Randolph hatte zwar wohl eine Freundin, aber Glaube und Mutter
ließen hier wenig Spielraum, so Gräfin Beissel, und solange eine Verlobung oder
eine Hochzeit nicht anstanden, war dies auch kein Thema in der Familie gewesen. In der äußeren Erscheinung sah Randolph blendend aus und war stets elegant gekleidet, so wie er auf seine äußere Erscheinung insgesamt Wert legte.
Randolph war in Satzvey stets lebhaft und freundlich, lebenslustig und humo rvoll, bestimmt und zuverlässig gewesen. Insgesamt machte Randolph einen intelligenten Eindruck auf seine Umgebung. Randolph ging jeden Sonntag zur Kirche
und kam grundsätzlich immer gerne auf Burg Satzvey, zu der er meist mit dem
Zug anreiste. Aus dem Gästebuch der Burg Satzvey geht hervor, daß Randolph
gerade in den dreißiger Jahren häufig auf Burg Satzvey zu Gast war, mitunter
fast monatlich, wie etwa im Jahr 1931.
Randolphs Mutter, Maria-Anna (1888-1972), war eine geborene Gräfin von
Wolff-Metternich zur Gracht. Ihr Mann Hubertus (1875-1956) hatte das gewaltige Schloß Fronberg mit seinen riesigen Gängen und großen Sälen von seiner
Mutter Marie-Wilhelmine (1841-1889), einer geborenen Künsberg Freiin von
Fronberg, geerbt. Die Mutter Randolphs hatte im Prinzip vor nichts und niemanden Angst, vor allem, wenn es um ihren eigenen Sohn ging. So fuhr sie nach der
Verhaftung ihres Sohnes zu Oberst Graf Schenk von Stauffenberg nach Berlin,
und der sagte ihr die Freilassung ihres Sohnes auch zu, wobei er wohl einen
erfolgreichen Ausgang der Widerstandsaktivitäten gegen Hitler im Blick hatte.
Die Familie von Breidbach-Bürresheim war mit der Fre iherrenlinie derer von
Stauffenberg über eine Schwester von Randolphs Mutter verwandt; Christoph
Baron von Stauffenberg (1912-2005) war gleichaltrig mit Randolph und sein
Vetter. 1945 war Christoph von Stauffenberg zwei oder drei Wochen auf Burg
Satzvey mit ein paar Polen versteckt. Die Hilfe für die Polen und deren Äußerungen gegenüber den Amerikanern ermöglichten der Grafenfamilie Beissel von
Gymnich, auf Burg Satzvey zu bleiben.
Im übrigen bestanden auch persönliche Kontakte etwa zu General von Kluge und
dem einzig noch lebenden Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, Philipp von
Boeselager, der Mitglied des 15. Reiterregimentes war. Randolph von Breidbach-Bürresheim und Oberst Graf Stauffenberg waren Angehörige des 17. Reiterregiments. Allerdings, so Gräfin Beissel, waren die geheimen Widerstandskontakte sowohl Breidbachs, Strauffenbergs und Boeselagers in der Familie
nicht bekannt gewesen, und wenn etwas geahnt wurde, wurde darüber nicht
gesprochen. Gräfin Beissel von Gymnich hob hervor, daß ihr verstorbener Vetter
in gewisser Weise durch sein Martyrium geheiligt sei, auch wenn er nicht zu den
Seligen und Heiligen der römisch-katholischen Kirche gehöre.
Schloß Fronberg, die Heimat
Die Größe des Schlosses Fronberg scheint schon in eine andere Wirklichkeit zu
weisen, die mit dem Alltag der meisten Bürger von heute in jener Region wenig
gemein hat. So ist charakteristisch für das Schloß, für die Familie von Breid-
66
bach-Bürresheim und im Ergebnis auch für die Persönlichkeit des Randolph die
Existenz einer Schloßkapelle als in Stein gemeißelter Ausdruck katholischen
Glaubens auf Schloß Fronberg. Die Schloßkapelle unterstreicht den transzendenten Charakter der gesamten Schloßanlage, die ein Spiegelbild der christlichen
Identität ihrer Bewohner bildet.
In der geschützten, romantischen Atmosphäre des mittelalterlichen Schlosses,
welches zum Träumen einlädt, überschattet nur ein Ereignis die Kindheit von
Randolph: der tragische Tod seiner erst fünfjährigen Schwester Christa. Vor den
Augen des zehnjährigen Bruders, der bei einem Bootsausflug auf der Naab bei
Hochwasser seine Schwester nicht in das Boot zurückholen konnte, ertrank Christa während eines Ferienaufenthaltes in seiner Heimat im Jahr 1922. Im Jahre
1952 erstellten Randolphs Eltern am Hollergraben, wenige Meter von der Hollerbrücke entfernt, also in der Umgebung von Fronberg, ein etwa vier Meter
großes Holzkreuz mit einem Korpus Christi zur Erinnerung an den tragischen
Unglücksfall der kleinen Christa. Randolph war zu diesem Zeitpunkt in einem
Alter, in dem das Erinnerungsvermögen heranreift und ein ganzes Leben lang
bewußt fortbesteht. Möglicherweise hat das tragische Lebensschicksal seiner
Schwester Randolph, gerade weil er es auch persönlich miterlebt hatte, Zeit seines Lebens begleitet und ihn in der Wichtigkeit des katholischen Glaubens im
Leben als auch im Tode bestärkt.
Im übrigen blieb das gewaltige Schloß ein Zufluchtsort und Schutzraum nicht
nur für die Familie von Breidbach-Bürresheim und andere Adelige, sondern
ebenso für „kleine Leute“. In den Kriegsjahren kommen hauptsächlich adelige
Bekannte und Verwandte der Baronenfamilie aus Ost- und Mitteldeutschland
nach Schloß Fronberg, so die Grafen von Kospoth, die Veltheims oder Flüchtlinge aus dem Sudetengau, die meist rasch weitergezogen sind – mit Ausnahme der
Westphalens. Ab 1944 wird ein Teil der Schloßanlage als Reservelazarett genutzt. Im Schloß werden Luftschutzräume eingerichtet. Rund 200 Verwundete,
zum Teil auch Fronberger, die in Hitlers letztem Aufgebot einen längst verlorenen Krieg weiterführen mußten, werden in den Räumen gepflegt. Auf ein Alarmsignal hin waren die Verwundeten unter zum Teil beschwerlichen Bedingungen
in die Schloßkeller zu bringen. Die Schloßbesitzer hatten da nicht viel zu melden, da ihr Sohn Randolph den Nationalsozialismus aus politischen und religiösen Gründen ablehnte und in Haft saß. Um die Lage Randolphs nicht zu erschweren, willigten Hubertus und Maria-Anna von Breidbach ein, daß ihr
Schloß auf dem Petrusberg zu einer Durchgangsstation und zu einem Zufluchtsort für viele Menschen wird.
Noch Ende April 1945 werfen im Schloßpark von Fronberg ungarische Angehörige der Schutzstaffel (SS) Schützengräben aus. Dabei warten die Schloßbewohner schon sehnsüchtig auf die Amerikaner und wollen Hitlers Schergen nicht
mehr sehen. Als Randolphs Vater Hubertus die SS-Leute zur Rede stellen und
möglichst wieder loswerden will, tun diese so, als verstünden sie nichts. Da das
Schicksal des in den Händen des NS-Regimes befindlichen Sohnes Randolph
den Eltern große Sorge bereitet, möchten sie die Lage jedoch nicht eskalieren
lassen, um das Leben ihres Sohnes nicht zu gefährden. Schließlich entfernen sich
67
die SS-Leute kurz vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen. Im Kartoffelkeller aneinandergekauert erleben die Schloßbewohner die Befreiung. Sie
werden von den durchziehenden Amerikanern nicht behelligt. „Und damit war
der Krieg für uns aus“ schreibt Hubertus von Breidbach-Bürresheim in seinen
Erinnerungen, die 1955 unter dem Titel „Von der Postkutsche zur fliegenden
Festung“ erschienen.
In seinen letzten Gymnasialjahren in München wurde Randolph erstmals mit den
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen der Weimarer Republik
konfrontiert, die sich für ihn recht chaotisch ausnahmen, gerade vor dem Hintergrund seines bisherigen Lebensweges. Es ist daher nur nahe liegend, wenn Randolph nach Ordnungsfaktoren suchte, mit denen seiner Ansicht nach die Wirren
und Unruhen der Weimarer Republik eingedämmt werden könnten. Randolphs
Vater schreibt in seinen Erinnerungen von 1955: „Während … sonstigen Ausflügen, Jagden und Arbeiten in Wiese und Feld hatte Randolph, der von Metten
nach München ins Gymnasium gekommen war, das Abiturexamen bestanden,
war also jetzt stud. iur. und bereitetet sich auf den Universitäten Bonn, Münster,
Königsberg auf das Referendar-Examen vor. … Da unsere Vermögensverhältnisse durch die Aufwertung sich allmählich gebessert hatten, kauften wir im
Jahre 1929 ein Automobil, das besonders meiner Frau viel Freude machte. … Im
Jahre 1930 machten wir nun eine größere Fahrt mit diesem neuen Vehikel, denn
Randolph hatte auch bald den Führerschein erworben. … Unsere Fahrt ging
zunächst durch die Fränkische Schweiz nach dem sehr schönen und interessanten
Schloß Greifenstein, das dem Grafen Berthold Stauffenberg, meinem Vetter,
gehörte. Dieser war beinahe 70 Jahre alt, aber noch fabelhaft frisch und rüstig.“
Aufgrund der politischen Verhältnisse und Kontroversen in München wurde in
Randolph ein großes Interesse an Fragen der Politik und Geschichte geweckt.
Seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, in der er zunächst
nur eine ordnende, starke Kraft mit klaren Aussagen in den schwierigen Jahren
der Weimarer Republik sah, führten zu erregten Debatten im Familienkreis auf
Schloß Fronberg vor allem mit seinem Vater, der dem Nationalsozialismus und
Hitler gegenüber kritisch eingestellt war. So formuliert Randolphs Vater in seinen Erinnerungen: „Hitlers Buch ‚Mein Kampf’ habe ich lange Zeit nicht gelesen. Erst nachdem ich verschiedene seiner Reden durchs Radio hörte, entschloß
ich mich dazu. Diese Reden waren für meinen Geschmack entsetzlich. Erst
nachdem ich in seinem oben erwähnten Buch den Satz ‚Da entschloß ich mich,
Politiker zu werden’ gelesen hatte, verstand ich warum er in seinen Reden immer
das gleiche sagte. ‚Da beschloß ich, Politiker zu werden…’ ‚Da beschloß ich,
Maurer zu werden’, kann ich auch schreiben, aber ich glaube nicht, daß dieser
Entschluß allein jemanden befähigt, ein Haus zu bauen. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß das mit Unkenntnis gebaute Haus gleich wieder umfallen würde.
Nicht nur das Mauern muß gelernt sein, bevor man sich an den Bau eines Hauses
begibt, sondern auch für die Politik muß man erst etwas gelernt haben, und es
genügt nicht, nur viel gelesen zu haben.“
Ein prägendes Ereignis war für Randolph sicherlich, daß sein konservativ orientierter und Hitler gegenüber kritisch eingestellter Vater nach der nationalsozialis68
tischen Machtübernahme 1933 als Mitglied der Bayerischen Volkspartei für
einige Tage in Schwandorf in Haft genommen wurde. Hinzu kamen die Erfahrungen von mehreren Auslandsreisen, die Randolph nach Holland, England und
in die Schweiz führten. In diesen drei Ländern konnte Randolph funktionierende
Demokratien erfahren, wodurch sich seine Vorstellung und das vieler seiner
Landsleute in jener Zeit aufgrund der Erlebnisse mit der Weimarer Republik
revidierte, Demokratie habe stets mit Unruhen und Chaos zu tun. Die Gespräche
mit der Familie sowie mit in- und ausländischen Freunden und Bekannten verhalfen Randolph letztendlich zu der Überzeugung, daß seine Vorstellungen von
Christentum, Freiheit, Recht und von der Gott gegebenen Würde des Menschen
mit der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus unvereinbar waren.
Verwurzelt im katholischen Glauben
Um das geistige Klima jener Jahre noch deutlicher zu beleuchten, seien noch
einige Worte zum katholischen Sozialmilieu und dem totalitären Weltanschauungsanspruch des Nationalsozialismus gesagt. Die Erfahrungen des Kulturkampfes prägten das Denken und Verhalten vieler Katholiken bis in die Weimarer
Republik und das Dritte Reich hinein. Als von der Gemeinschaft der deutschen
Nation ausgegrenzte und bekämpfte Minderheit bildete die katholische Kirche
eine weitgehend geschlossene Sondergesellschaft. Die katholische Kirche bot
mit ihrem fest gefügten Werte- und Normensystem die primäre Orientierung in
der Lebenspraxis ihrer Gläubigen. Viele katholische Christen fühlten sich von
einer tief verwurzelten, den Alltag umspannenden Frömmigkeit getragen. Ein
dichtes Geflecht katholischer Schulen – wie etwa die von Randolph besuchte
Klosterschule Metten –, Vereine und Presseorgane prägten den Lebensstil von
Kindern und Jugendlichen ebenso wie den der Erwachsenen.
Die starke Bindung der Katholiken an ihre Lebens- und Gemeinschaftsformen
wirkte sich auch bei den Reichstagswahlen der Weimarer Republik aus. Bezogen
auf die Wohnbevölkerung erreichten die Katholiken 1933 einen Anteil von 32,5
Prozent. Auf die politischen Parteien der Katholiken entfielen bei den Reichstagswahlen zusammen zwischen 18 Prozent (1920) und 13,9 Prozent (1933) der
abgegebenen Stimmen. Das Wahlverhalten der katholischen Bevölkerung zeigte
auch für die Reichstagswahlen vom März 1933, die schon unter dem Druck der
neuen nationalsozialistischen Machthaber stattfanden, daß den Nationalsozialisten in den überwiegend katholischen Gebieten des Deutschen Reiches der politische Durchbruch versagt blieb, so im Emsland, in Westfalen, im Rheinland, in
Bayern, Oberschlesien, im Eichsfeld und im Ermland. Die eindringlichen Warnungen vor dem Nationalsozialismus, die die deutschen Bischöfe seit 1930 wiederholt ausgesprochen hatten, wirkten dabei als hilfreiche Stütze.
Professor ehrenhalber Dr. Andreas M. Rauch lehrt Politische Wissenschaft an
der Universität Bonn.
69
Wolfgang Spindler
Kontinuitäten und Widersprüche
im Denken Hans Barions (1899-1973)
Zu den begabtesten und zugleich schillerndsten Gestalten der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts gehört Hans Barion (1899-1973). Wie unter einem
Brennglas verdichten sich in seiner Person und seinem Werdegang die Widersprüche des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Die wissenschaftliche
Karriere des in Düsseldorf geborenen, in Bonn promovierten und habilitierten
Kanonisten nahm 1931 mit einem Lehrauftrag an der theologischen Fakultät der
Staatlichen Akademie in Braunsberg (Ostpreußen) ihren Lauf. Wie für Millionen
andere Deutsche brachte auch für Barion das Jahr 1933 eine Wende.
In seinem Fall vollzog sich freilich ein Richtungswechsel, der im Hinblick auf
seinen Stand als römisch-katholischen Priester und – seit Wintersemester 1933 –
ordentlichen Professor für Kirchenrecht, gelinde ausgedrückt, als außergewöhnlich gelten muß: Aus dem nationalkonservativ eingestellten Gelehrten wird nicht
nur ein NSDAP-Mitglied, sondern in den Folgejahren ein engagierter Kämpfer
gegen jede Einflußnahme der kirchlichen Hierarchie auf die politischen Geschikke im nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat. In den Blickpunkt einer
größeren Öffentlichkeit gerät Barion 1938/39, als Kardinal Faulhaber mit dem
Hin weis auf eine frühere Suspension Barions vom priesterlichen Dienst dessen
Ernennung zum Ordinarius für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen
Fakultät München die Zustimmung verweigert. Daraufhin läßt der bayerische
Kultusminister und Gauleiter Wagner im Februar 1939 die Fakultät kurzerhand
schließen; eine Maßnahme, die während des „Dritten Reichs“ nicht mehr rückgängig gemacht wird.
Barion gelangte mit Sommersemester 1939 auf den Lehrstuhl seines Lehrers
Albert Michael Koeniger (1874-1950) in Bonn, wo er mit staatlicher Unterstützung von 1940 bis zur kriegsbedingten Schließung der Universität im Herbst
1944 auch als Dekan der katholisch-theologischen Fakultät fungierte. Ein Jahr
später fand er sich vor dem Prüfungsausschuß der Universität wieder, um sich
für sein Wirken im Interesse der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zu
verantworten. Die „Entnazifizierung“ gelang ihm zwar, seine Klage gegen das
nordrhein-westfälische Kultusministerium auf Wiedereinstellung in das verlorene akademische Amt scheiterte aber 1957 endgültig. Fortan lebte er als Privatgelehrter in Bonn, wo er auch nach schwerer Krankheit verstarb.
Wen dieser Lebenslauf an denjenigen Carl Schmitts (1888-1985) erinnert, liegt
durchaus richtig. Barion hat als Theologiestudent in Bonn bei dem berühmten
Staatsrechtler Vorlesungen gehört und auf Vermittlung seines Braunsberger
Professorenkollegen Karl Eschweiler (1886-1936) Schmitt kennengelernt. Über
400 Briefe und Karten aus der Feder Barions im Düsseldorfer Schmitt-Nachlaß
70
zeugen von einem regen geistigen Austausch. Beide litten nicht nur in finanzieller Hinsicht darunter, nach 1945 keinen Lehrstuhl mehr innezuhaben. Während
jedoch Schmitts „San Casciano“ im sauerländischen Plettenberg ab den fünfziger
Jahren zum Pilgerort aufstrebender Jungakademiker avancierte1 , ka m Barion
über den Geheimtipstatus nicht hinaus. Noch mehr als seinen Kollegen vom
weltlichen Recht traf den Kirchenrechtler die damnatio memoriae weiter Teile
der eigenen Zunft. Heute steht der Rezeption seines Werkes erschwerend im
Wege, daß sich der selbsternannte „korrekte Kanonist“ noch während des Zweiten Vatikanischen Konzils auf dessen theologische Neupositionierung einschoß,
freilich auf einem wissenschaftlichen Niveau, das bis heute seinesgleichen sucht.
Waren Barions bio(biblio)graphischen Daten hinlänglich bekannt, so blieb doch
im dunkeln, von welcher Art und welchem Umfang sein „Engagement“ im Nationalsozialismus war. Auch in der Suspensionsaffäre von 1934 und bei der Suche
nach den Hintergründen der Schließung der Münchener Fakultät im Jahre 1939
griff man trotz manch wertvoller Erkenntnisse jüngerer Zeit 2 auf Mutmaßungen
zurück. Barions erzwungene Privatgelehrtenphase harrte ebenso einer Untersuchung, wie sein Denken und seine Persönlichkeit aus dem langen Schatten Carl
Schmitts erst noch herauszuführen waren.
Erste wichtige Schritte in diese Richtung unternimmt nun ein vielschichtiges, in
erfreulich gutem Deutsch3 geschriebenes Werk des jungen Bochumer Dogmatikers und Philosophen
Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion
vor und nach 1945. Verlag nova & vetera, Bonn 2004, 544 S.
In theologie- und zeitgeschichtlicher wie prosopographischer Absicht (10) will
der Autor Barions politisch-praktischen Einsatz im „Dritten Reich“ und in der
jungen Bundesrepublik darstellen und seine Motivation – jenseits „allzu rascher
Kategorialisierung“ (14) – ergründen. Als Grundlage dient ihm reiches Quellenmaterial u. a. aus den Nachlässen Carl Schmitts, des Schmitt-Schülers Werner
Weber (1904-1976), des Literaten, Kunstgeschichtlers und Barion-Vertrauten
Gustav „Hillard“ Steinbömer (1881-1972) und aus der Entnazifizierungsakte
Barions. So kann Marschler viele neue biographische Details über den von ihm
untersuchten Zeitraum zusammentragen und dem Leser Barions Denken näherbringen. Wie dieser als Mensch „wirklich gewesen ist“ (19), diese Frage Leopold-Rankescher Art wird man auch nach der Lektüre des Buches nicht beantworten können. Barion hat das Persönliche so sehr vom Ethos der „objektiven“
Wissenschaft geschieden, daß das Wort „ich“ praktisch nicht vorkommt.
Neues Licht wirft der Autor auf Barions suspensio a divinis nach can. 2186
CIC/1917. Vorbehaltlich noch gesperrter vatikanischer Archivalien (31. 43)
weist Marschler jede wenigstens direkte Beteiligung an Eschweilers befürwortender „Stellungnahme“ zur Durchführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 im „katholischen Volksteil“ zurück (29-49).
Stattdessen erörtert der Verfasser andere plausible Gründe, darunter verschiedene Gutachten, die der Kanonist ab August 1932 zu fakultätspolitischen, staatskir-
71
chenrechtlichen und kirchenpolitischen Fragen verfaßt hat und die dem Vatikan
bekannt geworden sein dürften.
Im umfangreichsten Teil des Buches werden diese Gutachten erstmals publiziert,
ihr Inhalt zudem – unnötigerweise – vorweg referiert. Nicht in jedem Fall läßt
sich klären, ob oder von welcher staatlichen Stelle Barion (und aus welchem
Anlaß) zu diesen Gutachten beauftragt worden ist. Seine Bereitwilligkeit, die
neuen Machthaber vor der Raffinesse der römischen Kurie zu warnen, kannte
jedenfalls keine Grenzen. Marschlers Bewertung, die Sicherung der Staatsfakultäten zur theologischen Ausbildung des künftigen Klerus sei Barions „zentrales
kirchenpolitisches Anliegen während der ganzen Zeit des Nationalsozialismu s“
(88) geblieben, engt Barions Ambitionen ein. Wer so unmißverständlich und
unbedingt wie Barion der „Nationalen Revolution“ bzw. dem „totalen Staat“
auch im Verhältnis zur Kirche zum Durchbruch verhelfen wollte, dem ging es
um mehr als um staatstragende Abwehr kurialer Ansprüche 4 .
Der Autor stellt selber fest, daß sich Barion schon im Sommer 1933 als „ideologischer Pragmatiker im nationalsozialistischen Sinn“ (173) präsentierte. Hyperbolische Anpassung an die neuen Machthaber „zum Beweis der eigenen politischen Zuverlässigkeit“ ist zwar „in Betracht zu ziehen“ (ebd.), aber in Barions
Fall zu verneinen. Anders als Staatsrechtler wie Schmitt konnte Barion als Priester und Kanonist nur sehr beschränkt mit Aufstiegschancen und politischen
Gestaltungsmö glichkeiten rechnen. Es ging ihm um die Sache, und die hieß für
ihn, allen wissenschaftlichen Grundüberzeugungen vorgeordnet, „Gewinnung
des katholischen Volkes für das Dritte Reich und für die nationalsozialistische
Weltanschauung“ (291).
Mit diesen Worten benennt Barion das Ziel seines bedeutendsten und für sein
Denken aufschlußreichsten Gutachtens (197-291) dieser Zeit. Es befaßt sich
ausführlich mit dem kurz zuvor abgeschlossenen Reichskonkordat. Entgegen der
unter vielen Nationalsozialisten verbreiteten und wohl auch von Hitler geteilten
Einschätzung wertet Barion das Konkordat keineswegs als Erfolg des neuen
Staates. Barion hält den deutschen Unterhändlern grenzenlose Naivität und Ve rharren in liberalistisch-rechtsstaatlichen Kategorien vor. Sein Fazit: „Das Reichskonkordat ist ein Sieg der Kurie über das Reich von größtem Ausmaß“ (284f.).
Barions – auch nach 1945 aufrechterhaltene (vgl. 166. 374-379) – These, die
Kurie sei die „entschiedenste Gegnerin eines totalen und völkischen Staates, wie
das Dritte Reich ihn verkörpert“ (286), setzt voraus, daß „Rom“ nicht nur religiöse Interessen verfolgte, sondern als potestas indirecta eminent politisch agieren
wollte. Marschler hält fest: „Unbezweifelbar … offenbart sich 1933 der abgründige Haß Barions gegen alle Formen des politischen Katholizismus und gegen
die römische Kurie, die für ihn das politische Mißverständnis des Religiösen
geradezu personifiziert“ (173f.).
Hier ergeben sich Berührungspunkte mit Carl Schmitts Auffassung vom Katholizismus als politischer Form5 , aber auch Differenzen. Sind sich beide darin einig,
daß die Frage „Kirche oder Partei?“ – so auch der gleichlautende Titel zweier,
die erstaunliche Kontinuität seiner Grundüberzeugungen erhellenden Aufsätze
Barions von 1933 und 1965 – eine sachliche Dichotomie bezeichnet, leugnet der
72
Kanonist zwar nicht das Faktum, aber, anders als Schmitt, jede theologische
Legitimität politischer Machtentfaltung der Kirche (401). Anders gewendet:
Wenn man mit dem von Barion und Schmitt bewunderten evangelischen Kirchenrechtshistoriker Rudolph Sohm (1841-1917) das Wesen des Katholizismus
in der Überzeugung von der Identität der spirituellen („Liebeskirche“) und institutionellen („Rechtskirche“) Dimension der Kirche sieht, dann erscheint Barions
Ideal einer „unpolitischen“ Kirche und einer „reinen Theologen-Theologie“, wie
sie Schmitt spöttisch nennt 6 , widersprüchlich, ja sinnlos (407-409). Marschler
legt die zwischen den beiden Gelehrten verhandelten zentralen Themen mit für
einen Theologen beachtlicher Kenntnis der Schmittschen Positionen und der
Sekundärliteratur ausführlich dar. Er erzeugt im Leser auch einen plastischen
Eindruck vom dem keineswegs spannungsfreien Freundschaftsverhältnis.
Barions Gutachten und seine Beiträge von 1938 bis 1940 im „Ausschuß für
Religionsrecht“ der Berliner Akademie für Deutsches Recht7 ordnet der Verfasser in zeitgeschichtlicher wie juristischer Hinsicht ebenso souverän ein wie die
staatskirchenrechtlichen Stellungnahmen der sechziger Jahre, die Barion u. a. im
Auftrag der hessischen Staatskanzlei8 verfaßte. Barions Nachkriegsarbeiten
charakterisiert Marschler als „lebendige Illustrationen jener Grundintention
seines Denkens und Handelns, der er konstant während seines ganzen Lebens
treu geblieben ist: der konsequenten Durchführung der neuzeitlichen Trennung
von Kirche und Staat, die er durch das hartnäckige Phänomen des politischen
Katholizismus immer wieder infragegestellt sieht“ (424).
Ein besonderes Verdienst der Studie besteht darin, daß sie auf die umfangreiche
Publikationstätigkeit aufmerksam macht, die der unfreiwillige Privatgelehrte von
1950 bis 1964 unter dem Pseudonym „(Dr. iur.) Johannes Heinrich“ in der KABZeitschrift „Priester und Arbeiter“ entfaltet hat. Marschler hat damit eine Entdeckung gemacht. Bei diesen vergleichsweis e kurzen Veröffentlichungen, deren
Sammlung und Herausgabe zu wünschen wäre, handelt es sich um eher populärwissenschaftlich gehaltene, „für die an der Seelsorge tätigen Multiplikatoren
geschriebene Essays“ (431). Wie bei den staatskirchenrechtlichen Wortmeldungen vor und nach dem Krieg schlägt auch in ihnen der „echte Barion“ voll durch:
sein juristischer Positivismus (vor 1945 der „totale“, danach der „GG-Staat“), die
Anknüpfung an den Etatismus und Staatsrealismus Schmitts, die antimarxistische
wie antiintegralistische Frontstellung, das Festhalten an zentralen Inhalten des
Naturrechts bei gleichzeitiger (stillschweigender) Ablehnung seiner rationalen
Begründbarkeit, der dogmatische Traditionalismus auf der einen, die Radikalkritik an staatlichen Kirchenprivilegien und kirchlicher Politik andererseits.
Es kann hier nur angedeutet werden, daß Barion auf dieser theoretischen Basis in
einen diametralen Gegensatz zum ekklesiologischen Entwurf des Zweiten Vatikanischen Konzils geraten mußte9 , wiewohl – auch in dieser Hinsicht trägt
Marschlers Buch zur Aufklärung bei (insbesondere 442-463) – er gerade nicht
als Ultramontaner oder Strukturkonservativer klassifiziert werden kann. In Barions Denken kommen vielmehr Prämissen, Überzeugungen und Schlußfolgerungen zum Tragen, die noch heute in der deutsch(sprachig)en katholischen Theologie, Staatsauffassung und Kanonistik, und zwar gerade der konzils bejahenden,
73
anzutreffen sind. Der „anti-römische Affekt“ (Carl Schmitt 10 ), die These vom
„Bruch“ zwischen alter und neuzeitlicher, erst recht zwischen „vor-“ und „nachkonziliarer Kirche“, die Skepsis gegenüber Metaphysik und Naturrecht, die Forderung nach klarer Staat-Kirche-Trennung, der strikt analoge Rechtsbegriff des
Kirchenrechts, die Anerkennung der Religions- und Konfessionsfreiheit und
anderer (offenbar säkularistisch definierter) Menschenrechte sind nur einige der
Stichworte, die für Kontinuitäten stehen. Marschler spricht denn auch vom „sehr
modernen Impuls“ (489), der von Barions Denken ausgehen könne. Insofern war
es sehr weitsichtig von Georg May, wenn er vor gut 20 Jahren schrieb, Hans
Barion sei der „Mann von vorgestern und übermorgen“11 . Wie das neu erwachte
Interesse an Barion vermuten läßt, scheint dieses Übermorgen nun angebrochen
zu sein.
Anmerkungen
1) Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der
politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.
2) Manfred Heim, Die Theologische Fakultät der Universität München in der NS-Zeit, in:
MThZ 48 (1997) 371-387; Manfred Weitlauff, Kardinal Faulhaber und der „Fall Barion“.
Die Schließung der Münchener Theologischen Fakultät durch das NS-Regime 1939,
MThZ 54 (2003) 296-332.; jetzt auch ders., Die Theologische Fakultät der Universität
München unter der nationalsozialistischen Herrschaft, MThZ 57 (2006) 347-375.
3) Allein leicht skurril wirkt die häufige archaistische Verwendung des Pronominaladverbs „darnach“ (61, 156, 179 Anm. 94, 341, 377 Anm. 203, 489 u. ö.).
4) Nach dem Krieg plädierte er für die Abschaffung der universitären Theologenausbildung (vgl. S. 413f).
5) Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, 3. Aufl., Stuttgart
1984.
6) Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, 1970, 3. Aufl., Berlin 1990, 97.
7) Vgl. Werner Schubert (Hrsg.), Ausschuß für Religionsrecht. Nachtrag zu Band XIV
(Völkerrecht) = Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse,
Frankfurt/Main etc. 2003.
8) Marschler (411) äußert sich nicht zum Verbleib dieser im Buch nicht publizierten
Gutachten.
9) Der Rezensent bereitet eine Arbeit vor, die sich Barions Kritik an der Staats- und Soziallehre dieses Konzils widmet.
10) Carl Schmitt (Anm. 5), 5.
11) Georg May, Rezension Barion, Kirche und Kirchenrecht, ThRev 81 (1985) 330-334,
334.
Dipl.-Jurist Univ. Mag. theol. Wolfgang Hariolf Spindler OP arbeitet in München.
74
Besprechungen
Friedensordnung
Ein durchaus ambitioniertes Buch hat
Christoph Goldt geschrieben, nimmt er
sich doch vor, angesichts der heutigen
politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen globalen Gesamtlage, Wege
und Schritte zu einer Gesinnung des
„weltweiten Miteinanders“ zu finden.
C. Goldt: Mission Frieden – Christl iche Offensive für eine neue Weltordnung. Sankt Ul rich Verlag, Augsburg
2004
Eine Anfrage an die katholische Kirche,
welchen Beitrag sie zum Gelingen einer
„Weltinnenpolitik“ leisten kann, steht
dabei im Mittelpunkt des Buches.
„Weltinnenpolitik“ ist eine vom Autor
gewählte Bezeichnung für die Notwe ndigkeit, um eine neue Politik bemüht zu
sein, die das Ziel einer friedlichen Zukunft hat, und die dabei der zunehmenden Grenzenlosigkeit in der globalisierten Welt Rechnung trägt.
Der Autor führt hierzu dem Leser knapp
und bündig auf, wieweit die globale
Vernetzung heute reicht, daß längst den
Beziehungen der Staaten untereinander
auch Vernetzungen von Nicht-Regierungs-Organisationen und den Wirtschaftskonzernen und multinationalen
Unternehmen gefolgt sind. Er fordert
dabei zum „grenzüberschreitenden Denken“ (S. 19) angesichts der veränderten
Lage in der Welt auf.
Daß diese Frage auch insbesondere die
großen Welt-Religionen berührt, rechtfertigt der Autor vor allem mit Blick auf
die These des „Kampfes der Kulturen“
(S. Huntington), mit Blick auf die Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der
darauf folgenden US-Politik („Achse
des Bösen“), als auch des Einflusses,
den die katholische Kirche durch ihre
Stellvertreter, die Päpste, im 20. Jahrhundert, auf die internationale Politik
ausgeübt haben, als auch insbesondere
durch die Notwendigkeit, eine gemeinsame Wert ebasis zu finden, um das Ziel
des friedlichen Miteinanders zu gewährleisten.
Der Autor gibt nach der Darstellung der
Zielvorgabe des Buches, vor allem zur
Diskussion anzuregen, einen raschen
Überblick über die politischen Strukt uren, die sich im Laufe der Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts in der
internationalen Politik herausgebildet
haben (insbesondere wird die Bedeutung
der UNO herausgestellt). Dies erscheint
sehr gelungen und gibt eine gute Grundlage, sich der wichtigsten und entscheidendsten Veränderungen der internationalen Politik der vergangenen zwei
Jahrhunderte bis heute, nochmals bewußt zu werden. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Rolle, die der
Vatikan im 20. Jahrhundert in der Friedenspolitik eingenommen hat. Insbesondere sind genannt die Stellungnahmen
zum Friedensbemühen in den beiden
Weltkriegen. Den Endpunkt der Ausfü hrungen über die Entwicklung der internationalen Politik bildet der Blick auf
den Nahost-Konflikt, was dann schließlich als Ausgangspunkt zu näheren
Ausführungen der Friedensbemühungen
der Päpste dient.
Hintergrund der Darlegungen bleibt
dabei die kritische Anfrage an die gegenwärtige internationale Ordnung nach
anarchistischen Zügen.
„Welche Rolle spielt dabei die Kirche?“
– die Kirche als „global player“? (S.69)
– diesen Fragen geht der Autor schließlich nach, und legt anhand der christlichen Mission und der Ausbreitung des
Christentums, auch durch ihr karitatives
75
Tun, dar, daß die Kirche als „global
player“ in Sachen Ewiges Heil gelten
kann (S. 72). Daß sie insbesondere auch
für die Verbreitung und Aufrechterhaltung von Frieden steht, erscheint durch
die ihr anvertraute Botschaft des Evangeliums dem Autor auch vollkommen
gerechtfertigt.
In positiver Bewertung stehen die Friedensbemühungen der Päpste Johannes
XXIII., Paul VI., schließlich Johannes
Paul II. Erwähnt werden die verschiedenen Enzykliken, besonders die Sozialenzykliken, die sich mit Gerechtigkeit und
Frieden befassen. Auch im Anhang des
Buches sind Auszüge aus der Charta der
Vereinten Nationen und die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte zu finden.
Das Friedensgebet in Assisi, angeleitet
von Papst Johannes Paul II., findet
besondere Erwähnung – ebenso wie das
Bemühen der Kirche um weltweite
Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden
Insbesondere erscheint dem Autor
schließlich auch die Stellung des Vatikans in der internationalen Politik und
der internationalen Ordnung (Sitz in der
UNO, Gespräche mit der WTO) als
guter Ausgangspunkt, Schritte auf dem
Weg zur „Weltinnenpolitik“ zu gehen,
die somit eine christlich inspirierte Politik sein könnte.
Durch diese Ausführungen scheint dem
Autor die „Christliche Offensive“ mit
dem Vatikan und der Kirche als Mitgestalter ein eher praktikabler Weg als eine
Politik, die auf dem Gedanken des
„Weltethos“ begründet liegt.
Das Ziel der „Weltinnenpolitik“ soll
dann aber kein Weltstaat sein, sondern
eine internationale und unabhängige
Autorität, wie sie möglicherweise eine
gestärkte UNO darstellen könnte, die
dann für eine Lenkung der Globalisierung hin zu weniger Hunger in der Welt
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und mehr Gerechtigkeit und Frieden
sein würde.
Thomas Fries
Zeugen Christi
Der Aufruf von Papst Johannes Paul II.,
zum Hl. Jahr 2000 ein Martyrologium
des 20. Jahrhunderts zu erstellen, hat ein
weltweites Echo ausgelöst. Auf der
Grundlage seines im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellten zweibändigen Werkes „Zeugen für Christus.
Das deutsche Martyrologium des 20.
Jahrhunderts“ (Paderborn 1999: 3. Aufl.
2001) legt der Kölner Prälat Helmut
Moll, der in Regensburg 1973 beim
jetzigen Papst Benedikt XVI. promovierte, eine zusätzliche Monographie vor, in
der das Thema inhaltlich und methodisch weitergeführt wird:
Helmut Moll: Martyrium und Wahrheit. Zeugen Christi im 20. Jahrhundert, Weilheim-Bierbronnen (GustavSiewerth-Akademie) 2005, 238 S.
Im Kern ist das von der „GustavSiewerth-Akademie“ (Weilheim-Bierbronnen), an der der Autor einen Lehrauftrag innehat, herausgegebene Werk
eine Ergänzung und eine Rezeptionsgeschichte des martyrologischen Hauptwerkes.
Es beginnt mit einer theologischen Einführung zu den Begriffen Martyrium
und Wahrheit (12-22) und der Schilderung der ökumenischen Gedächtnisfeier
am 7. Mai 2000 vor dem römischen
Kolosseum mit ihrer universalkirchlichen Dimension (23-44). Noch einmal
werden die auf Papst Benedikt XIV.
(Prosper Lambertini; 1675-1758) zurückgehenden Kriterien der katholischen
Kirche für die Anerkennung eines Mar-
tyriums behandelt (148-150; von Andrea
Riccardi, dem Gründer der Gemeinschaft „Sant’ Egidio“, in seinem schon
klassischen Werk „Il secolo del martirio“ leider nicht thematisiert) und der
evangelischen Auffassung, die auch kein
Reinheitsmartyrium kennt, gegenübergestellt (190f).
Moll ist eher skeptisch gegenüber einer
politischen und interreligiösen „Erweiterung des Märtyrerbegriffes“, wie sie von
Hans Maier vorgeschlagen wurde, und
unterstützt die von Heinz Hürten angemahnte Zurückhaltung (150). Der Ve rfasser des österreichischen Martyrologiums, der Wiener Kirchenhistoriker Jan
Mikrut, hat irritierenderweise die bei
einem Bombenangriff in Auschwitz umgekommene Bekennerin Angela Autsch
unter die Blutzeugen aufgenommen
(149).
Der II. Teil der Untersuchungen behandelt Martyrien aus der Zeit des Nationalsozialismus, so die 1999 noch unbekannten des Regierungsrates Dr. Otto
Weiß aus Mülheim an der Ruhr (158163) und das Opfer der Röhm-Affäre,
den in Schlesien wirkenden Stadtbaumeister Kuno Kamphausen (164-172).
Es werden viele Blutzeugen der Wahrheit aus Thüringen, Köln und Krefeld
neu vorgestellt (97-157), sowie aus
Orden und marianischen Gemeinschaften (71-96).
Vorangestellt wird der erweiterte Text
eines bisher ungedruckten Kauferinger
Vortrag über „Martyrium und Todesmärsche. Das Ende des Konzentrationslagers Dachau (57-70). Im III. Teil des
Buches geht Moll ausführlicher auf
„Dimensionen des Martyriums der
Reinheit“ ein. Der Zusammenhang von
Jungfräulichkeit und Martyrium schon
bei den urchristlichen Märtyrern wird
erwähnt und auf bereits kanonisierte
Vorbilder des 20. Jahrhunderts eingegangen. Besonders hervorgehoben wird
das Reinheitsmartyrium der 1954 ermordeten Schülerin Brigitta Irrgang
(186-201).
Im IV. Teil wird analog zum Hauptwerk
auf „Martyrium und Mission“ eingegangen (203-211), dabei auch der gleichnamige Vortrag Hans Urs von Balthasars auf dem Freiburger Katholikentag
1978 zitiert (209) und speziell das Leiden des von Guerilleros auf den Philippinen umgebrachten niederbayerischen
Paters Friedrich Stoiber behandelt (211217). Die Art seines Todes weist voraus
auf die aktuellen Märtyrer durch den
Islamismus, etwa den Anfang Februar
2006 in der Türkei in seiner Kirche
ermordeten Fidei-Donum-Priester Andrea Santoro.
Sören Kierkegaard hat nach eigenen
Erfahrungen mit Verspottung durch
Karikaturen (was man auf „Popetown“
und „Da Vinci Code“ ausdehnen könnte) einmal geschrieben: „Käme Christus
jetzt zur Welt, so würde er doch vielleicht nicht getötet werden, sondern
ausgelacht. Dies ist das Martyrium in
der Zeit des Verstandes; in der Zeit des
Gefühls und der Leidenschaft wird man
getötet.“ So wahr dieser Aphorismus
sein mag, es sind heute beide Zeiten
zugleich.
Im Gegensatz zu islamistischen Selbstmordattentätern ist der christliche Blutzeuge, bar jeden Fanatismus, ein Zeuge
der Wahrheit Gottes, die mit Papst Benedikts XVI. jüngster Enzyklika die
Liebe ist. Wertvolle Materialien und
Kriterien dazu hat Helmut Moll in seiner
neuen Veröffentlichung zusammengestellt.
Stefan Hartmann
Willige Vollstrecker?
In dem noch immer sensiblen Thema der
Haltung „der Deutschen“ zu „den Ju77
den“ in der Epoche des Nationalsozialismus bedarf es bei allen Veröffentlichungen weiterhin Mut und Besonnenheit, was der vorliegende Band zeigt:
Konrad Löw, „Das Volk ist ein
Trost“. Deutsche und Juden 19331945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen. Olzog, München 2006, 381 S.
Daß überlebende Juden auch nach dem
Holocaust einzelnen Deutschen für ihren
unerschrockenen und selbstlosen Einsatz
im Alltag des NS-Staates Dank und
Anerkennung gezollt haben, war bekannt; weniger bekannt, daß ein rheinisches Forschungsprojekt zu diesen „unbesungenen Helden“ (Ginzel 1984) nicht
weiter verfolgt wurde.
Umfassender und theologisch anspruchsvoller setzt der Autor an, wenn
er mit dem Tagebucheintrag des Dresdener
Juden
Viktor
Klemperer
(4.10.1941) eröffnet: „Fraglos empfindet
das Volk die Judenverfolgung als Sü nde“ (S. 11). Im Gegensatz zu verbreiteten Einschätzung von „Hitlers willigen
Vollstreckern“ (D. Goldhagen 1996,
hier u. a. S. 199-201) will Löw im ersten
Teil, „neben Klemperer alle anderen
jüdischen Zeitzeugen“ befragen, „die
sich in dem Autor zugänglichen Tagebüchern und Memoiren zum Thema
Deutsche und Juden in der NS-Zeit
geäußert haben“. Dabei wird nicht ganz
klar, ob es sich bei dem Titelzitat um
eine Zusammenfassung oder eine Original-Zitat handelt (S. 21). Auch findet
sich eine übersichtliche Liste der Namen
dieser ausgewerteten Personalquellen
nur auf dem Umschlag.
Im zweiten Teil der Aufarbeitung und
Bewertung (S. 177-342) bietet der Autor
in seinem Bestreben um Objektivität
Gegenstimmen und Betrachtungen aus
anderen gesellschaftlichen Perspektiven.
Den Einleitungsteil rundet er mit eigenen Anti-NS-Erfahrungen aus dem
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bayerischen strengkatholischen Milieu
ab.
In der zeitlich gut gegliederten Dokumentation „Ausgrenzung und Vernichtung“ werden die fünf Kapitel des gut
kommentierten ‚Florelegium Judaicum’
jeweils mit einer kurzen Einleitung
eröffnet. Im Höhepunkt-Kapitel „Deportation und Shoa 1940-1945“ kann er aus
Klempers Tagebüchern Formulierungen
zitieren wie „99% der deutschen Bevölkerung sind jugendfreundlich“ und 93%
der Mischehen sind nicht gefährdet. Aus
dem aktuellen Gedenken an Paul Spiegel (†30.4.2006) sei beispielhaft Magda
Spiegel zitiert: „Wenn die Regierung
gehofft hatte, den Menschen, die den
Gelben Stern trugen, würde von seiten
der Bevölkerung Hohn und Spott entgegenschlagen und sie würden von den
Straßen vertrieben, so mißlang dieser
Plan; zwar gab es einige Fanatiker ...,
aber weit mehr reagierten mit Ausdrü kken des Mitleid und Erbarmens.“ (S.
172).
Den ab der Seite 177 in sechs Kapiteln
unter dem Titel „Hitlers willige Vollstrecker“ aufgeführten über 30 Gegenstimmen ist nach Löws Einschätzung
„offenbar gemeinsam, daß sie über keine
eigene Erfahrung mit totalitärer Macht
verfügen“. Dabei reiht der Autor in
dieser „Aufarbeitung und Bewertung“
bekannte (besonders seinen Kontrahenten Daniel Goldhagen) und weniger
bekannte Autoren mit Kurzzitate auf
und bindet dies in einen kritischen Ko ntext und Kommentar ein.
Aus der Zusammenfassung, welche den
Titel noch einmal als Frage aufgreift, sei
das als beispielhaftes Ergebnis für die
Studie zitiert: „Was die Haltung der
Bevölkerung zum Pogrom vom November 1938 anlangt, so nehmen alle unverdächtigen Zeugen, die Juden wie die
ausländischen Diplomaten und Journ alisten, vor allem ein Volk in tiefer De-
pression wahr. Jeder, der widersprechen
wollte, hatte längst begriffen, daß er auf
keinerlei Schutz durch Behörden, Gerichte oder Nachbarn hoffen durfte“ (S.
337). In diesem zweiten Teil (ab S. 191)
finden sich auch sieben schwarz-weiße
Fotos und Faksimiles, darunter das
Schreiben der Heiligen Dr. Edith Stein
an Papst Pius XI. (1933, S. 255 f.) und
das falsch interpretierte Foto von Goldhagen (Nuntius Orsenigo statt Kardinal
Faulhaber, S. 333), aber auch als Exkurs zu den politischen Schwierigkeiten
des Erinnerns eine Karikatur zum Armenier-Genozid (1905, S. 324).
Auf 19 Seiten hat der Autor abschließend gut und ohne nennenswerte Fehler
(Moll, Zeugen für Christus, schon 3.
Aufl. 2002; Röhm/Thierfelder, Juden,
Christen, Deutsche, 2005 konnte wohl
nicht mehr berücksichtigt werden) Bücher und größere Aufsätze in seinem
Literaturverzeichnis zusammengestellt.
Das Personenregister erfaßt verdienstvollerweise sowohl die historischen
Persönlichkeiten aus den Zeugnissen als
auch die Autorennamen aus den Anmerkungen. Zu den besonderen Vorzügen
der Arbeit gehört auch das Sachregister,
das auch Ortsnamen erschließt. Didaktisch hilfreich schließt Löw sein Werk
mit 20 Thesen ab, die gut den Inhalt des
Buches zusammenfassen (S. 340f.).
Gerade angesichts der biologischen
Grenze der letzten überlebenden Zeitzeugen dieser Epoche ist dieses neue
Werk von Löw eine verdienstvolle Auswahl und mutige Deutung, die zur Diskussion anregt und verbreitete Vorurteile in Frage stellen könnte.
Reimund Haas
Humanismus
Während christliche und katholische
Ethiker oft untereinander auch über wesentliche Fragen streiten, gewinnt man
gelegentlich bei substantiellen Problemen Verbündete aus anderen, sogar aus
ansonsten gegnerischen Lagern. Ein
Beispiel bietet das neue Buch eines entschiedenen Atheisten, des ehemaligen
evangelischen Theologen Joachim Kahl,
der seit dem Erscheinen seines Bestsellers „Vom Elend des Christentums“ bekanntgeworden ist:
Joachim Kahl: Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit.
Litt Verlag, Münster 2005, 260 S.
Der Rezensent hat ihn öfters in Streitgesprächen erlebt und als fairen Gegner
erfahren, was sich auch in diesem Buch
bestätigt, wenn Religion und Christentum abgelehnt werden. Der Dogmatiker
Magnus Striet schrieb kürzlich: „In der
kritischen Aneignung dieser Fremdperspektiven erschließt sich erst die ganze
Bedeutungsfülle des Glaubens.“ Hier
sollen aber nur auf die ethischen Passagen hingewiesen werde, die erstaunlich
kompatibel sind mit unseren Einsichten.
Kahl wehrt sich gegen einen kruden
Materialismus, einen antimetaphysischen Redukt ionismus und ethischen
Relativismus. Er vertritt eine Philosophie des „Naturalismus“ und der „Skepsis“ und arbeitet mit „ontologischen
Kategorien“ und „anthropologischen
Konstanten“, die als abstrakte Verallgemeinerungen menschlicher Erfahru ngen formulierbar werden. Naturalismus
heißt, daß die Welt und der Mensch
darin als Zusammenhang gesehen wird,
dem man nur mit Hilfe der (skeptischen)
Vernunft auf die Spur kommt, denn das
Sein als Ganzes ist nur gedanklich erfaßbar. Dieses Grundkonzept ist nicht
weit vom thomasischen und neoaristotelischen Naturrechtsdenken entfernt, es
bezieht sich ausdrücklich auf antike
Denker. Thomas scheint Kahl nicht
genügend zu kennen, so daß er die Nähe
zu ihm nicht bemerkt.
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Auf dieser Grundlage ergeben sich
praktische Konsequenzen. Kahl entwirft
eine Fortführung der letzten sieben Ge bote des Dekalogs, die ihm als notwe ndige Regelungen menschlichen Zusammenlebens gelten, einschließlich der
heute angegriffenen monogamen Ehe.
„Es soll nur gezeigt werden, daß auch
im religiösen Kulturerbe wertvolle
Schätze ruhen können, die auf eine
Wiederentdeckung und pflegliche Anverwandlung warten.“ (193) Habermas
läßt hier grüßen! Dem Lob des Ideals
vom „gentleman“ (ähnlich bei J.H.
Newman) und der Freundschaft kann
man gerne zustimmen. Besonders interessant sind sexualethische Folgerungen.
Ein Kapitel wendet sich gegen die „modische These von der Gleichrangigkeit
aller Lebensformen“, ein anderes dem
„biologischen und sozialen Vorrang von
Heterosexualität gegenüber Homosexu alität.“ „Es gibt eine klar erkennbare
ethische Rangordnung unter Lebensfo r
men und Lebensentwürfen ... Über die
ethische Dignität von Lebensentwürfen
läßt sich mit rationalen Argumenten und
ethischen Normen befinden und entscheiden.“ (226) Selbstverständlich
räumt Kahl denen, die von der auf naturaler Basis erhobenen Normen abweichen, gesellschaftliche Toleranz ein,
aber seine Argumentation gegen die
relativistische Gleichmacherei in der
Sexualethik ist für denjenigen, der in der
naturrechtlichen Tradition steht, verwandt und überzeugend, etsi deus non
daretur. Das gleiche gilt für die Familienethik: „Familie ist nicht überall dort,
wo Kinder sind, sondern nur dort, wo
Kinder mit ihren Eltern sind.“ (228) Es
ist heilsam in unserer pluralistischen
Gesellschaft, solche und ähnliche ethischen Überlegungen zu würdigen, die
meinen, auch ohne Gott auszukommen –
was eine eigene Diskussion evoziert.
Hans Joachim Türk
DIE NEUE ORDNUNG
Einbanddecken
für den 60. Jahrgang 2006
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Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg
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