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Herausgeber: DIE NEUE ORDNUNG Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V. Redaktion: Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Wolfgang Hariolf Spindler OP Bernd Kettern begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Nr. 3/2008 Juni Redaktionsbeirat: 62. Jahrgang Editorial Wolfgang Ockenfels, Bange machen gilt nicht Stefan Heid Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Rüdiger von Voss Redaktionsassistenz: 162 Andrea und Hildegard Schramm Druck und Vertrieb: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Fließende Identität? Gender in kritischer Sicht 164 Peter Schallenberg, Eschatologie oder Utopie? Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus 178 Christoph Goldt, Die Europäische Union und der Gottesbezug 185 Hans-Peter Raddatz, Muhammad – Mensch und Gott? Neue Ergebnisse der Islamforschung Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891 Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 25,- € Einzelheft 5,- € zzgl. Versandkosten ISSN 09 32 – 76 65 Bankverbindungen: 200 Bericht und Gespräch Thomas Krapf, Der Untergang der Christenheit im Irak 216 Stefan Hartmann, Gottvergessenheit oder Gotteswahn? Ein Literaturbericht 222 Andreas Püttmann, Gesellschaftsanalyse aus dem Glauben 226 Alexander Saberschinsky, Unternehmen führen nach dem hl. Benedikt 232 Ansgar Lange, Familienpolitik in Deutschland 237 Sparkasse KölnBonn Konto-Nr.: 11704533 (BLZ 370 501 98) Postbank Köln Konto-Nr.: 13104 505 (BLZ 370 100 50) Anschrift der Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 D-53113 Bonn Tel.: 0228/21 68 52 Fax: 0228/22 02 44 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck, elektronische oder photomechanische Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion http://www.die-neue-ordnung.de 161 Editorial Bange machen gilt nicht Professor Daniel Düsentrieb hat auf die comicversessene Jugend von damals bis heute eine „nachhaltige“ Wirkung erzielt. Nämlich die ständige Naherwartung der endgültigen Lösung der Energiefrage. Gerne erinnert man sich an die komische Szene: Professor Düsentrieb fährt mit seinem Zukunftsauto bei einer Tankstelle vor und antwortet auf die Frage „volltanken?“ lässig: „Nicht die Bohne, mein Fahrzeug fährt auch ohne!“ Leider ist es den vielen Nachfolgern des prophetischen Professors in Wirklichkeit noch nicht gelungen, Wasser in Sprit zu verwandeln. Und weil sich dieser Geist - jedenfalls bis heute - einfach weigert, auf die Naturwissenschaftler und Techniker herabzukommen, müssen wir uns einstweilen damit abfinden, daß der Ölpreis infolge der Knappheit bei wachsender Nachfrage steigt und steigt. Und weil sich die „Wunder“ der Technik, die wir seit Descartes sehnsüchtig erhoffen, jedenfalls nicht politisch organisieren lassen, müssen wir uns nicht darüber wundern, daß der Staat mit der Lösung dieser Menschheitsfrage überfordert ist. Dieser unser Staat hat allerdings seit der Entdeckung der „ökologischen Frage“, also seit Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, erheblich zur Erzeugung eines Problembewußtseins beigetragen, das geradezu apokalyptische Züge trägt. Und in seinem Bemühen, die letzten Tage der Menschheit hinauszuschieben, hat er uns den Weltuntergang nähergebracht. Nie war er näher als heute, der Weltuntergang. Und nie war er jenen Politikern so wertvoll wie heute, die ihn parteipolitisch verwerten, indem sie Ängste schüren vor einer Katastrophe, die sie selber herbeigeführt haben. Es wirkt inzwischen reichlich komisch, wenn sich grüne Unheilspropheten immer noch als Weltenretter aufspielen. Es begann mit der Kampagne „Atomkraft, nein danke!“, die im Beschluß mündete, aus der Kernkraft auszusteigen. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde das Bemühen um „alternative“ Energietechniken forciert. Mit staatlich subventionierten Sonnenkollektoren, Windmühlen und „nachwachsenden Rohstoffen“ wurde die Landschaft zugepflastert. Doch „Öko-Strom“ und „Bio-Kraftstoffe“ werfen neue Probleme auf, ohne daß man die alten gelöst hätte. Und die „fossilen“ Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle, von denen wir immer abhängiger wurden, gelten heute als „Klimakiller“. Durch die Erzeugung konkurrierender Ängste sehen wir uns vor eine seltsame Alternative gestellt: Wollen wir lieber durch Kohlendioxid oder atomar zugrunde gehen? Wollen wir lieber vom Teufel oder von Beelzebub geholt werden? Oder weist uns Professor Düsentrieb, der Schutzpatron der grünen Öko-Religion, mit der Verheißung einer effizient funktionierenden „alternativen“ Energietechnik den unfehlbaren Heilsweg aus der unseligen Alternative zwischen Atom- und Klimakatastrophe? Das so genannte „erneuerbare Energiegesetz“ (man denkt sofort an das „embryonale Stammzellengesetz“ oder die „geräucherte Fischhandlung“), also dieses 162 Gesetz ist tatsächlich erneuerbar und vor allem erneuerungsbedürftig, wie alle Gesetze, die mit der Zeit veralten. Nun hört man neuerdings etwas Unerhörtes: Immer mehr Staaten in dieser bösen und dem Tode geweihten Welt haben die Stirn, zur zivilen Nutzung der Kernenergie zurückzukehren. Und zwar gerade aus ökologischen Gründen, und weil man sich aus der Abhängigkeit von ausländischer Elektrizität befreien möchte, wie die Italienische Regierung den Bau neuer Kernkraftwerke begründet. Allerdings ist bei uns die Öffentlichkeit erst unter dem Kostendruck der Preise für Öl und Gas bereit, über die Vorzüge der Kernenergie zu diskutieren. Das empört die „fossilen Energiebefürworter“ ebenso wie die „moralisierenden Rigorismusvertreter“, denn sie sollen sich jetzt einmal rational und öffentlich rechtfertigen. Der ökologische Streit entwickelt sich zu einem Streit um die „richtige“ Technik, wenn das Spiel mit der Apokalypse ausgereizt ist. Wieweit diese Ängste rational und praktisch bewältigt werden können, hängt auch davon ab, ob es vernünftige sozialethische Maßstäbe gibt, die der technischen Entwicklung Sinn und Ziel geben, ihr aber auch Grenzen setzen. Konkret geht es um Fragen der Güter- und Übelabwägung, also um eine soziale Verantwortungsethik. Die Entscheidungsregel dazu lautet (nach Wilhelm Korff), daß wir uns für das geringere Übel in den Folgen zu entscheiden haben, und zwar nach der Frage: Ist die zu erwartende Nebenfolge einer technischen Innovation weniger schlimm als die Folge der Unterlassung einer technischen Innovation? Diese Abwägungsregel klingt leichter, als ihre Befolgung in Wirklichkeit ist. Sie setzt nämlich einen Blick in die Zukunft voraus. Wir können aber nie genau wissen, was die Zukunft bringt - etwa an weiteren technischen Erfindungen, an gesellschaftlichen und naturalen Veränderungen usw. Es sind Kombinationen und Imponderabilien möglich, die sich der quantitativen Berechnung entziehen. Dennoch wird man fragen müssen, wie viele Opfer die Förderung, der Transport, der Gebrauch und die „Entsorgung“ von Kohle, Öl und Gas für Mensch und Umwelt gekostet haben und voraussichtlich noch kosten werden. Doch über diese Schäden erhält man kaum Auskunft, so daß der Vergleich mit den Schäden der Kernenergie sehr erschwert wird. Aber bange machen gilt nicht. Und der Reaktortyp von Tschernobyl hat ausgedient. Ausgespielt hat vor allem der Mythos einer in sich „bösen“ Kernenergie. Inzwischen sind erheblich risikominimierte Reaktoren entwickelt worden, die, wie der „Kugelbett-Reaktor“, in Deutschland entwickelt wurden. Deren Protagonisten wurden lange Zeit als Spinner abgefertigt, obwohl sie verantwortungsethische Realisten sind. Nun sind Vergleiche und Entscheidungen auf dem Feld von Technik und Umwelt keine Glaubensfragen. Christen sind von ihrem Glauben her gehalten, über das Ende ihres eigenen Lebens und das der Welt insgesamt nachzudenken. Da laß ich mir die pädagogische Abschreckung vor einer Hölle im Jenseits gerne gefallen. Aber die grüne Drohbotschaft einer nuklearen Hölle pfui Teufel - entspringt eher einem säkularen Aberglauben ohne Himmel. Wolfgang Ockenfels 163 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Fließende Identität? Gender in kritischer Sicht „Angekommen im neuen Jahrtausend geht es nicht mehr um den Dualismus des Geistes von der Natur, von seiner eigenen Leiblichkeit und körperlichen Bedingtheit, sondern dieses Gegensatzpaar ist aufgelöst, der Körper selbst steht zur Disposition. Der postmoderne Verlust der Grenzen zwischen innen und außen, belebt und unbelebt, männlich und weiblich, Geist und Körper kulminiert im Verlust der Grenze zwischen Körperrepräsentation und Körperwirklichkeit. Die Lust am Fragmentarischen, Heterogenen zerstörte zwar die Zwangsjacke der Moderne, aber öffnete zugleich das Tor zu einer nihilistischen Desintegration. Menschliche Körper fungieren als bloße Kunstobjekte [...], sie bilden lebendige Skulpturen, ein bewegliches Ereignisfeld oder sind überhaupt nur noch ‚undifferenziertes Fleisch‘.“1 Wie kommt es zu solchen Thesen? 1. Gender: Genese des Begriffs aus einer leibfernen Philosophie In der bisherigen Entwicklung der Feminismen gab es zwei hauptsächliche Richtungen: 1. „Frau muß Mann werden, um Mensch zu sein“, so die Kurzthese des Egalitätsfeminismus (Simone de Beauvoir, 1949 „Le deuxième sexe“), 2. „Frau soll Frau werden, um Mensch zu sein“, so die Kurzthese des Differenzfeminismus vor allem in der Generation nach Beauvoir (Luce Irigaray). In diesen Richtungsstreit hat sich eine neue Theorie eingeschaltet, die postfeministische Aufhebung von Frausein: Es gebe gar kein biologisches Geschlecht (sex), nur noch ein sozial und kulturell zugeschriebenes Geschlecht (gender). Diese Theorie ist radikal „dekonstruktivistisch“, d. h. sie löst alle gewohnten Sichtweisen über Frau und Mann als ideologisch auf und entwirft eher spielerisch und unverbindlich neue Deutungen. Was den schon „klassisch“ gewordenen Entwurf von Beauvoir angeht, so ist er durch Regula Giuliani als „der übergangene Leib“ charakterisiert: „Der Leib wird [...] zu einem trägen, der Materie verhafteten Körper, er wird zum bloßen Instrument und Werkzeug, das der Realisierung geistiger Entwürfe besser (mit männlichem Leib) oder weniger gut (mit weiblichem Leib) dienlich ist.“2 Solcherart Leibferne ist nicht allein in der (männlich dominierten) Philosophiegeschichte, sondern bis zu zeitgenössischen Positionen des Dekonstruktivismus und philosophischen Feminismus auszumachen, die dem Denktypus der Postmoderne beizuordnen sind. Die Themenliste der Philosophie enthielt kaum das Thema Leib/Geschlechtlichkeit, was sich zeigt in der randständigen Bedeutung, die dem Leib philosophisch zugewiesen wurde. Diese historische Linie kann bis in die Gegenwart verfolgt werden als Aussparung, Unterordnung oder Reduktion des Leibes, wofür das neuzeitliche Körper-Paradigma von René Descartes 164 (1596-1650) steht, der unter anderem den tierischen Körper bzw. Tiere überhaupt als Maschinen verstand. Dieser Reduktionismus der Neuzeit bringt eine Quantifizierung und Mechanisierung der Welt, die gleichfalls zur Geometrisierung des Menschen geführt hat.3 2. Die postfeministische sex-gender-Debatte Schon Sigmund Freud hatte die Differenz der Geschlechter bezweifelt: Wer den Schleier des Weiblichen lüfte, treffe auf das Nichts (des Unterschieds). Nach Simone de Beauvoir sind nur noch strukturelle Fragen zugelassen: Wie wird man eine Frau?, aber keine Wesensfragen mehr: Was ist eine Frau? Seit den 90er Jahren ist im Rahmen der feministischen Dekonstruktion neu, daß auch Sexualität nicht mehr gegeben, sondern konstruiert sei. Zum ersten Mal sind damit auch biologische Vorgaben als nicht definitiv angesehen und dem Rollenspiel unterstellt. Ontologie, auf der die klassische Geschlechteranthropologie fußt, sei selbst nur ein Konstrukt versteckter „phallogozentrischer“ Macht. Als Wortführerin dieser Theorie kann Judith Butler4, Professorin für Rhetorik in Berkeley, gelten, mit dem Werk Gender Trouble. Sie glaubt, einen Widerspruch in der bisherigen feministischen Argumentation zu erkennen: auf der einen Seite sei das Geschlecht ein Ergebnis sozialer Determination (und somit durch kritischen Diskurs auflöslich), auf der anderen Seite aber biologisch unhintergehbar determiniert (und somit unauflöslich). Der Widerspruch sei jedoch zu beheben: Es gebe überhaupt keinen „natürlichen“ Körper als solchen, der „vor“ der Sprache und Deutung der Kulturen liege. Körperliche Geschlechtsunterschiede seien allesamt sprachlich bearbeitet; radikalisiert bedeute es, daß der Unterschied zwischen sex und gender pure Interpretation sei. Schlicht ausgedrückt: Auch „Biologie“ sei Kultur. Um emanzipatorisch weiterzukommen, sei daher ein subjektives und offen pluralistisches Geschlecht zu „inszenieren“. Bei Jane Flax liest sich dies konzentriert: „Die postmodernen Denker möchten alle essentialistischen Auffassungen des Menschen oder der Natur zerstören [...]. Tatsächlich ist der Mensch ein gesellschaftliches, geschichtliches oder sprachliches Artefakt und kein noumenales oder transzendentales Wesen [...]. Der Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette der Bezeichnungen, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache darstellt.“5 Sehen wir uns die Argumente im Einzelnen an. 2.1 Judith Butler: Geschlecht ist semantisch konstruiert Butlers Ansatz ist erkenntnistheoretisch: Alles Wirkliche muß durch Erkennen/Sprechen vermittelt sein, auch der (eigene) Körper. Normativität könne niemals aus der Natur, immer nur aus Kultur stammen; die Rede von Mann und Frau im Blick auf den Körper sei in ihrer verborgenen, durchwegs unbewußten Normativität aufzudecken. Erst der Imperativ der heterosexuellen Norm führe zu einer binären Geschlechtswahrnehmung: Allein diese sei erlaubt und sinnvoll – und werde daher als einzige eingeblendet. Andere geschlechtliche Möglichkeiten gerieten damit von vornherein aus dem Blick. Wenn diese Konstruktion – Ge165 schlecht als Folge einer latenten, nicht begründeten Norm – durchschaut sei, verfalle damit auch die Auffassung von einem „anderen“ Geschlecht.6 Butlers Radikal-Konstruktivismus unterläuft der Absicht nach den Sex-GenderDualismus, indem Erkennen, Sprache und Symbolik einfach auf den Körper geschrieben werden, und zwar eher vom Individuum, weniger von einer gemeinsamen Kultur ausgehend (genauer: Kultur soll über Individuen verändert werden). Die Faktizität des Körpers gilt als leer, als tabula rasa je meines Entwurfes; insofern kann (soll?) er mehrfach und immer wieder überschrieben werden. Fließende Identität hat auch das (aufklärerische) Denken von Subjekt als oktroyierte Norm aufzudecken. Dieser Vorschlag geht folgerichtig an die Grenzen der Sprache, sofern sie unterschwellige Normen oder eben binäre geschlechtliche Zuweisungen tradiert. Tatsächlich ist die Umformung von Sprache ebenfalls ein politisches Ziel dieser Art von Konstruktivismus.7 Auch Grammatik wird aufgebrochen: In englisch-sprachigen Ländern, vor allem in USA und Australien, wird anstelle von he/she oder her/his tendenziell das „gender-neutrale“ they oder their im Sinne eines Singulars (!) propagiert, auch wenn es grammatisch mißverständlich wird. („This person carries their bag under their arm.“) In Spanien ist es unter der sozialistischen Regierung bereits Gesetz, anstelle von Vater und Mutter in den Geburtsurkunden nur noch „Progenitor A“ und „Progenitor B“ einzutragen, um Geschlechtsangaben zu vermeiden.8 Daß es damit sprachlich nur noch „Erzeuger“, nicht aber mehr „Gebärende“ gibt, ist offensichtlich gegen eine sperrige Sprache, die noch prämodernen Mustern verhaftet bleibt, in Kauf zu nehmen. 2.2 Verschwinden des Leibes im neutralen Körper Butler läßt eine tief problematische Ausblendung, fast überscharf, erkennen. Ihr „Linguizismus“9 verstärkt sogar den Sex-Gender-Dualismus, den er aufzulösen beabsichtigt: Sie versteht den Körper als un-wirkliches, un-soziales, passives Objekt, nicht mehr als Subjekt des Diskurses: Er spricht nicht mehr mit, macht selbst keine Aussage mehr über sich. Dieses Verstummen oder Sich-willenlosÜberschreiben-Lassen weist auf ein entschieden dominantes Verhalten zum Körper hin: Keinesfalls ist er mehr „Leib“ mit eigener „Sprachlichkeit“, zum Beispiel in seiner unterschiedlichen Generativität von Zeugen und Empfangen/Gebären oder in seiner unterschiedlichen leibhaften Erotik von Eindringen und Annehmen/Sich-Nehmen-Lassen. Zum „Ding“ reduziert, bleibt er gleichgültig gegenüber dem willentlich Verfügten. Aus Leib mit der Wortwurzel lb- (wie in „Leben“ und „Liebe“) wird endgültig Körper (corpus in der Nähe von corpse). Seine Symbolik wird nicht fruchtbar, die phänomenale Selbstaussage kastriert.10 Die radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie steht dem Gedanken einer Gegebenheit des Geschlechts deswegen abweisend gegenüber, weil darin ein rascher Schritt vom Sein zum Sollen vermutet wird. Dieses Tabu wäre aber mittlerweile umgekehrt zu befragen: Statt des „biologistischen Fehlschlusses“ herrscht hier ein „normativistischer Fehlschluß“: Normen werden einfach – je nach Situation, je nach Individuum – als willkürlich gesetzt verstanden und daher aufgehoben, ohne je einen sachlichen Bezug vorauszusetzen. Das Ich kennt 166 keine Fleischwerdung; der Körper ist „,Platzhalter des Nichts’ und Hüter der ‚tabula rasa’ seiner scheinbar völlig ausgeräumten Ankunfts-stätte“.11 So gesehen liefert Butler eine erneute Variante der extremen Bewußtseinsphilosophie mit ihrer hartnäckigen Körper-Geist-Spaltung (die eigentlich als „phallogozentrisch“ angegriffen wird). Der Vorwurf maskulinistischer Subjektzentriertheit mit Fixierung des Objekts ist solcherart geradewegs umzudrehen. Butlers Epistemologie schaltet Ontologie einfachhin aus. Von woher der Wunsch zur Überschreibung (genauer: Beschriftung) des Körpers genommen wird, bleibt unklar – gibt es nicht wenigstens vage reale Vorgaben für diesen Wunsch? Wenn schon Text: Ist der Leib nicht wenigstens ein „Palimpsest“, will sagen ein Dokument, dessen Erst-Beschriftung, obwohl ausradiert, hie und da wieder durchschimmert? Ist er nicht sogar ein „Kryptogramm“, ein „Intext“, der im (beliebig?) dekonstruierbaren Text hartnäckig aufscheint?12 Die Dekonstruktion des Leibes gerinnt zur Geste des Imperators, der in fremdes unkultiviertes Gebiet eindringt und es besetzt – obwohl er dies doch selbst „ist“. Widerstandslos, ja nichtig bietet sich der Leib als „vorgeschlechtlicher Körper“ an. 2.3 Fließende Identität als Kunstwerk und politischer Hebel Die Sprengwirkung solcher Vorstellungen ist beträchtlich. Der offene Körperbegriff oder auch die „fließende Identität“ sind mittlerweile z. B. in der Bildenden Kunst bereits benutzt. Die Resonanz auf eine zunächst sehr theoretisch klingende Idee wurde beispielsweise spielerisch verarbeitet in einer „hypothetischen Sammlung“ von Werken junger schweizer Künstler.13 In der Ankündigung war vom „irritierenden Spiel mit den vertrauten Geschlechterkategorien und Sexualitätsdispositiven“ die Rede. „Der Körper wird inszeniert, um überhaupt definiert zu werden, und überschreitet damit die Grenze zum Artifiziellen.“14 Die Französin Orlan (ein Pseudonym) hat in einer Computer-Überblendung berühmter Frauen ein ideales Selbstporträt entwickelt, auf das hin sie sich, über Video dokumentiert, chirurgisch verändern läßt. „Indem ich eine andere werden möchte, werde ich ich selbst.“ Anders: „My body is my art.“ Solche Utopien der fließenden Identität im Sinne des totalen Selbstentwurfes setzen sich zunehmend durch. „Ich“ und „mein Leib“ sind angeblich virtuelle Größen. Auch der Popstar Michael Jackson hat sich mit Hilfe mehrerer Operationen ein solches transsexuellsynthetisches Gesicht zusammenstellen lassen. Dazu paßt der Witz: Ein Kind wird geboren; endlich erreicht die Oma den Vater am Telefon mit der Frage: „Ist es denn ein Bub oder ein Mädchen?“ Darauf er stolz: „Das lassen wir es später selber mal entscheiden.“ Ähnlich arbeitet die Romanistin Barbara Vinken die Mode als Feld für „Travestie und Transvestie“ heraus: „Mode spielt mit den Geschlechterrollen, parodiert sie, durchkreuzt sie auch oder eignet sie sich an.“15 Im selben Prozeß, dessen Hauptwort „Konstruktion“ lautet, gerät natürlich auch das männliche Geschlecht in Konstrukt-Zwänge oder Konstrukt-Freiheiten. So sind die Stereotypen der Männlichkeit bereits durch die Antitypen in Auflösung begriffen oder, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, „im Ideal der androgyn-multiplen Körperlichkeit der Techno-, Pop- und Cyber-Kultur bzw. in dekonstruktivistischen Gendertheo167 rien“16 erschüttert. Der Schritt zu dem bereits um 1900 aufgetauchten Schlagwort vom „Dritten Geschlecht“ liegt nahe. Längst sind auch Schaufensterpuppen im „gender nauting“, Navigieren zwischen den Geschlechtern, gestaltet; der Typ „Zaldy“ hat hohe männliche Wangenknochen und einen sinnlichen weiblichen Mund. Diese „neue Weiblichkeit“ polarisiert sich nicht mehr gegenüber der „Männlichkeit“, sondern unterläuft den Gegensatz „männlich“ und „weiblich“. Konkret ist gemeint, daß ein Ausschöpfen aller sexuellen Möglichkeiten, insbesondere des Lesbentums, von den bisherigen Konstruktionen freisetzen könne. Die eigentliche Stütze der Geschlechter-Hierarchie sei die „Zwangsheterosexualität“, die als bloßer Machtdiskurs entlarvt werden könne (Monique Wittig). Auch Transvestismus sowie die Geschlechtsumwandlung, psychisch wie physisch, werden denkbar und sogar wünschbar. Tatsächlich wird Geschlechtsleben „inszeniert“, das Ich trägt die jeweilige geschlechtliche Maske – mit der Konsequenz, daß „diese Maske gar kein Ich verbirgt“.17 Literarisch ist Ähnliches schon seit längerem bearbeitet, freilich durchaus parodistisch-leicht: in Virginia Woolfs „Orlando“ von 1927. Ein narzißtischer junger Adeliger gleitet in unaufhörlich wechselnden Amouren durch vier Jahrhunderte und verwandelt sich dazwischen auch in eine Frau. Dieser spielerische Exkurs über die Unbestimmtheit des Geschlechts trägt durchaus neurotische Züge. Der Zwitter hinterläßt aber gerade heute Eindruck, wenn man dem Erfolg des Theaterstücks und der Verfilmung traut. Nicht weniger exotisch als die „fließende Identität“ wirkt die postmodernfeministische Folgerung, den Begriff des Körpers, durch den Begriff des „Cyborg“ = „Cyber Organismus“ abzulösen.18 Die amerikanische Feministin Donna Haraway propagiert deswegen eine neue Denkweise, „in der die Begriffe von Körper und Subjekt einer neuen Terminologie weichen, bei der man von ständigen Prozessen ausgeht, in denen Informationsströme und Kodes sich kreuzen und immer neue, vorübergehende Bedeutungen entstehen. Körper und Geist werden nicht mehr als ontologisch begründete Entitäten aufgefaßt. Im Gegenteil, der Körper, der traditionellerweise als der materielle Aspekt des Menschen betrachtet wird, macht in paradoxer Weise einer semiotischen Materialität Platz, die weder eine biologische Gegebenheit, noch eine rein kulturelle Schöpfung ist. [...] das ‚Objekt‘ tritt immer in einer bestimmten Sprache, einer bestimmten Praxis, in einem bestimmten historischen Kontext zutage.“19 Sofern Biologie nicht mehr einen identischen Körper beschreibt, sondern ein Diskurs über den Körper sei, ist von einer vorhandenen Identität dieses Körpers auch nicht mehr die Rede. Zu konstatieren sind also mannigfaltige, auch künstlerische Ansätze zur Auflösung und Neuinstallation des Körpers im Sinne einer fortlaufend zu inszenierenden Identität, die sowohl die bisherige angebliche Starre des Körperbegriffs als auch seine Abgrenzung von der Maschine aufheben – zumindest fiktiv in spielerischer Virtualität, teils bereits real mit Hilfe operativer Veränderung. Der Mensch als seine eigene Software mit der entsprechenden Verpflichtung zur 168 (Dauer-)Transformation – diese Vision kennzeichnet eine Zerstörung, zumindest die Vernachlässigung eines umfassenden Leibbegriffs. Konkret bedeutet dies eine neue Praxis und Gegennormierung: Homosexualität, möglicherweise sogar inzestuöse Verbindungen (so Butler) werden als politisches Mittel vorgeschlagen, um als Ziel den Staat und die Gesetzgebung zu einer Abschaffung bisheriger Normierungen zu zwingen und die individuelle Wahl variabler Geschlechtsbetätigung außerhalb irgendwelcher Normen zu ermöglichen. Staat und Recht werden in Bezug auf Geschlecht unnötig; Staat wird in Individuen atomisiert, deren Geschlechtsbezeichnung als (vorläufige) Geschlechtsorientierung nicht mehr abgefragt werden darf.20 Um so merkwürdiger ist, daß seit der Weltfrauenkonferenz in Peking gender mainstreaming noch als Mittel der Frauenpolitik grundsätzlich überall durchgesetzt werden soll. Ob es sich dabei um eine Soft-Version handelt? 3. Kritik der radikal dekonstruktivistischen Gender-Theorie Das in den letzten zwanzig Jahren explodierende interdisziplinäre Material zum „sozialen Geschlecht“ („Gender“) brachte eine Fülle radikaler Neuansichten zu Tage. Diese Ansichten sind nicht einfach kurzschlüssig zu erfassen, als „progressiv“ gutzuheißen oder zu verwerfen. Sie können durchaus in die Geschichte des Körperbegriffs seit der Antike bis zur Neuzeit eingeordnet werden. Bereits darin zeigen sich nämlich ererbte, nicht unerhebliche Aussparungen des Gesamtphänomens „Leib“. Zumindest seit Descartes wurde der Körper eben nicht mehr als mein Leib, als Träger meiner Subjektivität verstanden. Das Christentum hatte demgegenüber durch die Aussage der „Fleischwerdung“ Gottes eine ganz andere Sicht auf den Leib eröffnet; diese wurde aber viel zu selten philosophisch angerissen.21 Auch andere nicht-mechanische Leib-Begriffe der Tradition (nicht jeder Geist-Leib-Dualismus muß von vornherein leibfeindlich sein) müssen neu bedacht werden. Die heutige Pointe einer Selbsterstellung des eigenen Körpers zeigt jedenfalls, daß postmoderne destruktiv wirkende Thesen durchaus in einer männlich (!) geprägten Philosophie wurzeln und keineswegs einem kritischen Weiterdenken entzogen werden dürfen. Gerade das begrifflich scharfe Lesen der durchwegs komplizierten Autorinnen ist zugleich Ansatz für eine treffende Kritik. Beispiele liefern die Körper-Theorien von Simone de Beauvoir, Judith Butler und Donna Haraway, deren letztlich unterschwellige Widersprüche bei genauer Betrachtung aufscheinen. Bei allen dreien kommt es (ungewollt? jedenfalls unausgesprochen) zu einer Abwertung des weiblichen Leibes, sei es in seiner Vermännlichung (Maskulinisierung) bei Beauvoir, seiner Entwirklichung (Deontologisierung) bei Butler oder seiner entgrenzenden Technisierung (Denaturalisierung) bei Haraway. Der Umgang mit der Gender-Theorie bedarf der Kenntnis der Argumentationsstränge von der alteuropäischen bis zur neuzeitlichen Philosophie; er bedarf eines hohen Problembewußtseins und der Fähigkeit, das komplexe Thema sicher durch seine verschiedenen Spielarten zu leiten, ohne den roten Faden zu verlieren und zu vereinfachen. Es ist zu beobachten, daß auch innerhalb der feministischen 169 Diskussion die These bloß konstruierter Leiblichkeit nicht einfach geteilt wird. So hat Lyndal Roper entwickelt, der Leib (weiblich oder männlich) sei keineswegs nur diskursiv und sozial erstellt, sondern durch physische Kennzeichen bestimmt.22 Sofern Wirklichkeit nur über Rollenspiel – gleichgültig ob dekonstruiertes oder neu konstruiertes – erklärt wird, verlieren sich gültige Aussagen über Identität. Sofern auch der Körper nur Spielplatz beliebig wechselnder Bedeutungen sein soll, bedürfte es jeweils erst der Verhandlungen, in welchem Sprachspiel „der Körper“ zu behandeln sei. Auch wechselnde Eigenschaften bedürfen eines Trägers. Gegenüber dem variablen „Rollenspiel“ und der Auflösung des Ich in ein „Produkt männlicher Aufklärung“ ist der Begriff der Person neu und vertieft ins Auge zu fassen. Dieser Begriff der Person entstand ursprünglich durch Boethius im 6. Jahrhundert in Verarbeitung der christlichen Impulse. Er unterfängt die Geschlechtsdifferenzen, ohne sie aufzuheben: durch die gemeinsame Personalität.23 Was die These von der Umwandlung des Geschlechtes (psychisch oder physisch) in ein anderes Geschlecht betrifft, so ist dem entgegenzuhalten, daß – abgesehen von organischen Mißbildungen oder Zwitterbildungen – jede Person auch in ihrer „Hälftigkeit“, die das Geschlecht ausmacht, dennoch ein Ganzes ist. Die Person in ihrer geschlechtlichen und sonstigen Differenzierung stellt nicht nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Ganzen an möglicher menschlicher Erfahrung vor, sondern in dieser ihrer Begrenztheit ist sie zur Wahrnehmung des Ganzen befähigt. Das ist der Grund, weswegen auch Jungfräulichkeit nicht als Mangel, sondern als Erfüllung gelebt werden kann. Deutlich und unabweisbar ist die Notwendigkeit eines weitergehenden Nachdenkens über „Wirklichkeit“ als „gegeben“ und nicht bloß „(selbst)gemacht“. Leib als „datum“ muß nicht erst ein „factum“ werden, um annehmbar zu sein. Solche Fragen betreffen nicht allein die Philosophie, sondern bereits die Alltagskultur (siehe die synthetische Kunstfigur Michael Jackson). Ist der „weibliche Eunuch“24 das Modell der Zukunft? Die heutige radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie steht zweifellos dem Gedanken von Gabe/datum ausgesprochen skeptisch gegenüber, zumal darin ein rascher Schritt vom Sein zum Sollen vermutet wird. Auch dieses Tabu wäre mittlerweile zu befragen: Statt des „biologistischen Fehlschlusses“ herrscht heute ein „normativistischer Fehlschluß“: Normen werden einfach – je nach „Bedürfnis“ – gesetzt und wieder aufgehoben, ohne den Bezug auf das zu lösende Problem zu vertiefen. 4. Vorgabe und Anverwandlung Man könnte auch einwenden, daß die Suppe so heiß nicht gegessen wird: Sind nicht unter dem Stichwort Gender, verstanden als „Geschlechtergerechtigkeit“, heute im politischen Raum viele Maßnahmen für Jungen und Mädchen, Männer und Frauen sinnvoll einzufordern? Das ist richtig. Vielleicht wird der Alltag die beschriebene Ideologie glätten und entschärfen. Auch viele katholische Frauen170 verbände haben Gender auf ihrer Agenda. In der Regel ist ihnen dabei der harte Kern des Begriffs nicht bewußt oder sie glauben, ihn einfach praktisch nutzen zu können. Wenn dies – im Gegenzug gegen die Leibferne von gender – gelingt, sollte einen das freuen. Aber dazu bedarf es einer Offensive: mit Hilfe eines christlich gestützten Leibverständnisses. „Ich habe einen Körper, aber ich bin mein Leib“, lautet ein berühmter Satz von Helmuth Plessner. Ein Glaube, in dessen Mitte die Fleischwerdung Gottes steht, kann die Annahme des eigenen „gegebenen“ Leibes und seines Geschlechts anbieten. Seine „Anverwandlung“ in Leib, Liebe, Leben ist viel dringender als seine virtuelle Veränderung in einem Niemandsland. Anstelle von „fließender Identität“ ist ganz umgekehrt Mannsein, Frausein die „Urgabe“. Nur der wirkliche Leib schließt das Abenteuer der Liebe zum anderen Geschlecht (nicht zur Wiederholung im selben!) und das Abenteuer von Kindern ein. Der Gedanke der Selbstgestaltung des Menschen ist an sich gesehen weder sachlich falsch noch moralisch böse. Er gründet in der merkwürdigen – auszeichnenden wie gefährlichen – Tatsache, daß der Mensch unter den anderen Lebewesen tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt, auch im Blick auf sein Geschlecht – schon rein naturwissenschaftlich betrachtet. Die Sonderstellung beruht – nach Jahrzehnten der vergleichenden Verhaltensforschung bekannt – auf der Instinktarmut, der erstaunlichen „Unbehaustheit“ des Menschen in der Welt. Positiv: Er hat zwar keine Reiz-Reaktions-Sicherheit wie ein Tier, dafür aber Freiheit vom Instinkt und Freiheit zur Welt und zu sich. Freiheit von bietet volles Risiko der Fremd- und Selbstgefährdung. Freiheit zu bildet zugleich die schöpferische Flanke: zur Gestaltung von Welt und Mensch – als homo faber. Anthropologie kommt daher nicht umhin, den Menschen als spannungsreiche Wirklichkeit zu beschreiben, das heißt als zwischen Polen „ausgespannt“: dem Pol einer gegebenen Ausstattung der „Natur“ und dem Gegenpol der Veränderung: einem Werden, einem Futur, der „Kultur“. „Werde, der du bist“, formuliert der orphische Spruch, aber was so einfach klingt, ist das Abenteuer eines ganzen Lebens. Abenteuer, weil es weder eine „gußeiserne“ Natur noch eine beliebige „Kultur“ gibt, sondern datum und factum in lebendiger Beziehung stehen: zwischen Grenze der Gestalt (positiv: dem „Glück der Gestalt“) und Freiheit (positiv: „dem Glück des Neuwerdens“). In Anwendung auf die vorliegende Frage heißt das: Ein Tier hat seine Geschlechtlichkeit und muß sie nicht gestalten; daher ist seine naturhaft gesicherte Sexualität frei von Scham und funktional eindeutig auf Nachkommenschaft gerichtet. Ein Mensch ist und hat seine Geschlechtlichkeit und muß sie gestalten: Sie ist nicht einfach naturhaft gesichert, vielmehr kulturell bestimmt und schambesetzt wegen des möglichen Mißlingens; außerdem ist sie funktional nicht notwendig an Nachkommenschaft gebunden. Wir sind nicht distanzlos eins mit der Geschlechtlichkeit, sondern von ihr distanziert: In ihr tut sich ein Freiraum für Glücken und Mißlingen auf, auf dem Boden der unausweichlichen Spannung von Trieb (naturhafter Notwendigkeit) und Selbst (dem Freimut der Selbstbildung). Fleischwerdung im eigenen Körper, Anverwandlung der körperlichen Vorgabe in den eigenen Leib, „Gastfreundschaft“ („hospitalité“ bei Levinas) 171 gegenüber dem anderen Geschlecht sind die Metaphern, die den Vorgang der Annahme, nicht der Rebellion oder Neutralisierung, Nivellierung und „Verachtung“ der Vorgabe kennzeichnen. Daher ist das zwiefache Geschlecht einer kulturellen Bearbeitung nicht nur zugänglich, sondern sogar darauf angewiesen. Nur: Selbstgestaltung ist in eine komplexe Ausgangslage gestellt. Geschlechtlichkeit ist zu kultivieren, aber als naturhafte Vorgabe (was könnte sonst gestaltet werden?). Kultivieren meint: weder sich ihr zu unterwerfen noch sie auszuschalten. Beides, Natur und „Überschreibung“, läßt sich an den zwei unterschiedlichen Zielen der Geschlechtlichkeit zeigen: der erotischen Erfüllung im anderen und der generativen Erfüllung im Kind, wozu allemal zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind. „Zur erotischen Rechtfertigung des Menschen gehört das Kind“ – solche Sätze können neuerdings wieder philosophisch geschrieben werden.25 Und auch das Kind selbst ist wiederum kein Neutrum, sondern tritt als „Erfüllung“ des Liebesaktes selbst in das zweiheitliche Dasein. Zur kulturellen Bearbeitung gehört andererseits, aus der Zweiheit in eine gemeinsame Welt zu blicken. Fruchtlos wird die Geschlechtsdifferenz dann, wenn sie aus der Zweiheit einen Antagonismus des Herrschens und Sich-Unterwerfens (beides auch noch gegenseitig) ableitet. Diese Verstörung der Geschlechter ist hinlänglich bekannt und kulturgeschichtlich wirksam (gewesen). Zu diesem Geschlechterkampf, zum Messen aneinander kann die zunächst „unschuldige“ Vorstufe des Sich-Nicht-Verstehens durchaus verleiten. „Frauensprache“/ „Männersprache“ ist immer noch nicht die Sprache zweier gegenseitig Taubstummer, oder weniger dramatisch ausgedrückt: ist immer noch nicht Schicksal. Denn: Gerade auch das Geschlecht will noch einmal überstiegen, transzendiert werden – eben auf den anderen hin; in diesem Übersteigen liegt die Beglückung, eben im Finden des „Anderen“. Wo das Geschlecht im leeren Suchen zerschellt, was zu den tragischen Möglichkeiten gehört, ist damit nicht schon sein Kern des „Übersich-Hinaus“ trügerisch. Die christliche Kultur weiß von der Möglichkeit eines Alleinseins, das sich auf ein göttliches Gegenüber bezieht – über das Geschlecht hinaus. 5. Welche Lösungen wahrt das Christentum? Es macht die Not unserer Existenz aus, daß sie alle Lebensvollzüge degradieren kann. Es gibt die Zweckgemeinschaft Ehe, den Selbstgenuß im Sex, das frustrierte, leergewordene Zölibat, das erzwungene, lähmende Alleinsein. Bibel und Kirche, die an dieser Stelle immer seltener befragt werden, „wahren“ jedoch eine „Lösung“ der geschlechtlichen Phänomene. Wenn am Ende eines philosophisch argumentierenden Artikels das Christentum als Erkenntnisquelle eingeführt wird, scheint dies ein unzulässiger Ebenenwechsel zu sein. Es geht dabei aber gerade nicht um theologische Setzungen, sondern um jenen intellektuellen Thesaurus, der in den eher narrativen biblischen Sätzen und in den Theologien der Jahrhunderte phänomenal erschlossen werden will. Es ist aller Energie des Denkens 172 wert, den Aussagen über den Ur-Sprung des Geschlechts nachzudenken. Was wird darin sachlich „verwahrt“? Zunächst eine Einsicht in Fehlentwicklungen, an zweiter Stelle eine Formulierung von „Fleischwerdung“, auch im Geschlecht. Tatsächlich gibt es vor dem Maßstab der Bibel drei große (Fehl)entwicklungen schon antiker Art, die bis zum heutigen Tage wirksam sind. Zum einen: Die Vergötterung des Geschlechts wird wie alle welthaften Götzendienste abgewiesen (Ex 20, 4f). In einer magischen Kultur sind alle ekstatisch-rauschhaften Zustände, auch der Sexualgenuß, als unmittelbare Anwesenheit eines geheimnisvoll Göttlichen (Numinosen) gesehen, gefeiert, ja angebetet worden, z.B. in der Form von Fruchtbarkeitsriten. In der heutigen Form hat sich dies als das verantwortungslose Überwältigen-Lassen durch den Trieb, dem man sich wie einer fremden Macht ausliefert, erhalten. Mit dieser Potenz wird auch in den Medien gespielt: mit dem Feuer einer tiefen, noch ungeordneten Faszination, die „wie von außen“ anspringt. Zum zweiten verwirft die Bibel den egozentrischen Ich-Genuß, der das Gegenüber nur werkzeuglich (sklavisch) nimmt – hier fällt das Wort „Unzucht“ (Mk 7, 22; Röm 13, 13; Gal 5, 19; 1 Petr 4, 3). Aus seiner scheinbaren Antiquiertheit übersetzt: Man kann den Leib zum (animalischen) Körper degradieren, die Personalität ausklammern und den Trieb zum mechanischen Ablauf herabsetzen. Solche „Abspaltungen“ bringen den ‚Sex’ hervor, der im Grunde die Beziehung zu einer Ware erniedrigt und, noch deutlicher ausgedrückt, gerade die Frau, neuerdings auch der Mann, als Ware verkauft. – Noch im 19. Jahrhundert betrachtete übrigens eine atheistisch eingefärbte Medizin – im Soge der Aufklärung – alle Leibvorgänge als bloße Maschinenreaktionen (1748 erschien das berühmte Buch „L’Homme machine“ / „Die Menschmaschine“ von La Mettrie). Auch seelische Empfindungen, die Liebe eingeschlossen, wurden als steuerbare Abläufe gedeutet, als unfrei-mechanisch. In diesem Sinne konnte man auch von „Geschlechtsteilen“ an der Körpermaschine sprechen. Solche „Teile“ können verkauft oder hergegeben werden, aber „das Ganze“ behält man für sich, auch in der Geschlechtsbeziehung. Drittens widerspricht die Bibel aber auch einer nicht minder gefährlichen Einschätzung eines übersteigerten Idealismus: Der Leib wird vom Geist getrennt gesehen und diesem untergeordnet. Wieder wird hier die Person in ihre „Teile“ zerschnitten, nur daß das Geistige als Maßstab empfunden wird. Hier kommt es zur Scham, überhaupt einen Leib zu haben (wie in der Spätantike häufig formuliert), ja der Bereich der Sexualität wird als tierisch empfunden. Das orphische Wortspiel „Körper-Gefängnis“ (soma sema) wirkt durch die abendländische Geistesgeschichte in mannigfaltigen (auch christlichen) Umsetzungen. Diese Wirkung ist um so stärker, als ja tatsächlich Leib, Sexualität und Geist nicht einfach aufeinander zugeordnet sind; nicht zuletzt ist die Scham eine Antwort auf dieses Empfinden, in seinen Anlagen uneinheitlich zu sein. Auch außerhalb des Christentums gibt es, wie die Kulturgeschichte breit belegt, eine Fülle von unterschiedlichen Überformungen des Geschlechts durch Tabu, Askese, Triebverzicht. 173 Diesen Überformungen des Geschlechts stehen Entwürfe gegenüber, die den Leib – im Alten wie im Neuen Testament – als Träger der Personalität (subjektiv) sehen, und (intersubjektiv) weitergehend als Träger aller Beziehungen, zu Welt, den Menschen, zu Gott. Im Alten Testament ist die innere Nähe von Geschlechtsliebe und Gottesbeziehung mit großer Unbefangenheit ausgesprochen, am strahlendsten im Hohenlied, wo die leibliche Liebe der beiden Menschen zueinander auch auf die Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf gelesen werden kann (und in der mystischen Tradition lange gelesen wurde). Nicht zuletzt: Gerade die Fleischwerdung Gottes ist ein Neueinsatz und eine Herausforderung: Wie kann Gott überhaupt einen Leib und ein Geschlecht annehmen? Dies ist entgegen allen Idealisierungen leibloser Göttlichkeit die eigentliche Unterscheidung von allen anderen religiösen Traditionen, sogar vom Judentum. Caro cardo – das Fleisch ist der Angelpunkt. Die Inkarnation Gottes setzt das gesamte Leibphänomen in ein neues, unerschöpfliches Licht26 – nicht minder die leibliche Auferstehung zu todlosem Leben. Auch Kirche wird als Leib gesehen, das Verhältnis Christi zur Kirche als bräutliches (Eph 5, 25), und die Ehe wird zum Sakrament: zum Zeichen realer Gegenwart Gottes in den Liebenden. Es ist dieses Rückbinden des Geschlechts in seinen zentrifugalen Möglichkeiten an den ganzen Menschen, das die Bibel vorstellig macht: damit der ganze Mensch sich übersteigt, und nicht nur seine Biologie oder sein Geist ins Leere, ins Du-Lose wegstreben.27 Statt dessen spricht die Sprache, wieder einmal überraschend, vom Gegen-Über: worin der Anteil des „Über“ gerade am Du zu erfahren ist. Auch dahin muß Geschlecht bearbeitet, kultiviert werden, aber nicht um seiner Zähmung oder sogar Brechung willen, sondern seiner wirklichen und wirksamen Ekstase wegen.28 Ekstase meint: „Liebe. Man verlegt den Mittelpunkt aus sich selbst heraus.“29 Allerdings: „Aber wiederum in eine endliche Sache.“30 Das Glücken der Geschlechtlichkeit kann daher weder durch das Sakrament noch durch anderen Segen garantiert werden, aber christlich angeben lassen sich die Elemente, unter denen die schwierige Balance gelingen kann: a) den Leib in seinem Geschlecht und b) in der Anlage für das Kind als Vorgabe anzuerkennen. Anders: Im Endlichen zu verbleiben – im Geschlecht sich nicht selbst genug sein können, im Kind zu „sterben“. Das ist kein naiver Naturbegriff mehr, sondern die schöpferische Überführung von Natur in kultivierte, angenommene, endliche Natur. Dennoch und gerade deswegen steht sie im Raum der Übersteigung und nicht in einem flachen Materialismus. c) Auch der Eros wird in den Bereich des Heiligen gestellt: im Sakrament. Auch Zeugung und Geburt werden in den Bereich des Heiligen gestellt: Sie sind paradiesisch verliehene Gaben (Gen 1, 28). Nie wird nur primitive Natur durch Christentum (und Judentum) verherrlicht: Sie ist vielmehr selbst in den Raum des Göttlichen zu heben, muß heilend bearbeitet werden. Hildegard von Bingen sagt den schönen Satz, Mann und Frau seien „ein Werk durch den anderen“ (unum opus per alterum). Wie tief solches Werk im Leiblichen verankert ist, zeigt eben das Kind. „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“, formulierte der Pietist Friedrich Christoph Oetinger. „Frucht- 174 barkeit ist das Ende der Werke Gottes“, könnte man der Sache nach weiterformulieren, leiblich und geistig verstanden. Geschlecht ist Selbstgewinn und Selbstverlust im anderen, es ist fleischgewordene Grammatik der Liebe. Leib ist schon Gabe, Geschlecht ist schon Gabe – aber nicht im Festhalten als „meine“, „dir“ unzugängliche Habe, sondern im Weitergeben, sogar im Entäußern, im Armwerden am anderen, zugunsten des anderen. Aber auch nicht im Verwerfen der Gabe und in ihrem Umschreiben zur Selbstbemächtigung, in der Sterilität der Verweigerung: Ich will mir nicht gegeben sein. Nicht zufällig entfaltet sich heutiges phänomenologisches Fragen an einem Denken der „Gabe“, wie Husserls Letzt-Begriff der „Gegebenheit“ weiterformuliert wird.31 Geschlechtlichkeit ist Grund und Ur-Sprung des von uns nicht Machbaren, der Passion des Menschseins. „Liebe, Schmerz der getrennten Existenz. Zwei Wesen sollen eines sein, doch wenn sie eines wären, würde sich dieses Wesen selber lieben, und welchen schlimmeren Alptraum könnte man sich vorstellen? (...) Narziß verlangt von sich selbst, ein anderer zu werden, um ihn lieben zu können. Der Liebende verlangt von der Geliebten, daß sie er wird.“32 Reich an dieser Zweiheit und arm durch sie – mit ihr begabt, uns selbst aber nicht genügend, wie Platon im Symposion zeigte, abhängig von der Zuwendung des anderen, hoffend auf die Lösung durch den anderen, die aus dem Raum des Göttlichen kommt und in ihrer höchsten, fruchtbaren Form dorthin zurückleitet (Gen 1, 27f). Was also im griechischen Denken ein „Fehl“ ist: die mangelnde Einheit, wird im biblischen Denken zum Glück der Zweiheit, die vom einen Ursprung unterfangen wird. Zu modischer Breite angewachsen ist heute ein ideologisch unterfüttertes Ausweichen vor dem anderen Geschlecht, seiner Zumutung durch Anderssein. Männer flüchten sich zu Männern, Frauen zu Frauen. Homoerotik vermeidet jeweils die Zwei-Einheit aus Gegensatz, sie wünscht Zwei-Einheit aus Gleichem (allerdings nur quasi, weil ein Partner doch die „andere“ Rolle übernimmt). Könnte über alle Morallehren hinweg, die doch wenig greifen, die alte Genesis-Vision heute erneuert werden, daß sich in dem Einlassen auf das fremde Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Not(wendigkeit) asymmetrischer Gemeinschaft ausdrückt? Schöpferisches, erlaubtes, leibhaftes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – mit dem Antlitz von Frau oder Mann: Das ist der Vorschlag des Christentums an alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen. Im Blick auf die programmatische Bedeutung des Geschlechts sieht Maximus Confessor (um 580-662) ein einigendes Ziel dieser glücklichen Zweiheit, worin ihr jetzt noch mögliches Unglück: die postlapsarische Verstörung, der fruchtlose Kampf gegenseitiger Unterjochung, gegenseitigen Nicht-Verstehens aufgehoben ist. Geschlecht kann ja auch von seinem Wortsinn, dem „Geschlachtetsein“ oder Hälftigsein, her gelesen werden. Die Brutalität des Nur-Geschlechts, der „FlußGott des Bluts (...) ach, von welchem Unkenntlichen triefend“33, muß daher nach Maximus endgültig vermenschlicht werden: „Zuerst einigte Gott in sich uns mit uns selbst, indem er die Scheidung in Mann und Weib aufhob und uns aus Män175 nern und Weibern, an denen diese Unterschiedenheit des Geschlechtes das Hervorstechendste ist, einfach und schlechthin zu Menschen machte, im wahren Sinne des Wortes, da wir ganz nach ihm geformt wurden, sein unentstelltes Ebenbild heil und unversehrt an uns tragend, an dem kein Zug von Vergänglichkeit und Verderbnis mehr sein kann; dann einigte er mit uns um unsertwillen die ganze Schöpfung, indem er durch das, was die Mitte einnimmt, die Extreme des Alls zusammenfaßte, wie die Glieder eines Ganzen, das Er selbst ist, um sich herum Paradieseswelt und Menschenwelt miteinander untrennbar verwebend: so verband er Paradies und Erde, Erde und Himmel, Sichtbarkeit und Geisterwelt miteinander, da er Leib, Sinnlichkeit, Seele und Geist in sich vereinigte, ganz wie wir sie haben.“34 Das meint nicht neue Leibferne, es meint den nachdenklichen Horizont verwirklichter Leiblichkeit, die ohne einen göttlichen Horizont schwerlich zu denken ist. Anmerkungen 1) Philip J. Sampson, Die Repräsentationen des Körpers, in: Kunstforum International, Bd. 132. Die Zukunft des Körpers I, Ruppichteroth 1996, 94-111, hier: 101. 2) Regula Giuliani, Der übergangene Leib, in: Phänomenologische Forschungen NF 2, 1997, 110. 3) Vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Einführung in die Philosophie der Renaissance, WBG, Darmstadt ²1995. 4) Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, 1990. Dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991. 5) Jane Flax, Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the Contemporary West, Berkeley 1990, 32ff. 6) Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt 1997. 7) Vgl. Ann Pauwels, Gender Inclusive Language: Gender-Aspekte der Globalisierung der englischen Sprache, Vortrag im Gender-Kompetenz-Zentrum der HU Berlin vom 16. April 2004. Vgl. http://www.teagirl.arts.uwa.edu.au/presentations_and_publications. 8) Bei dem Kongreß für die Familie in Valencia (Juli 2006), wozu der Heilige Vater erwartet wurde, sagte Kardinal Trujillo, man müsse wohl jetzt „the Holy Progenitor“ begrüßen. 9) Silvia Stoller/Veronica Vasterling/Linda Fisher (Hg.), Feministische Phänomenologie und Hermeneutik, Würzburg 2005, 91. 10) Vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, Zwischen Somatismus und Leibferne. Zur Kritik der Gender-Forschung, in: IKZ Communio 3 (2001), 225-237, wo auch Edith Steins Phänomenologie der Leiblichkeit herangezogen wird. 11) Ferdinand Ulrich, Der Nächste und Fernste – oder: Er in Dir und Mir. Zur Philosophie der Intersubjektivität, in: Theologie und Philosophie 3 (1973), 317-350; hier: 318. 12) Ein Kryptogramm ist eine Folge von Buchstaben, die in einen Text eingelassen sind, aber durch eine Hervorhebung (z. B. durch Rahmen, eine Figur) in einem zweiten Zusammenhang zu lesen sind. 13) Im Kunsthaus Glarus/Schweiz 1996. 176 14) Carole Gürtler, Pickel, Narben, Spitzendeckchen, in: Basler Zeitung, 14.10.1996, 34. 15) Kathrin Hönig, Frau als Mann als Frau, in: NZZ Nr. 132 vom 11.6.1997, 32. 16) Christina von Braun, Der Stroh-Mann. Zur Konstruktion moderner Männlichkeit. Rezension in der NZZ 129, 7./8.6.1997, 53, von: George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt (Fischer) 1997. 17) Seyla Benhabib, Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Frazer, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt 1993, 15. 18) Donna Haraway, Woman, Simian and Cyborgs. The Reinvention of Nature, London 1991. 19) Lieke van der Scheer, „Menschlicher Körper?“ im Werk von Donna Haraway, Referat bei der Robert- Bosch-Stiftung in Stuttgart, 4.-6. Mai 1995, 4 ff. 20) Tatsächlich hatte die PDS 2001 in den Deutschen Bundestag den Antrag eingebracht, Geschlechtsbezeichnungen als diskriminierend aus dem Personalausweis zu tilgen. 21) Eine beispielhafte mittelalterliche Vorgabe liefert etwa die „Leibfreundlichkeit“ einer Hildegard von Bingen. 22) Lyndal Roper, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1995. 23) Grundlegend dazu die kompetente Darstellung des Personbegriffs bei: Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 1996. 24) Germaine Greer, Der weibliche Eunuch, Hamburg 1980. 25) Ferdinand Fellmann, „Das Paar“. Eine erotische Rechtfertigung des Menschen, Berlin 2005. 26) Eine phänomenologische Analyse dazu liefert: Michel Henry, Fleischwerdung, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg 2000. 27) Rilke thematisiert immer wieder eine Liebe, die über das Du des Mädchens hinweg in „Weltraum“, ins „Offene“ geht; vgl. die zweite Duineser Elegie. 28) Vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, Eros – Glück – Tod und andere Versuche im christlichen Denken, Gräfelfing 2001. 29) Simone Weil, Cahiers. Aufzeichnungen, München 1993, II, 83. 30) Ebd. 31) Vgl. dazu die phänomenologischen Arbeiten von Jacques Derrida, Jean-Luc Marion, Bernhard Waldenfels, Michel Henry, in einem weiteren Sinn auch von Martin Buber und Ferdinand Ulrich. 32) Simone Weil, Cahiers II, 75. 33) Rainer Maria Rilke, Die dritte Duineser Elegie, in: Rilke, Werke, Frankfurt: Insel 1980, II, 449. 34) Maximus Confessor, All-Eins zu Christus, hg. u. übers. v. E. v. Ivanka, Einsiedeln 1961, 52f. Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz lehrt Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. 177 Peter Schallenberg Eschatologie oder Utopie? Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus Das Problem einer säkularen Eschatologie „Wir wissen von der Zukunft nichts und sollen auch nicht nach mehrerem forschen, als was mit den Triebfedern der Sittlichkeit und dem Zwecke derselben in vernunftgemäßer Verbindung steht.“1 Was freilich in vernunftgemäßer Verbindung zur Sittlichkeit steht, ist durchaus nicht genügend geklärt, und die Frage nach einer möglichen Vollendung von Mensch und Menschheitsgeschichte bleibt weiterhin drängend. Auch Immanuel Kants Verdikt löst nicht das grundsätzliche Problem einer säkularen Eschatologie, aber es unterstreicht das Wort „säkular“, macht also darauf aufmerksam, neuzeitlich sei eine Utopie nur noch politischethisch zu denken und zu entwerfen. Diese ethische Suspendierung der theologischen Eschatologie zugunsten rein innerweltlicher Gesellschaftsentwürfe verdankt sich einer Vielzahl von Traditionssträngen, durchaus auch christlicher Herkunft, etwa der augustinischen Unterscheidung von „civitas Dei“ und „civitas terrena“ oder der thomasischen Unterscheidung von „beatitudo perfecta“ der ewigen Gemeinschaft mit Gott und der „beatitudo imperfecta“ einer rein menschlichen Gemeinschaft. Eine sehr markante Zäsur der Neuzeit bildet der Westfälische Friede 1648 und seine säkulare Umsetzung der Eschatologie in der Form realitätsnaher Friedensfindung unter Verzicht auf religiöse und konfessionelle Begründung. Den Kontrapunkt bietet 200 Jahre später das „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx mit dem bitteren Fazit des Scheiterns jeder friedensstiftenden Realpolitik und der revolutionären Einforderung der säkular-politischen Utopie. Beide indes, die resignative Realität von 1648 und die revolutionäre Utopie von 1848, sind genuine Kinder des neuzeitlichen Grundsatzes „etsi deus non daretur“ (Hugo Grotius), dem in unseren Tagen Papst Benedikt XVI. ein entschiedenes „etsi deus daretur“ entgegensetzt. Verworfen wird damit der Gedanke, die Preisgabe der Idealität über der Realität, des „Gott in und über der Welt“2, ermögliche den Verzicht auf den Gottesgedanken im Raum der Ethik und der Politik und schaffe so Raum für eine ideologiefreie Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Der neuzeitliche Blick bleibt gebannt von der utopischen Möglichkeit einer stetigen Verbesserung von Mensch und Gesellschaft. Es ist zugleich – Kehrseite der Medaille, deren eine Seite „Utopie“ heißt – die Frage nach dem Ursprung, denn jede Utopie ist nichts anderes als Rückkehr oder Überbietung des Anfangs. So lautete die berühmte Preisfrage der Akademie von Dijon 1749: „Hat der Fortschritt der Wissenschaft und der Künste die Menschheit verbessert?“ und 1755, just im Jahr des Erdbebens von Lissabon, formuliert diese Akademie die Preis178 frage konsequent ergänzend: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist diese vom Naturgesetz gerechtfertigt?“ Der Fortschritt der Wissenschaften schien Karl Marx ein Jahrhundert später endgültig desavouiert, aber umgekehrt schien ihm die ewig alte Frage nach der Ungleichheit beantwortbar und damit lösbar zu sein. Damit scheint Immanuel Kants Urteil überwunden: Wir wissen vom Ursprung der Ungleichheit und daher auch von der Realisierung der bestmöglichen Zukunft alles! In unserer Zeit erscheint auch die kommunistische Utopie nicht mehr lebensfähig und im Gegenteil den Menschen in neue Joche und Sklavereien zu pressen. Daher ist die Frage nach der leitenden Idee und dem leitenden Menschenbild von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft neu zu stellen. Es ist zugleich die Frage nach dem feinen, aber ungemein wichtigen Unterschied zwischen christlicher Eschatologie auf der einen Seite und sozialistischer Utopie auf der anderen Seite. Die Revolution der Utopie bei Karl Marx Gleich zwei Revolutionen treten 1848 mit dem entschiedenen Willen zur Realutopie auf: Die Frankfurter Paulskirche wagt den revolutionären Schritt hin zur Demokratie, erstarrt aber bald im kleindeutschen Nationalstaat. Das „Kommunistische Manifest“ hingegen will weit revolutionärer noch die neuzeitliche Klassengesellschaft insgesamt überwinden. Karl Marx wählt damit den radikalen Weg einer umstürzenden Neubestimmung von Mensch und Gesellschaft. (1) Zunächst wird der Mensch als reines Klassenwesen definiert, Geschichte dementsprechend als Auseinandersetzung von Kollektiven, nicht mehr von Personen. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“3 Auf dem Hintergrund eines die Französische Revolution vorbereitenden Frühkommunismus (als utopischer Sozialismus) bei Saint-Simon wird der Mensch als Funktion innerhalb einer diesseitig sich vollendenden Geschichte gesehen. Die Menschheit als Kollektiv entwickelt sich über die Generationen so, wie das Individuum in seinen unterschiedlichen und aufeinander folgenden Lebensphasen. Dabei werden in der durch Revolution herbeigeführten Realutopie die unterschiedlichen Klassen ersetzt durch die eine einzige industrielle Klasse. Dieser „zentrale Begriff der ‚classe industrielle’ als Gemeinschaft aller in planender oder ausführender Funktion produktiv Tätigen ist zunächst als Kampfbegriff gegen die parasitären Schichten der feudalen Reaktion zu verstehen, gewinnt aber darüber hinaus positive Bedeutung in der weitgefaßten Konzeption einer verwalteten Industriegesellschaft. Nach der Beseitigung der parasitären Elemente und der Abschaffung des Erbrechts bleibt eine Gemeinschaft gleichberechtigter Produzenten, die jedoch nach den verschiedenen Fähigkeiten, Funktionen und Leistungen vielfältig differenziert ist.“4 Dieses frühsozialistische Geschichts- und Menschenbild wird bei Karl Marx noch schärfer gefaßt: Alle Geschichte nämlich ist Klassenkampf und zugleich Kampf der Individuen untereinander. Längst ist Abschied genommen von dem Begriff der Person als „zoon politikon“, als thomasisches „animal sociale“. Geblieben ist ein rein zweckorientierter Individualismus. Deutlich steht im Hin179 tergrund die Deutung des „homo homini lupus est“ des Thomas Hobbes, dessen Menschenbild übrigens auch der parallel zu Karl Marx entstehende politische Liberalismus zum Teil übernimmt: „Der Liberalismus geht davon aus, daß im Zusammenleben der Menschen nur Konkurrenz und Konflikt vorkommen.“5 Freilich ist die Folgerung bei Karl Marx ganz entgegengesetzt: Nicht die Entfesselung der freien Kräfte und einander widerstrebenden Interessen des Individuums, sondern die Fesselung durch revolutionär produzierten, radikal neuen Gesellschaftsvertrag im Zeichen absoluter Gleichheit aller Menschen ist das Ziel. Damit aber wird die klassische Spannungseinheit von Gleichheit und Freiheit aufgehoben zu ungunsten der von der Bourgeoisie mißbrauchten Freiheit. Zugleich wird die ursprünglich religiöse Eschatologie einer jenseitigen Aufhebung aller Gegensätze in der „communio“ Gottes verwandelt in eine säkulare Utopie der diesseitigen Aufhebung aller Ungleichheit. Indem Unterschiede der Individuen untereinander als unüberbrückbare Gegensätze verstanden werden, verschwindet ein tragendes Verständnis von individueller Person. Diese wird nicht mehr als je unterschiedliches Abbild des unsichtbaren Gottes verstanden, sondern bloß als Klassenwesen mit materiellen Bedürfnissen, die es zu stillen gilt, worauf die große Stille ewigen Friedens über die klassenlose Gesellschaft kommen wird. (2) So entsteht eine immanente und reduzierte Sicht des Menschen. Karl Marx unterstreicht mit wünschenswerter Klarheit: „Die Bourgeoisie hat (…) kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst. (…) Sie hat an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“6 Dies ist in der Tat fein beobachtet: Die Neuzeit und die beginnende Industrialisierung und Kapitalisierung führt unmerklich zu einer radikalen Umwertung der Werte, wie dies Otfried Höffe skizziert: „Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts findet nun eine folgenreiche Umwertung der Werte, eine radikale Mentalitätsveränderung statt. Aus den der Illegitimität verdächtigten Leidenschaften und den per se illegitimen Lastern werden Antriebskräfte, die, ihrem Begriff nach von allem Verdacht auf Illegitimität befreit, normativ rundum neutral sind. Oft werden sie sogar positiv beurteilt; das Laster des Neides etwa wird zur wirtschaftlichen Kompetenz, die Habsucht zum lobenswerten Geschäftssinn.“7 Staat und Gesellschaft verstehen sich so wenig wie die Person noch länger als Abbilder der „civitas Dei“, sondern bloß als Friedens- und Freiheitsraum miteinander konkurrierender Individuen. Diese kopernikanische Wende innerhalb der sich entwickelnden bürgerlichen Ethik steht auch Pate bei der Geburt des neuzeitlichen Kapitalismus, so daß sich, nach dem Urteil von Otfried Höffe, ohne diesen „ideologischen Umwertungsprozeß“ der „Sieg des Kapitalismus nicht erklären läßt“.8 So entsteht nämlich eine utilitaristisch verkürzte Sicht des Menschen, der nur noch als Nutzfaktor im Prozeß der Herstellung von Produkten und 180 Waren begriffen wird, der nicht mehr als Repräsentant einer verborgenen Idealität erscheint, sondern nur noch als Funktionsträger von Produktionsprozessen. Karl Marx sieht die Folge, verbleibt aber grundsätzlich auf dem Boden dieses Menschenbildes: Nach der Abschaffung der Ausbeutung verbleibt nur die Arbeit als Sinn und Funktion des vollkommen diesseitig begriffenen Menschen. Die bare Zahlung ist durch die Utopie gleicher (und scheinbar gerechter) Bedürfnisbefriedigung ersetzt, darunter an erster und privilegierter Stelle die Arbeit als Form technisch und materiell diktierter Selbstverwirklichung. (3) In der revolutionär geschaffenen Utopie einer klassenlosen Gesellschaft soll das klassische Gegensatzpaar Gemeinschaft und Freiheit einander neu zugeordnet werden. Karl Marx unterstreicht: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“9 Der alte Antagonismus scheint versöhnbar zu sein. Die Lösung erblickt Karl Marx in der Abschaffung des Privateigentums und der daraus folgenden Umwälzung der Produktionsweise. Aber es bleibt dann nur der hypostasierte Leviathan der „Assoziation“, des Staates oder der Gesellschaft, die allein entscheidet, welcher Freiheitsraum dem Individuum zugestanden werden kann. Da aber der Mensch grundlegend als Konkurrent seines Mitmenschen mißverstanden wird, bleibt nach dem Scheitern aufklärerisch-individualistischer Friedenskonzepte nur mehr die revolutionäre Befriedung vermittels „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse.“10 Der seines privaten Eigentums beraubte Mensch ist bloß noch der „homo privativus“, der seiner Individualität beraubte Mensch, der auf die Grundbedürfnisse reduzierte Mensch des bloßen „factum brutum“, ohne jeden Bezug zu einer höheren Idealität.11 Wiederum sieht Karl Marx die Folgen des Abschieds von der Idealität (schon im englischen Empirismus), ohne doch eine echte Idealität wiedergewinnen zu können. Es bleibt als Ausweg nur die revolutionäre Flucht zur säkularen Stiefschwester der Idealität, nämlich zur Utopie, und dies durchaus in Anlehnung an die Frühformen humanistischer Utopie seit der Renaissance.12 Das Spezifikum der Utopie des Karl Marx und des Kommunismus liegt gerade in einem dreifach aufgefächerten Verzicht auf jede Idealität: in der Annahme einer „etsi deus non daretur“ zu vervollkommnenden menschlichen Natur bloßer Bedürfnisbefriedigung, die ihren Maßstab nicht mehr findet in einer jenseitigen Idealität, sondern in der Realität der Geschichte; im Verzicht auf die Lenkung der Menschen vermittels der Ideale und statt dessen in der Konstruktion veränderter Strukturen; schließlich im Verzicht auf jede Form von Metaphysik und metaphysischer Werte wie Freiheit, Personalität, Staat. Die Idealität der Utopie im Christentum: Personalität Auch über 150 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest ist die alte Menschheitsfrage nach der richtigen Zuordnung von Paradies und Utopie nicht endgültig beantwortet. An ihrer Beantwortung wird sich der entscheidende Unterschied zwischen christlichem Menschenbild (und Staatsbild) einerseits und demokrati181 schem Sozialismus (als Epigone des klassischen Kommunismus) andererseits zeigen. Denn der Mensch erfährt sich notwendig als Mängelwesen und zugleich in diesem grundstürzenden Mangel als Wesen der unstillbaren Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprung und dem Wiedergewinn des geglückten Anfangs. Der philosophische Name für jenen utopischen, innerweltlich buchstäblich ortlosen Zustand des Paradieses ist Idealität. Der religionsgeschichtliche Name dafür ist Gott. Den christlichen Namen trägt eine Person: Jesus Christus als Offenbarung des Ideals unbedingter Liebe, als Offenbarung des Vaters. „Niemand hat Gott je gesehen, der einzige, der am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“, heißt es daher programmatisch im Prolog des Johannes-Evangeliums. Und ähnlich unterstreicht die Konstitution „Gaudium et spes“ des II. Vatikanischen Konzils: „Christus ist der vollkommene Mensch“ (Nr. 22) – vollkommen, weil aus dem Bewußtsein der vollkommenen Liebe des Vaters lebend. Die Idealität speichert – in der platonischen Tradition des Höhlengleichnisses – das Wissen um die gebrochene Konkupiszenz als Folge des verlorenen Ursprungs. Und sie weiß zugleich um den notwendigen Verzicht auf die Bedürfnisbefriedigung zugunsten der Verwirklichung von Idealen, zugunsten der Verwirklichung des höchsten Ideals personaler und ungeschuldeter Liebe. Dies höchste Gut soll in Freiheit der Person ergriffen werden, hergestellt werden kann es per definitionem nicht. Die Utopie hingegen leugnet die Konkupiszenz und sieht den Menschen rein diesseitig durch die Befriedigung rein materieller Bedürfnisse zur innerweltlichen Vollkommenheit aufsteigen. Damit wird deutlich, daß jeder Versuch, das Paradies zu verzeitlichen und damit die Ortlosigkeit der Vollendung in den Ort der immanenten Welt zu überführen, in der Unmenschlichkeit enden muß. Nicht die Idee des Kommunismus und des demokratischen Sozialismus ist falsch, falsch ist der Zeitpunkt, mithin die Reduzierung auf ein innerweltliches Ziel. Allein die Idealität hält die Spannung zwischen Zeit und Nicht-Zeit, zwischen Geschichte und Ewigkeit. Sie sieht den Menschen nicht in Zeit und Welt aufgehen, sondern versteht ihn in christlicher Sicht als Ebenbild Gottes, als Wesen des „in und über“. Es ist, in theologischer Sprache und in Anlehnung an Erich Przywara, die klassische Denkform der Analogie als „Beziehung gegenseitigen Andersseins“13, als Identität und Differenz zugleich von Idealität und Realität im Zeichen einer eschatologischen Utopie, die jede Form totalitärer Herrschaft von Menschen über Menschen vermeidet. Nichts anderes meint ja der großartige Gedanke des Thomas von Aquin, ein wesentlicher Grund für übergroße Härte oder Mitleidlosigkeit sei im Mangel an Hoffnung für das Selbst zu suchen. Der Auftrag der Kirche am Ende der Neuzeit scheint daher wesentlich in dieser Vermittlung von Zeit und Ewigkeit zu liegen: „Der erste und grundlegende Beitrag der Kirchen zur Gesellschaft heißt deshalb: an das Andere der Weltzeit glauben können.“14 Dieses Andere der Weltzeit leugnet jede Form von Sozialismus, der im Kern und vor jedem ökonomischen Irrtum immer ein Materialismus ist und den Menschen und seine Geschichte reduziert auf bloße Funktionen. Daher unterstreicht Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Spe salvi“: „Marx hat nicht nur versäumt, für die neue Welt, die nötigen Ordnungen zu erdenken – 182 derer sollte es ja nicht mehr bedürfen. Daß er darüber nichts sagt, ist von seinem Ansatz her logisch. Sein Irrtum liegt tiefer. Er hat vergessen, daß der Mensch immer ein Mensch bleibt. Er hat den Menschen vergessen, und er hat seine Freiheit vergessen. Er hat vergessen, daß die Freiheit immer auch Freiheit zum Bösen bleibt. Er glaubte, wenn die Ökonomie in Ordnung sei, sei von selbst alles in Ordnung. Sein eigentlicher Irrtum ist der Materialismus: Der Mensch ist eben nicht nur Produkt der ökonomischen Zustände, und man kann ihn allein von außen her, durch das Schaffen günstiger ökonomischer Bedingungen, nicht heilen.“ (Nr. 21) Das war letztlich und im Kern auch der tiefsitzende Irrtum der marxistisch grundierten Theologie der Befreiung. Es ist eine durchaus neuzeitliche Erkenntnis, zwischen der Genese von Wertvorstellungen und Idealen ohne Religion und der Geltung der Ideale nur auf der Grundlage von Religion zu unterscheiden und zugleich den gebieterischen Wahrheitsanspruch Gottes sich in pluralen und tolerierbaren Lebensentwürfen auffächern zu sehen. Erst so gelingt dann die stets gefährdete Spannungseinheit von Wahrheit der Person und Toleranz der Gemeinschaft. Oder anders: Gott will unbedingt das Gute – die Liebe – jedoch nur und immer auf dem Weg personaler Freiheit und persönlicher Bekehrung. Daher heißt es bei Augustinus, das Ziel der Geschichte sei „ut anima sanetur“15, daß die Seele geheilt werde – und nicht, daß die Strukturen geheilt werden, so nötig diese auch, etwa als ethische Rahmenregelungen einer Sozialen Marktwirtschaft, sein mögen. Die Seele und ihre Heilung aber beginnt mit jeder menschlichen Person und ihrer je neuen und individuellen unsterblichen Seele neu. Daher bleibt das Gute für die Zeit der Geschichte der Freiheit jedes Menschen neu anvertraut und geradezu ausgeliefert. Oder nochmals mit den Worten der Enzyklika „Spe salvi“: „Der rechte Zustand der menschlichen Dinge, das Gutsein der Welt, kann nie einfach durch Strukturen allein gewährleistet werden, wie gut sie auch sein mögen. Solche Strukturen sind nicht nur wichtig, sondern notwendig, aber sie können und dürfen die Freiheit des Menschen nicht außer Kraft setzen. (…) Die Freiheit muß immer neu für das Gute gewonnen werden.“ (Nr. 24) Auf diesem Hintergrund wird dann auch der Unterschied zwischen einer bloß diesseitig orientierten Ethik des Sozialismus und einer eschatologisch inspirierten christlichen Ethik deutlich. Zeit und Geschichte sind ausgerichtet auf die Vollendung der Welt durch den Messias; es ist eine Zeit, die mit der Schöpfung beginnt und mit der neuen Schöpfung des himmlischen Jerusalem auf ewig nicht enden wird. Von hier versteht sich der drängende Anspruch, die künftige und schon in Konturen erkennbare Welt müsse anders sein als die vergangene und die gegenwärtige. Aus dieser Geschichtstheologie erwächst die christliche Ethik eines uneingeschränkten Personalismus. Der französische Philosoph Philippe Némo faßt zusammen: „Aus der biblischen Ethik leitet sich die biblische Lehre von den letzten Dingen ab, die Eschatologie. Von nun an heißt es, die Welt denken wie die Geschichte, und es gilt zu erkennen, daß die spirituelle Substanz der Menschheit aus ihrer Geschichtlichkeit erwächst. Das menschliche Sein ist menschlich nur in seiner Geschichtlichkeit, und es kann nur heilig sein, wenn es in eine Zeit der Verwandlung eingebettet 183 ist. Mit einem Mal verschwindet so auch nahezu jeglicher magischer Gedanke: Das Heil läßt sich nicht durch die Flucht in irgendwelche Nebenwelten erlangen, sondern allein durch tätige Nächstenliebe, die sich innerhalb der realen Welt einen Weg bahnen muß.“16 Dies ist die Aufgabe der christlichen Ethik: den mühsamen Weg zu bahnen zwischen Weltflucht und Weltverfallenheit. Anmerkungen 1) Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: AkademieAusgabe 6, 161 f.; B 224. 2) Vgl. klassisch den Gedanken der Menschwerdung Gottes in Person und Geschichte bei Erich Przywara, Analogia entis, Einsiedeln 1962, 186. 3) Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1958, 6. 4) Karl Meschede, Art „Saint-Simonismus“, in: HWP VIII 1126. 5) Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt/M. 1996, 161. 6) Karl Marx, a.a.O., 9. 7) Otfried Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt/M. 1993, 164. 8) Ebd. 9) Karl Marx, a.a.O., 35. 10) Ebd. 32. 11) Vgl. erhellend Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt/M. 1963; Thieß Petersen, Anthropologie und Ökonomie. Das Menschenbild bei Marx und dessen Bedeutung für seine Kritik an der politischen Ökonomie, Frankfurt/M. 1997. 12) Vgl. dazu Beate Gabriele Lüsse, Formen der humanistischen Utopie. Vorstellungen vom idealen Staat im englischen und kontinentalen Schrifttum des Humanismus 15161669, Paderborn 1998. 13) Erich Przywara, a.a.O., 187. 14) Richard Schenk, Redimentes tempus. Der Beitrag der Kirchen zur europäischen Einigung, in: IKZ Communio 24 (1995) 543-557, hier 549. 15) Augustinus, De vera religione III 1. 16) Philippe Némo, Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation, Tübingen 2005, 41. Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg lehrt Moraltheologie und Christliche Sozialwissenschaften an der Theologischen Fakultät Fulda. 184 Christoph Goldt Die Europäische Union und der Gottesbezug Nach dem Vertrag von Lissabon* Vor dem Hintergrund der Vorgänge um den ehemaligen italienischen EUKommissionskandidaten Rocco Buttiglione befaßt sich der folgende Aufsatz mit den Konsequenzen eines fehlenden Gottesbezuges im nunmehr abzuändernden Vertrag über die Europäische Union (EU) auf Grund der Vereinbarungen im „Vertrag von Lissabon“, den die EU-Staats- und Regierungschefs am 13. Dezember 2007 unterzeichneten. Die Diskussion über den Verfassungsentwurf für die Europäische Union hat in den vergangenen Monaten und Jahren nicht nur an Intensität zugenommen, sondern hat mit der harschen Kritik am italienischen Kommissionskandidaten Rocco Buttiglione und seinen Äußerungen vor dem EUParlament inzwischen antikatholische Züge angenommen. Grundlage der nachfolgenden Überlegungen ist die These, daß die Verfassungsgeschichte im weiteren Sinne das Werden, die Tradierung und letztlich die Ausgestaltung der gesamten Verfaßtheit einer Gesellschaft bzw. eines Staatswesens untersucht, die sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich in einer schriftlich fixierten Verfassungsurkunde manifestierte und den Beginn des politischen Systems „konstitutionelle Monarchie“ bzw. „Verfassungsstaat“ einläutete. Eine Verfassungsurkunde, ein konkreter Text mit dem Titel „Verfassung“ ist somit die schriftliche Fixierung der allgemein gültigen RahmenOrdnung eines staatlichen Gemeinwesens, in dem sich die Gesamt-Verfassung, man kann auch sagen: die Werte-Befindlichkeit eines Staates widerspiegelt.1 Der im Allgemeinen positiv besetzte Begriff „Verfassungsstaat“ darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß dieser de facto nicht immer ein demokratischer Rechtsstaat sein muß, selbst wenn er das Wort „Demokratie“ im Namen führt – Beispiele aus der Geschichte und der Gegenwart gibt es mehr als genug. Unter der oben bezeichneten Definition des Begriffes „Verfassung“ dürften die „Zehn Gebote“ wohl die älteste, zumindest aber die am längsten gültige Verfassungsurkunde der Menschheit sein. So schreibt der an der Universität Augsburg lehrende Rechtswissenschaftler Christoph Becker: „In den von der Heiligen Schrift geprägten Kulturen wird sich schwerlich ein Regelwerk finden lassen, welches so tief im Bewußtsein eines jeden Mitgliedes wie auch der Gesellschaften insgesamt verwurzelt ist wie die Zehn Gebote, der Dekalog. Sie werden als ein eherner Grundbestand aller Zivilisation empfunden. Daran ändert nichts, daß die einzelnen Bestandteile des Dekalogs zeitlich, räumlich und individuell unterschiedlich gedeutet, ausgestaltet und geachtet werden. In ihrer Gesamtheit genossen und genießen die zehn Worte Moses’ eine unvergleichliche Akzeptanz über die Zeiten hinweg.“2 185 Zwar wurde die Verfassungsurkunde für die Europäische Union von den Staatsund Regierungschefs am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet, scheiterte jedoch bei den Ratifizierungen dieses Vertrages ausgerechnet in den Staaten, die zu den zentralen Integrationsmotoren der EU zähl(t)en: in Frankreich und in den Niederlanden. Das Ratifizierungsverfahren wurde in den damals 25 Mitgliedsstaaten der EU unterschiedlich vorgenommen. Entweder durch Volksabstimmungen oder durch eine Abstimmung im jeweiligen Parlament – je nach verfassungsrechtlicher Vorgabe oder Tradition. In Frankreich hätte es eigentlich keine Volksabstimmung geben müssen, jedoch hatte der damalige französische Staatspräsident Jaques Chirac darauf vertraut, daß die Franzosen sich in einer (überwältigenden) Mehrheit dafür aussprechen würden – hier irrte er jedoch. Das Bauernopfer seines Irrtums wurde sein Premierminister. Die Unterzeichnung der EU-Verfassung an sich ist unabhängig vom letztendlichen Scheitern im Ratifizierungsprozeß ein historischer Moment in der Geschichte Europas gewesen, ein – wenn auch nur vorübergehender – Etappensieg einer europäischen Vision, wie sie Persönlichkeiten wie Charles de Gaulles, Konrad Adenauer, Jean Monnet oder auch René Pleven immer wieder in Realpolitik umsetzen wollten – angesichts jener grauenvollen Erfahrungen mit zwei Weltkriegen, die die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ein Blutbad apokalyptischen Ausmaßes verwandelten. Es hat bekanntermaßen seit den Römischen Verträgen 1957 immer unterschiedliche Zielvorstellungen darüber gegeben, welche rechtliche Form ein vereintes Europa eines Tages haben sollte: die Vereinigten Staaten von Europa (Supranationalität/Bundesstaat) oder ein „Europa der Vaterländer“ (Intergouvernementalismus/Staatenbund) wie es de Gaulle vorschwebte. Dennoch stellt die bisherige Geschichte der Europäischen Union, die ihre organisatorischen Wurzeln in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) hat3, eine bisher einmalige Erfolgsgeschichte dar. Für jeden Europäer sind heute Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit eine Selbstverständlichkeit, zumindest werden diese Werte von den Verfassungen offiziell gewährt. Aber hat das Christentum noch genügend Kraft, gestalterisch am politischen und damit auch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Die Trennung von Staat und Kirche seit der Französischen Revolution und der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte und hat der Kirche Vorteile, aber auch unabweisbare Nachteile gebracht. Die Diskussion über den Gottesbezug in einer EU Verfassung hat gezeigt, daß es Staaten gibt, die sich in ihrer Wertetradition nur auf die vergangenen zwei Jahrhunderte beziehen, aber die davor liegenden 1.800 Jahre ausblenden. Aus dem einstmals katholischen Frankreich ist ein völlig säkularer, laizistischer Staat geworden. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – dieser Ruf der Revolution von 1789 gilt auch heutzutage als die Basis des modernen, humanen Staatswesens. Und da diese Werte 1789 als Antithese zum Ancién Regime gerufen worden waren, galten und gelten sie offensichtlich auch heute noch als Antithese zu den Werten des Christentums, insbesondere des Katholizismus – jener hierarchisch organisierten globalen Reli186 gionsgemeinschaft, die in den Augen mancher Zeitgenossen nach wie vor ein Repräsentant und Relikt der 1789 zusammengebrochenen Gesellschaftsordnung ist. Der Fall des EU-Kommissionskandidaten Buttiglione zeigt, daß in der EU diejenigen, die für sich mit dem Hinweis auf die Menschenrechte ihre persönliche Überzeugung und deren Ausleben öffentlichkeitswirksam einklagen, die persönliche Überzeugung eines Katholiken jedoch als gefährlich für die Freiheitsrechte in der EU ansehen, weil dieser ja möglicherweise entsprechend seiner katholischen Sozialisation und Überzeugung auch handeln könnte. Unwillkürlich tauchen am Horizont der Geschichte Begriffe wie „Kulturkampf“ oder „Ultramontanismus“ auf. Ist ein überzeugter Katholik in Brüssel oder Straßbourg etwa das ferngesteuerte Instrument des Papstes? Können Katholiken in den Führungsetagen der EU nur noch als „Krypto-Katholiken“ am Aufbau Europas mitwirken? Inzwischen steht in diesem Zusammenhang eine andere Frage im Mittelpunkt: die Frage nach dem Verhältnis von Relativismus und Vernunft. Dies gilt sowohl für die europäische als auch als auch für die globale Ebene. Dabei ist an einen bedeutenden Briefwechsel zwischen Kardinal Joseph Ratzinger (seit 2005 Papst Benedikt XVI.) und dem Präsidenten des italienischen Senats Marcello Pera zu erinnern4 oder – bezüglich der globalen Ebene – an die wissenschaftliche Vorlesung, die Papst Benedikt XVI. zum Thema Vernunft und Gewalt anläßlich seines Pastoralbesuches in Bayern 2006 in der Universität Regensburg gehalten hat.5 Es geht mithin um die Frage: Was ist vernünftig bei der europäischen Einigung? Die Ablehnung Buttigliones war wohl nicht nach der Intention des ehemaligen christdemokratischen Bundeskanzlers und Europavisionärs Helmut Kohl, der in seinen Erinnerungen schreibt: „Es entsprach unserem demokratischen Selbstverständnis, weitere Hoheitsrechte der nationalen Parlamente und Regierungen in dem Maße zu übertragen, in dem zugleich eine klare parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene gewährleistet war. Wir brauchten ein starkes Europäisches Parlament, dessen Befugnisse mehr und mehr denen unserer nationalen Parlamente angenähert wurden. So sollte zum Beispiel das Parlament zukünftig bei der Wahl des Präsidenten und der Mitglieder der Kommission beteiligt werden. Vor allem aber mußten wir den Weg zu einer echten Mitentscheidung des Parlamentes bei der Gesetzgebung ebnen.“6 Im Kontext einer zunehmenden Parlamentarisierung und Demokratisierung der Europäischen Union geht das Nein zu Rocco Buttiglione als EU-Kommissar durch das Europäische Parlament demokratietheoretisch zwar in Ordnung, ist jedoch ein bedenkliches Signal bezüglich einer toleranten Haltung gegenüber Christen im Allgemeinen und Katholiken im Besonderen, oder gar gegenüber einer christlichen Wertorientierung dieser Union. Weder Kohl noch andere christliche Politiker sahen und sehen sich als schlichte weltliche Vollstrecker irgendeiner Kirche.7 Vor dem Hintergrund der grausamen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges hatten Konrad Adenauer, Paul Henri Spaak oder Charles de Gaulle8 und andere Europabefürworter aus christlicher Verantwortung jene europäischen Einrichtungen aufgebaut und politisch gefördert, die nun gegen Personen wie 187 Buttiglione ihr Votum abgaben, die sich auf eben jenes christliche Menschenund Weltbild der Gründerväter beriefen. Es stellt sich also die Frage, ob ein vereintes Europa, das auf einer nichtchristlich-laizistischen Wertebasis beruht, überhaupt zukunftsfähig ist.9 Damit ist nicht nur die Zukunftsfähigkeit des organisatorischen Integrationsprozesses oder Zusammenhalts gemeint, sondern die politischen Herausforderungen, die auf einer gemeinsamen Wertebasis einer Lösung zugeführt werden müssen. Welche Antworten wird dieses Europa also finden auf den Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt oder am Ende des Lebens? Bleibt der Mensch in seiner Würde und individuellen Einmaligkeit und Freiheit unantastbar? Selbst wenn auf Grund des Vertrages von Lissabon die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ aus dem Jahr 2000 in Artikel 6 des EU-Vertrages verankert werden soll, darf Zeus – hier als Symbol einer vor- und nichtchristlichen Weltanschauung und Wertorientierung – Europa nicht entführen. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt schreibt in seinem neuesten Werk: „Jede Menschheitsmission ebenso wie jede Kulturexpansion haben das Problem zu bewältigen, wie weit sie andere in ihrer jeweiligen Eigenheit behandeln, was sie im einzelnen respektieren oder aber eliminieren. ... Im Grunde stellen sich hier Fragen, welche noch die heutige Ausbreitung der Menschenrechte betreffen: Sind diese Rechte, zumal deren Individualismus, mit allen Kulturen kompatibel? ... Tatsächlich zerstören die Menschenrechte nicht wenig in jenen Zonen und Populationen, in denen sie nicht originär heimisch sind. Aber welche Basis hätten wir sonst, die unterschiedlichen Zivilisationen und Religionen zu einem friedlichen Zusammenleben zu bringen? Dank des Christentums hat im Mittelalter Europa insoweit eine Einheit erhalten, daß es über eine gemeinsame religiöse und auch kulturelle Basis verfügt.“10 Diese gemeinsame Klammer ist die „christianitas“ – bekanntermaßen ein Synonym für die mittelalterliche NationenGesellschaft –, die nicht die kulturellen Unterschiede in den verschiedenen europäischen Völkern überdeckte, sondern gleichsam die Nationen durch einen Werteunterbau zusammenführte. Eines ist klar und sachlich nicht von der Hand zu weisen: Es gibt eine gemeinsame kulturelle Basis in Europa, die durch das gemeinsame religiöse – also christliche – Erbe im Mittelalter grundgelegt und geprägt ist. Selbst die Trennung zwischen West- und Ostkirche 1054 oder die Reformation im 16. Jahrhundert haben dieses Erbe nicht zerstört. Immerhin, der Entwurf einer EU-Verfassung steht beziehungsweise stand. Und nach Ansicht des Heiligen Stuhles und namhafter kirchlicher Vertreter war dieser gar nicht so schlecht, auch wenn ein ausdrücklicher Gottesbezug fehlte. Ist der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, der nach einem Ratifizierungsverfahren in den EU-Mitgliedsstaaten am 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, jedoch eine Alternative zu einer EU-Verfassung? Spitzfindige Juristen mögen behaupten, daß die bisherigen Verträge in ihrer Gesamtheit eine Verfassung darstellten und man somit einen eigentlichen Verfassungstext nicht brauche. Weder politisch noch psychologisch jedoch dient eine solche Auffassung der Idee eines vereinten Europa, sie ist vielmehr kontraproduktiv. Ein vereintes Europa besteht eben nicht nur aus einem komplexen Vertragswerk, das inzwischen 188 ausschließlich Spezialisten durchdringen und verstehen können, sondern vor allem aus einer gemeinsamen Identität heraus, aus einer Identifizierung der Bürger mit ihrer EU. Und diese wird am besten erreicht mit einem Verfassungstext, den jeder EU-Bürger getrost nach Hause tragen kann. Es fehlt zur Europafahne das schriftliche Pendant: der Verfassungstext. Dabei sei noch einmal darauf hingewiesen, daß der Begriff „Verfassung“ durchaus durch einen anderen ersetzt werden kann, wie das Beispiel Deutschland zeigt. Europa – Geschichte und Vision Die Explosion der Französischen Revolution von 1789 hat bis heute ihre Auswirkungen, der Pulverdampf des Sturmes auf die Bastille dringt bis in die aktuelle Politik unserer Tage. Das Ancien Régime wurde mit dem Schlachtruf der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beiseite gefegt – aber um welchen Preis? Bei den Jubelfeiern zum 200. Jahrestag der Revolution hat – zumindest von offizieller Seite – niemand an die große Zahl jener gedacht, die im Gefolge der Revolution niedergemetzelt wurden. Ein weiterer Preis war schließlich auch die Säkularisation (1803-1806), die zwar in gewisser Weise die in unseren Tagen immer wieder so positiv hervorgehobene Trennung von Kirche und Staat brachte, die aber letztlich der Beginn eines sich immer mehr als privat angesehenen Christentums wurde. Welche Werte bzw. Wertvorstellungen herrschten im Europa der beginnenden Neuzeit und welche herrschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es war der 18. Oktober 1685, als der französische König Ludwig XIV. (16381715) mit dem Edikt von Fontainebleau11 das Toleranz-Edikt von Nantes12, das sein Vorgänger Heinrich IV. (1553-1610) am 13. April 1598 erlassen hatte, aufhob. Damit waren den Hugenotten, den französischen Protestanten, die politischen und religiösen Rechte im katholischen Frankreich wieder aberkannt worden. Später, 1787 bzw. 1789, erhielten sie zwar ihre Rechte zurück, jedoch führte insbesondere die Aufhebung des Ediktes von Nantes zu einer Wanderungsbewegung in das protestantische Brandenburg. Seinerzeit hatte Friedrich Wilhelm (1620-1688), der Große Kurfürst, mit dem Edikt von Potsdam auf das Edikt von Fontainebleau geantwortet, und den Hugenotten Zuflucht geboten. Sein Urenkel, König Friedrich II. von Preußen (1712-1786), genannt Friedrich der Große, setzte diese Politik der Toleranz fort. Kurz nach seinem Regierungsantritt 1740 setzt er sich gegen die Vormacht einer Konfession zur Wehr, woher eines seiner berühmtesten Zitate stammt: „Die Religionen müssen alle toleriert werden, und muß der Fiskal nur das Auge darauf haben, daß keine der anderen Abbruch tue, denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selig werden.“13 Noch weiter führte Friedrich der Große seine Auffassung, als er im selben Jahr in einem anderen Kontext sagte: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie professieren, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen. Ein jeder kann bei mir glauben was er will, wenn er nur ehrlich ist.“14 Insbesondere jener letzte Satz hat heute höchste politische Brisanz für die EU. Vordergründig könnte dies so verstanden werden, daß jede nichtchristliche Reli189 gion in Deutschland oder einem anderen Staat der Europäischen Union ausgeübt werden könne, insofern sich die Anhänger dieser Religion in diesen Staaten als ehrlich und integrationswillig erweisen und – vor allem – die westlichaufklärerischen Werte zumindest für das öffentliche Leben anerkennen. Aber wie der Fall des EU-Kommissionskandidaten Rocco Buttiglione gezeigt hat, scheint es inzwischen genau andersherum zu sein. Wer sich um ein öffentliches Amt bewirbt, kann nicht mehr glauben, was er will – selbst wenn er ehrlich ist und wie Buttiglione die auf seinem religiösen Denken beruhende Privatansicht geäußert hat. Das tolerante Denken der Aufklärung ist – wie am Beispiel Buttiglione zu sehen ist – offensichtlich derzeit nicht en vogue in der EU. Sind wir Europäer des 21. Jahrhunderts damit etwa kulturell rückständiger und intoleranter als jene des 18. Jahrhunderts? Wer wollte sich einen solchen Vorwurf gefallen lassen? „Aufklärung“ ist das Wort jener Zeit.15 Aufgeklärte Herrscher, Philosophen wie der Königsberger Immanuel Kant16 prägten das Gedankengut. Die Auswirkungen der Aufklärung waren und sind immens, gleichsam ein Sprung des Denkens, eine neue Achsenzeit: Ausgehend von dieser und der Französischen Revolution waren es die Entwicklung von politischen Auffassungen, die sich zu politischen Bewegungen, dann zu politischen Parteien entwickelten, die Forderungen nach konstitutionellen Monarchien, Parlamentarismus und schließlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Revolutionen und Verfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts. Das Zeitalter der auf dem Gottesgnadentum beruhenden Monarchien neigte sich dem Ende zu, die Untertanen in den Staaten begannen, politische Rechte einzufordern. Vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Erfahrungen der europäischen Völker und der Prägung der europäischen Geschichte durch das Christentum (des römischen bzw. lateinischen im westlichen, des byzantinischen bzw. orthodoxen im östlichen Europa) sind die Fragen eindringlich: Welche Werte aus der Geschichte prägen noch heute unsere Gesellschaften und politischen Systeme? Und welche Werte gilt es auf Grund der geschichtlichen Erfahrungen ins 21. Jahrhundert und möglicherweise darüber hinaus zu tradieren? Die durch die Französische Revolution zum Durchbruch gelangten Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben es letztlich nicht verhindern können, daß das 20. Jahrhundert zum blutigsten der (insbesondere europäischen) Geschichte wurde. Die These des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, das dann eingetreten sei, wenn – zugespitzt formuliert – die Demokratie ihren Siegeszug weltweit vollendet habe, ist allein schon vor diesem Hintergrund irrig. Eine neueste Studie der Organisation „Freedom House“ belegt zudem, daß offensichtlich zahlreiche freie Staaten ihren Weg zurück in Autokratien angetreten haben.17 Gottesbezug versus „Invocatio Dei“ „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben ...“ – so lautete der erste Erwägungsgrund der geplanten EU-Verfassung. Diese Formulierung wurde nun vom Vertrag von Lissabon auf190 genommen und wird damit in die Präambel des EU-Vertrages einbezogen.18 Die Forderung nach der expliziten Nennung des Namens Gottes war weder 2004 noch in den Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon durchsetzbar. Immer wieder wurde die Parallele zum Grundgesetz gezogen, in dessen Präambel sich die Formulierung „In seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“ findet. Heutige Staatsrechtler sehen darin den Sinn einer Relativierung staatlichen Handelns und staatlicher Befugnisse: „Vielmehr waren viele Mitglieder des Parlamentarischen Rates davon überzeugt, daß es überstaatliche Normen gebe – wie man sie auch begründen mag –, über die auch eine verfassungsgebende Versammlung nicht hinwegschreiten könne. ... Sicher lag es im Sinne eines Vertreters einer liberalen Staatsauffassung, daß die Formulierung allen großen Weltanschauungsgruppen gerecht werden sollte. ... Da die Bundesrepublik Deutschland Heimstätte aller Deutschen sein will, ohne Rücksicht darauf, zu welcher Weltanschauung sie sich bekennen, muß die Auslegung allen Auffassungen gerecht werden können, die unter Deutschen über Gott besteht.“19 Hans D. Jarass und Bodo Pieroth betonen, daß sich aus der GrundgesetzFormulierung „keine anti-atheistische oder gar prochristliche Auslegungsmaxime für das GG“ (ergebe). Deutlich wird aber eine Zurückweisung der Verabsolutierung der Staatsgewalt.“20 Christian Starck formuliert: „Mit der Formel als Motivation ist weder eine Verpflichtung auf das Christentum oder auf einen persönlichen Gott zum Ausdruck gebracht noch die Bundesrepublik als christlicher Staat charakterisiert. Solch ein Verständnis verbietet sich schon im Hinblick auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 Rdnr. 13).“21 Zunächst einmal ist fraglich, ob der immer wieder als „invocatio Dei“ bezeichnete Gottesbezug im Grundgesetz tatsächlich eine „Anrufung Gottes“ darstellt. Nach historischen Kriterien jedenfalls nicht. In mittelalterlichen Urkunden lautete eine solche Anrufung zum Beispiel „In nomine sanctissimae et individuae trinitate“ – „Im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Dreifaltigkeit“. Allein der Wortlaut unterscheidet sich fundamental von jener Formulierung des Grundgesetzes. Eine „invocatio Dei“ läßt erkennen, daß der am Rechtsgeschäft Beteiligte nicht nur die Existenz des christlichen Gottes anerkennt, sondern diesen auch als Zeugen für das folgende Rechtsgeschäft anruft. Dabei besaß diese in mittelalterlichen und neuzeitlichen Urkunden jedoch keine juristisch einklagbare Rechtskraft, sondern stellte nur eine feierliche Umrahmung des folgenden Rechtsgeschäftes dar. Auch wenn die invocatio keine juristischen Folgen hatte, so jedoch religiöse: Wer Gott zum Zeugen eines Rechtsgeschäftes anruft und sich nicht an das Rechtsgeschäft hält, macht sich vor ihm schuldig, weil er Gott zum Zeugen der Lüge macht, wofür er sich eines Tages vor Gott verantworten muß. Insofern hatte diese invocatio schon eine (religiöse) Verbindlichkeit. Vergleichbar in den theologischen Konsequenzen ist diese Verantwortbarkeit mit dem Meineid. Vor diesem historischen Hintergrund ist der Gottesbezug des Grundgesetzes sicherlich nicht als „invocatio Dei“ zu bezeichnen.22 Der Politikwissenschaftlerin Tine Stein, die sich in ihrer Habilitationsschrift mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat, ist daher zuzustimmen, wenn sie zwischen einer „invocatio Dei“ und einer „nominatio Dei“ unterscheidet.23 Der Gottesbe191 zug im Grundgesetz ist nicht grundlos und ohne Bedeutungsinhalt dort eingefügt worden, sondern vor dem Erfahrungshintergrund der Jahre 1933 bis 1945 in Deutschland. Auch bei den Verhandlungen über eine EU-Verfassung bzw. über den Vertrag von Lissabon wurde dies wohl so gesehen, denn sonst hätte es von verschiedenen Seiten nicht einen derartigen Widerstand gegen die Nennung des Namens Gottes gegeben. Eine – wie auch immer geartete – Konsequenz aus dem Gottesbezug wurde also von manchen Beteiligten befürchtet. Die Aussagen der oben zitierten Staatsrechtler gehen allein vom zeithistorischen Kontext des Jahres 1948 aus in die Irre. Keines der damaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates verstand unter dem Begriff „Gott“ etwas anderes als den christlichen Gott. Die Erfahrungen jener Generation mit dem Nationalsozialismus, dessen Ideologie in diametralen Gegensatz zum christlich-jüdischen Weltbild stand, waren es zunächst, die dafür sorgten, daß für das (damals als Provisorium gedachte) Grundgesetz sozusagen eine „Relativitätsklausel“ eingefügt wurde, die eine Verabsolutierung und Vergöttlichung des Staates und seiner Gesetze wie im Nationalsozialismus künftig verhindern sollte. Insofern ist den oben genannten Kommentatoren des Grundgesetzes zu folgen. Abzulehnen ist jedoch die Auffassung von Jarass und Pieroth, die eine prochristliche Auslegung des Grundgesetzes auf Grund des Gottesbezuges ablehnen. Allein die mehr oder weniger in zeitlicher Nähe entstandenen Verfassungen der Bundesländer zeigen, wie irrig diese Auffassungen sind. Auch in anderen Verfassungen kommen eindeutig christlich-personale Gottesvorstellungen zur Sprache24: In der Präambel der Verfassung von RheinlandPfalz heißt es: „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft.“ Die Verfassung des Saarlandes von 1947 spricht in Artikel 30 davon, daß die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe und der Völkerverständigung“ zu erziehen sei. Die Verfassung von Baden-Württemberg spricht 1953 im Artikel 1 vom „christlichen Sittengesetz“ und im Artikel 12 von der „christlichen Nächstenliebe“. Wer behauptet, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates seien ihrer Zeit um 50 Jahre gegenüber ihren Zeitgenossen voraus gewesen und hätten – in der Vorausahnung einer multireligiösen und multikulturellen deutschen Gesellschaft im Kontext der Globalisierung des 21. Jahrhunderts – ein anderes als ein christliches Gottesbild gehabt, interpretiert ihren Willen bewußt anachronistisch und verfälschend. Es gibt aber auch „versteckte“ Gottesbezüge in deutschen Landesverfassungen. In der Präambel der Verfassung des Freistaates Sachsen wird gleichsam mit einem Modewort von der „Bewahrung der Schöpfung“ gesprochen. Wenn es jedoch eine Schöpfung, lat. creatura, gibt, so muß es logischerweise auch einen konkreten Schöpfer, lat. creator, geben. Völlig irrig ist auch die Auffassung von Christian Starck, der eine Unvereinbarkeit von christlichem Staat und der Religionsfreiheit postuliert. Dabei übersieht er zunächst, daß es sich bei der Bundesrepublik Deutschland nicht um einen theokratischen Staat handelt, sondern um einen Staat, dessen Wertefundament im Artikel 1 ein christliches ist und daher durchaus eine christliche Prägung erhalten hat. Im Gegensatz dazu stünde ein Staatskirchentum, das es aber in Deutschland 192 nicht gibt. Aber selbst in Staaten mit Staatskirchensystem – wie z. B. Großbritannien, Irland oder Schweden – herrscht Religionsfreiheit. Die individuelle und kollektive Religionsfreiheit ist also durchaus mit einer christlichen Prägung des Staates vereinbar. Die heutigen Staatsrechtskommentare interpretieren den Begriff „Gott“ jedoch vom derzeitigen gesellschaftspolitischen Kontext und Erfahrungshorizont der Multikulturalität und Multireligiosität her, füllen ihn mit einem anderen Inhalt wie die Verfasser des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat und folgen einem indifferenten laizistischen Zeitgeist. Die Worte „Multikulturalität“ und „Multireligiosität“ waren 1948 genauso wenig im Gedankengut der bundesdeutschen Gesellschaft verankert wie der Begriff „Globalisierung“. „Gott“ ist für die Mehrheit der Staatsrechtslehrer heute kein personaler Gott, sondern offensichtlich ein Synonym für eine – wie auch immer zu denkende – übergesetzliche Entität, quasi ein transzendentes Numinosum. Nur der Kommentar von Maunz/Dürig/Herzog verwendet den Begriff „Gott“ als etwas allen Deutschen Bekanntes.25 Nach ihnen „muß die Auslegung (des Wortes „Gott“, der Verf.) allen Auffassungen gerecht werden können, die unter Deutschen über Gott besteht.“ Diese Aussage setzt jedoch voraus, daß die Kommentatoren der Auffassung sind, daß es Gott überhaupt gibt. Dann ist damit aber ein personaler Gott gemeint; sonst müßte die Präambel des Grundgesetzes verallgemeinernd zum Beispiel lauten: „In Verantwortung vor dem Naturrecht und den Menschen ...“ Noch eins kommt hinzu: Der Gottesbezug im Grundgesetz wird wohl auch deshalb kaum als „invocatio Dei“ anzusehen sein, weil auf gleicher Ebene die Verantwortlichkeit vor den Menschen genannt wird. Dies ist natürlich berechtigt und hebt die Würde des Menschen hervor – relativiert jedoch wiederum die Einzigartigkeit Gottes als Zeugen für das vom Volk sich selbst gegebene Grundgesetz. Fazit: Die Nennung des Begriffes „Gott“ ist also ein Bezug auf Gott – jedoch keine Anrufung Gottes, wie sie aus der mediävistischen oder neuzeitlichen Urkundenlehre ersichtlich wäre. Dies vor allem auch deshalb, weil in der säkularen Rechtswissenschaft „Gott“ eben nicht mehr als der christlich personale und dreifaltige Gott definiert wird, sondern als ein über dem menschlichen Gesetz stehendes Etwas – etwas Transzendentes ohne nähere Definition. Der Vertrag von Lissabon spricht also nur vom „kulturellen, religiösen und humanistischem Erbe“. Es gibt weder eine „invocatio Dei“ noch einen Gottesbezug, so daß dieser Vertrag auf der Ebene der menschlichen Ordnung verbleibt und jeder Hinweis auf eine höhere Instanz somit unterbleibt. Damit sind auch ethische Werte, wie der Schutz des menschlichen Lebens, potentiell von simplen Mehrheitsentscheidungen abhängig: Die Politik ist also nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Ein Prinzip, daß es in der Rechtswissenschaft logischerweise nicht gibt: Richter und Angeklagter in einer Person sein. Die Europäische Union nach Lissabon 2007 Papst Benedikt XVI. hat sich in seiner Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Corps erneut positiv zum Prozeß der europäischen Einigung geäußert, den die katholische Kirche unterstütze. Er verfolge den Pro193 zeß nach dem Vertrag von Lissabon aufmerksam, so Benedikt XVI. an die Diplomaten.26 Der Papst sagte: „In dieser Zeit wird der Prozeß zum Aufbau des ‚Hauses Europa‘ wieder belebt, das ‚nur dann ein für alle gut bewohnbarer Ort (wird), wenn es auf einem soliden kulturellen und moralischen Fundament von gemeinsamen Werten aufbaut, die wir aus unserer Geschichte und unseren Traditionen gewinnen‘ und wenn es seine christlichen Wurzeln nicht verleugnet.“27 Damit wird noch einmal deutlich, daß Benedikt überzeugt ist, daß zu Europa ein christliches Proprium gehört, das weit über die sonstigen menschlichen Leistungen herausragt. Der Philosoph Vittorio Hösle hebt die Bedeutung des Katholizismus für das politische Gemeinwesen hervor, selbst wenn er Europa als „postchristlich“ definiert und behauptet, das Christentum könne nicht mehr die gemeinsame Grundlage sein.28 Er schreibt: „Dank seiner Präsenz in sehr unterschiedlichen Kulturen, der Verbindung einer subtilen Kultur der Emotionen mit einem Rationalismus vormoderner Prägung, der ambivalenten Einstellung zur Moderne, schließlich der straffen Hierarchie, die zu universalistischen Idealen nicht notwendig im Widerspruch steht, hat der Katholizismus Möglichkeiten der Wirkung, von denen zu wünschen ist, daß er sie nützt. Aufgrund seiner hierarchischen Struktur hängt das u. a. von dem Inhaber des Papstamtes ab, der über die Fähigkeit zur kritischen Distanznahme von den bloß relativen Normen des eigenen Glaubens ebenso verfügen sollte wie über eine instinktive Sicherheit und Unbeirrbarkeit in demjenigen, was auf mehr Weisheit Anspruch erheben kann als alle möglichen Moden der Spätmoderne.“29 Diese Erwartung dürfte Benedikt XVI. mehr als erfüllen, der sich vielfach über die Beziehung zwischen Vernunft und Religion sowie gegen einen europäischen Relativismus geäußert hat. Nichts gegen ein „religiöses Erbe“ – aber wer definiert, was damit gemeint und welcher Auftrag für die Europäer damit verbunden ist? Wenn Hösle Europa als „postchristlich“ beschreibt, mag er – auf Grund jahrzehntelanger Christenverfolgung im östlichen Teil des Kontinentes und des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Exodus aus den Kirchen in Westeuropa – rein quantitativ Recht haben, jedoch: Eine kulturelle und damit auch gesellschaftliche Prägung durch das Christentum über 2.000 Jahre hinweg – man denke an die Gebote: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht stehlen“, die ja Eingang in die säkularen Rechtskodifikationen gefunden haben – ist nicht einfach vom Tisch der Geschichte zu wischen, auch wenn die religiöse Praxis sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Zudem ist eindeutig eine Rückbesinnung auf das Religiöse zu erkennen, das Bedürfnis der Menschen nach dem, was allgemein als „Transzendenz“ oder von den Anhängern monotheistischer Religionen als „Gott“ bezeichnet wird.30 Dennoch sollte der Befund von Vittorio Hösle, daß Europa „postchristlich“ sei, nicht einfach beiseite geschoben werden. Der Historiker Heinz Hürten konstatierte zur Frage, wie christlich Europa (noch) sei, daß es auf die Europäer selber ankomme, ob und in welchem Umfang ihr gemeinsames christliches Erbe bewahrt und letztlich tradiert wird.31 Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone hat die Auffassung des Heiligen Stuhles zum Thema „Religionsfreiheit“ dargelegt.32 Bezüglich Europa sagte er: „Wo die 194 Religionsfreiheit in Blüte steht, dort keimen auch alle anderen Rechte auf und entfalten sich; wenn sie in Gefahr ist, dann geraten auch diese ins Wanken. Gerade deshalb sollte sie ein Meilenstein des neuen Europa schlechthin sein. ... Von seinen Anfängen an hat das Christentum das Beste der griechischen und römischen Weisheit angenommen, ausgearbeitet und vertieft und hat sich so als Sieg des menschlichen Denkens über die Welt der Mythologien und der religiösen Fanatismen offenbart. In gewisser Weise ist die Vernünftigkeit daher im Christentum Religion geworden: Gott hat die philosophische Erkenntnis nicht zurückgewiesen, sondern angenommen.“33 An dieser Stelle schließt sich wieder der Kreis zwischen Friedrich dem Großen und dem Fall Rocco Buttiglione: Toleranz zeigt sich in der Religionsfreiheit, Intoleranz in der Verweigerung derselben für Gruppen oder Einzelpersonen. Immerhin wird der Status der Kirchen und der Religionen in der EU nach dem Vertrag von Lissabon auch künftig so anerkannt, wie es im Verfassungsentwurf in den Artikeln I-52, II-70, II-81 und II-82 vorgesehen war34. Das Ratifizierungsverfahren wird zeigen, ob es in einzelnen Ländern über diverse Punkte noch Diskussionsbedarf gibt. Allerdings dürfte es dieses Mal keine Abstimmungsblamage geben. Die Verhandlungen um die EU-Verfassung und letztlich um den Vertrag von Lissabon haben deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Auffassungen der Mitgliedsstaaten über das Ziel des Integrationsprozesses sind. Der Vertrag von Lissabon wird von der Deutschen Bischofskonferenz differenziert bewertet.35 Die Unterzeichnung des Vertrages an sich ist nach Ansicht der Bischöfe positiv, weil der Vertrag „die Europäische Union aus ihrer konstitutionellen Krise führt“. Andererseits bedauern die deutschen Bischöfe den fehlenden Gottesbezug und des Bezuges auf das christlich-jüdische Erbe, was für die Kirche „unbefriedigend“ bleibe. Gleichzeitig kündigen sie an, daß sie „weiterhin nachdrücklich für einen Gottesbezug und einen Hinweis auf die biblischchristlichen Wurzeln Europas in der Vertragsgrundlage der EU eintreten“ werden. Ideen über das Integrationsziel, über die Finalität des Integrationsprozesses, gibt es genügend. In den letzten Jahren ist noch das Konzept des „kosmopolitischen Europa“ hinzugetreten, das Ulrich Beck und Edgar Grande gemeinsam verfechten.36 Dieses Konzept hat auf den ersten Blick viel für sich, zumindest vertreten auch sie die Auffassung, daß die Europäische Union eine Verfassung braucht. Allerdings, so Beck und Grande, verfolge das Konzept des kosmopolitischen Europa einen anderen Ansatz: „Aus der Perspektive eines europäischen Kosmopolitismus (brauche Europa, d. Verf.) vor allem aus zwei Gründen (eine Verfassung, d. Verf.): erstens, um das normative Fundament für die Konstituierung einer europäischen Zivilgesellschaft zu legen; und zweitens, um das kosmopolitische Regime in der europäischen Politik zu institutionalisieren.“37 Der Kosmopolitismus beruhe auf zwei Säulen, nämlich der Anerkenntnis des Andersseins bzw. Differenz sowie einem Mindestbestand an substantiellen und prozeduralen Normen. Allerdings lehnen sie – was die zweite von ihnen benannte Säule angeht – die Vorstellung ab, daß dieses normative Fundament sich auf einen gemeinsamen Ursprung „auf die Gemeinsamkeit einer ‚abendländischen Kultur’ 195 zurückführen läßt.“38 Für sie steht also die „Anerkenntnis der Differenz“ der verschiedenen europäischen Nationen im Widerspruch zum Begriff der „abendländischen Kultur“. Auch sie übersehen damit die gemeinsamen historischen Wegmarken der kulturellen Entwicklung Europas vor dem 19. Jahrhundert. Diese haben, bei aller Unterschiedlichkeit der europäischen Nationen, jedoch eine gemeinsame Basis in jenen Wertvorstellungen, die in der „christianitas“ ihre Wurzeln hatte. Das berechtigte Anliegen von Beck und Grande ist es, eine neue Vision für Europa zu entwickeln, um vor dem Hintergrund der heterogenen Interessen der EU-Mitgliedsstaaten den notwendigen Reformprozeß wieder in Gang zu bringen. Der Vertrag von Lissabon erfüllt hingegen keines der von ihnen genannten potentiellen Szenarien (Zerfallsszenario, Stagnationsszenario, Kosmopolitisierungsszenario), sondern geht den Weg der vertiefenden Integration fort. Die europäische Identität in Ost und West besteht eben in der Vielfalt der durch das Christentum in einem historischen Prozeß geprägten Kulturen und des Menschenbildes. Fazit In allen Politikbereichen, insbesondere jedoch bei ethischen Fragen, wird die bloße Erinnerung an ein „religiöses Erbe“ nicht genügen, um eine zukunftsweisende Politik im Geiste des christlichen Erbes, der damit verbundenen unantastbaren Menschenwürde, sowie einer die Schöpfung erhaltenden nachhaltigen Politik zu betreiben. Was unter dem „religiösen Erbe“ zu verstehen ist, zu dem sich die EU nunmehr bekennen wird, wird nicht konkretisiert und läßt jeder Phantasie freien Lauf, ist letztlich ein Zeugnis der Unverbindlichkeit. Die Verfechter eines aufzunehmenden Gottesbezuges in den „Vertrag von Lissabon“ bzw. in das EU-Vertragswerk fordern einen Hinweis darauf, daß es eine Letztinstanz gibt, die den normgebenden Kompetenzen der Menschen übergeordnet ist und die der Ursprung jener Werte ist, die die Menschenwürde überhaupt begründen. Mit einer solchen „nominatio Dei“ ist keine Einschränkung der menschlichen Freiheit bei der Gestaltung des sozialen und politischen (internationalen) Miteinanders verknüpft, sondern nur die Erinnerung an ein ethisch verantwortbares und an den christlichen Eckpunkten wie den Zehn Geboten ausgerichtetes (politisches) Verhalten, insbesondere was das Gebot „Du sollst nicht töten“ angeht. „Entscheidend ist die Frage“, so Ferdinand Graf Kinsky, „ob der Mensch sich selbst zum Maß aller Dinge macht oder im Auge behält, daß er für sein Handeln einer höheren Instanz Rechenschaft schuldig ist. Wer weiß, daß nicht er, sondern Gott Gott ist, schützt sich und seine Mitmenschen vor aberwitzigen Machbarkeitsillusionen oder totalitären Allmachtsphantasien. Die Wahnidee vom ‚neuen Menschen‘, die allen großen Ideologien seit der Französischen Revolution immanent war, gewinnt im Zeitalter nie gekannter gen- und waffentechnischer Möglichkeiten eine zusätzliche bedrohliche Dimension.“39 Die Nichtaufnahme des Gottesbezuges in den EU-Vertrag nach dem Vertrag von Lissabon 2007, der ja einen konkreten Verfassungstext ersetzen – oder besser: 196 vermeiden sollte, spiegelt damit das Bild der Verfaßtheit dieser Gemeinschaft wider. Selbst wenn der rechtliche Status der Kirchen im Vertragswerk verankert ist, fehlt der EU bislang der ausdrückliche Toleranz- und Akzeptanzgedanke gegenüber der eigenen (christlichen) Geschichte Europas. Es wird also darum gehen, Europa und den Europagedanken nicht vor einen laizistischen Karren spannen zu lassen. Darum darf Zeus Europa nicht noch einmal entführen. Anmerkungen Ich widme diesen Beitrag meiner Frau Dr. Verena Goldt M.A. und besonders meinen Töchtern Gerlinde, Charlotte und Constanze. Sie werden hoffentlich ihr Leben in einem Europa verbringen, das nicht nur von Toleranz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägt ist, sondern vor allem seine christlichen Wurzeln nicht vergessen hat und bereit ist, aus diesem spirituellen Kraftreservoir seine Zukunft zu gestalten. 1) Im Falle der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die den Titel „Grundgesetz“ trägt, sind es historische Umstände, die die Schöpfer dieser Verfassung 1949 veranlaßten, diese eben nicht „Verfassung“, sondern „Grundgesetz“ zu nennen. Die aus den westlichen Besatzungszonen hervorgegangene Bundesrepublik Deutschland galt als Provisorium, für das ein „vorläufiges“ Grundgesetz bis zur Wiedervereinigung ausreichen würde. Wie bekannt, wurde diese Bezeichnung nach dem Beitritt der Länder der DDR am 3. Oktober 1990 entsprechende dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes jedoch beibehalten – sie war im allgemeinen Sprachgebrauch fest verankert. 2) Becker, Christoph: Die Zehn Gebote. Verfassung der Freiheit. Augsburg 2004. 3) Vgl. dazu Goldt, Christoph: Mission Frieden. Christliche Offensive für eine neue Weltordnung. Augsburg 2004, S. 49 ff. Neben den drei Ursprungsgemeinschaften sind auch jene Wertegemeinschaften zu nennen, die sich primär der Sicherung dieser Werte bis heute widmen: Die Westeuropäische Union, die durch den Beitritt Italiens und der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Pakt (bestehend aus den Beneluxstaaten, Frankreich und Großbritannien) entstand. Neben diesen europäischen Zusammenschlüssen sind der Europarat ebenso zu nennen wie das transatlantische Bündnis NATO. Der Europagedanke wurde in den 1970er Jahren im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE) durch die Schlußakte von Helsinki 1975 zu einem Höhepunkt geführt; Gruner, Wolf D./Woyke, Wichard: Europa-Lexikon. Länder, Politik, Institutionen. München 2004; Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957. 2. Aufl., Göttingen 1991. Für die Anfänge der europäischen Integration Woyke, Wichard: Erfolg durch Integration. Die Europapolitik der Benelux-Staaten von 1947 bis 1969, Habil.-Schr., Bochum 1985. 4) Pera, Marcello/ Ratzinger, Joseph: Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005. 5) Goldt, Christoph: Der Heilige Stuhl in der internationalen Politik. Anmerkungen zur Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag. In: Die Neue Ordnung. 5/2007, 61. Jg., S. 338-346. 6) Kohl, Helmut: Erinnerungen. 1990-1994. München 2007, S. 282. 7) Helmut Kohl definiert seine Art Politik wie folgt: „Für mich war das ‚C‘ Anspruch in erster Linie an uns selbst: Wir gestalteten Politik aus unserem Verständnis vom Menschen als Geschöpf Gottes – wohlwissend, daß wir diesem Anspruch nicht immer gerecht werden konnten. Wir gestalteten Politik aus christlicher Verantwortung. Ich weiß, wie schwer dies zu vermitteln war in einem Land, in dem der Prozeß der Säkularisierung tiefe Spuren hinterlassen hatte. Der christliche Glaube aber gab uns mit seinem Verständnis vom Men- ∗ 197 schen eine ethische Grundlage für eine verantwortliche Politik. Auf dieser Grundlage war gemeinsames Handeln von Christen und Nichtchristen möglich.“ In: Ders.: Erinnerungen. 1990-1994. München 2007, S. 494 f. 8) Daß de Gaulle und Adenauer je unterschiedliche Gründe für eine europäische Integration hatten – Kontrolle Deutschlands der eine, internationale Anerkennung und Souveränitätsgewinn der andere – braucht nicht betont zu werden. Ihre katholische Konfession legte jedoch die Basis für eine gemeinsame Perspektive. 9) Vgl. dazu unter anderem den Aufsatz von Flaig, Egon: Republik oder Kalifat? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Feuilleton. Nr. 301, 28. Dezember 2007, S. 34. 10) Angenendt, Arnold: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Münster 2007, S. 374 f. Ders.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 22000, hier vor allem die Seiten 322 bis 325. Brown, Peter: Die Entstehung des christlichen Europa. München 1999. Seibt, Ferdinand: Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre. Bonn 2005. 11) Dompnier, Bernard: Frankreich. In: Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur. Bd. 9, Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750). Hrsgg. v. Marc Venard, dt. Ausgabe bearbeitet von Norbert Brox et al. Freiburg i. Br. 1998, S. 117-142. 12) Vgl. dazu: Venard, Marc: Frankreich und die Niederlande. In: Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur. Bd. 8., Die Zeit der Konfessionen (15301620/30). Hrsgg. v. Marc Venard, dt. Ausgabe von Heribert Smolinsky, Freiburg i. Br. 1992, S. 447-523, hier S. 484. 13) Zitiert nach: Krockow, Christian Graf von: Friedrich der Große. Ein Lebensbild. 4. Aufl., München 1996, S. 137. 14) Zitiert nach: Ders.: Friedrich der Große, S. 137 f. Von Krockow weist darauf hin, daß die Toleranz Friedrich des Großen sich jedoch nicht gegen Juden richtete und insgesamt doch eine Portion Zweckgebundenheit besaß. Vgl. dazu ders.: Einspruch gegen den Zeitgeist. München 2003, S. 189. 15) Zur Aufklärung vgl. u. a. Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken. 3. Aufl., München 1999, S. 203-244. 16) Krockow, Christian Graf von: Porträts berühmter deutscher Männer. Von Martin Luther bis zur Gegenwart. München 2004, S. 101-146. 17) Bolzen, Stefanie/Schmitt, Uwe: Die Freiheit ist weltweit auf dem Rückzug. In: Die Welt, 22. Januar 2008, S. 3. Vgl. dazu auch Goldt, Christoph: Mission Frieden, S. 20 ff. Die Untersuchung von Freedom House ist eine Bestätigung meiner damaligen These. 18) Vertrag über eine Verfassung für Europa. Hrsgg. vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 2005, sowie der „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007“, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 50. Jahrgang, 17. Dezember 2007. 19) Maunz, Theodor/Dürig, Günter/Herzog, Roman: Grundgesetz. Kommentar. Band I, Art. 1-5. München 2007, S. 8. 20) Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar. 5. Auflage, München 2000, S. 11. 21) Starck, Christian: Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. Begründet von Hermann von Mangoldt und Friedrich Klein. Band 1: Präambel, Artikel 1 bis 5. Dritte, vollständig neubearbeitete Auflage, München 1985, S. 15. 198 22) Der Gottesbezug des Grundgesetzes wird zum Beispiel vom evangelischen Theologen Wolfgang Stegemann sowie dem Historiker Michael F. Feldkamp als „invocatio Dei“ bezeichnet. Vgl. dazu Stegemann, Wolfgang: Europa ohne Christenheit? Bemerkungen zu einem blinden Fleck in der Debatte um die Verfassung Europas. In: Politische Studien 397. Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen, 55. Jg., September/Oktober 2004, S. 39-47, sowie Feldkamp, Michael F.: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes. Göttingen 1998, S. 62. 23) Stein, Tine: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Habil.-Schr., Frankfurt a. M. 2007, S. 283 f. 24) Dies., bezogen auf deutsche Länderverfassungen S. 282, auf andere europäische Verfassungen S. 284. 25) Vgl. Anm. 19. 26) Papst Benedikt XVI.: Ansprache an das Diplomatische Corps vom 7. Januar 2008, in: Die Tagespost: „Über die Heiligkeit des Lebens diskutieren“. Nr. 5, 10. Januar 2008, S. 7. Abdruck ebenfalls in: L’Osservatore Romano, Nr. 3, 18. Januar 2008, S. 7 f. 27) Ebd. Das eingeschobene Zitat bezieht sich auf seine Begegnung mit Diplomaten und Politikern in Wien währen seines Österreich-Aufenthaltes am 7. September 2007. 28) Hösle, Vittorio: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997, S. 1081. 29) Ders., S. 1071. 30) Vgl. dazu unter anderem den „Religionsmonitor 2008“ der Bertelsmann-Stiftung, der auf den Internet-Seiten der Stiftung als „Rückkehr der Religionen“ angekündigt wird. 31) Hürten, Heinz: Wie christlich ist Europa (noch)? Geschichte, Gegenwart und Ausblick. In: Politische Studien 397. Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen, 55. Jg., September/Oktober 2004, S. 48-55. 32) Bertone, Tarcisio: Ansprache vor dem „Istituto Superiore di studi religiosi – Fondazione Ambrosiana Paolo VI“ am 19. Oktober 2007, in: L’Osservatore Romano, Nr. 46, 16. November 2007, S. 10 f. 33) Ebd. 34) Vgl. Anm. 18. 35) Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, im Anschluß an die Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vom 11. bis 14. Februar 2008 in Würzburg. 36) Beck, Ulrich/Grande, Edgar: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt 2004. 37) Diess., S. 342. 38) Diess., S. 342 f. 39) Kinsky, Ferdinand Graf: Solidarität statt Egoismus. Lebensmodell Europa. Augsburg 2007, S. 51 f. Dr. Christoph Goldt ist Pressesprecher der Diözese Augsburg. 199 Hans-Peter Raddatz Muhammad – Mensch und Gott? Neue Ergebnisse der Islamforschung 1. Der Verkünder im Doppelpack In diesem Frühjahr hat der deutsche Orientalist Tilman Nagel* ein doppelbändiges Opus Magnum vorgelegt (Verlag Oldenbourg, München), das neue Maßstäbe für das Verständnis des Islamgründers und dessen politischer Religion setzen dürfte. Kurz zuvor war die Übersetzung der Biographie des niederländischen Islamwissenschaftlers Hans Jansen erschienen (C.H. Beck, München), die man als Kontrastprogramm zu Nagels Werk sehen kann. Denn während letzterer über nahezu 1500 Seiten eine Fülle bislang kaum genutzter Quellen auswertet und ein sehr konkretes Muhammad-Bild entwirft, folgt Jansen eher den alten Mustern jenes Forschungstyps, dessen Vertreter mehr oder minder voneinander abschreiben. Dabei bevorzugt der Autor deutlich jene Theorien, die den Islamgründer und seine Zeit in einen anonymen Grauschleier ziehen. Insofern verspricht Jansens Untertitel – „was wir wirklich über ihn (Muhammad) wissen“ – weit mehr als seine Ergebnisse halten, während Nagels „Leben und Legende“ des Islamverkünders bzw. „Ursprung und Erscheinungsformen des Muhammadglaubens“ einen Erklärungsrahmen ausbreiten, der die gesamte Geschichte des Islam umfaßt. In der heutigen Orientalistik, die quellenorientierte Analysen als „essentialistisch“ ablehnt und auf dem Weg zur Auftragswissenschaft mit begrenzten Sichtfeldern ist, wird diese Darstellung nicht nur für lange Zeit ihresgleichen suchen. Sie wird ebenso einen Anstoß des Ärgernisses bilden, solange man nicht in der Lage ist oder sich aus diversen Gründen scheut, die von den muslimischen Autoren angebotene, authentische Selbstdarstellung zu respektieren. Jansen bevorzugt die Ausschnittbetrachtung, die konkrete Rückschlüsse auch dort meidet, wo er – wie beim islamischen Wunderglauben – plausible Aussagen anbietet. Da er zudem allen Ernstes die Urbiographie des Ibn Ishaq (gest. 767) für die einzige Quelle über das Leben Muhammads hält, kann man sein Buch schon ab Seite 19 eher der Belletristik zuordnen. Der Verdacht, daß man auf eine brauchbare Beurteilung der zahlreichen Ungereimtheiten in der Entstehung der Religion und der Rolle ihres Verkünders vergeblich hofft, wird rasch durch Leerformeln bestätigt, wie sie in der Orientalistik das derzeit dominante Stilmittel bilden. Demnach könnte sich etwas so oder so zugetragen haben, läßt aber auch Alternativen zu, die „anderen Sichtweisen“ Raum geben. Worum es sich im Einzelnen handelt, und welche Aspekte beizuziehen wären, enthält Jansen seinen Lesern vor. Ebenso regelmäßig wie unschlüssig verweist er auf anonyme „west- 200 liche Forscher“, die den jeweiligen Sachverhalt akzeptieren oder ablehnen, ohne auf etwaige Argumente näher einzugehen. Insofern bleibt Jansen in den Grenzen des medialen Mainstream, der den Islam mit Begriffen wie „Islamophobie“ vor unliebsamen Analysen, die man zumeist „Polemik“ nennt, zu schützen sucht. Dazu dient dem Autor vor allem das Mittel der Anonymität, das er sowohl auf die Methode als auch den Inhalt anwendet. So bevorzugt er Lesarten, die das Entstehen des Islam in einen verallgemeinerten Rahmen der Geschichte bzw. literarischen Beschreibung stellen. Dazu gehört die Schule um John Wansbrough und Patricia Crone, die in den 1970er Jahren Furore machte, indem sie Koran und Tradition als unvereinbare Spruchsammlungen interpretierte, die aus zeitlich versetzten, religionspolitischen Abläufen entstanden und Muhammad mehr als Schemen denn als historische Gestalt erscheinen ließen. Für gleichermaßen konstruktiv hält Jansen die Ergebnisse des Saarbrücker Kreises um den Linguisten Luxenberg und den Religionswissenschaftler Ohlig, die – jeweils auf ihre Weise – der These des Weltethikers Hans Küng die Grundlage gaben, der zufolge der Islam eine christliche Sekte sein soll. Von Nagel süffisant kritisiert, hält es Ohlig für einen wissenschaftlichen Vorteil, des Arabischen nicht mächtig zu sein, weil aus seiner Sicht die Lektüre der Quellen eher Befangenheit erzeuge, der ultimativen Erkenntnis des Islam also im Wege stehe. So kann der Begriff des „Muhammad“ auf die arabische Bedeutung des „Gepriesenen“ generalisiert, die historische Gestalt auf eine abstrakte Hülle reduziert und die Konflikthaftigkeit der konkreten Diskussion vermieden werden. Jansens Zwischenfazit bleibt somit mehr als vage: „Solange die gebotenen Lösungen nicht mehr als hypothetisch sind, hat jeder natürlich das vollste Recht, weiterhin zu glauben, was er sowieso schon geglaubt hat. Und selbst eine Lösung, die jede Autorität der Wissenschaft hinter sich hat, muß nicht unbedingt den Seelenfrieden des Gläubigen stören. Es gibt wissenschaftliche und religiöse Wahrheiten und beide stimmen manchmal nicht überein.“ Wenn die Humanisten der Renaissance und Aufklärung dieser Devise gefolgt wären, stünde Europa noch heute unter klerikaler Kuratel, ganz zu schweigen vom Islam, dessen kollektiver „Seelenfrieden“ eine nennenswerte Wissenschaft gar nicht erst zugelassen hat. Nicht nur wegen dieses Allgemeinplatzes, der für den Westler so banal wie für den Muslim inakzeptabel ist, sondern auch aufgrund seiner kultivierten Urteilsschwäche, muß der Autor die Frage, wer Muhammad eigentlich war, nach eigener Einschätzung davon abhängen lassen, „welcher Erzähler gerade das Wort hat“. Also schließt er sich selbst diesen Erzählern an, womit sein Buch, weil flüssig geschrieben, mehr Unterhaltungs- als Informationswert erlangt. Dennoch läßt Jansen zu solide Kenntnisse sichtbar werden, als daß man ihm unterstellen würde, unter weniger Mut erfordernden Publizierungsbedingungen keine informativere Analyse abliefern zu können. Bei Tilman Nagel trifft man auf ganz andere Randbedingungen. Da er über profunde Kenntnis der Quellen verfügt, die er detailliert auswertet und vergleicht, 201 kommt er zu einem weitaus konkreteren Muhammadbild – dies nicht nur in Bezug auf die Gründerzeit selbst, sondern den gesamten islamischen Geistesgang. Im Hauptband und damit in den ersten zwei Dritteln des Gesamtwerks über „Leben und Legende“ des Verkünders und den muslimischen Glauben an ihn stellt er die verwickelten Abläufe des frühen Islam dar, die vor allem eines deutlich machen: die dynamische Wechselwirkung Muhammads mit seiner Umgebung, deren Reaktionen ihm in graduellem Fortgang „offenbarten“, wie die von Allah – nach Nagel von seinem „Alter ego“ – empfangenen Eingebungen in den geistigen bzw. sozialen Rahmen seiner Zeit paßten oder ihm angepaßt werden mußten. Im Folgeband bzw. im letzten Drittel, das er „Allahs Liebling“ betitelt, gelingt es Nagel, dem wohl besten deutschen Kenner der arabischen Literatur, anhand ausgewählter Islamautoren zu zeigen, daß die Jahrhunderte seit etwa 1200 keine Zeit der Stagnation gewesen sind. Im Gegenteil: Unaufhaltsam verklärte sich die Gestalt des Verkünders über den alles übertreffenden Propheten bis hin zur mystisch-gnostisch anmutenden Lichtgestalt, deren Strahlkraft sogar Allah verblassen läßt. Es ist dieser tiefe Glaube an die Heilswirksamkeit des Verkünders, der sich zwar als einfachen Menschen bezeichnete, aber zum gottgleichen Übermenschen hochstilisiert wurde und es den heutigen Muslimen kaum ermöglicht, die eigene Existenz aus dieser Deutungsklammer zu lösen und damit auch die Definition gegen den Nichtislam in Frage zu stellen. Der Koran als überzeitliches Wunderzeichen Allahs und Muhammads Tradition als dessen ebenso überzeitliche Ergänzung bilden die unübersteigbare Wahrheit, die alles andere zur Lüge werden läßt. Jede Kritik oder gar Zuwiderhandlung bedeutet Unrecht und rechtfertigt gewaltsame Korrekturen. 2. Der Djihad aus dem Mythos Da Allah – im Gegensatz zum Gott der Juden und Christen – die gesamte Welt und damit das Denken und Verhalten der Menschen unentwegt neu schöpft, wäre es Widerstand, wenn nicht tyrannische Hybris, sich dieser Schöpfung zu entziehen, geschweige denn alternative Denkwege zu beschreiten. Aus dem Hanifentum, dem altarabischen Eingottglauben, entstand dieses Machtmittel des absoluten Monotheismus, das die Basis islamischer Herrschaft bildet. Muhammad ließ es eine Gefolgschaft zuwachsen, die mit Raubzügen und Zwangsverträgen die Kultverwaltung Mekkas an sich brachte, den Übertritt zum Islam im Diesseits belohnte und die Basis für den Eroberungszug gegen die halbe damalige Welt schuf. Der Djihad drückt sich nicht nur im physischen Kampf aus, sondern beginnt bereits mit der Erfüllung der täglichen Riten, dort wo sich die Loyalität der Gläubigen praktisch bestätigt. Während der Koran keine klare Auskunft darüber gibt, was „Islam“ und „Djihad“ eigentlich genau sein sollen, läßt der „Hadith“, die islamische Tradition, die auf den Verkünder zurückgeht, keinen Zweifel daran, daß beide Begriffsinhalte in den Riten wurzeln. Je lückenloser sie erfüllt werden, desto überzeugender beweisen die Muslime, daß sie dem Hauptgebot 202 Allahs folgen, keinen Gedanken auf eine eigene Heilsverantwortung zu verschwenden. Mit anderen Worten: Die Riten ersetzen ethisches Handeln und den „Dialog“ mit dem Anderen. In Bezug auf die damals bekannte Welt fußt der Koran auf den „zwei Meeren“, den Grenzen des Alexanderreichs zwischen Spanien im Westen und Indien im Osten, welche die Eroberungen dann tatsächlich ausgelotet haben. Alexander selbst erscheint als der „Zwiegehörnte“ (arab.: dhu’l-qarnayn), der legendäre Eroberer, über dessen immenses Charisma in jüdischer, iranischer, jemenitischer und syrischer Variante berichtet wird. Auf seinem epochalen Zug kommt er durch Mekka, wo Abraham und Ismael die Kaaba bauen, und zieht mal nach Westen, mal nach Osten weiter, wo er zwischen Kaukasus und Himalaya alle diejenigen töten läßt, die nicht dem Ruf zum Islam folgen. Da diese Vorstellungen – wie fast alles im Islam – auch heute noch gelten bzw. im Rahmen des innerislamischen Fundamentalismus Auftrieb erlangen, könnte man den Moscheebau in Europa, der zunehmend von den Institutionen der „Ungläubigen“ finanziert wird, als vorläufig lebensrettende Maßnahme werten. In Vermischung von Raum und Zeit wird jeder von Alexander errichtete Tempel zur Moschee sowie die Kaaba zum kosmischen Zentrum und Alphapunkt der islamischen Expansion. In der jemenitischen Fassung ist zwar keine Rede von den Erbauern des islamischen Heiligtums, dafür jedoch von Moses, der Alexander in Jerusalem davon in Kenntnis setzt, daß es Allah war, der ihm die Macht auf Erden gegeben und alle Wege geöffnet habe. In Ermangelung eines arabischen Originals übernimmt Alexander die Rolle des Mythenhelden, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Zum einen zeichnet er den kosmischen Eroberungszug des Islam vor, der alle sieben Meere befahren, alle Mächtigen der Erde unterwerfen und ganze Völker von einem Land ins andere umsiedeln wird, zum anderen islamisiert er den allahwidrigen Geist der hellenischen Antike. Wie in allen Kulturen ließen sich auch in der Entstehung des Islam nicht alle von den hochfliegenden Visionen des Gründers beeindrucken. Neben Einzelpersonen waren es vor allem die Beduinen, die in den Niederungen der Praxis die Rolle des unbequemen Bremsklotzes spielten. Sie paktierten nicht nur mit dem Stamm der Ghatafan, der sich als Muhammads härtester Gegner entpuppte, sondern nutzten ihre streifende Lebensweise, sich generell dem Zugriff des eigentümlichen Emporkömmlings zu entziehen. Hinzu kam ihr Festhalten am altarabischen Fremdenschutz, der es Muhammad erschwerte, unliebsame Individuen – wie vor allem die kritischen Dichter – beseitigen zu lassen. Nicht zuletzt zahlte sich auch die beduinische Improvisierkunst aus, ohne die ein Überleben in der kargen Wüste kaum möglich war. Ausgestattet mit einem effizienten Netz von Wassersuchern, die man auch als Spione verwenden konnte, raubten sie bevorzugt die neumuslimischen Karawanen aus, weil sie besonders reiche Beute versprachen. Zur Rede gestellt, gerieten sie nicht wie viele andere in Panik, sondern zitierten schlicht die erste Sure – der unfehlbare Beweis, den Raub nicht begangen haben zu können! 203 Indem er die wichtigen Gestalten der formativen Zeit selbst sprechen und agieren läßt, fügt Nagel unzählige Aussagen und Ereignisse zusammen, aus denen sich Schritt für Schritt ein Szenarium ergibt, das man wohl als das bislang wahrscheinlichste Bild der frühislamischen Wirklichkeit bezeichnen kann. Wir erfahren, wie Muhammad lernt, sich die Naivität seiner Umgebung und mit wachsendem Einfluß auch die Verunsicherung der herrschenden Klasse zunutze zu machen, wie er die altarabischen Bräuche je nach Bedarf und Möglichkeit abschafft, umformt oder unverändert läßt, um sein Image als „heidnischer Prophet“ des Eingottglaubens zu pflegen, der sich als Kontrastprogramm zur korrupten Elite der polytheistischen Kultverwaltung herausbildete. Bei dem methodischen Verfahren des Autors, dessen quellentechnische Sorgfalt die heutige Orientalistik längst als „polemischen Essentialismus“ zu den Akten gelegt hat, bleibt manches Vorurteil auf der Strecke. Vor allem zwei Kernlegenden lassen Federn: diejenige von der Solidarität des Verkünders mit den Armen und Schwachen und diejenige von seiner oft gelobten Toleranz gegenüber den Frauen. Beide konnten nur auf dem Papier, nicht aber in der Wirklichkeit Muhammads und damit des gesamten Islam überleben. Immerhin wurden sie vom Endzweck der Kultgestaltung nach den neuen Riten bestimmt, einer überragenden Zielsetzung, welche die islamischen Zentralbegriffe – Djihad (Kampf), Hidjra (Auswanderung), Fitna (Abweichung), Fitra (Seinsverständnis), Dhimma (Vertragsverhältnis zu Juden und Christen) – in verändertem Licht erscheinen läßt. So wie sich Muhammad zur gottähnlichen Gestalt wandelte, so übertrug sich auch seine Aversion gegen die diversen Feinde des Islam auf deren historische Nachfolger. Neben den anderen Religionen und Kulturen als äußeren Widersachern sind es vor allem die inneren Abweichler, die als „Heuchler“ und „Aufrührer“ sowie in Gestalt ungehorsamer Frauen auch als „Abgesandte Satans“ in die Texte des Koran und der Tradition eingingen. Hier mag die Abhängigkeit von der ersten Frau Khadidja eine Rolle gespielt haben, die nicht als demütige Ehefrau auftrat, sondern als Angehörige der altarabischen Stammesgesellschaft, die bereits zwei Ehemänner gehabt hatte und auch deren Nachfolger Muhammad das übliche, d.h. von der Frau bzw. deren Sippe bemessene Wohn- und Bettrecht einräumte. Viel tiefer traf offenbar die Demütigung durch Abu Djahl, den mekkanischen Hauptfeind, der ihn als „hoch aufgestiegenen Viehhirten“ bezeichnete und zur Belustigung seiner Sippe mit Steinen bewerfen sowie in die Fruchtblase eines Kamelfötus hüllen ließ. Daß er in einem der ersten Kämpfe ruhmlos umkam, noch dazu durch die Hand eines minderwertigen Sklaven, paßt in die Tradition, die sich sowohl progressiv von negativen Aspekten reinigt, als auch Selbstnutz zur eigenen Erhöhung betreibt. Dazu dient nicht nur der Name – die Wurzel Djahl liegt auch dem Begriff der „Djahiliyya“, der vorislamischen Unwissenheit zugrunde – sondern auch die Legende vom Mordkomplott, das Abu Djahl gegen diesen verlachten und offenbar eher ungefährlichen Sonderling geschmiedet haben und so das Ausweichen ins alternative Medina mitverursacht haben soll. Dagegen befand sich Muham204 mad längst in einem Werdeprozeß, den man heute mit „Learning by Doing“ bezeichnen würde. Je besser er den Eingottglauben der Umgebung vermitteln und seinen Einfluß vermehren konnte, desto deutlicher wandelte sich der „heidnische Prophet“ zum Machtfaktor, der sogar die herrschende Klasse der Quraysh zu verunsichern begann. Die Hidjra, den Wechsel von Mekka nach Medina im Jahre 622 und Anfang der islamischen Zeitrechnung, will Nagel daher nicht als Auswanderung oder gar Flucht gewertet wissen, sondern als ein retardierendes Moment auf dem Weg zur Macht, als eine pragmatische Maßnahme, welche die Planung einer islamischen Umwidmung des Kaabakultes nicht aufhob, sondern aufschob. Nicht nur an diesem Aspekt, sondern an zahlreichen anderen Passagen der bislang ungeklärten Entstehungsgeschichte des frühen Islam macht der Autor deutlich, wie lohnend seine Methode der detaillierten Quellenauswertung ist. Ein ums andere Mal läßt sie nicht nur die nachträglich konstruierten Teile der Tradition, sondern auch den real existierenden Muhammad hervortreten und bildet den entscheidenden Unterschied zum Verfahren der Jansen-Biographie, die solche Konstruktionen zwar ebenfalls andeutet, sich aber aus Mangel an Quellenkenntnis sowie in Referenz gegenüber dem proislamischen Meinungsdiktat in den Notbehelf des „anything goes“ flüchtet. Varianten des „So könnte es gewesen sein, wenngleich man auch Sichtweisen finden kann, die dagegen sprechen“, kommen hier inflationär vor, während man derlei Formulierungen bei Nagel vergeblich sucht, ohne mit plausiblen Sachdiskussionen bedient zu werden. Neben der Hidjra werden die Deutungszentren des Islam nun wesentlich klarer begreifbar: der Djihad, der äußere Kampf auf dem Weg Allahs, die Fitna, das Heuchlertum in Gestalt innerer Abweichler, die Fitra, die einzig gerechtfertigte Daseinsform in der Wahrheit des Islam, sind in dessen Frühgeschichte verwurzelte Existenzgrundlagen, die sich untrennbar im Erscheinungsbild des Verkünders und seiner Glaubensstiftung verankern. Wer auch nur den geringsten Zweifel an dieser wahrsten aller Wahrheiten hegt, geschweige denn ihr kritisch begegnet, kann nicht nur, sondern muß den gläubigen Muslimen als Feind erscheinen. 3. Die Tugend der gestörten Psyche Wiederholt demonstriert der Verkünder weniger Solidarität, sondern eher elitäres Bewußtsein, indem er von der Bedrängnis seiner Anhänger keine Kenntnis nimmt. „Haltet durch“ ruft er im Vorbeigehen den Gefolgsleuten zu, die von aggressiven Mekkanern unter Druck gesetzt werden. Auch die in der Legende „hochgeschätzten“ Frauen relativieren sich zu Instrumenten der Stammespolitik bzw. zu simplen Sexobjekten: „Ich stehe über jeder Sittlichkeit“ umreißt Muhammad seine moralisch unabhängige Position, aus der er die Ehe vom altarabisch geraubten in den neumuslimisch gekauften Geschlechtsverkehr umwandelt und implizit auch die Beschneidung der Frauen zuläßt. Letztere wurde durch die pauschale Vereinnahmung des „ersten Muslim“ Abraham ermöglicht, der die 205 Hauptfrau Sarah beauftragt haben soll, die spätere Konkubine Hagar, Mutter Ismaels, zu beschneiden. Wie stark Muhammad von der Verbindung zwischen Kult und Sexualität geprägt war, zeigt seine geradezu euphorische Zustimmung zum Koitus während der Wallfahrt, gegen den schon frühe puristische Frömmler mit ihrem Bild der „tropfenden Penisse von Mekka“ zu opponieren wagten. Des Verkünders souveräne Richtlinienkompetenz war zwar von Allah erteilt, mußte allerdings die erwähnten Stufen der tastenden Wechselwirkung mit der skeptischen Umgebung durchlaufen. Am Ursprung der Sendung hatten traumatische Geisteszustände, auditive Erfahrungen von Stimmen und andere Merkmale wie Lichtvisionen gestanden, die man gemeinhin unter dem Begriff der Schizophrenie subsumiert. Zu deren Symptomen gehört vor allem auch eine Welt-„Bewältigung“, die zwischen paranoider Wahrnehmung, automatenhaften Befehlsmustern, Mangel an Abstraktion und autistischer Isolation oszilliert (Herder-Lexikon der Psychologie, Band 3) – alles Merkmale, die interessanterweise viele westliche Vertreter des heutigen „Islamdialogs“ mit dem Islamverkünder teilen. Während wir es hier mit einem Trend des kollektiven Narzißmus zu tun haben (vgl. Raddatz, Allah und die Juden), erwies sich dagegen Muhammads individuelles Krankheitsbild als eine Art Segen, ohne den seine Sendung kaum hätte gelingen können. Denn aus der Not des „normalen“ Kranken wird hier die Tugend des zu Höherem berufenen Schizophrenen. Was die Umgebung Muhammads als „Besessenheit“ sah, war eine der wichtigen Voraussetzungen, die schon so mancher Religionsgründer gebraucht hat, um die jeweiligen Gesichte – im Falle Muhammads die “Wunderzeichen Allahs“ – überhaupt hervorbringen zu können. Und was man sonst als krankhafte Anomalie bezeichnen würde – Verfolgungswahn, Geltungsdrang, Aggression etc. – gerät dem Religionsgründer und seinen Anhängern zur Rechtfertigung der Existenz. Wenn sich Muhammad von lauter Feinden umgeben sah, die ihm nach der Ehre oder angeblich gar nach dem Leben trachteten, so lag das natürlich daran, daß die Menschen seiner Zeit unfähig waren, die Vorzüge der ihm „eingegebenen“ neuen Religion zu erkennen. Was Muhammad damals recht war, ist den Muslimen bis heute billig, nämlich die Uneinsichtigen als „Lügner“ zu entlarven, die „provozierend“ darauf beharren, sich ein eigenes Urteil zu bilden, statt sich ohne Frage nach dem Warum zu unterwerfen. Insofern gibt es von Anbeginn des Islam keine „Sünde“, weil jeder Muslim allein durch die bedingungslose Unterwerfung gerechtfertigt ist und alles Böse auf den Nichtislam projizieren kann. Dabei gehört es zu den wenigen Schwächen des Nagel-Werks, den Kontext zwischen individueller Psyche und kollektiver Religionspolitik, obwohl er selbst alle „Zutaten“ liefert, nicht genügend deutlich darzustellen, ebenso wie ihm ein ähnliches Versäumnis in Bezug auf den gnostischen Anteil im islamischen Gottesbegriff unterläuft, auf den wir noch zurückkommen. In einer auf den psychischen Alphapunkt der Muhammad-„Prophetie“ komprimierten Weltsicht ist es logisch, sich gegen alles Nichtislamische, d.h. die Zeit 206 der vorislamischen „Unwissenheit“ (arab.: al-djahiliyya) und die anderen Religionen, radikal abzugrenzen. Alles Wissen, das sich nicht aus den Grundlagen des Koran und der nach Muhammads Tod entstehenden Tradition herleitet, ist „Schmutz“, gegen den sich der Gläubige sorgfältig immunisieren, im Zweifel auch mit Gewalt wehren muß. Dies gilt spezifisch für die Juden und Christen, die man „Schriftverfälscher“ nennt, um ihre heiligen Bücher als Konkurrenz des Korans auszuschalten. Die Christen sind als besonders unzulässige „Beigeseller“ zu unterwerfen, weil ihr Gottmensch Jesus die Schöpfungsmacht Allahs behinderte und sich als „letzter Prophet vor Muhammad“ zum „Knecht Allahs“ wandeln mußte. Zudem blieb auch die Frage der medinensischen Rabbiner nicht unbeantwortet, die da gelautet hatte: „Was ist der Geist, auf den sich Muhammad beruft?“ Daß es der Geist der Vertreibung und Vernichtung der Juden Medinas war, ist der jüdischen Tradition, wie Jansen übrigens fälschlicherweise annimmt, nicht völlig entgangen. Vor dem Hintergrund der europäischen Unterdrückung spielt dieser Geist zwar nur eine Randrolle, die man gleichwohl subtil andeutet: „Wir sind Männer des Schwertes“ heißt es dort, „und wenn wir es ziehen, vernichten wir unsere Feinde“, eine Devise, die wie man ebenso erfährt, „von den Arabern eifrig aufgegriffen wurde und ... eine starke Wirkung auf Muhammad ausübte“ (The Jews I, 182 – Jewish Publication Society of America). Nicht zuletzt war es Maimonides, der die Muslime als epochale Unterdrücker anprangerte. Der große jüdische Philosoph, der als einer der frühen Impulsgeber für die europäische Aufklärung gilt, konnte keine Vorteile aus der heute gepriesenen Toleranz Andalusiens ziehen und entfloh den muslimischen Unterdrückern mit Worten, die in die Geschichte eingegangen sind: „Kein Volk hat Israel jemals mehr Leid zugefügt. Keines hat es ihm je gleichgetan, uns zu erniedrigen und zu demütigen. Keines hat es je vermocht, uns zu demütigen, wie sie es getan haben.“ Die Wertung der „starken Wirkung auf Muhammad“ wird um so plausibler, als die Juden die geistige Unterlegenheit der Neumuslime in Medina ausnutzten, indem sie sie den Berichten zufolge skrupellos betrogen und dies auch gar nicht abstritten, sondern mit der Begründung rechtfertigten, daß sie, die Muslime, „kein göttliches Gesetz“ hätten. Dieses so einfache wie effiziente Verfahren beeindruckte Muhammad so sehr, daß er es in den Koran übernahm und dessen offenbar göttliche Eigenschaft in diesem Punkt den Juden verdankt! Denn um die Betrugsbasis zu sichern, figuriert Allah dort als „bester Ränkeschmied“, der zur Nachahmung empfohlen und unter dem Begriff der „Taqiyya“ zur integralen Täuschungstechnik der Muslime wurde – erst in der Schia und später auch in der Sunna. 4. Die Macht der Moschee Nagels wesentliche Leistung besteht neben der Verarbeitung enormer Textmengen in einer bemerkenswerten Darstellungskraft, die aus einer ungeheuren Fülle historischer Personen und Ereignisse weite Strecken des frühen Islam, die bislang eher in ungeklärtem Dunkel lagen, nun ins Licht plausibel nachvollziehba207 rer Geschichte hebt. Dabei macht er deutlich, daß er im Gegensatz zu Hans Jansen an einer anonymisierenden Interpretation im Stile Wansbrough/Crone wenig Gefallen findet. Ganz im Gegenteil: Im Zuge ihres Entstehens erwies sich die Tradition nicht als inkompatibel mit dem Koran, sondern als dessen kompatible Ergänzung, welche die Sicht der Gläubigen auf das Buch Allahs historisch veränderte. Jansen hat diesen Kontext nicht wirklich verstanden, wenn er vermutet, daß der Koran mit Hilfe der Tradition interpretiert wird, „obwohl dieselbe Tradition aus dem Bedürfnis nach einer Erklärung entstanden ist, die vom Schwierigkeitsgrad des Korantextes verursacht wurde.“ Dabei war es auch schon vor den beiden Biographien von Nagel und Jansen gar nicht so schwierig gewesen, als Hauptbezug islamischen Denkens den Machterhalt durch die Orientierung am Gesetz Allahs und seinem Gesandten auszumachen. Während Nagel nun allerdings eine weitere Fülle unabweisbarer Belege dafür liefert und klare Erläuterungen gibt, übt sich Jansen in einer zwar nicht unoriginellen, letztlich jedoch unproduktiven Wortakrobatik. „Es sind keine Geschichten“, so sucht er die gewaltbesetzten Denk- und Handlungsanweisungen in Koran und Tradition zu dämpfen, „an denen sich heutige Muslime ein Beispiel nehmen sollten. Für einen ökumenischen, multikulturellen Dialog sind sie ungeeignet. Sollten sie sich nicht wirklich so zugetragen haben, sondern aus dem Wunsch entstanden sein, eine Anzahl schwer verständlicher Koranverse zu erläutern, ändert das wenig, solange suggeriert wird, daß es sich um nachahmenswerte Taten handelt.“ Daß sich die Muslime nicht nur „ein Beispiel“ genommen, sondern „diese Geschichten“ zur Grundlage ihrer Geschichte gemacht haben, erscheint aus dieser Sicht nicht erwähnenswert, weil sonst die Erklärung mitgeliefert werden müßte, warum auch im heutigen Islam die Gewalt immer noch das legitime Stilmittel sowohl im öffentlichen als auch privaten Bereich ist. Es ist zwar nicht auszuschließen, daß die Komplexität des Textes zuweilen Probleme bereitete, doch ist der koranbedingte Klärungsbedarf eher durch Situationen der politsozialen Praxis erzeugt worden, wie es auch schon der Verkünder selbst vorexerziert hatte. So wie ihm sein alter ego Allah die nötigen Korrekturen bzw. Erläuterungen herabsandte, als in Bezug auf die Juden und die Frauen kritische Situationen entstanden, so beeinflußte die an den Eroberungen wachsende Tradition die Interpretation des Koran. Die Geschichte bestätigt mehr als hinreichend, daß sich die Machthaber der Muslime nichts „suggerieren“, sondern von den Rechtsgelehrten bestätigen ließen, daß Krieg gegen Andersgläubige und Gewalt gegen Frauen nur Allah und Muhammad gemäße Maßnahmen und damit Handlungsoptionen bilden, die nicht nur nachahmenswert, sondern nachahmenspflichtig sind. Allmählich entstand jene übergeschichtliche Dynamik, die man in der Totalitarismusforschung „charismatische Konkurrenz“ nennt, der Wettbewerb um die Teilhabe an der Macht, die durch Unterwerfung unter ein Gottesbild, ein Heilsprinzip oder auch das Ziel einer „Bewegung“ entsteht. Leute, die zuerst nach208 denken, bevor sie handeln, sind für eine solche Konkurrenz unbrauchbar und erscheinen auch aus Muhammads Perspektive als die obligaten „Heuchler“, auf die im Diesseits Haß und Verachtung der Gläubigen und im Jenseits die Höllenqualen warten. Kein Wunder, daß Allah die Besonnenen tadelt und die Eiferer belohnt, die die raison d’être des Islam vorleben, nämlich auf erstes Anfordern den Djihad aufzugreifen. Ihr Einsatz gilt als „Darlehen an Allah“, das gewaltige Zinsen tragen kann. Kurioserweise wird deren paradiesischer Teil im profanen Westen oft überbewertet, während es eher der materielle Vorteil ist, der den Muslim zum Einsatz gegen den Nichtislam anspornt. Denn da die Welt von Allah stetig neu geschöpft wird, ist sie auch – mitsamt den Ungläubigen – sein Besitz, den er unter den Gläubigen nach Belieben aufteilen kann. So ist das Eroberte nur zurückgeholt, weil alles Vermögen der Welt a priori Allah gehört. Ebenso ist jeder Angriff auf nichtislamisches Gebiet keine Aggression, sondern ein Akt der Verteidigung gegen die Ungläubigen, die sich Allahs Vermögen widerrechtlich angeeignet haben. Derart eingeengt auf ein einziges Deutungsmodell, kommt alternatives Nachdenken über die eigene Existenz, das man auch Selbstbewußtsein oder Gewissen nennt, nicht zustande. So wie sich Muhammad seiner Widersacher in den Stämmen und unter den Dichtern durch Auftragsmord entledigte, so erklärt sein Vorbild die ausgeprägte Emotionalität, mit der die Mehrheit der heutigen Muslime auf die Historisierung und Ironisierung ihrer Religion – Beispiel Karikaturenstreit – reagieren. Nach wie vor beginnt der Djihad für sie mit der Erfüllung der Riten, deren lebenslanger Vollzug eine Annahme durch Allah zwar nicht garantiert, doch wenn sie mit lauterer, d.h. islamfördernder Absicht durchgeführt wurden, zumindest in Aussicht stellt. Wie erwähnt, steht der physische Kult für ethisches Handeln, wobei die Qualität des islamischen Seins mit dem Grad ansteigt, in dem das Leben, Denken und Handeln mit den Vorschriften der Scharia, des islamischen Gesetzes, übereinstimmen. Die Teilnahme am Freitagsgebet bildet die absolute Mindestanforderung und beinhaltet nicht zufällig die besondere Rückerinnerung an Muhammad und die Einstimmung auf die politische Linie. Die Moschee erfüllt somit zwei Hauptaufgaben: Die Einübung der Glaubenspflichten und der Gegenethik sowie die Vorbereitung auf den Djihad. 5. Schriftverfälschung und Gottverfälschung Der Sieg der Byzantiner über die persischen Sassaniden im Jahre 627 hatte einst die Position der Juden geschwächt und den Christen nur vorübergehende Schonung verschafft. Sie gerieten, nachdem die Juden unschädlich gemacht waren, bereits ab etwa 630 – also noch zu Lebzeiten Muhammads – ins Fadenkreuz der Neumuslime, die im Begriff waren, die Macht in Mekka zu übernehmen. Dabei konnten sie die unterschiedlichen Lehren und Zielsetzungen komfortabel für sich arbeiten lassen. Denn die Christen, die – zumindest theoretisch – nicht der irdischen Herrschaft, sondern einem nichtweltlichen Reich verpflichtet waren, gerie209 ten in einen systematischen Nachteil gegenüber dem erstarkenden Islam, der alles Diesseitige nach Allahs Wille ordnet. Dem Verkünder zufolge handelt es sich bei dieser Religion um eine „törichte Spielart des Unglaubens“, um schlichte Dummheit, deren Anhänger die wirkliche Welt nicht verstünden und daher auch keine Existenzberechtigung hätten. Obwohl es nun den Islam gebe, plapperten sie, die „Imame des Unglaubens“, immer noch dessen Lehren nach, verfehlten damit die Wahrheit und schaufelten ihr eigenes Grab, das Allah für sie geplant habe. Hier entstanden die Grundlagen der „Dhimma“, des Vertragsverhältnisses zu den jüdisch-christlichen „Schriftverfälschern“ nebst ersten Durchführungsverordnungen. Das oberste Gebot lautet dabei, Verträge mit den Christen zu brechen, weil sie selbst das oberste Gebot, an den einen Gott zu glauben, gebrochen hatten, indem sie ihrem Gott den Menschen Jesus „beigesellten“. Eben weil sie als Verfälscher der Schrift auch die Wahrheit des Islam mißachteten, könnten sie keinen Anspruch auf Rechtssicherheit erheben. Allah wolle sie nicht nur „entehren“, sondern auch schlicht töten lassen, weil an ihren Plätzen „kein Gebetsruf zu hören und kein Gebetsplatz zu sehen“ sei. Erneut ist an den Moscheebau in Europa zu erinnern, der diesem Mangel Abhilfe schafft und zugleich die koranische Wirkmacht verdeutlicht, deren metaphysische Qualität vom säkularen Sensorium des westlichen Pluralismus kaum verstanden wird. Eben dieses überzeitliche Qualitätsdefizit aufzuzeigen, das für den „Dialog“ der kommenden Jahrzehnte entscheidend sein wird, gehört zu den wesentlichen Verdiensten, die Nagels Werk über das, was man von einer bloßen Biographie erwartet, weit hinausheben. In großer Plausibilität, die er über einen Geschichtszeitraum von über einem Jahrtausend gleichbleibend durchhält, bestätigt der Autor nicht nur bekannte historische Folgen in neuem Licht, sondern beschreibt auch eine bislang unbekannte Dimension der Heilswirksamkeit, die fatale Konsequenzen für die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Islam hat. „Wir ließen das Eisen herab“ läßt Muhammads alter ego im Koran niederlegen, eine Aussage, die sich in der Tradition fortsetzt. Wie sich dort und in der historischen Ausbreitung folgerichtig bestätigt, ist Muhammad „mit dem Schwert gesandt worden“; das Gute liegt im Schwert und kommt mit dem Schwert, so daß letztlich das Paradies „unter dem blitzenden Schwert“ ist. Mit der übergeschichtlichen Erhöhung wird der Verkünder des Islam zum quasi-mythischen Kriegsherrn, der davor warnt, „nicht an diejenigen zu erinnern, die als Beigeseller getötet wurden“ (3/1), also die Christen. In der Praxis eignet sich diese spezifische Anweisung eher zur Löschung der Erinnerung daran, daß Muhammads alter ego den Islam durch die Selbstdefinition gegen die jüdisch-christlichen „Schriftverfälscher“ aus der Taufe hob und seine Anhänger oft genug gegen die Dhimma verstießen, jene koranische Vereinbarung, die den älteren Religionen gegen Bezahlung den „Schutz des Islam“ verspricht. Diese Gedächtnislöschung hat Folgen, die Nagel teilweise anspricht. Die erwähnte Verklärung Muhammads zog nicht nur eine gottgleiche Erhöhung, sondern eine Entrückung von ungeahnter Art nach sich, welche die Gottheiten aller 210 Zeiten übertraf und schließlich auch Allah dazu zwang, diesen begabten Gesandten nun selbst als seinen Meister anzubeten. Er, der die Welt fortwährend schöpft, kann dies nur durch den Zentralpunkt des Kosmos, den „Gipfel des Absoluten“ wirken, durch den allgegenwärtigen Vegetationspunkt namens Muhammad, durch den sich Allahs Werk laufend ausbreitet und ihn erst als jenen Schöpfer erkennbar macht, vor dem sich die Gläubigen niederwerfen. Erst durch den Verkünder gelangt alles Sein vom Verborgenen ins Offenkundige. „Ohne Mohammed“, so resümiert der Autor kühl, „wäre Allah nicht Allah.“ In der überzeitlichen Rangfolge Muhammad-Allah-Mensch wird deutlich, daß die Löschung der christlichen Schriftverfälschung nicht nur deren Ersatz, sondern zugleich auch ihre Verstärkung durch die islamische Gottverfälschung ermöglichte. Denn was sich im Christentum als göttlich offenbart, ist der Geist Jesu, der vom Buchstaben der Schrift befreit, während das Göttliche im Islam sich im Menschen Muhammad offenbart, ohne den sich Allahs Wort nicht geltend macht. Mit anderen Worten: Der Islam verwirft das Christentum als „Beigesellung“, um sich eben diese in der Geschichte in stetig ansteigernder Intensität selbst anzueignen. Ebenso verstärkt sich hier das zentrale Dilemma des zeitgenössischen „Dialogs“. Denn einerseits verlangen seine Vertreter den Abbau von „Islamophobie“ und den reziproken Aufbau von „Respekt“, während andererseits die beeindruckende Phalanx der Islamautoritäten, die Nagel für das Phänomen der Gottverfälschung aufreiht, wahre Orgien des abgelehnten „Essentialismus“ feiert. Als so willige wie unwissende Vollstrecker des Islam können sich die Dialogisten nun allerdings die Philippika gegen wissenschaftliche Unredlichkeit hinter die Ohren schreiben, die Nagel der Muhammad-Eloge des ägyptischen Historikers AlMaqrizi (gest. 1442) entnimmt: „Wer dieses (Maqrizis) Kompendium studiere, der werde großen Nutzen davon haben, sich freilich auch den Angriffen mißgünstiger Kollegen ausgesetzt sehen. Denn er werde die Früchte seiner Plackerei den Kritteleien intellektueller Faulpelze ausliefern und erdulden müssen, daß sich von Ressentiments befallene Schwätzer mit ihren aus der Luft gegriffenen Deuteleien als die Münzsachverständigen der einzigen im Islam gültigen Währung aufspielen … Das ist eben die Gefahr, in der das Übergeschichtliche steht. Es löst sich von den Quellen ab und verflüchtigt sich zu einem scheinhaften Ideengebilde, das zu kennen jeder behauptet, der sich darauf beruft, und indem er sich darauf beruft, darf er sicher sein, daß man ihm den genauen Nachweis der Zugehörigkeit seiner Aussage zu jenem Komplex des Überlieferten erlassen wird. Gegen derartige Roßtäuscherei schreibt Al-Maqrizi an“ (Allahs Liebling, 218). Wenngleich hier islamisch motiviertes Wissen gemeint ist, so gilt das Kriterium der Sorgfalt in Bezug auf objektiv erreichbare Information für jede Art von Wissenschaft, die unsere aktuellen Dialogisten als „Polemik“ meiden. Sieben Jahrhunderte leicht überspringend, kopieren sie Maqrizis Kollegen und betätigen sich als eben diese Roßtäuscher und intellektuellen Faulpelze, die sich heute jedoch nicht mit von Ressentiments befallenem Geschwätz begnügen, sondern zu voll ausgewachsener Diffamierung und Denunziation vorrücken. 211 6. Gottmensch Muhammad Damit leisten sie allerdings auch jenem „scheinhaften Ideengebilde“ Vorschub, das jedwedes Wissen erübrigt und somit der Phantasie – und der Macht – die Zügel schießen läßt. Detailliert beschreibt Nagel, wie große Denker des Islam zu Stationen der Muhammad-Verklärung werden. Sie führen die Erinnerung an den Verkünder in kosmische Sphären, wo er sich in eine Lichtgestalt verwandelt, aus der schließlich die Schöpfung hervorgeht und Allah von sich abhängig macht: „Du bist der Gesandte Allahs, das gewaltigste Geschöpf, zu jeglicher Schöpfung bist du mit der Wahrheit gesandt. Um dich kreist die Schöpfung, denn du bist ihre Achse …“ schwelgt Al-Qastallani (gest. 1517), islamweit bekannter Kommentator der Bukhari-Tradition, in einer umfangreichen Eloge. Schon drei Jahrhunderte zuvor war es Ibn al-Arabi (gest. 1240), einem der größten Mystiker, aber auch Systematiker, die der Islam je hervorgebracht hat, in unnachahmlichem Pragmatismus gelungen, die Grenzenlosigkeit gnostischer Überhöhung mit den Grenzen des irdischen Lebens und vor allem des orthodoxen Denkens zu verbinden. Denn die Euphorie Al-Qastallanis hatte Vorgänger wie vor allem den Andalusier Iyad al-Yahsubi (gest. 1149). Er schrieb ein Buch über die „Eigenschaften des Gesandten“, das nicht nur für die Heilswürde der Muhammad-Frömmigkeit, sondern auch für die Todeswürde der MuhammadKritik Maßstäbe setzte. Als begnadeter Mystik-Theoretiker fiel Ibn al-Arabi freilich nicht unter jene Rubrik, die das Sufitum mit geistiger Beschränktheit identifiziert, gestützt auf den Rechtsgelehrten Ash-Shafi’i (gest. 820), der vor dem Sufitum warnte, weil wer es am Beginn des Tages praktiziere, „spätestens am Mittag verblödet“ sei. Er befand sich in guter Gesellschaft, denn schon der Verkünder hatte die Asketen zu „Verfälschern des Glaubens“ erklärt und somit in die Nähe der Juden und speziell der „dummen“ Christen gerückt. Was Ibn al-Arabi schließlich interessant macht, ist die Neubewertung des ab dem 13. Jahrhundert gnostisch verklärten Muhammad, der sogar Allah übersteigt und zum weltschaffenden Demiurgen relativiert. Nach einem nicht belegten, aber um so öfter zitierten Spruch des Verkünders war dieser „schon Prophet, als Adam noch zwischen Wasser und Lehm war“. Obwohl Allah – „Ich bin die Zeit“ – als Schöpfer der Welt und Herr der Geschichte seine Schöpfung in jeder Sekunde neu durchdringt, so scheint ihm doch zugleich der eigene Gesandte zu entgleiten. Indem der schon vollkommen war, als Allah noch am Unvollkommenen schuf und diese Schaffenslücke auch im Koran nicht vorkommen kann, weil sie durch menschengemachte Interpretation entstand, läßt sich jede irdische Notwendigkeit durch den „Vollkommenen Menschen“ Muhammad legitimieren. Um sicher zu gehen, schützt Ibn al-Arabi dieses Passepartout erst gegen jeden Zweifel, bevor er es nutzt, denn „nicht ein Jota des Koran sei verändert, und wenn der Satan etwas … einschmuggelte, habe Allah unverzüglich widerrufen“. 212 In Bezug auf Muhammads Entrückung widerruft Allah allerdings nicht, sondern schweigt zu dem, was man ihm über die Jahrhunderte zur Begründung diverser Erfordernisse unterschoben hat. Das Muster dazu, das Ibn al-Arabi im Rahmen eines siebensphärigen Gnosis-Kosmos Stufe für Stufe entwickelt, regelt mit Fitra, Fitna, Djihad und Dhimma wiederum jene zentralen Bereiche, die uns bereits begegnet sind. Als fünfte Stufe enthält es den „Himmel der Frauen“, der verständlicherweise mindestens ebenso große Bedeutung erlangt hat. Natürlich kommt die Zuneigung zum schönen Geschlecht eigentlich von Allah, doch da Muhammad bereits im Weltstatus zwischen Wasser und Lehm in jeder Hinsicht vollkommen war, ist er die primäre Quelle der Erkenntnis dessen, was unter der Liebe zwischen Frau und Mann zu verstehen ist. Da er über der Sittlichkeit steht und die Enthaltsamkeit als Glaubensverfälschung sieht, entschied sich Muhammad für den Geschlechtsverkehr als oberstes Gebot des Gottesdienstes, das noch dem Ritenvollzug vorgeht. Folgerichtig heißt es, daß eine Frau, die lieber beten als koitieren will, zur Sünderin wird, also vom Islam abfällt. So ist denn auch das spirituelle „Geheimnis“, das andere Religionen in der menschlichen Existenz und ihrem Verhältnis zu Gott suchen, dank Ibn al-Arabi im Islam leicht zu finden. Es besteht im „verborgenen Band“, das sich auf mysteriöse Weise beim Koitus zwischen Penis und Vagina aufbaut: „Der Geschlechtsakt symbolisiert das göttliche Schaffen – oder sollte man sagen: ahmt es nach? Und so liegt in der starken Ermunterung zu diesem Tun eine besondere Auszeichnung für Muhammad und die Muslime“. Ähnlich klar, wie Nagel diesen im Zeitalter der Migration wichtigen Aspekt und viele andere Gesichtspunkte kommentiert, hätte man sich eigentlich auch die oben erwähnten Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis Muhammad – Allah gewünscht. Letzterer, der im Gegensatz zum Juden- und Christengott die Welt ständig neu schafft und in Gestalt der Zeit das Bewußtsein besetzt, gehört unabweisbar zum gnostischen Gottesbereich. Da die Zeit nur im menschlichen Denken existiert und als Phänomen des Werdens und Vergehens erscheint, ist sie als der klassische „unbewegte Beweger“ zu verstehen, als Form des aristotelischen Gottesbegriffs. Nach all dem, was Nagel nun an neuem Material über Muhammad und den Glauben an ihn vorgelegt hat, wäre es allerdings übereilt, den Zeitgott Allah direkt mit dem Konzept des unbewegten Bewegers zu verbinden. Denn die Gnosis braucht den „Demiurgen“, jenen rastlosen Weltarchitekten, der den eigentlichen Gott, das kosmisch entrückte Gute, von der Theodizee befreit, von der Frage, warum ein guter Gott auch Böses zuläßt. Je weiter sich Muhammad verklärte, desto klarer besetzte er diese abstrakte Position, ein Vorgang, der in der Logik der islamischen Konstruktion liegt. Gerade weil Muhammad den neuen Glauben gegen vorhandene Konzepte wie Juden- und Christentum sowie auch gegen die Frauen als geistige Wesen definierte, entstand das oben umrissene, manichäisch gespaltene Weltbild. Solange nur das Modell islamischer Existenz gelten soll, sind alle anderen Konzepte und ihre Geltungsgebiete langfristig hinfällig. Insofern er die nichtislamische Welt 213 letztlich zerstören muß, ist der Islam die bislang wichtigste Variante der Gnosis. Sie entstand etwa zeitgleich mit dem Christentum als dessen erster Gegenpol, sucht ihr Heil in der Überwindung der „bösen, schmutzigen Welt“ und strebt letztlich die Rückkehr zum kosmischen Gott des Guten an. Diese Richtung hat sich in allen Religionen als eine Art universelles Ketzertum bemerkbar gemacht, den Islam allerdings, wie nun durch Tilman Nagels Werk erkennbar wird, mit der veränderten Konstellation zwischen Allah und Muhammad doppelt „gnostisiert“: Ein demiurgischer Allah erschafft zwar den Unglauben, aber nur zu dem Zweck, dessen Potentiale auszunutzen und die Welt schließlich von ihm zu befreien. Dabei rückt der der Mensch Muhammad allmählich in die Leerstelle des kosmischen Gottes ein – das perfekte Angebot einer Diesseitsreligion, das offenbar auch im „modernen“ Westen auf wachsendes Interesse stößt. In Muhammad inkarniert sich nicht nur ein Übermensch, sondern ein Übergott, der alles in den Schatten stellt, was menschliche Hirne überhaupt je zu fassen jemals in der Lage waren. Dies zumindest ansatzweise im Gedächtnis zu behalten, scheinen sich viele derjenigen, die heute den „Dialog mit dem Islam“ betreiben, zur Aufgabe zu machen. So kann sich zum einen das Töten der Christen im Orient kommentarlos fortsetzen, zum anderen aber auch die Fetischisierung der islamischen Religion durch die westlichen Führer verstärken, die fortlaufenden „Respekt“ verlangen, wobei sie noch lernen müssen, daß er zuerst und vor allem Muhammad gebührt. Ob dies im Interesse der Muslime ist, bleibt dahingestellt. Fest steht, daß ihre große Mehrheit an dieser Heilsgewißheit festhält, obwohl die moderne Welt nur sehr bedingt mit dem kosmischen Bezug, der im 7. Jahrhundert begann, zu tun hat. Um so wichtiger wird die Frage, warum die westlichen Eliten, deren Herrschaftsbasis ganz ohne den Kulturheros Muhammad zustande gekommen ist, nun ihrerseits behaupten, daß Europa ohne den Islam kaum hätte entstehen können. Wie immer auch die Antwort ausfallen mag – ohne offene Diskussion kann sie an einer Rückorientierung in die Vormoderne nicht vorbeiführen, es sei denn, der Wandel des Weltbilds, auch Globalisierung genannt, erzwingt eine solche Entwicklung. Aufgeklärte Muslime, die im Westen keine Stimme haben, votieren vehement dagegen. Sie sehen die Westeliten als Taschenspieler, die mit den Islameliten gemeinsame Sache machen. Nicht nur sie stehen damit in diametralem Widerspruch zu Hans Jansen, der sich seine eigene Realität baut. Außer dem Faible für bombastische Klischees ist es seine geradezu infantile Sicht der Eliten, die offenbar zu keiner Zeit der Geschichte irgendeine nennenswerte Rolle gespielt haben: „Jede Religion ist im Prinzip das, was ihre Anhänger daraus machen, und nicht das, was ihre Oberhäupter in Büchern, Fatwas oder Enzykliken vorschreiben, und selbst nicht das, was der Religionsstifter vorgelebt hat.“ Nagel hat für diejenigen, die die Geschichte ernst nehmen, ungleich mehr zu bieten. Hier besteht das Vorbild Muhammads in der Fähigkeit, geeignete Bedingungen hergestellt zu haben, die in einer bestimmten historischen Situation einen 214 gewissen Fortschritt, nämlich den der spätantiken Gesellschaft Arabiens, fördern konnten. Dafür daß sich dieses Charisma bis in die Moderne fortsetzte, sorgten die Renaissance der Scharia und die frappierende Gottverfälschung durch die Verklärung Muhammads, die nun jedoch zu Trümpfen in einer sich säkularisierenden Welt werden könnten. Wer allerdings glaubt, die vormodernen Ursprünge vergessen oder als Passepartout für alle Zeiten und Regionen verwenden zu können, geht auf eine Stufe der Humanität zurück, auf der der historische Muhammad und die barbarische Gesellschaft des spätantiken Europa fußten. Wie die wenigen kritischen Philosophen der islamischen Gegenwart – stets in Gefahr für Leib und Leben – betonen, ist die real existierende Zivilisation des Islam den Beweis schuldig geblieben, einer wie immer gearteten Ethik gerecht zu werden – weder der des Koran, noch der des kosmischen Muhammad, ganz zu schweigen von der des „ungläubigen“ Westens. Die gnostische Gottverfälschung ist somit nichts anderes als die Umlenkung der kollektiven Spiritualität, die sich im verklärten Muhammad tragisch konzentriert, weil ihr die psychische Sublimierung im individuellen Geist des einzelnen Muslims versagt bleibt. Da es sich um einen langfristigen Prozeß handelt, haben die Muslime auch längst seinen Begriff dafür – tadjarrud, zu deutsch: Beseitigung des Ich. Anmerkung *Tilman Nagel, Jahrgang 1942, promovierte 1967 und habilitierte sich 1971 im Fach Orientalistik an der Universität Bonn. Nach zehn Jahren am Seminar für Orientalische Sprachen, ebenfalls in Bonn, folgte er 1981 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Arabistik an der Universität Göttingen, den er 26 Jahre bis zur Emeritierung im Herbst 2007 innehatte. Während seiner gesamten Laufbahn nahm er verschiedenste Ämter im In- und Ausland wahr, u.a. langjährige Mitgliedschaften im Vorstand der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und der Union Europénne des Arabisants et Islamisants. Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist, Volkswirt und Systemanalytiker, ist KoAutor der „Encyclopaedia of Islam“ und Autor zahlreicher Bücher über den Islam. 215 Bericht und Gespräch Thomas Krapf Der Untergang der Christenheit im Irak Wenn der 43. US-Präsident am 20. Januar 2009 abgelöst wird, dürften im Irak Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Thomas Jefferson Utopie bleiben. Paradoxerweise bleibt George W. Bush jedoch Anwärter auf eine historische Errungenschaft im Zweistromland, die weder von arabischen Kalifen, noch von mongolischen oder ottomanischen Herrschern, noch von britischen Kolonialherren und auch nicht von der Bath-Diktatur erreicht wurde: nämlich den Untergang der irakischen Christenheit ausgelöst zu haben, die so alt ist wie das Christentum selbst. Anfang Mai berichteten amerikanische Medien über Differenzen in der „US Commission on International Religious Freedom“.1 Kommissare, die den Demokraten nahestünden, so hieß es, wollten den Irak als CPA, d.h. als „besonders Besorgnis erregendes Land“2 behandeln. Dagegen seien ihre republikanischen Kollegen bemüht, dies zu verhindern: Den Irak zusammen mit Nordkorea, Saudi Arabien, Sudan, Pakistan, China u.a. Menschenrechtsverächtern an den CPAPranger zu stellen, wäre in hohem Maße peinlich. Wie sollte sich das mit der gegenwärtigen PR-Kampagne der Bush-Administration über den Erfolg der jüngsten Truppenverstärkung im Irak vereinbaren lassen? Außerdem, so argumentieren die Gegner einer härteren Gangart mit der Regierung al-Maliki, würde der CPA-Status den politischen Druck auf die Administration und den Kongreß erhöhen, diplomatische und wirtschaftliche Sanktionen gegen die irakische Regierung zu beschließen. Zunächst ist es den republikanisch gesonnenen Kommissaren gelungen, den Kommissionsbeschluß über den Status des Irak zu vertagen. Sollten sie jedoch auch mit ihrem Vorhaben Erfolg haben, ihre Partei und al-Malikis Irak mit dem drohenden CPA-Status zu verschonen, dürfte der Kommission ein ernstes Glaubwürdigkeitsproblem erwachsen: Laut ihrem Mandat hat die „US Commission on International Religious Freedom“ zu beobachten und zu begutachten, wie es weltweit um die Religionsfreiheit bestellt ist.3 Mitte des Jahres hat die Kommission ihren Jahresbericht für 2008 vorzulegen. Er muß Empfehlungen an das Weiße Haus, das State Department und den Kongreß enthalten, wie mit der verbündeten Regierung al-Malaki umzugehen ist. Wegen deren Verachtung der Religionsfreiheit u.a. Menschenrechte muß die Kommission Sanktionen gegen den Irak verlangen, um ihrem Mandat gerecht zu werden, zumal sie sträflich fahrlässiges Versagen sowie proaktive Vergehen der Regierung al-Maliki bereits an die Öffentlichkeit getragen hat. 216 Ganz im Sinne der Kommission hatten demokratische und republikanische USRegierungen bis zu Saddam Husseins Sturz dessen Staat als CPA-Land behandelt. Dieser Status wurde mit der „Befreiung des Irak“ vor fünf Jahren aufgehoben. In ihrem Jahresbericht 2007 hatte die Kommission dann angekündigt, sie werde sich 2008 nötigenfalls dafür verwenden, daß der Irak erneut CPABehandlung erhalte. Dies sei unvermeidbar, sollte die Regierung nicht davon ablassen, Verletzungen der Religionsfreiheit entweder selbst zu begehen oder sehenden Auges untätig zu bleiben. Bereits in ihrem umfassenden Irakbericht von 2007 hatte die Kommission Verletzungen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit eingehend beschrieben. Diese seien von ausländischen Islamisten, von sunnitischen Aufständischen, von schiitischen Milizen, landauf, landab von örtlichen Regierungen, von der Regierung des autonomen Kurdengebiets, sowie in einem nicht unerheblichen Ausmaß direkt von der al-Maliki Regierung zu verantworten. Ferner kommt die Kommission zu dem Schluß, daß die religiösen Minderheiten, die seit Jahrtausenden im Zweistromland beheimatet sind, nämlich Christen, Mandäer und Jeziden, im Irak vor dem Aus stünden. Entsprechendes gelte für die Baha’is, deren Glauben wie unter Saddam Hussein auch heute oft noch als Kapitalverbrechen behandelt werde. Am 20.3.2003 bricht der Irakkrieg aus. Er löst eine Flüchtlingskatastrophe aus, die im Nahen Osten Assoziationen mit 1948 wachruft. Infolge des israelischarabischen Kriegs verloren seinerzeit ca. 600.000 Palästinenser ihre Heimat. Deren Nachkommen, die heute als palästinensische Flüchtlinge gelten, werden auf ca. 4 Millionen Menschen beziffert. Dies verschwindet im Schatten dessen, was sich in den letzten Jahren im Irak abspielt. Seit Beginn des Kriegs gegen Saddam Hussein gehen Terroristenjagd und innenpolitische Machtkämpfe mit Anarchie einher, der nach vorsichtigen Schätzungen bis heute ca. 90.000 Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Viele von ihnen werden wegen ihrer Herkunft gezielt umgebracht – weil sie Schiiten oder Sunniten sind oder weil sie einer der völlig ungeschützten Minderheiten angehören. Laut UN-Flüchtlingskommissariat löste der Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra im Februar 2006 Massenflucht aus. Infolge des Anschlags kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die von Extremisten genutzt wurden, um religiös homogene Gebiete zu schaffen. Leidtragende waren vor allem die religiösen Minderheiten. Inzwischen haben sich ca. 2,2 Millionen Iraker über die Grenzen gerettet, während eine etwa gleich große Anzahl im eigenen Land Flüchtlinge geworden sind. Dort drängten die meisten in die kurdischen Gebiete im Norden. Unter den Anrainerstaaten sind Syrien und Jordanien das beliebteste Ziel. In diesen beiden Ländern trafen täglich jeweils bis zu 3.000 Flüchtlinge ein. So sind ca. 17% der irakischen Gesamtbevölkerung heimatlos geworden. In den Industriestaaten wurden in den letzten zwei Jahren die meisten Asylanträge von Irakern gestellt: 45.000 pro Jahr. In der Region beherbergen Syrien derzeit ca. 1,2 Millionen Flüchtlinge und Jordanien ca. 750.000. Auf deutsche Verhältnisse übertragen entspräche dieser 217 Bevölkerungszuwachs über 10,2 Millionen Menschen in Jordanien und über 5,1 Millionen in Syrien. Trotz des Ausmaßes dieser Flüchtlingskatastrophe ist sie für Fernsehkameras nicht vermittelbar. Da die Flüchtlinge nicht in Lager gezwungen werden, treten sie im Stadtbild von Damaskus und Amman nicht in Erscheinung. Es fehlen Bilder von Zeltstädten, die ins Großhirn der Weltöffentlichkeit treffen und Alarm auslösen könnten. Die Flüchtlinge bewohnen meist angemieteten, überfüllten Wohnraum und gehen mit ihren einheimischen Nachbarn in einer einheitlich erscheinenden Masse auf. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sind 90% von ihnen schwer traumatisiert. Ohne Arbeitserlaubnis müssen sie vor allem von stetig schwindenden Ersparnissen leben, so daß sie verelenden. Da Kinderarbeit in den Gastländern nicht unüblich ist, fallen minderjährige Schwarzarbeiter weniger auf als erwachsene. Unter diesen Umständen kommt es auch zu Kinderprostitution. Der trügerische Schein des unauffälligen Straßenbildes verbirgt ferner politisch äußerst explosive Sprengsätze: In Syrien und Jordanien haben die Flüchtlinge Zugang zu den Bildungs- und Gesundheitssystemen, können jedoch nicht legal arbeiten. Gleichwohl sind sowohl der Arbeitsmarkt als auch die Bildungs- und Gesundheitssysteme überlastet. Steigende Nachfrage hat die Miet- und Lebensmittelkosten um fast 100% in die Höhe getrieben. Dies gefährdet das sozioökonomische Gleichgewicht der Gastländer. Syrien steht sogar vor einem wirtschaftlichen Kollaps, was die politische Stabilität des autoritären Regimes beeinträchtigt und den idealen Nährboden für politische Radikalisierung schafft. Mit den Herausforderungen der Flüchtlingsnot weitgehend auf sich gestellt, haben Damaskus und Amman im Oktober 2007 schließlich wissen lassen, das Boot sei voll, und ihre Einreisemodalitäten drastisch verschärft. Von den Betroffenen wird jetzt verlangt, regelmäßig nach Bagdad zu reisen, um beim Konsulat eine Verlängerung ihres Besucherstatus zu beantragen. Um dieser Anforderung nachzukommen, müßten viele von ihnen zum Selbstmord bereit sein. Sie zu ignorieren, bringt jedoch das Risiko der Abschiebung mit sich. Auch in anderen Staaten der Region gibt es kleinere Ansammlungen irakischer Flüchtlinge: In den Golfstaaten werden sie auf 200.000, in Ägypten auf 100.000, im Iran auf 54.000, im Libanon auf 40.000 und in der Türkei auf 10.000 geschätzt. Seit Kriegsausbruch vor fünf Jahren werden Christen im Irak Opfer unvorstellbarer Barbareien. In der jüngsten Debatte über deutsche und europäische Asylpolitik werden Einzelschicksale von Enthaupteten, Gekreuzigten, Erschlagenen u.ä.m. thematisiert – herzzerreißende, aber nur kleine Ausschnitte einer Szenerie des Grauens, die sich seit 2003 entfaltet: Es werden über drei dutzend Bombenanschläge auf Kirchen gezählt. – Dutzende von Geistlichen werden entführt und oft grausam ermordet. – Junge Frauen werden entführt und vergewaltigt, begehen dann mitunter Selbstmord. – 95% der Alkohol vertreibenden Geschäfte, die traditionell von Christen betrieben werden, werden zum Ziel meist vernichtender Anschläge. – Ebenso rufen Frisiersalons den fanatischen Zorn islamistischer Gotteskrieger auf den Plan. – In der Nacht zum 7. September 2005 gehen 500 218 Geschäfte assyrischer Christen in Dora (Bagdad) in Flammen auf. – Landauf, landab werden Christen unter Mordandrohung genötigt, zum Islam überzutreten. Oft ist noch der Beweis für die Aufrichtigkeit dieser Gewissensentscheidung zu erbringen, indem Schwestern oder Töchter dahergelaufenen Muslimen in die Ehe zu überantworten sind. – Opfer von Kindesentführungen werden zwangsweise der Obhut muslimischer Familien überstellt oder mit Muslimen zwangsverheiratet. Zum Alltag christlicher Frauen gehört es, ins Fadenkreuz islamistischer Extremisten schiitischer, sunnitischer oder kurdischer Provenienz zu geraten. Im Frühjahr 2007 erhalten Christen in Bagdad ein Schreiben der Mahdi-Armee des schiitischen Predigers Muqtata al-Sadr. Darin werden Christinnen vor die Alternative gestellt, sich zu verschleiern oder schwerwiegende Folgen zu gewärtigen. Die Jungfrau Maria, so belehrt der Drohbrief, habe den Schleier getragen und daher gelte diese Norm für christliche Frauen. Nach weiteren langschweifigen Ausführungen über Frauen geziemende Unterwürfigkeit endet das Schreiben mit der unheilvollen Versicherung, Komitees seien mit der Überwachung der christlichen Bevölkerung beauftragt worden … Auch Vertreibungen durch erpresserische Enteignung sind gängige Praxis. Im März 2007 übernehmen sunnitische al-Qaeda Milizionäre das Bagdader DoraStadtviertel, das überwiegend von assyrischen Christen bevölkert ist. Die neuen Herren treiben die Jizya-Steuer ein. Dieses „Schutzgeld“ mußten Juden und Christen bereits ab dem 7. Jahrhundert an islamische Herrscher abführen, weil sie diesen zwar keinen Kriegsdienst leisten durften, aber an den Kosten des Kriegsführens beteiligt werden sollten. 2007 verlangt al-Qaeda von jeder christlichen Familie im Dora-Viertel US $ 190,-. Familien, die diese Jizya nicht aufbringen, sollen am folgenden Freitag ein Familienmitglied zur Moschee schicken, das in aller Öffentlichkeit zum Islam überzutreten habe. Familien, die dies ablehnen, bleibt ein letzter Ausweg, um ihrer angedrohten Ermordung zu entgehen: Nämlich ihre Häuser innerhalb von 24 Stunden auf immer zu verlassen, ohne irgend etwas mitzunehmen, da „ihr Besitz Eigentum der Moschee“ sei. Proteste der Patriarchen der chaldäischen, assyrischen und altassyrischen Kirchen sowie andere Initiativen, um die irakische Regierung und die amerikanischen Streitkräfte zur Intervention im Dora-Viertel zu bewegen, werden ignoriert. Auch andernorts kommt es zu Ausschreitungen im Zuge des JizyaEintreibens, z.B. im Herbst 2007 in Mossul. Bereits im 2. Jahrhundert verbreitet sich das Christentum im Gebiet des heutigen Irak. Als der Islam aufkommt, sind die Mehrheit der Bevölkerung Christen. Nach einer höchst wechselvollen Geschichte leben bei Ausbruch des Irakkriegs im März 2003 noch ca. 800.000 Christen im Land. Die Nachfahren der mesopotamischen Urchristen, die sog. assyro-chaldäischen Christen des heutigen Irak, sehen sich als die Urbevölkerung des Zweistromlands. Ihre aramäischen Sprachen gehen auf die aramäische Mundart des Jesus von Nazareth zurück und gehören zu ihren identitätsstiftenden Unterscheidungsmerkmalen. Heute gibt es zwei große Kirchen im Irak, nämlich die Heilige Apostolische Katholische Assyrische Kirche des Ostens (auch Syrisch-Orthodoxe Kirche genannt) mit traditi219 onsgeschichtlichen Verbindungen zu den Nestorianern und den sog. ThomasChristen. Daneben die Chaldäisch-Katholische Kirche, eine autonome Mitgliedskirche der Römisch-Katholischen Kirche. Ferner gibt es kleine Gemeinden der griechisch-orthodoxen Kirche sowie der Armenisch-Apostolischen Kirche. Mit ihrer jeweils eigenen Geschichte, Sprache, Kultur und Religion unterscheiden sich die Christen als ethnische Gruppen von der arabischen Mehrheitsgesellschaft. Ungläubige! – Verräter! – Kollaborateure! – Agenten des Westens! – Todgeweihte! – Verschwindet aus dem Irak! So u.ä. lauten die Versatzstücke der Morddrohungen, die zum Alltag irakischer Christen gehören. Nicht immer wird diese Botschaft anonym, d.h. per SMS, Anruf oder Brief übermittelt. Auch mündlich mit Augenkontakt bleibt die Wirkung nicht aus. Oft ergreifen die Opfer unter Verzicht auf Reisegepäck die Flucht. Die Mehrheit der Christen gehört der gebildeten Mittelschicht mit einem hohen Akademikeranteil an. In den katastrophalen Wirren der letzten Jahre, in denen immer mehr Menschen von der Hand in den Mund leben müssen, steigt der Marktwert solider englischer Sprachkenntnisse. Unter jenen, die fürs amerikanische und britische Militär übersetzen können, sind überdurchschnittlich viele Christen. Das paßt ins Feindbild islamistischer Extremisten. In ihrer Haßpropaganda mutieren einheimische Christen zu prädestinierten Kollaborateuren mit den „Kreuzfahrern des zionistisch-christlichen Westens“, die den Islam rund um den Globus vernichten wollen. Die Verfolger von Christen u.a. religiösen Minderheiten im Irak – Mandäer, Jeziden und Baha’is – sind islamistische „Gotteskämpfer“, die oft aus dem Ausland zwecks Jihad in den Irak gekommen sind. Obwohl sie sich gegenseitig bekämpfen, teilen sie, unabhängig von ihrem sunnitischen oder schiitischen Hintergrund, die Besessenheit, den Irak von Ungläubigen reinigen zu müssen. So sehen sich irakische Christen sowie die Angehörigen anderer religiöser Minderheiten als Opfer ethnischer Säuberungskampagnen und vorsätzlichen Genozids im Sinne der einschlägigen UNO-Konvention. Danach gelten Ermordungen u.a. Straftaten, durch die eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise vernichtet werden soll, als Genozid.4 Dieser hat gut die Hälfte der irakischen Christen außer Landes getrieben. Ca. 180.000 sind in den Anrainerstaaten gestrandet. Die anderen sind in die Diaspora weitergewandert – Australien, Nordamerika und Europa – wo es bereits Gemeinden gibt. Aus dem Gros der im Irak verbliebenen Christen sind inzwischen Binnenlandflüchtlinge5 geworden. Das gleiche Schicksal erleiden die Yeziden und die Mandäer. Von den Mandäern oder sog. Johannes-Christen, die sich von Johannes dem Täufer und aus gnostischen Traditionen herleiten, haben 85% den Irak verlassen: Vor fünf Jahren wurden sie auf ca. 30.000 geschätzt, heute sind es noch ca. 5.000. Mit dem Genozidtatbestand setzt sich die „US Commission on International Religious Freedom“ in ihrem voraufgehend erwähnten Jahresbericht für 2007 freilich nicht auseinander. Gleichwohl weist die Agentur der US-Regierung in 220 ihrer umfassenden Analyse nach, daß der Anteil der nichtmuslimischen Minderheiten unter den Irakflüchtlingen überproportional hoch ist. Ferner wird aufgezeigt, daß diese Gruppen von den anarchischen Verhältnissen im Irak härter als andere betroffen sind, weil sie im Unterschied zu manchen ihrer muslimischen Landsleute keinen Rückhalt durch Stammesstrukturen haben, so daß nur die Massenflucht ein Überleben verspricht. Für Hunderttausende von christlichen Flüchtlingen sowie für Zehntausende von Angehörigen anderer nichtmuslimischer Minderheiten kommt eine Rückkehr in den Irak nicht mehr in Frage. Dennoch wollen Vertreter dieser Gemeinschaften bisweilen nicht wahrhaben, daß ihnen offenkundig das gleiche Schicksal bevorstehen sollte, das 1948 und 1951 ca. 130.000 irakische Juden infolge der Gründung des Staates Israel ereilt. Diese müssen nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden ihre angestammte Heimat und das Ursprungsland des Talmuds verlassen. Damals wie heute betrauern gemäßigte Moslems ein unschätzbares zivilisatorisches Gut, das dem Nahen Osten über zwei Jahrtausende politische und kulturelle Lebensqualität stiftet. Der chaldäisch-katholische Erzbischof Paulos Faraj Rahho von Mosul, der am 29.2.08 entführt und kaltblütig ermordet wurde, hatte es abgelehnt, sich selbst ins Ausland in Sicherheit zu bringen. Für Geistliche ist das Ansinnen, hirtenlose Gemeinden fanatischen Verfolgern ans Messer zu liefern, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, in aller Regel undiskutabel. Obgleich das drohende Ende des Christentums im Zweistromland ein Alptraum ist, gibt es unter Patriarchen u.a. Kirchenfürsten im Nahen Osten erste Anzeichen für ein Umdenken, was die Zukunft ihrer Gemeinden betrifft. Inzwischen wird hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand eingeräumt, daß es für die irakischen Christen keine realistischen Aussichten auf Rückkehr und Neuanfang in ihrer Heimat mehr gibt. Der Papst empfiehlt in der Öffentlichkeit, für den Verbleib der Christen in Mesopotamien zu beten. Indessen weiß man auch im Vatikan, daß die Anzahl der Christen in Mesopotamien verschwindend gering wird, und daß es zur Umsiedlung der Verfolgten in Industriestaaten keine vertretbare Alternative mehr gibt. Anmerkungen 1) www.uscirf.gov/ 2) „Country of Particular Concern“. 3) Vgl. http://www.uscirf.gov/index.php?option=com_content&task=view&id=1670& Itemid=1. 4) UN Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (1948), Artikel 2. 5) IDPs („Internally Displaced Persons“). Dr. Thomas Krapf war Israel- und Nahostkorrespondent in Jerusalem und bis 2007 Referent für Religions- und Weltanschauungsfreiheit der OSZE. 221 Stefan Hartmann Gottvergessenheit oder Gotteswahn? Literaturbericht zum Thema eines scheinbar neuen Atheismus Angeblich gibt es einen aus Amerika herüberschwappenden neuen missionarischen Atheismus. Medien berichten über dieses Phänomen, das so alt ist wie die sich immer wieder von ihrem Gott und Schöpfer lossagende und „emanzipierende“ Menschheit. Religions- und Gotteskritiker des 19. und 20. Jahrhunderts hatten bei all ihren Verzeichnungen aber, wenn es nicht eine Art antiklerikaler Vulgär-Aufklärung war, immerhin ein gewisses Niveau und einen geistig ernst zu nehmenden Anspruch. Die tragische Geschichte dieses „Humanismus ohne Gott“ vom Positivisten Comte über Feuerbach bis Nietzsche hat Henri de Lubac geschrieben.1 Der Religionsphilosoph Erich Przywara betonte in Würdigung neuzeitlichen Denkens immer wieder, daß Gott nicht ein neutrales Gegenüber, nicht ein Objekt oder ein „Anderer“ wäre, sondern paradox und dialektisch sowohl in, als auch über der Welt und dem Menschen zu denken ist. Es kam aber in der Neuzeit zu einem zunehmenden Schwinden des Gottesbewußtseins in den meisten europäischen Völkern – mit Polen, der Heimat des Papstes Johannes Paul II., als großer Ausnahme. Denker wie Romano Guardini konnten zwar bis in die frühen 1960er-Jahre noch selbstverständlich und auf ästhetisch hohem Niveau von Gott reden und schreiben, fanden aber außerhalb von Anhängerkreisen kaum noch Gehör. So haben sich Christen dann auch selbst andere und scheinbar erträglichere Themen gegeben. Noch während des Zweiten Vatikanischen Konzils verfaßte daher der an diesem kirchengeschichtlichen Ereignis unbeteiligte Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar für die leider bald eingestellte Zeitschrift „Hochland“ den eindringlichen Aufsatz „Die Gottvergessenheit und die Christen“2 und warnt, es in Liturgie, Bibelverständnis und Ökumene bei bloß formalen, die lebendige Gottesfrage ausklammernden Änderungen und „Reformen“ zu belassen. Der Anstoß blieb nicht ungehört und rief nun indirekt auch den die Gnosis berührenden marxistischen Hoffnungsphilosophen Ernst Bloch auf den Plan mit seinem Opus „Atheismus im Christentum“3. Balthasar stimmte sogar einmal Bloch darin zu, daß in gewissem Sinn nicht Nietzsche oder Marx, sondern Christus selbst in seinen „Ich-bin-Worten“ der Titel des „ersten Atheisten“ zukommt. Dorothee Sölle will zur gleichen Zeit „atheistisch an Gott glauben“ und in Holland formiert sich eine „Gott ist tot-Theologie“. Der Tscheche Milan Machovec konnte das Buch „Jesus für Atheisten“4 schreiben und damit einen echten Dialogbeitrag leisten. Im nachkonziliaren Frühling der Theologie erschien 1969 der von Hans Jürgen Schultz herausgegebene Sammelband einer Rundfunkreihe des Süddeutschen Rundfunks unter dem Titel „Wer ist das eigentlich – Gott?“. Er enthielt Beiträge 222 namhafter, meist katholischer Theologen und wurde 1973 als Suhrkamp Taschenbuch neu aufgelegt. So bietet darin Karl Rahner eine tiefschürfende „Meditation über das Wort ‚Gott’“, Joseph Ratzinger steuerte seine ersten und immer noch aktuellen Überlegungen zum Thema „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“ bei und Johann Baptist Metz, der in den 1990er-Jahren von der „Gotteskrise“ reden wird, nennt seinen Beitrag „Der zukünftige Mensch und der kommende Gott“. Das Sammelwerk war eine lichte Ausnahme, denn nach 1968 haben sich dann wie angedeutet andere Fragen in den Vordergrund gedrängt: ein weitgehender moraltheologischer Dissens in Verbindung mit der Enzyklika „Humanae Vitae“, der Streit um die Befreiungstheologie oder um innerkirchliche Strukturfragen wie päpstliche Unfehlbarkeit, Amtszugänge und Partizipation der Laien. Es hat dann nicht wenig erstaunt, als im Millenniumsjahr 2000 Karl Kardinal Lehmann, der Schüler und ehemalige Assistent Rahners (des Theologen der so genannten anthropologischen Wende), ausdrücklich auf den verborgenen „göttlichen Gott“ verwies und ein Interview-Buch mit dem Zitat von Andrej Sinjawski titelte: „Über den Menschen ist genug geredet worden. Es ist Zeit, an Gott zu denken“. Es scheint, daß diese Zeit im 21. Jahrhundert – zumal nach dem Geschehen vom 11. September 2001 – nicht mehr eingefordert zu werden braucht, sondern sich von selbst gebieterisch aufdrängt. Papststerben und Papstwahl traten 2005 hinzu und schließlich das enorme Echo auf die Regensburger Vorlesung „Glaube und Vernunft“, die nach anfänglichen Irritationen nun zu einem wirklichen islamisch-christlichen Gespräch zu helfen scheint – wie beispielsweise der erstmals zu Weihnachtsgrüßen führende Briefwechsel von 138 islamischen Würdenträgern und Gelehrten mit christlichen Vertretern bis hin zum Papst. Erstaunliches hört man seit 2001 (Friedenspreisrede in der Paulskirche über „Glauben und Wissen“) auch von Jürgen Habermas, trotz seines Widerspruchs gegenüber seinem nunmehr päpstlichen Dialogpartner.5 In seinem 2007 erschienenen Buch „Jesus von Nazareth“ geht es nach Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. zentral um die Frage: „Was hat Jesus denn eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Was hat er gebracht? Die Antwort lautet ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht [...] Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen.“6 Die Antwort erstaunt in ihrer Einfachheit und enthält die Kraft in sich, alle aktuellen Problematisierungen der Frage nach Gott, nach seinem Wesen, seiner Existenz und seiner geschichtlichen Wirkung, zu entkrampfen und einer ruhigen Lösung entgegenzuführen – dem, was Martin Heidegger „Lichtung“ nannte, was der sich rhetorisch als „Antichrist“ stilisierende Friedrich Nietzsche an einem Mittag im Engadin erfuhr und was ein Paul Klee in Skizzen faßte. Beide Philosophen (und der Zeichner) eines letztlichen Nihilismus sind nämlich in ihrer klaren und hellen Ästhetik glaubwürdiger als etwa die kunstreligiös sich zu „Göttern“ und autoritären Religionsstiftern aufbauschenden Richard Wagner (Musik), Stefan George (Lyrik) oder auch Max Beckmann (bildende Kunst). Es gibt einen Atheismus und einen Nihilismus, bei dem das Nein nicht das letzte 223 Wort ist, der offen bleibt für die Fülle eines anderen Lichtes in der Gestalt des Jesus von Nazareth. Es tut daher fast weh, auch angesichts des klaren Angebotes des gegenwärtigen Papstes, der Polemik eines fundamentalistischen Atheismus Aufmerksamkeit zu widmen, wie er vor allem durch das Buch The God Delusion („Der Gotteswahn“)7 des bekannten Evolutionsbiologen Richard Dawkins verbreitet wird. Dawkins mag manche Aspekte amerikanischer Sektenmentalitäten treffen, für jeden gebildeten Europäer ist sein Werk aber eine intellektuelle Beleidigung und enthält nicht ein einziges Argument wider die von Pascal vorgeschlagene Wette um Gottes Existenz. Von personaler Philosophie und Anthropologie hat der in einem vulgären Materialismus befangene Biologe nicht den Schimmer einer Ahnung. In einer J. B. Kerner-Talk-Sendung wurde Dawkins denn auch von einem evangelischen Ratsvorsitzendem und einem Hamburger Weihbischof argumentativ und menschlich in einer schon Mitleid erregenden Art und Weise entzaubert. Der US-amerikanische Katholik Michael Novak zählt ihn – Punkt für Punkt nachgehend und widerlegend – mit einem Sam Harris („Letter to a Christian Nation“) und einem Daniel C. Dennett („Breaking the Spell“) wohlwollend zu den „einsamen Atheisten“8. Die Verkaufszahlen von Dawkins’ Buch sind im deutschen Sprachbereich trotzdem hoch, zumal Religiöses oder Anti-Religiöses, seien es die Pilgerwege eines Fernsehmoderators oder die Bekenntnisse einer ausgetretenen Ordensschwester, zur Zeit Hochkonjunktur hat. Dicht gefolgt wird Dawkins in der Bestsellerliste allerdings von einem flott, humorvoll und gescheit geschriebenen Werk, das gegensegelt, von Manfred Lütz’ kraftvollem Essay „Gott. Ein kleine Geschichte des Größten“.9 Hier ist keine Gegenapologetik, sondern wird frisch, fromm, fröhlich und frei von einem belesenen Kölner Arzt und Psychotherapeuten in unideologischem Klartext gefochten und argumentiert. Man kann sich den Autor auch gut als Eulenspiegel in einer Kölner Karnevalsbütt vorstellen. Dieser unorthodoxe Stil, der schon seine populäre Schrift „Lebenslust – über Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswahns“ kennzeichnete, findet seine Lesergemeinde und scheint dem Gottesthema, an das sich auch einige „Gottprotze“ (E. Canetti) anhängen, nun wirklich auf zeitgemäße und eben journalistisch befriedigende Weise gerecht zu werden. Interessant wäre es, wie weit und ob Lütz auch amerikanische Kunden finden wird, ob dort manche seiner Anekdoten kölnischen Humors überhaupt begriffen werden. Zur Exorzisierung der Dawkins-Thesen kann man sich jedenfalls an Lütz halten, der auch das Gottfried-Benn-Wort von der Gottesrede als schlechtem Stilprinzip widerlegt. Wer es allerdings analytischer und diskursiver möchte, sei auf die diversen Aufsätze von Robert Spaemann10 und zuletzt dessen fulminanten Essay „Der letzte Gottesbeweis“11 verwiesen. Hier schreibt ein christlich-katholischer Philosoph, dem man magistralen Charakter bescheinigen kann und der schon in unzähligen Grundfragen, auch ethischer Art, zu Klärungen beitrug. Bei allen Überlegungen, Erwägungen und Diskussionen zur Gottesfrage sollte aber ein eindringlicher und bekannt gewordener Satz der vom Kommunismus verfolgten Russin und Konvertitin Tatjana Goritschewa nicht vergessen werden: „Von Gott zu reden ist 224 gefährlich“12 – daran wären auch „Worte zum Sonntag“ zu messen. Diese Gefährlichkeit liegt einmal in der Abwehr allen Relativismus und in der fordernden Konkretisierung, wie sie geistig von Sören Kierkegaard, existentiell von zahllosen Märtyrern des Glaubens bezeugt wird. Aber sie liegt auch in der Zuspitzung der Gottesfrage auf das Jesusverständnis. Hier liegt der über alle exegetischen Spezialfragen herausragende tiefere Sinn des Jesus-Buches von Benedikt XVI.: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mt 16,15). Wir kennen die Antwort des Petrus, die von allen seinen Nachfolgern übernommen wurde: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (16). Nur in Jesus Christus findet daher die Frage nach Gott eine wirklich befriedigende Antwort und eine Lösung, die dem Satz „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16) glaubwürdig entspricht. Dazu bedarf es aber auch des Mutes, sich dem Geheimnis des Menschen offen zu stellen und es nicht materialistisch zu verkürzen. Gottes- und Nächstenliebe bedingen einander genauso wie Eros und Agape. Beides wurde durch Jesus bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung als untrennbare Einheit vorgelebt. Dies hat nun der gegenwärtige Inhaber des Petrusamtes überzeugend umschrieben und umdacht. So ist er nicht nur der große Theologe, sondern – wie Paulus, dessen Gedenkjahr er ausrief – in Wahrheit Missionar und Apostel. Mit Spannung darf also der angekündigte zweite Teil seines Jesus-Buches erwartet werden. Bis dahin wird die Modeerscheinung eines geistig dürftigen Neoatheismus verklungen sein. Anmerkungen 1) Über Gott hinaus. Tragödie des atheistischen Humanismus, Freiburg i. Br. ²1990. 2) Jetzt in H. U. v. Balthasar, Spiritus Creator. Skizzen III, Freiburg i. Br. ³1999, 280-295. 3) Frankfurt a. M. 1968. 4) Gütersloh 1972. 5) Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft, in: K. Wenzel (Hg.), Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, Freiburg i. Br. 2007, 47-56. Vgl. Ch. Böhr, Denken ohne Gott? Zur Antwort von Habermas auf den Papst, in: Die Neue Ordnung 61 (2007), 324-337. 6) J. Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 73. 7) London 2006 / Berlin 2007. 8) Einsame Atheisten, in: IKaZ „Communio“ 36 (2007), 617-638. „Leider ist es entsetzlich schwierig, auf dem Niveau von Harris, Dennett und Dawkins zu diskutieren“ (618). 9) München 2007. 10) Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007. 11) Mit einer Einführung in die großen Gottesbeweise und einem Kommentar zum Gottesbeweis Robert Spaemanns von Rolf Schönberger, München 2007. Spaemann sieht diesen „letzten Gottesbeweis“ (in Anlehnung an Hans Jonas) als sich aus dem Wahrheitsbegriff und der Grammatik (!) ergebend. 12) Meine Erfahrungen im Osten und im Westen, Freiburg i. Br. 1984. 16. Auflage 1987. Lic. theol. Stefan Hartmann wirkt als Pfarrer und Publizist in Oberhaid. 225 Andreas Püttmann Gesellschaftsanalyse aus dem Glauben Markus Spieker und der „Mehrwert“ des Glaubens „Deutsche Bischöfe fürchten nicht den Bundeskanzler, sondern den Fernsehjournalisten“, hat der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee einmal über die prekäre Rolle der Kirche in der Mediendemokratie geschrieben. Tatsächlich sind Journalisten laut empirischen Studien eine überdurchschnittlich säkularisierte, kirchenferne und -kritische Berufsgruppe, die dazu tendiert, die kultische, moralische und dogmatische Gestalt der Kirche als Corpus Christi mysticum rein profanen Kriterien zu unterwerfen, folglich mißzuverstehen und als undemokratische, leibund frauenfeindliche, antiquierte Institution abzulehnen. Der langjährige Auslandskorrespondent Uwe Siemon-Netto beschrieb das religiöse Profil seines durch hohe Scheidungs- und Alkoholikerraten, geringe Lebenserwartung sowie verbreiteten Hang zu Narzißmus, Negativismus und Zynismus gekennzeichneten Berufsstandes vor einigen Jahren so: „Ob wir’s zugeben oder nicht: Unsere Seelen sind wund. Auch in den Redaktionen hat sich herumgesprochen, daß die materialistische Weltanschauung hoffnungslos gescheitert ist. Natürlich geben wir unsere Sehnsüchte nicht offen zu. Da wir Journalisten die Quintessenz aller Weltlichkeit sind, liegen wir in einem ständigen Konflikt zwischen unserer Neugier und jenem Aspekt der Ursünde, der die Menschheit seit Adams Zeiten begleitet: Wie die ersten Menschen (1. Mose 3,8) verstecken wir uns vor Gott; wie der Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, tun wir dann, als wäre Gott nicht da. Das Bedürfnis, Gott zu negieren, ist uns angeboren, es ist Teil unserer Natur.“ Doch auch das Bodenpersonal Gottes trage zu dem konfliktreichen Verhältnis von Kirche und Medienmachern bei: „Wir Journalisten mögen Zyniker sein, aber so dumm sind wir nicht, daß uns Inkompetenz nicht auffiele. Wir, die wir die Nöte der Welt täglich unmittelbar erleben, haben keinen Bedarf für Pfarrer, die von der Kanzel mitteilen, was wir selbst viel besser – und korrekter – formulieren können. Wir haben keinen Bedarf für klerikale Lösungsangebote auf Stammtischniveau.“ Befördert durch die bedrohliche Gegenfolie des Islamismus sowie durch die eindrucksvollen weltkirchlichen Ereignisse in Rom, Köln und Bayern und die dort zu besichtigende „Abstimmung mit den Füßen“, scheint sich der Wind neuerdings etwas gedreht zu haben. Ein neues Interesse für Religion und Kirche fand auch in den Medien Widerhall und wurde von prominenten Journalisten selbst inspiriert. Peter Hahnes Bestseller „Schluss mit Lustig“, Wolfram Weimers „Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist“, Stefan Kulles „Warum wir wieder glauben wollen“ oder Andreas Englischs „Gottes Spuren. Die Wunder der katholischen Kirche“ sind nur einige Beispiele dafür, daß Vertreter säku- 226 larer Medien und nicht etwa Eigengewächse aus Kirchenredaktionen inzwischen zur Avantgarde der Reevangelisierung gehören. Den – im doppelten Sinn – jüngsten Beitrag zu einer allgemein verständlichen und kurzweiligen Massenkatechese aus journalistischer Feder leistete jetzt der erst 36jährige Historiker und ARD-Hauptstadtkorrespondent Markus Spieker. Markus Spieker: Mehrwert. Glauben in heftigen Zeiten. Johannis Verlag, Lahr 2007, 160 S. Der Duktus seines Zeugnisses könnte unter das Motto der zweiten Strophe eines bekannten Kirchenliedes gestellt sein: „Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit“. Spiekers Weckruf beginnt mit einer schonungslosen Lageskizze von Kirche und Gesellschaft: „Die Zahl der Heiligsprechungen steigt von Jahr zu Jahr, die Zahl der Heiliglebenden geht, soweit ich das beurteilen kann, kontinuierlich zurück. (...) Während die meisten unserer Vorfahren damit beschäftigt waren, zu überleben bzw. richtig zu leben, geht es uns darum, angenehm zu leben. Das Gute, Wahre, Schöne – ersetzt durch das Erfolgreiche, das Interessante, das Auffällige.“ Angewidert stellt der Medienmacher fest: „Deutschland ist dick und geil geworden.“ „Forderte Faust noch ‚vom Himmel die schönsten Sterne und von der Erde jede höchste Lust’, fordern wir nur noch die Lust, egal ob hoch oder niedrig.“ Mit der Verbreitung des Internets sei es „endgültig unmöglich geworden, die Gülle wegzupumpen. Sodom ist immer nur einen Mausklick entfernt vom Büro oder Kinderzimmer.“ Er selbst sei als „typisches Kind meiner Zeit“ so „gierig und lüstern“ wie viele andere. Daher habe er seinen privaten Internetanschluß gekappt. „Porno Storno, sozusagen.“ Solche freimütigen Bekenntnisse machen die Philippica gegen die „moralische Kernschmelze“ in der Gesellschaft glaubwürdiger und nehmen einer Aversion gegen das „Moralisieren“ jeden Wind aus den Segeln. Auch der Vorwurf des Rigorismus würde dem evangelischen Autor nicht gerecht, denn er spricht sich bei aller sonstigen Sittenstrenge etwa dagegen aus, „das Zwangszölibat über alle Geschiedenen zu verhängen“, stimmt liberalen Theologen zu, Moses und Paulus hätten „von homosexueller Liebe zwischen gleichberechtigten Erwachsenen nichts gewußt“ und verbindet seine davon unbeeinträchtigte Kritik an der propagierten „sexuellen Pluralität“ mit dem empathischen Kommentar: „Das klingt grausam, das stellt Gläubige, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, vor eine Zerreißprobe, genau wie Singles und sexuell frustrierte Eheleute, genau wie polygame Männer und nymphomane Frauen, genau wie mich selbst, öfter als mir lieb ist.“ Fromme Askese-Appelle allein seien „sinn- und wirkungslos, wenn sie nicht an konkrete Beziehungsangebote gekoppelt sind. Gott garantiert nicht jedem von uns eine perfekte Partnerschaft, aber er hat die Kirche eingerichtet.“ Den Vorwurf des Pessimismus kontert Spieker zunächst schroff. Ihn ärgere „der kopftätschelnde Optimismus, der auf christlichen Veranstaltungen inzwischen Vorschrift ist: ,Wir brauchen Ermutiger’, blaffte mich ein Zuhörer nach einem Vortrag an. Am liebsten hätte ich ihm den Sponti-Slogan zugeraunt: ,Hör auf zu 227 weinen, das ist erst der Anfang.’ Noch bevor sich die Bundesrepublik offiziell zum Einwanderungsland erklärt, entwickelt sie sich zum Auswanderungsland. Der Exodus hochqualifizierter Fachkräfte hat längst begonnen. In wenigen Jahren wird Deutschland anfangen, richtig alt auszusehen. (...) Nicht einmal zehn Minuten Gesprächszeit pro Klient haben mobile Altenpfleger heute. Wie viel Zeit werden sie haben, wenn ich alt und semi-dement bin? (...) Kürzlich veröffentlichte das Statistische Bundesamt neue Horrorfakten: die wenigsten Geburten seit Kriegsende, die wenigsten Hochzeiten, die meisten Todesfälle.“ Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gingen, drohe eine „Opakalypse“. Spieker holt sich aber auch eine Legitimation von höchster Stelle: „Ich orientiere mich an Jesus, der eine Woche vor seiner Exekution auf die Stadt Jerusalem blickte und weinte. Er wußte, daß die Welt ein Vorhof zum Paradies sein kann, aber auch der Wartesaal zur Hölle.“ Spieker betont aber auch: „Deutschland wird größtenteils grüner und hübscher, die Regale bei Penny und Aldi sind randvoll mit Artikeln, die es früher nicht einmal am Hof von Versailles gab. Allemal Grund zur Freude.“ Um gleich wieder einzuschränken: „Wenn da nicht die fetischistische Neigung der Menschen wäre, Nebensachen zur Hauptsache zu machen.“ Die faktenreiche Analyse des Fernsehjournalisten belegt seine Bodenhaftung als „Kulturrealist“, eine phänomenale Belesenheit und einen „Sitz im modernen Leben“. Dem vielseitig interessierten, viel gereisten und wissensdurstigen jungen Single aus der neuheidnischen Metropole, der sich auch schon mal „bei einer ‚Clubnacht’ verschärft ins Berliner Nachtgedöns gestürzt“ hat, scheint nichts Menschliches fremd zu sein. Wie eine Visitenkarte liest man auf der zweiten Seite von der Spannung, in welcher seine eigene Biographie steht: „Kierkegaard sah im Journalismus den ‚tiefsten Abfall des Menschengeschlechts von Gott’, er drohte einmal: ‚Wenn ich Vater wäre und ich hätte eine Tochter, die verführt worden wäre: Über sie würde ich nicht verzweifeln; ich würde auf Rettung hoffen. Wenn ich aber einen Sohn hätte, der Journalist würde und es fünf Jahre lang bliebe, ihn würde ich aufgeben.’ Ich gehöre mittlerweile sieben Jahre zu dieser Zunft, habe mich davor in historischen Oberseminaren herumgetrieben, davor als erfolgloser Drehbuchautor in Hollywood. Ich komme aus einem Pfarrhaus, fromm evangelisch. Ich weiß nicht, ob meine Eltern über alles froh sind, was ich von der Welt sehe. Immerhin haben sie dafür gesorgt, daß ich alles durch die Brille des Glaubens sehe.“ Diesen Glauben begründet er im zweiten Kapitel intelligent, pointiert und allgemein verständlich in drei Punkten: „Von nichts kommt nichts. Kein Sein ohne Design. Wir würden nicht von Gott reden, wenn es ihn nicht gäbe.“ Positiv gewendet: „Etwas kommt von etwas. Was funktioniert, wurde konstruiert. Kein Sender ohne Empfänger.“ Souverän bedient sich Spieker auch hier seines wohl überquellenden Zettelkastens: „Ich lehne es ab, mich als genetische Überlebensmaschine und meine Seele als neuronales Verschaltungsprodukt zu begreifen. Schon aus Selbstschutz. ‚Wer sich zum Wurm macht’, schrieb Kant, ‚kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird’.“ Die überaus zahlreichen, aber stets trefflichen, sich harmonisch in den Duktus der eigenen Argumentation einfügenden Zitate machen das Buch zu einer wahren Fundgrube für Geschädig228 te der zeitgenössischen Bildungsmisere. Das fast einschüchternde Lesepensum des jungen Autors umfaßt so unterschiedliche Geister wie Seneca, Ignatius, van Gogh, Pascal, Wittgenstein, Hesse, Heine, Werfel, Chesterton, Tschechow, Guardini, C.S. Lewis, Brecht, Adorno, Walser. Selbst wer Spiekers Analyse und Plädoyer nicht folgen mag, nimmt dabei jede Menge Einsichten und Bonmots für allerlei Lebenslagen mit. Erfrischend ist die Rücksichtslosigkeit, mit der Spieker die Denk- und Sprechverbote der Political und religious correctness reihenweise umstößt. Der Feminismus könne „genauso gut als ‚Maskulismus’ begriffen werden: Jetzt schulen halt alle auf Jäger und Sammler um.“ Sein Kommentar zu den Weltreligionen: „Der Buddhismus hat keinen Gott, der Hinduismus zu viele“, und von den monotheistischen Religionen lehre „der Islam nach christlicher Auffassung einen falschen, das Judentum einen unvollständigen“ Weg zu Gott. Dessen Liebe zu den Menschen charakterisiert Spieker schön und einprägsam als wählerisch, fordernd, hingebungsvoll und siegreich. Mit den christlichen Schriftgelehrten rechnet der Journalist drastisch ab: „300 Jahre historisch-kritische Textmetzelei“ habe den Glauben „auf’s Realistische runtergemäht“. Man solle sich in Acht nehmen „vor Theologen, die sich wie ein Geschworenengericht über die Bibel beugen, messerscharf zwischen paulinischen, deutero-paulinischen und kryptopaulinischen Briefen unterscheiden; die zwischen ‚glaubwürdigen’ und ,unglaubwürdigen’ Wundern Trennlinien ziehen oder gleich alle ins Legendenreich verweisen.“ Der lakonische Kommentar zu Schleiermacher und Tillich: „Mein Ratschlag für den Umgang mit solchen theologischen Diven: ignorieren geht über studieren.“ Und mit Paulus: „Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht.“ Fazit: „Autodidakten wie ich brauchen manchmal die Hilfe ausgebildeter Exegeten, allerdings nur solcher, die nicht besserwisserisch oder argwöhnisch an den Text herangehen, sondern liebevoll und mit heiligen Absichten.“ Im mittleren Teil des Buches entfaltet Spieker ein kleine Anthropologie in fünf Abschnitten: „Unsere Größe“, „Unsere Schwäche“. „Unser Tod“, „Unsere Schuld“, „Unsere Erlösung“. Er charakterisiert den Menschen einerseits als selbst-bewußtes, analysierendes und antizipierendes, gestaltendes, fühlendes, moralisches und sehnendes Wesen. Andererseits erweise sich die Lehre von der Erbsünde auch heute als „das einzig verifizierbare Dogma der Kirche“ (Niebuhr). „Ich halte die heutige Zeit für besonders lebensfeindlich, beziehungsfeindlich, glaubensfeindlich. Wir haben gigantische Festplatten, aber vorwiegend Schrott zum Downloaden. Virtuelle Kontaktbörsen wie Parship und Friendscout verfügen über die raffiniertesten Matching-Mechanismen, aber noch nie haben so viele Liebessehnsüchtige schluchzend auf Klos gesessen und sich einsam in Betten herumgewälzt. Die Technik funktioniert präzise, die Seelen irrlichtern.“ Die Zahl derjenigen, die sich für „sehr glücklich“ halten, nehme kontinuierlich ab. Subjektivismus, Relativismus und Materialismus führten zu einer „Spirale nach unten“, zu einer „Ego-Thrombose: Mein ‚Ich’ ist geschwollen, meine Bindungen geschwächt.“ Jeder Mensch sitze „in seiner Nische, jeder Mensch in seiner Nacht, simsend, chattend, zunehmend einsam. Das Ich-Zeitalter, auch das 229 Zeitalter der Onanie.“ Der verbreiteten „seriellen Monogamie“ hält Spieker entgegen: „Wahres Glück ist nicht, morgen neben einer wunderschönen Person aufzuwachen, die einen nett anlächelt. Wahres Glück ist, in dreißig Jahren glücklich neben derselben Person aufzuwachen, die einen immer noch nett anlächelt.“ Im dritten Kapitel: „Hoffnung“ betont der Autor, „daß diejenigen Christen am meisten für das Diesseits taten, die am meisten an das Jenseits dachten“ (C.S. Lewis). Zum „Himmelfahrtskommando“ des Christseins gehöre Entschluß und Ausschluß: „Wer sich stur auf das Reich Gottes konzentriert, muß womöglich Karriereeinbußen in Kauf nehmen.“ Christen beteten nicht um Erfolg, sondern um Führung. „Die vielleicht einzige absolute Gewißheit, die wir haben, ist die: Wenn wir lieben, handeln wir richtig.“ Das Christentum habe zwar „die Nächstenliebe nicht erfunden, aber universalisiert und vor allem die Außenseiter ins Zentrum gerückt.“ Schon deshalb sei es nicht einfach „bürgerlich“, wie das zeitgenössische Klischee lange glauben machen wolle, sondern mit „Isolationsgefahr“ verbunden, wie der Medienmacher in Anknüpfung an Elisabeth-NoelleNeumanns empirische Sozialpsychologie und Kierkegaards Seufzer ausführt: „Gegen Fürsten und Päpste zu kämpfen, wie ist das doch lindernd im Vergleich zum Kampf gegen die Masse.“ Gegen den Strich seichten Pastorengeschwätzes ist vor allem der eschatologische Abschnitt „Ewig währt am längsten“ gebürstet. Jesus sei ein „Jenseitsvertröster“ betont er gegen die kirchlichen 68er und ihre Devise: „Glotzt beim Loben nicht immer nach oben, schaut zur Seite, da seht ihr die Pleite.“ Dabei seien vom Gottessohn mehr Ausführungen über die Verdammnis als über das Paradies überliefert, zuvörderst die Mahnung, „daß alle Menschen ‚Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts’. Er predigte, daß der Boulevard nach unten führt und nur ein schmaler Schleichweg himmelwärts.“ Paulus drohe mit dem „ewigen Verderben“, Johannes in der Apokalypse mit dem „feurigen Pfuhl“. Auch wir sollten „senkrecht im Bett stehen, wenn uns bewußt wird, daß Jesus und die Kirchenväter nicht nur aus motivationstechnischem Kalkül von der Hölle sprachen. Sondern weil es sie gibt.“ Obwohl es doch tröstlich sei, daß keine Untat ungesühnt bleibe, gebe es selbst unter konservativen Christen viele, „die gerne den Hitzeschalter herunterdrehen würden“. Wer aber seinen Vater nicht auch fürchte, „traut ihm auch nicht zu, daß er vor den bösen Mächten der Welt schützen kann“, zitiert Spieker Bernhard Buebs Buch über Disziplin. Auch deshalb dürften Christen, „wo es angebracht ist und in homöopathischen Dosen, durchaus Höllenangst verbreiten.“ Im vierten Kapitel: „Leben: Die Technik der Liebe“ berichtet der gefragte Vortragsredner von der Erfahrung, „daß die Besucher vor allem eins von mir hören wollen: daß ich Gott begegnet bin.“ Es bedarf also authentischer Glaubenszeugnisse. Gott begegne seinen Geschöpfen aber vor allem da, wo sie eigentlich nicht sein wollten: in der Stille und in der Krise. Zu den starken Passagen des Buches gehören die persönlich geprägten Aussagen und Ratschläge zum Gebet, welches Spieker in Danken, Loben, Bekennen, Klagen und Bitten gliedert. Er wisse nicht nur aus der Bibel und der Kirchengeschichte, sondern auch aus seinem eigenen Leben, daß Gott Gebete erhöre und nennt als Beispiel die Heilung von einer 230 zwanzig Jahre quälenden Hautkrankheit. „Mit dem Bewußtsein, daß Gott unser Bestes will, dürfen wir ihm mit der Hartnäckigkeit eines Drückerverkäufers in den Ohren liegen“ – nicht zu vergessen das „geistliche Name-Dropping“ für andere; deren Gebete wiederum hätten ihn selbst „mitgetragen“ und zu einem „gesegneten Menschen“ gemacht. An dieser Stelle plädiert der Protestant übrigens auch für die Beichte, „weil ich meine Schuld am Kreuz deponieren kann“. Am Ende des Buches läßt Spieker den beunruhigten Leser nicht ohne „Erste Hilfe“-Vorschläge für „Weltverbesserungsmaßnahmen“, wobei er an die geistlichen und leiblichen Werke der Barmherzigkeit aus dem katholischen Katechismus anknüpft. Die „Revolution der Herzen“ habe Vorrang vor einer Reform der Strukturen, diese werde sich als „natürliche Folge“ schon einstellen. Die Kirche müsse die Menschen (1.) wieder „elektrisieren“, wobei Rituale und Sakramente „Erhabenheit im Sinne von Transzendenz herzustellen“ vermöchten. Sodann müsse sie (2.) „definieren“ durch „klare Ansagen“ statt des verbreiteten „Alles wird gut“-Gesäusels und (3.) „konfrontieren“, weil auch Gott die „Frontalattakke“ – etwa mit seinem Befehl an Abraham aus der vertrauten Heimat aufzubrechen – nicht gescheut habe. Um (4.) zu „motivieren“, müssen die Kirche Kernbotschaften konzentrieren und möglichst konkret werden. Ein spezielles Defizit sieht Spieker in der Männerpastoral: „Mäandernde Predigten mit sentimentaler Beziehungs- und Befindlichkeitsrhetorik und als Lobpreis camouflierter Minnesang schrecken viele Männer ab. Die Kirche braucht deshalb eine ‚Testosteron’Offensive mit mehr Bass, mehr inhaltlicher Stringenz und Gewichtigkeit, vor allem mehr kantigen Glaubensvorbildern.“ Leider versäumt Spieker hier, mit empirischen Befunden über das Leben der Christen für das angemessene Selbstbewußtsein zu sorgen. Unter Berufung auf einen evangelikalen US-Autor beklagt er sogar, Amerikaner, die sich als „wiedergeboren“ bezeichnen, lebten „kaum weniger materialistisch als der Durchschnitt, spenden kaum mehr, lassen sich fast genauso häufig scheiden. Diesseits des Atlantiks, so fürchte ich, sieht es nicht viel besser aus.“ Dabei sind demoskopische und statistische Befunde, die das Gegenteil belegen, zahlreich. Wissenschaftliche Studien und Zeitschriften wie die „Wirtschaftswoche“ oder „Psychologie heute“ berichteten längst über die positiven Wirkungen des Glaubens für Wohlstand, Rechtsbewußtsein und Mitmenschlichkeit, Lebensschutz und Spendenbereitschaft, psychische Gesundheit und körperliche Genesung, Beziehungsstabilität und Familiensinn. Hier hätte der Autor das „Licht der Welt“ auf den Leuchter statt unter den Scheffel stellen sollen. Von diesem kleinen Lapsus abgesehen, ist Markus Spiekers kleines Bändchen ein großer Wurf. Es ist zugleich leidenschaftlich und klug, pointiert und differenziert, ernst und voller Wortwitz, modern und konservativ. Es ist ein in manchen Teilen geradezu prophetisch aufrüttelndes Glaubensmanifest. Dr. phil. Andreas Püttmann aus Bonn ist Politikwissenschaftler, Publizist und Lehrbeauftragter an der Gustav-Siewerth-Akademie in Weilheim-Bierbronnen. 231 Alexander Saberschinsky Unternehmen führen nach dem hl. Benedikt Die zentrale ethische Forderung, den Menschen zu achten, ist ein Anspruch, der sich nicht nur an den einzelnen Unternehmer und sein Verhalten richtet, sondern an das Unternehmen im Ganzen. Zu diesem Bereich kommen in jüngerer Zeit auffallend viele Anregungen von ganz unerwarteter Seite: Anknüpfend an die Mönchsregel des Heiligen Benedikt aus dem sechsten Jahrhundert arbeitet man ethische Orientierung der Unternehmensführung heraus. Freilich ist kritisch anzufragen, ob sich das Interesse an dieser Kombination allein aus dem exotischen Flair des antiken und mittelalterlichen Mönchtums speist, oder ob eine Mönchsregel tatsächlich etwas Substantielles zu einer Unternehmensethik beizutragen hat. Exemplarisch seien aus der größeren Zahl der Veröffentlichungen drei Titel vorgestellt, die mögliche Zugangsweisen zeigen: Mal geschieht dies ausgehend von der Moral des einzelnen Unternehmers (Grün), mal von den einer Unternehmenskultur zugrundeliegenden ethischen Prinzipien. Für Letzteres sei hier sowohl ein Buch für eine breitere Leserschaft (Bilgri/Stadler) als auch eine dezidiert wissenschaftliche Arbeit (Eckert) vorgestellt. In der langen Reihe von Publikationen unter dem Namen des bekannten Benediktinerpaters Anselm Grün findet sich auch ein „Coaching-Kompakt-Kurs“, der sich im Sinne eines Selbstlern-Seminars an Führungskräfte wendet: Anselm Grün: Führen mit Werten. Coaching Kompakt Kurs. Olzog Verlag, München 2003 Der Autor legt seinem Kurs griechisch-humanistische Werte, aber auch solche, die in der Regel des Ordensgründers Benedikt von Nursia zu finden sind, zugrunde. Mittels dieser Werte kann – so Verf. – Führung effektiver gestaltet werden – und dies ist durchaus auch in einem ökonomischen Sinne gemeint. Genereller Maßstab für eine gute Führung ist die Frage, ob sie dem Menschen gerecht wird. Das gilt für die Mitarbeiter, aber auch für die Führungskraft selbst. So ist die Voraussetzung für eine gute Führung, daß der Manager sich im Einklang mit sich selbst befindet. Hierzu sollen die Meditationen verhelfen, die der Kurs enthält. Dahinter steht die Überlegung, daß der jeweilige Führungsstil entscheidend vom Menschenbild der Führungskraft abhängt; m.a.W.: So wie ich den Menschen sehe und verstehe, werde ich auch als Vorgesetzter mit ihm umgehen. Selbstverständlich hängt mein Menschenbild wiederum von meinem Selbstbild ab. Ziel ist es daher, als Manager sein eigenes Selbst zu erkennen. Dies ist die Grundlage, um auch führen zu können. In diesem Kontext muß man auch nach Werten fragen, denn sie stehen in engem Zusammenhang mit dem Verständnis der Würde des Menschen, die mit dem Menschenbild gegebenen ist. „Die Werte nach denen ich lebe, zeigen, welche Würde für mich der Mensch hat, welches Menschenbild hinter allem steht, was ich tue.“ (I 1) 232 Entscheidende Bedeutung für das erfolgreiche Führen haben in der Konzeption des Kurses die Tugenden, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Sie sind durchaus kein Luxus, sondern haben auch insofern an Maßstäben des Marktes gemessen ihre Berechtigung, die als ethische Kompetenz die gesellschaftliche Akzeptanz eines Unternehmens erhöhen kann. Unternehmensintern sind die Tugenden wichtig, weil sie den Mitarbeitern moralische Orientierung bieten. In diesem Kontext wird auf die Bedeutung des Begriffs „Tugend“ verwiesen, der eng verbunden ist mit dem Wort „taugen“: „Ohne Tugend taugt das Leben nicht. Die Tugenden tragen dazu bei, daß das Leben gelingt.“ (E 5) Der lateinische Begriff für Tugend – „virtus“ – hingegen ist auch mit „Kraft“, „Fähigkeit“ und „Geschicklichkeit“ zu übersetzen. Näherhin benennt Verf. die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß und Klugheit, die dazugehörigen Komplementärtugenden Wahrhaftigkeit (Gerechtigkeit), Treue (Tapferkeit), Versöhnung (rechtes Maß) und Weisheit (Klugheit) sowie die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Bei den letztgenannten göttlichen Tugenden handelt es sich keineswegs nur um einen christlichen Sonderweg, vielmehr beschreiben sie eine Vertiefung des menschlichen Weges und eine Entfaltung der menschlichen Anlagen, die Gott im Menschen verankert hat. Sie freizulegen, ist das Anliegen einer Spiritualität im Sinne des vorliegenden Kurses. Wie „Mönche managen“ erklären zwei Autoren aus dem Umfeld des Klosters Andechs: Anselm Bilgri, Konrad Stadler: Finde das rechte Maß. Regeln aus dem Kloster Andechs für Arbeit und Leben. München/Zürich: Piper, 2. Aufl. 2004 Anselm Bilgri ist ehemaliger Cellerar des Priorats auf dem so genannten heiligen Berg, Standort nicht nur eines Klosters, sondern auch eines erfolgreichen Brauereibetriebs mit beachtlichem wirtschaftlichen Erfolg. Konrad Stadler bietet Seminare zur Unternehmenskultur an. Die „Regeln aus dem Kloster Andechs für Arbeit und Leben“ stützen sich ebenfalls auf die Regel des Heiligen Benedikt und entlehnen ihr einige grundlegende Anregungen zur Unternehmensführung. So ist ein wesentliches Kennzeichen des benediktinischen Lebens die „stabilitas“ – zunächst das Versprechen, treu an einem Ort und in einer Gemeinschaft auszuharren, darüber hinaus aber auch das Streben nach Stabilität in der Gestaltung des Lebens. Und offensichtlich hat sich dieser lange Atem der Benediktiner bewährt: Der Orden besteht – auch ökonomisch – schon seit Jahrhunderten. Daher ist es nahe liegend, in der „stabilitas“ auch eine Anregung in unserer schnell-lebigen Zeit zu sehen. Im heutigen Sprachgebrauch spricht man von „Nachhaltigkeit“ – ein unternehmerisches Erfordernis gerade auch in Zeiten, in denen die täglich schwankenden Börsenkurse das Tempo des wirtschaftlichen Alltags zu diktieren versuchen (vgl. S. 10-12). Ebenso von grundlegender Bedeutung ist die benediktinische Maxime „ora et labora – bete und arbeite“. Diese – wenngleich in der Benediktsregel nicht enthaltene, so doch der Sache nach treffende – Kurzformel benediktinischen Lebens zeigt zweierlei, was nicht nur für das Klosterleben, sondern auch für die heutige Arbeitswelt außerhalb des Klosters zutrifft: Ohne Arbeit geht es nicht. Weder der Mönch noch unsere heutige Arbeitsgesellschaft kommen ohne Arbeit aus; sie ist ein Grundpfeiler unseres Lebens. Doch wird sie in der benediktinischen Spiritualität in Bezug zum Gebet gesetzt. Die Botschaft für eine entsprechende Unternehmenskultur heißt hier: 233 Arbeit ist unverzichtbar, aber nicht alles. Sie ist auf den Menschen bezogen, der im Gebet ganz er selbst ist, indem er sich vor Gott stellt (vgl. S. 12-14). Auch in unserer heutigen Arbeitswelt darf nicht vergessen werden (wie nicht zuletzt die Sozialenzykliken, v.a. Laborem exercens, herausgestellt haben), daß der Mensch das Subjekt der Arbeit ist und niemals zu einer ökonomischen Größe neben Kapital und Produktionsmitteln degradiert werden darf. Zahlreiche Anregungen enthält die Benediktsregel im Kontext ihrer Aussagen zur Rolle des Abtes im Kloster: Er ist gleichsam der Manager der Gemeinschaft, und sein Führungsstil wie Benedikt ihn beschreibt, kann auch für Führungskräfte in reinen Wirtschaftsunternehmen anregend sein (vgl. S. 58-67): Benedikt entscheidet sich für seine Mönche für eine hierarchische Ordnung, weil eine Organisation eine Führung braucht. Gefragt ist kein Diktator, sondern eine Führungskraft, die mit den Mönchen/Mitarbeitern kommuniziert und sich auch beraten läßt. Außerdem nennt Benedikt das Kloster eine Schule und eine Werkstatt, also einen Ort lebenslangen Lernens und auch des Lernens voneinander. Schließlich wird der Abt als Hirte und Arzt beschrieben. Er sorgt sich um den Zusammenhalt der Gemeinschaft und sieht zu, daß niemand den Anschluß verliert. Wie ein Arzt ist er am ‚Puls‘ der Mönche/Mitarbeiter und weiß, wo Not am Mann ist, wo es der ‚Heilung‘ bedarf – Eigenschaften, die auch heute zu einem guten Führungsstil in einem Unternehmen gehören. Unternehmensethik trägt der Tatsache Rechnung, daß der Mensch als moralisches Wesen sein Handeln reflektieren kann und muß. Die Verf. zeigen auf, daß er hierbei durchaus Hilfestellung aus der Benediktsregel erhalten kann. Die für die benediktinische Spiritualität zentralen Aspekte des Gehorsams, der Discretio und der Demut erhalten in diesem Zusammenhang eine überraschende Spiritualität (vgl. S. 70f.): Gehorsam bedeutet „Höre genau hin!“ und „Kommuniziere!“; Discretio meint „Finde das rechte Maß!“ und „Lerne zu unterscheiden!“; Demut schließlich besagt „Erkenne dich selbst!“ und „Diene!“. Diese sechs Imperative verstehen die Verf. als Kurzanleitung des Führens auf benediktinischer Basis. Sie werden im Hauptteil des Buches entfaltet. Das letzte Kapitel des Buches stellt eine Spiritualität eines Unternehmens in Anlehnung an die Regel des Heiligen Benedikt dar. Ihre Kennzeichen sind: Erstens, der Mensch steht im Zentrum (vgl. S. 207-211). Er ist das Fundament eines jeden Unternehmens; er ist das Ziel aller Unternehmungen. Von ihm kann man an keinem Punkt der Arbeitsabläufe absehen. Zweitens, Spiritualität bedeutet, den Geist sich entfalten zu lassen (vgl. S. 211-215). Das gilt auch für ein Unternehmen, das nicht nur von und für Zahlen lebt, sondern von dem Geist der in ihm arbeitenden Menschen getragen werden muß. In betrieblichen Zusammenhängen spricht man hier von Unternehmenskultur. Sie ist eine durchaus spirituelle Aufgabe. Drittens geht es darum, Menschen zu führen (vgl. S. 215-218). Sie sind der größte Schatz eines Unternehmens, und daher hat Führen immer mit Persönlichkeiten zu tun. Was die Verf. des zuletzt vorgestellten Buches für einen breiteren Leserkreis tun, stellt Johannes Eckert, Abt des Mutterklosters St. Bonifaz in München, zu dem das Priorat Andechs gehört, auf ein wissenschaftlich gesichertes Fundament mit seiner Dissertation: 234 Johannes Claudius Eckert, Dienen statt Herrschen. Unternehmenskultur und Ordensspiritualität: Begegnungen – Herausforderungen – Anregungen. Verlag Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2000 Die Arbeit ist in drei Kapitel gegliedert: Die ersten beiden Kapitel schildern zunächst den Wandel in Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft (als Kontext für die später im dritten Kapitel zu vergleichende Unternehmenskultur der Bayerischen Motorenwerke und Ordensspiritualität der Bayerischen Benediktinerkongregation) und fragen dann nach dem Menschen im Spannungsfeld von Würde und Sozialität. Diese beiden Kapitel holen weit aus und werden sehr grundsätzlich. Bisweilen bekommen die Ausführungen in diesen Teilen der Arbeit nahezu Handbuchcharakter. Doch bilden sie gleichsam das ‚Bühnenbild‘ für das abschließende dritte Kapitel, in dem die im Untertitel angekündigten Begegnungen zwischen Unternehmenskultur und Ordensspiritualität sowie die daraus resultierenden Herausforderungen und Anregungen dargelegt werden. Sie bilden den originären und beachtenswerten Forschungsbeitrag der lesenswerten Dissertation. Das erste Kapitel beschreibt zunächst den Wandel in der Wirtschaft, der gekennzeichnet ist von der Globalisierung, den mit ihr einhergehenden Paradoxien, dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Für die Zukunft wird es immer wichtiger werden, den Mitarbeiter neu zu entdecken und innerhalb der Wirtschaftsprozesse zu würdigen. Auch die Kirche befindet sich im Wandel, denn sie steht im Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs zur Postmoderne. Innerkirchlich beobachtet Verf. die Alternative zwischen fundamentalistischem Rückzug und einer Communio-Ekklesiologie. Innerkirchliche Reformvorschläge lauten: Subsidiarität, Partizipation, Dialog und Pluriformität. Verf. sieht im Communio-Modell die adäquate Antwort auf das Spannungsfeld von Individualisierung und Pluralismus; das Stichwort heißt ‚versöhnte Verschiedenheit‘. Den Wandel der Gesellschaft prägen schließlich die Momente der Erlebnisgesellschaft, der Risikogesellschaft, des Wertewandels und der Individualisierung. Die Herausforderung besteht darin, die Balance zwischen Ich- und Wir-Identität zu finden. Das zweite Kapitel wendet sich dem Menschen im Spannungsfeld von personaler Würde und Sozialität zu. Die Personalität des Menschen zeichnen seine Würde, seine Gottebenbildlichkeit und sein Personsein aus. Hier gilt es, personale und soziale Identität in Beziehung zu setzen. Die Sozialität des Menschen ist hingegen von der Sozialisation, in der die sozialen Spielregeln und die naturalen Antriebskräfte maßgeblich sind, und von den Ordnungsprinzipien der sozialen Institutionen, näherhin von Personalität, Solidarität und Subsidiarität, bestimmt. Ziel muß es nach Verf. sein, einen Weg der Mitte zwischen Individualität und Sozialität zu gehen. Dies ist eine Herausforderung, die Wirtschaft und Kirche gleichermaßen zu bewältigen haben. Daher muß zukünftig die Aufmerksamkeit ganz dem Menschen gelten. Das dritte Kapitel stellt zunächst die Unternehmenskultur von BMW vor. Als Erfolgskriterien gelten Kundenorientierung, Unternehmensqualität und Prozeßorientierung. Entscheidend ist weiterhin die Mitarbeiterorientierung, die Subsidiarität im Team, Interessenausgleich mit Zielvereinbarungen sowie Partizipation und Kommunikation umfaßt. Auch in der benediktinischen Ordensspiritualität geht es um die 235 Zuordnung von Einzelnem und Gemeinschaft. Elemente des klösterlichen Lebens, wie die Kapitelversammlung der Mönche, die Führungsrolle des Abtes und anderes mehr stehen im Dienst der Partizipation und Integration. Dabei kommt dem Hören aufeinander eine wichtige Rolle zu. Vor diesem Hintergrund – so die These der Arbeit – kann es eine Lernpartnerschaft zwischen BMW und Benediktinern geben. Dabei übersieht Verf. keineswegs die Differenz zwischen beiden, die er klar benennt: Die jeweiligen Eigenprofile unterscheiden sich zunächst in der Zielsetzung, in der sich materielle und ideelle Wertschöpfung gegenüberstehen. Vom sozialethischen Standpunkt aus wäre es gut gewesen, an dieser Stelle noch deutlicher herauszuarbeiten, daß am Menschen vorbei dauerhaft keine materielle Wertschöpfung möglich ist. Insofern besteht nahezu die ökonomische Notwendigkeit einer Unternehmensethik, die den Menschen als Subjekt der Arbeit bestimmt und einen entsprechenden Arbeitsbegriff entwickelt, wie dies die Katholische Soziallehre getan hat. Auch in der Funktion gibt es Differenzen zwischen einem Wirtschaftsunternehmen und einer Ordensgemeinschaft: Erstere versteht sich primär als Arbeitsorganisation, während letztere zunächst eine Lebensgemeinschaft ist. Auch die Grundhaltungen sind verschieden: Hier steht Flexibilität gegen Stabilität. Doch wenn man diese Unterschiede klar sieht, gibt es durchaus zahlreiche und anregende Möglichkeiten der Begegnung zwischen Unternehmenskultur und Ordensspiritualität: Zum Selbstverständnis beider gehört die kontinuierliche Erneuerung. Außerdem erreichen beide ihre Ziele auf dem Weg der Kommunikation und Partizipation. Dies erfordert sowohl im Unternehmen wie in der Klostergemeinschaft wechselseitige Offenheit; hierfür steht im Unternehmen die Kundenorientierung und im Orden der Gehorsam. Schließlich sind in beiden Bereichen die entscheidenden Gestaltungsprinzipien die Solidarität und Subsidiarität. Denn ‚Mitgliedschaft‘ impliziert sowohl in einem Unternehmen wie in einem Mönchskonvent ‚Mitverantwortung‘. In beiden Fällen ist Führung ein Dienst an den Menschen und an dem größeren Ganzen. Insgesamt kann man feststellen, daß die benediktinische Spiritualität, wie sie in der Ordensregel des Heiligen Benedikt von Nursia grundgelegt ist, durchaus einiges Anregungspotential für eine – auch ökonomisch – erfolgreiche Unternehmenskultur enthält. Sicher: Ein Wirtschaftsunternehmen ist kein Kloster und umgekehrt ein Kloster nicht in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen. Doch wer diese Differenzen beachtet – wie dies die zuletzt vorgestellte Publikation ausdrücklich herausarbeitet – kann doch spannende Analogien entdecken und wertvolle Anregungen für die Unternehmenskultur in der benediktinischen Spiritualität finden. Es geht gar nicht darum zu behaupten, daß eine ethisch verantwortete Unternehmenskultur nicht auch ohne die Besinnung auf die Benediktsregel zu ähnlichen Ergebnissen kommen kann und auch schon gekommen ist, doch ist der bei der benediktinischen Ordensspiritualität ansetzende Blickwinkel in gewisser Weise verfremdend und hilft Gutes und Wichtiges neu zu entdecken. Dr. Alexander Saberschinsky lehrt Christliche Gesellschaftslehre am Priesterseminar „Studienhaus St. Lambert“ in Lantershofen. 236 Ansgar Lange Familienpolitik in Deutschland Jürgen Liminski ist wahrlich kein unbeschriebenes Blatt, wenn es um das Thema Familie und Familienpolitik geht. Zum einen schöpft der Journalist, der heute für den Deutschlandfunk arbeitet und früher unter anderem Ressortleiter Außenpolitik der Tageszeitung Die Welt war, aus dem realen Leben: Mit seiner Frau Martine hat Liminski zehn Kinder. Zum anderen hat er bereits 2005 gemeinsam mit seiner Gattin das Buch „Abenteuer Familie“ geschrieben. In seinen zahllosen Artikeln und Kommentaren für diverse Zeitungen und Zeitschriften ist überdies immer wieder von der Familie die Rede. Auch den Lesern der Neuen Ordnung ist er kein Unbekannter. Viele Katholiken werden Liminski zudem als fleißigen Autor der Tagespost kennen und schätzen. Jürgen Liminski: Die verratene Familie. Politik ohne Zukunft. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2007, 176 S. In seinem Vorwort betont der Bischof von Augsburg, Walter Mixa, wie wichtig Liminskis Anliegen sei: „Familienpolitik hat sich in den zurückliegenden Jahren unter dem wachsenden Einfluß von Pseudowerten einer familienfeindlichen Ideologie, die ihre Wurzeln in der Kulturrevolution von 1968 haben, zu einem feministischen Experimentierfeld entwickelt: zum Schaden der Mütter, der Kinder und der Familien. Unter dem zusätzlichen Druck der Wirtschaft, junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren, ist vor diesem Hintergrund der massive Ausbau der Fremdbetreuung auch für Kleinstkinder zu einem der gesellschaftlichen Prestigeobjekte bundesdeutscher Familienpolitik geworden.“ Liminski versteht sein starkes Buch als eine „Kampfansage“ – vor allem an die Programme und Ideologien, die er für familienfeindlich hält. Schon im Vorwort macht der Autor deutlich, daß der „Verrat an der Familie“ aktuell vor allem auf das Konto der Großen Koalition und des „politisch-medialen Establishments“ geht. Schweine und Eltern Kinder passen auch nicht in das Denken der gegenwärtigen Arbeits- und Wirtschaftswelt. Dazu zitiert der Verfasser den Wirtschaftstheoretiker Friedrich List (1789-1846): „Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.“ Familienarbeit war für Adam Smith eine Leerstelle, in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ findet sie keine Erwähnung, so Liminski. Diese Vernachlässigung der Frauenund/oder Familienarbeit wirke bis heute nach. Besonders familienvergessen sind nach Darstellung des Autors die Journalisten. Dies habe unter anderem damit zu tun, daß sie überwiegend kinderlos und poli237 tisch zu zwei Dritteln links von der Mitte anzusiedeln seien. Wenn diese Meinungsmacher mit den oft ebenfalls kinderlosen oder in ungefestigten und rasch wechselnden Partnerschaften lebenden Politikern zusammenhocken, dann kann daraus für die Familie nichts Positives herumkommen: „Die angeblichen, gelegentlich auch tatsächlichen Alphatiere des Medienberufs setzen in Berlin zusammen mit den Wortführern aus der Politik die Akzente in der Familienpolitik. Je weiter allerdings die familienpolitische Debatte sich in die Sozial- und Bildungssysteme verästelt – Familienpolitik ist ein gesellschaftlicher Querschnittsbegriff –, um so häufiger greifen Leitmedien, insbesondere große Tageszeitungen, auf wirkliche Experten zurück.“ Liminski zitiert die von dem tapferen und investigativen Ich-kann-alleSendungen-dieser-Welt-moderieren-Journalisten Johannes B. Kerner zum Abschuß freigegebene Ex-Nachrichtenfrau und Buchautorin Eva Hermann. Sie ist davon überzeugt, daß die schweigende Mehrheit in diesem Lande beim Thema Ehe, Familie und Mutterschaft auf ihrer Seite stünde. Rund 70 Prozent der Journalisten seien jedoch kinderlos, hätten keinen oder kaum einen persönlichen Bezug zu Kindern und Familie. Karriere und Arbeit, auch Ideologie trennten sie oft vom wirklichen Leben. Feministinnen hassen Hausfrauen Besonders lesenswert sind die Passagen, in denen sich der Autor für die „Nur“Hausfrauen und Mütter starkmacht. Reden wir nicht um den heißen Brei. Die jahrzehntelange Geringschätzung der Hausarbeit und der Kindererziehung hat bei uns allen Spuren hinterlassen. Wir alle neigen bewußt oder unbewußt dazu, außerhäusliche Erwerbsarbeit höher zu schätzen. Dies liegt sicher auch daran, daß unsere Gesellschaft auf Euro und Cent fixiert ist. Und entlohnte Erziehungsarbeit und Rentenansprüche für Mütter gibt es bei uns eben nicht. Die rotgrüne Bundesregierung, so Liminski, habe den Beruf der Prostituierten anerkannt, den der Hausfrau und Mutter aber nicht: „Und auch für die gegenwärtige Regierung gilt offenbar wirtschaftlich gesehen das Frauenbild: lieber der Puff als der Herd“. Dabei fielen die Wünsche der Hausfrauen gegenüber denjenigen der Karrierefrauen bescheiden aus. Man wäre froh, überhaupt anerkannt zu werden, dann freilich auch eine monetäre Honorierung zu erfahren. Laut einer Allensbach-Umfrage fühlen sich nur noch sieben Prozent der deutschen Hausfrauen und Mütter von der Gesellschaft in ihrer Rolle anerkannt. In Person von Ursula von der Leyen propagiert und begünstigt der Staat jedoch das Doppelverdienermodell. Frauen, die das Wohl ihrer Kinder und die eigene Gesundheit nicht opfern wollen und zumindest einige Jahre zuhause bei der Familie bleiben möchten, sind zumindest in finanzieller Hinsicht schlecht gestellt. Daß auch die Verantwortung der Väter nicht gering zu veranschlagen ist, macht Liminski an einer amerikanischen Studie deutlich, wonach fast zwei Drittel aller Vergewaltiger, drei Viertel der jugendlichen Mörder und ein ähnlich hoher Prozentsatz junger Gefängnisinsassen ohne Vater großgeworden sind. 238 Massenkindhaltung in DDR-Manier In einem Exkurs widmet sich das Buch auch der so genannten Krippendiskussion. Leider handelt es sich hier oft nur um „Massenkindhaltung“. Zu polemisch? Nein, keineswegs, denn der australische Psychologe, Familienforscher und Bestsellerautor Steve Bidulph hat herausgefunden, daß Krippenkinder täglich gerade mal acht Minuten direkten Augenkontakt mit einer Betreuerin haben. Dabei haben Experten längst nachgewiesen, von welch entscheidender Bedeutung die emotionale Zuwendung von Mutter und Vater in den ersten drei Jahren für die Hirnentwicklung des Babys ist. Wem das alles zu theoretisch ist, sollte bei Gelegenheit mal den Selbstversuch machen, und durch einen lächelnden und freundlichen Blick Kontakt zu Babys und kleinen Kindern aufnehmen. Das Resultat, nämlich in der Regel ein glucksendes Lachen, falls das Baby nicht gerade einen schlechten Tag hat oder fremdelt, wird mehr aussagen als alle Buchweisheiten. Liminskis flott geschriebene Streitschrift ist ein wichtiger Denkanstoß, denn immer noch vertraut die hiesige Politik in „alter DDR-Manier eher dem Staat als den Eltern“. Angeblich will man ja nur das Gute und die Frauen von Haus und Herd befreien. Ob die das auch immer wollen und nicht für ein paar Jahre ein streßfreieres Leben oder Doppel- und Dreifachbelastungen der Mütter vorziehen würden, wird gar nicht erst diskutiert. Vielleicht bedenkt die Familienministerin nicht, daß nicht alle Frauen in diesem Land die finanziellen Möglichkeiten zur Fremdbetreuung des eigenen Nachwuchses haben wie der Haushalt von Frau von der Leyen. Dieses Land muß mehr in Kinder investieren – finanziell wie moralisch. Stattdessen betrachtet man diese Ausgaben immer nur als Kosten, fast nie als Investition in die Zukunft. Das Erschrecken wird dann besonders groß sein, wenn der demographische Wandel erstmals richtig im Portemonnaie der Bürger spürbar wird. Liminskis Forderungen laden zur Debatte ein. Mag sein Vorschlag für ein Familienwahlrecht manchen als abwegig erscheinen, dürften die anderen Vorschläge breitere Zustimmung erfahren. Die Ungerechtigkeiten gegenüber der Familie, die sich im Steuersystem, bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Kürzung der Pendlerpauschale und der Wohnungsbauförderung niederschlagen, müssen zurückgenommen werden. Es ist auch nicht einzusehen, warum Eltern, die ihr Kind selbst oder in privater Initiative mit anderen Eltern betreuen wollen, nicht ein Betreuungsgeld in Höhe der Kosten eines Krippenplatzes zusteht. In Thüringen ist dies schon lange Praxis. Die Ideologen verunglimpfen dieses Stück Gerechtigkeit gern als „Herdprämie“. Gibt es noch Hoffnung? Oder muß man Liminski zustimmen, der schreibt, Familienpolitik sei in Deutschland eine Politik ohne Zukunft? Egal, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist. Wenn Liminskis Schlußfolgerung stimmen sollte, dann hat dieses Land bald keine Zukunft mehr. Dann leben wir – wie jetzt schon in Sachsen-Anhalt zu besichtigen – in einem kaum zu finanzierenden Altenheim ohne Kinder und ohne Leben. Papst Benedikt XVI. bezeichnet die Familie als den Kern aller Sozialordnung. Dieser Satz bewahrheitet sich jeden Tag aufs neue. Die sowohl von Deutschen 239 als auch von Ausländern bzw. Migranten verübte Jugendkriminalität, die im hessischen Landtagswahlkampf eine so prominente Rolle spielte, hat ihre Ursache nicht nur in der schlechten sozialen Situation der Täter. Oft kommen diese Kriminellen aus zerrütteten oder von Gewalt geprägten Familien, sei es ein typischer türkischer Macho-Haushalt oder eine von Suff und Sozialhilfe bestimmte deutsche Hartz-IV-Karrieristen-Familie. Wer sich in der Familie geborgen und aufgehoben fühlt und Unterstützung auch in schwierigen Notlagen erfährt, der wird im Leben erfolgreicher und glücklicher werden. Warum sollte der Staat in Form von Krippenhaltung und Ganztagsbetreuung ein besserer Vater oder eine bessere Mutter sein als die natürlichen Eltern, wo er doch schon auf so vielen Gebieten versagt hat? Allerdings müssen wir alle eine Antwort auf die Frage finden, warum manche Eltern heute nicht mehr in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie schlagen sie tot oder lassen sie verhungern. Dies alles ist ein Anzeichen zunehmender Verrohung der Gesellschaft. Der richtige Weg kann also nur darin bestehen, die Familie weiter zu schützen und zu stärken und überforderten Eltern Hilfestellung zu leisten. Liminski liefert dazu eine wertvolle Handlungsanweisung. Ansgar Lange arbeitet als Politikwissenschaftler in Bonn. 240 241