EULENFISCH Literatur

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EULENFISCH Literatur
EULENFISCH Literatur
Ausgabe 2/2014
Autorinnen und Autoren
Impressum
Baranzke, Dr. Heike / Essen
EULENFISCH Literatur 2/2014
Dohmen-Funke, Christoph / Erkelenz
Emsbach, Matthias / Koblenz
Giercke-Ungermann, Dr. Annett / Aachen
Heidrich, Dr. Christian / Nußloch
Herborn, Dorothee / Münster
Helmer, Dr. Matthias / Fulda
Herzberg, Dr. Stephan / Frankfurt a.M.
Kaldewey, Rüdiger / Saarbrücken
Kaupp, Prof. Dr. Angela / Koblenz
Kläver, Prof. Dr. Magdalene / Wiesbaden
Kramp CJ, Sr. Dr. Inga / Frankfurt/M.
Kruip, Prof. Dr. Gerhard / Wennigsen
Leuchtenmüller, Christine / Wiesbaden
Lindner, Sebastian / Wiesbaden-Naurod
Lonny-Platzbecker, Ute / Essen
Menges, Thomas / Limburg
Mutschler, Prof. Dr. Hans-Dieter / Zürich
Novian, Michael / Hundsangen
Renz, Dr. Andreas / München
Schmidt, Prof. Dr. Bernward / Frankfurt/M.
Schmiedl ISch, Prof. P. Dr. Joachim / Vallendar
Schmiz, Dr. Gustav / Eppstein
Verhülsdonk, Dr. Andreas / Düsseldorf
Vörckel, Dr. Karl / Grünberg
Werner, Matthias / Braunfels
Herausgeber
Andreas von Erdmann
Chefredakteur
Schulamtsdirektor i.K. Martin W. Ramb
Redaktion
Thomas Menges
Korrektorat
Alexandra Reißmann
Verlag
Verlag des Bischöflichen Ordinariats Limburg
Roßmarkt 12, 65549 Limburg
[email protected]
Grafik Design und Fotos
Cornelia Steinfeld, www.steinfeld-vk.de
Redaktionsanschrift
Bischöfliches Ordinariat Limburg
Dezernat Schule und Bildung
Roßmarkt 12, 65549 Limburg
Fon 06431-295-424, Fax 06431-295-237
E-Mail [email protected]
ISBN
978-3-944142-06-7
ISSN
2199-7020
Ausgabe 12 (2_2014) 7. Jahrgang
Eulenfisch Literatur erscheint halbjährlich als PDF
© Verlag des Bischöflichen Ordinariats,
Limburg/Lahn 2014
Zu lesen unter
www.eulenfisch.de/archiv/eulenfisch-literatur-archiv
Bistum Limburg
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Bibel
4 Beredtes Schweigen. Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten // 6 Der Bibel-Guide // 8 Korinthische
Brocken. Ein Essay über Paulus // 9 Tatort Bibel.
10 spannende Kriminalfälle
Jürgen Ebach
Beredtes Schweigen
Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer
Kommunikationsform in biblischen Texten
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2014
176 Seiten
19,99 €
ISBN 978-3-579-08178-6
Zu den wesentlichen Möglichkeiten unserer
Sprachbegabung zählt das Schweigenkönnen. So
sehr die menschliche Existenz von der Sprache und
ihren faszinierenden Aspekten getragen ist, so sehr
hat auch das Schweigen seine Zeit, seinen Ort, seinen Sinn. Freilich ist das Schweigen ein komplexes
Phänomen. Wir schweigen, weil wir „nichts zu sagen“ oder aber Angst haben, weil wir „kein Öl ins
Feuer gießen möchten“, weil Schweigen häufig die
bessere Alternative ist. Am Schluss seines „Tractatus Logico-Philosophicus“ legt uns Ludwig Wittgenstein ans Herz: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“
Von den mannigfachen Formen des Schweigens in
der Bibel handelt Jürgen Ebachs kluge Studie über
„beredtes Schweigen“. Der emeritierte Professor für
Exegese und Theologie des Alten Testaments wählt
rund zwei Dutzend biblische „Schweigestellen“
und fragt danach, „ob und in welcher Weise dieses
Schweigen beredt ist“. Sein Schwerpunkt liegt dabei
auf erzählenden und prophetischen Texten der hebräischen Bibel, drei „Seitenblicke“ auf Schweigemotive des Neuen Testaments runden die Studie ab.
Dem Leser bieten die zumeist kurzen Kapitel eine
Fülle interessanter Einsichten. Denn was ist vom
Schweigen Noahs in der gesamten Flutgeschichte Gen 6,5-9,17 zu halten? Kein einziges Wort sagt
er während dieser archetypischen Katastrophe.
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Erst in der sich anschließenden Passage, sinnigerweise nach einem Alkoholrausch, äußert er ein paar
eher zufällige Worte. Noahs Wortlosigkeit hat Literaten wie Lord Byron und Philosophen wie Leszek
Kołakowski zu Fragen und Fortschreibungen provoziert. Auch für Ebach lassen sich der Erzählung vor
allem Anfragen entnehmen: „Schweigt Noah demütig ergeben, signalisiert sein Schweigen eine stillschweigende Zustimmung oder ist es gerade umgekehrt ein widerständiges Schweigen, welches jede
Einverständniserklärung verweigert?“
Auch im Falle des großen Dulders Hiob, der keineswegs wortlos ist, stellt sich die Schweigefrage.
Wie sollen seine Freunde mit dem desolaten Leid, mit
der Hiobsfrage umgehen? Wann sind Zuspruch und
Dialog angesagt, wann ist Zeit für eine wortlose Solidarität? Und, ungeheurer noch: Wie lange mag Gott
noch schweigen? In der Hiobserzählung antwortet
Gott schließlich doch noch, Hiob soll gar für seine
Freunde, die „nicht richtig“ geredet haben, Fürbitte einlegen. Gleichwohl ist dem Leser der glückliche
Ausgang suspekt, viele Fragen bleiben offen, und sie
haben nicht zuletzt mit dem Verhältnis von Reden
und Schweigen zu tun. Gleiches gilt für die Propheten, für Habakuk, Amos oder Ezechiel, deren Auftrag
selbstverständlich das Reden ist und die dennoch
immer wieder erfahren, dass dem Klugen zuweilen
das Schweigen besser ansteht. Den vielzitierten Satz
aus dem Amosbuch 5,13 („Darum schweigt der Verständige zu dieser Zeit, denn es ist eine böse Zeit“)
sieht Ebach allerdings als eine späte redaktionelle
Ergänzung, denn der Ausspruch passt so gar nicht
zu dem, was wir sonst über den Propheten wissen.
Vielleicht, so der Exeget, verweist jene Zeile auf die
Situation derer, die das Amosbuch entstehen ließen:
„Mit der ‚geretteten Zunge‘ des Amos und derer, die
gleichsam in Amoszungen die Prophetenworte ergänzten und fortschrieben, reden sie – und schweigen selbst beredt.“
Jürgen Ebachs Studie ist zu empfehlen. Sie bereichert den Leser mit jedem der Fundstücke, macht
ihn wachsamer bei der biblischen Lektüre. Zudem
können die meisten Kapitel des Buches problemlos
und mit Gewinn im Unterricht der Oberstufe gelesen
werden.
Christian Heidrich
Auch im Neuen Testament finden wir zahlreiche
Schweigemotive, wobei der „authentische“ Schluss
des Markusevangeliums (16,8) schon immer Deutungen herausforderte. Es verwundert nicht, dass das
Schweigen der Frauen nach dem österlichen Besuch
des Grabes in vielen älteren Handschriften „ergänzt“
wird, so im „kanonischen“ Markus-Schluss 16,920. Zu abrupt, zu unbefriedigend erscheinen Schock
und Stille angesichts der Freudenbotschaft vom Ostermorgen. Demgegenüber beharrt Ebach darauf,
dass das Evangelium mit der Sequenz 16,1-8 endete
„und dass der Grund für diesen Schluss in narratologischen und theologischen Perspektiven zu suchen
ist“. Das Markusevangelium, so der Exeget, erzählt
doch, was die Frauen nicht erzählt haben. Der Rest
gehört dem Leser, er mag nun reden oder schweigen,
oder aber von Neuem den Berichten des Markusevangeliums nachgehen. „Das Schweigen der Frauen am
Ende des Buches ist im ‚Sprechen‘ des Buches selbst
– im mehrfachen Wortsinn – aufgehoben.“
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Henry Wansbrough
Der Bibel-Guide
Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux
Darmstadt: Konrad Theiss Verlag. 2014
288 Seiten
29,95 €
ISBN 978-3-8062-2892-2
Sich einen Weg durch die biblische Literatur
zu bahnen, ist nicht einfach. Zu vielfältig sind die
dargestellten Geschichten und Motive in den 73
biblischen Büchern, die in unterschiedlichen Literaturgattungen (Evangelium, Brief, Weisheitsliteratur usw.) den Weg Gottes mit seinem Volk im Alten
und Neuen Testament behandeln. Der Bibel-Guide
des englischen Benediktiners und Exegeten Henry
Wansbrough möchte dem heutigen Bibelleser helfen, einen Schlüssel zur Bibel zu finden. Das Buch
soll ein „Reiseführer sein, der auf einige wichtige
Gegebenheiten hinweist und ihre Bedeutungen im
damaligen Zusammenhang sowie für uns Heutige
erklärt“. Es möchte „Einführung und Leitfaden“
sein, um „ein grundsätzliches Gespür für Ort und
Richtung der Lektüre“ zu vermitteln. Die deutsche
Ausgabe basiert auf der englischen Originalausgabe
mit dem Titel: The Bible: A Reader’s Guide, Quarto
Publishing: London/New York 2012.
Die Präsentation der biblischen Bücher ist durch
das ganze Buch hindurch nach demselben Muster
aufgebaut. Am Anfang steht eine kurze Einführung,
die zusammen mit einer Grobgliederung eine erste
Übersicht über das jeweilige Buch verschafft. Dann
folgt eine kapitelweise Kurzzusammenfassung des
Inhalts. Diese Inhaltsangabe wird durch Kommentare ergänzt, die in aller Kürze Hinweise auf die
Literatur- und Profangeschichte geben, aber teils
auch archäologische Details liefern. Daneben werden dem Leser ausgewählte biblische Zitate nahegebracht, die dem Autor als besonders wichtig erscheinen. Ergänzt wird die inhaltliche Darstellung
der Bibel durch eine thematische. In Zusammenarbeit mit dem Exegeten Robin P. Nettelhorst hat
Wansbrough einen Themenschlüssel entwickelt,
der anhand eines Farbcodes alle Kapitel der Bibel
achtzehn Themenfeldern zuordnet. Zu Recht hält
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Wansbrough fest, dass diese Einteilung „nur einen
ungefähren Hinweis auf die hauptsächliche Bedeutung eines Abschnitts“ geben kann, weshalb vielen
Kapiteln mehr als eine Farbe zugeordnet wird. Aber
auch die Themenfelder können in sich ganz unterschiedliche Textsorten vereinen. So fallen unter das
Stichwort „Verzeichnisse“ alle Formen von Listen in
der Bibel (Genealogien, Steuerberichte, Baumaterialien für den Tempel usw.). Weitere Themenfelder
sind: Lobpreis, Klage, Vergebung, Dichtung, ethische
Unterweisung, Gleichnisse, Prophetie, Liebe, Wunder, Anbetung, Urteil, Gebet, Apokalypse, Vertrag,
Geschichte, Engel und Dämonen sowie Weisheitsliteratur, denen jeweils eine Erläuterung beigegeben
ist, die die inhaltlichen Schwerpunkte des Themenfeldes beschreiben. Eine Klappkarte am Ende des
Buches, die alle Themenfelder und die jeweils zugeordnete Farbe auflistet, bewahrt den Leser vor unnötigem Blättern, wenn er nicht mehr weiß, welche
Farbe für welches Thema steht. Anhand der Farben
kann der Leser gezielt, z.B. nach Gebetstexten, suchen. Ergänzt wird das Buch durch knappe Anmerkungen zu Altem und Neuem Testament, einen Index,
mit dem man gezielt im Bibel-Guide nach bestimmten Stichworten suchen kann, ein für den deutschen
Markt erstelltes Literaturverzeichnis, das hauptsächlich Überblickswerke und Einleitungen in Altes
und Neues Testament enthält, und ein Abbildungsverzeichnis.
Wansbroughs Bibel-Guide bietet einen knappen
und strukturierten Überblick über den Inhalt der Bibel, der es dem Leser erlaubt, sich basale Informationen anzueignen. Gerade wenn man den biblischen
Text parallel zu den Inhaltsangaben und Kommentaren des Guides liest, vermag das Buch ein Schlüssel zur Welt der Bibel zu sein. Für einen vertiefteren
Blick auf die Bibel und ihre Umwelt ist weitere Bibellektüre und das Heranziehen von Sekundärliteratur unerlässlich. Die Aufmachung des Buches ist
übersichtlich und der schnellen Orientierung dienlich. Allerdings wirken die dem Text beigegebenen
Bilder aus den unterschiedlichsten Epochen der
christlichen Kunstgeschichte auf den Rezensenten
überwiegend kitschig. Ferner haben sich kleinere
Ungereimtheiten eingeschlichen. So spricht der Text
auf S.8 von 74 biblischen Büchern, während es 73
sind. Und obwohl sich die Titel der biblischen Bücher an der Einheitsübersetzung orientieren, findet
man für das Buch Kohelet die Bezeichnung Ecclesiastes. Auf S.17 steht, dass man im 8. Jh. begonnen
habe, die Aussprüche der Propheten aufzuschreiben.
Eine Ergänzung um „v.Chr.“ wäre hier sicher ratsam
gewesen. Ferner ließe sich anfragen, ob die Wahl der
Themenfelder, die theologische Termini und literaturwissenschaftliche Begriffe mischt, nicht auch anders hätte aussehen können; v.a., weil die Einteilung
in manchen Bereichen und das Subsumieren unterschiedlichster Textsorten unter ein Themenfeld teils
zu grob ausfällt. Insgesamt ist Wansbroughs Buch
für einen ersten inhaltlichen Einblick in die biblische Überlieferung eine gute Adresse.
Matthias Helmer
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Christian Lehnert
Korinthische Brocken
Ein Essay über Paulus
Monika Gunkel
Tatort Bibel
10 spannende Kriminalfälle
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2013
Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk. 2010; 3. Auflage 2014
283 Seiten
152 Seiten
22,95 €
9,95 €
ISBN 978-3-518-42369-1
ISBN 978-3-460-30403-1
Begegnung mit dem Christus. Begegnung, die alles verändert. Apostel sein: aus einer Gottesbegegnung entlassen. Sich entlanghangeln am Rand des
Kraters, den der Einschlag des Christusmysteriums
im eigenen Leben hinterlassen hat. Alles muss neu
gefunden, neu verstanden, neu stammelnd in Worte
gefasst werden. In zusammengedrängter, verdichteter, ausgekaufter Zeit der Fülle.
Diese Worte sind mein Versuch, die Rezension
eines ungewöhnlichen, in seiner Poetik und Tiefe
kaum auszulotenden Buches in dessen eigener Sprache zu beginnen. Denn Lehnerts „Korinthische Brocken“ lassen sich kaum auf rein diskursiver Ebene
fassen. In seinem „Essay über Paulus“ unternimmt
er in poetischer Sprache eine Auslegung des Ersten
Korintherbriefes, der nicht so sehr eine fachliche,
sondern vielmehr eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Text und seinem Verfasser Paulus darstellt. Die Motivation dazu verrät Lehnert in einem
Zitat auf der Rückseite des Buches: „Ich versuche
wieder und wieder zu ergründen, warum Paulus mir
so nah ist.“
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Die Auseinandersetzung gelingt: Wer dieses Buch
liest, hat auf ganz eigene Weise die Chance, Paulus
nahezukommen – in einer Weise, wie das exegetische Literatur selten zu ermöglichen vermag. Zwar
setzt sich der Verfasser kompetent mit dem griechischen Urtext auseinander, aber er nimmt auch
den des Griechischen unkundigen Leser bei seinen
Entdeckungen im Text in großer Leichtigkeit mit
sich. Entdeckt wird immer wieder das Ungeheure,
Neue, Weltverändernde, Lebensumstürzende an der
Erfahrung des Paulus. Es ist die Begegnung mit
Christus, die für ihn alles verändert hat und heute
in unserem Leben alles zu ändern und zum eigentlich Wesentlichen hin umzustürzen vermag: zum
Heiligen Gott, der uns in Jesus Christus ganz nahe,
manchmal fast unerträglich nahe, andererseits faszinierend schön nahekommt. Hier zeigt sich, dass
es Lehnert letztlich nicht nur um die persönliche
Auseinandersetzung mit Paulus geht, sondern mit
dem Christentum überhaupt. Das wird etwas reißerisch auf der Rückseite des Buches angekündigt:
„Ein Essay, der die Konturen eines neuen Christentums sucht.“ Diese Beschreibung empfinde ich für
den Inhalt des Buches allerdings etwas unglücklich: Lehnert sucht nicht ein neues Christentum (das
kann es nicht geben), sondern das Christentum neu.
Und dies tut er, indem er sich das Bahnbrechende
an der Begegnung mit Christus, wie es Paulus als
ein Mensch der zweiten Generation erlebt hat, neu
bewusst macht – sich und natürlich auch dem Leser.
Dabei ist Paulus als Urchrist der zweiten Generation
eine glückliche Wahl: Er hat Jesus nie gesehen, wie
auch wir heute ihn in seiner irdischen Existenz nie
sehen werden – aber er ist doch zutiefst ergriffen
von ihm. Lehnert befreit das Christentum geradezu
vom Staub der Jahrhunderte – liebevoll, in demütiger, tastender Annäherung, die nichts Revolutionäres oder Überhebliches an sich hat, sondern vielmehr etwas zutiefst Ergreifendes, das den Leser in
den Bann schlägt.
Wie kann man dieses Buch im Religionsunterricht verwenden? Als Lektüre für Schülerinnen und
Schüler ist es wohl eher Stoff für den Leistungskurs
oder zumindest für die Oberstufe. In diesem Kontext kann es wahrscheinlich auch Schüler zu einer
ganz eigenen Entdeckung des Paulus und des frühen Christentums inspirieren. Dennoch würde ich
dieses Buch zunächst dem Lehrer selbst empfehlen
– zur sonntäglichen Lektüre auf dem Balkon oder in
einer anderen entspannten Situation. Das ist alles,
was zu tun ist. Denn dieses Buch reißt mit und wird
für sich selbst sprechen. Der Lehrer wird gewandelt
in seinen Alltag zurückkehren, ohne dass er aus dem
Buch unmittelbar ein neues didaktisches Konzept
oder Stoff für den Unterricht gewonnen hätte. Dieses Buch lehrt neu sehen. Es ist keine Investition ins
Tun, sondern ins Sein.
Krimis und Detektivgeschichten sind aktuell und
sehr beliebt – sei es als Film, als Serie oder als Buch.
Wenn nun biblische Erzählungen selber als Kriminalfälle formuliert und umgeschrieben werden, so
geht es zunächst um Unterhaltung. Darüber hinaus
kann eine solche Modifizierung durchaus Neugierde
für die den Kriminalfällen zugrundeliegenden biblischen Geschichten wecken und einen niederschwelligen Zugang darstellen. Und genau dieses gelingt
dem mittlerweile in der 3. Auflage erschienenen
Buch von Monika Gunkel durchaus.
Die 10 Kriminalfälle des Buches werden nicht
unvermittelt präsentiert, sondern durch eine kleine Rahmenhandlung miteinander verbunden. Diese
ist schnell erzählt: 5 Jugendliche (vier Jungen und
ein Mädchen) treffen sich regelmäßig, um sich 10
Verbrechen aus der Bibel vorzulegen und diese gemeinsam aufzuklären. Dabei werden die biblischen
Erzählungen sehr stark verfremdet und aktualisiert.
Personen, Orte, Hintergründe und Umstände werden
in die heutige Zeit gesetzt und in moderne Lebenswelten transportiert. Die Aufgabe der Jugendlichen
in der Rahmenhandlung und damit auch der Leser
ist es nun, die hinter den Fällen stehenden biblischen Erzählungen durch verschiedenste Hinweise
im Text und eigenständige Kombinationsarbeit zu
erschließen. Da die Kriminalfälle in der Rahmenhandlung selber nicht aufgelöst werden, finden sich
die zugrunde gelegten biblischen Texte als Auflösung in der Mitte des Buches.
Igna Kramp CJ
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Die Darstellungen fallen durch ihre flapsige Wortwahl, ihre spitzen und zum Teil platten Formulierungen auf. Dies ist auf der einen Seite ab und zu
gewiss erfrischend und auflockernd, auf Dauer jedoch – gerade für ältere Leser – etwas nervig und
mühselig. Da heißt es z.B. mit Blick auf die Darstellung der Tochter des Pharao, welche Mose aus dem
Nil rettete: „Eine Tochter des Alten hatte zu ihrer
Teenie-Zeit wohl so eine soziale Ader und dabei den
Typen angeschleppt."
Leider wird die Aktualisierung der biblischen Kriminalfälle den biblischen Botschaften nicht immer
gerecht. So werden biblische Aussagen und Darstellungen in der Übertragung oftmals verengt, verzerrt,
pauschalisiert oder sie gehen einfach unter. Dies ist
spätestens dann der Fall, wenn aus Judtih die Inhaberin eines Bio-Ladens wird, die keinen fremden
Feldherrn, sondern den Inhaber eines zwielichtigen
Lokals tötet, um andere Unternehmen vor weiteren
finanziellen Einbußen zu bewahren.
Die ausgewählten „biblischen Fälle" stammen sowohl aus dem Alten als auch dem Neuen Testament
und sind einschlägig bekannt (z.B. Ex 2,1-22 – Mose
erschlägt einen Ägypter; 1Kön 18,1-40 – Gottesurteil
auf dem Karmel; Jdt 10-13 – Judith tötet Holofernes;
Mk 6,17-29 – Enthauptung des Täufers; Apg 6,8-8,1
– Steinigung des Stephanus). Allerdings sorgt die Verfremdung dafür, dass ein einfaches und schnelles Lösen nicht immer garantiert werden kann und von den
Lesern kriminalistisches Gespür aufgebracht werden
muss, um die Fälle ohne „Schummeln" zu lösen.
Trotz allem ist dieses Buch eine erfrischende
und unterhaltsame Lektüre für zwischendurch und
durchaus zu empfehlen. Darüber hinaus lassen sich
durchaus zahlreiche Impulse und Ideen für „Krimi-Bibel-Abende" mit Jugendgruppen finden. Die
gewagten und kreativen Aktualisierungen der biblischen Geschichten sind sicherlich ein unterhaltsamer Lesegenuss.
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Annett Giercke-Ungermann
Kirche
12 All meine Wege sind DIR vertraut. Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit
// 14 Kirche, Macht und Geld // 15 Die Reformation in Europa // 16 Die Konzilien und der
Papst. Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) // 17 Einführung in
das Studium der Kirchengeschichte. Einführung Theologie
Tomáš Halík
All meine Wege sind DIR vertraut
Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit
Aus dem Tschechischen von Nina Trcka
Freiburg i. Br.: Herder Verlag. 2014
432 Seiten
19,99 €
ISBN 978-3-451-33288-3
Der Autor der Bücher „Geduld mit Gott“ und
„Nachtgedanken eines Beichtvaters“, der tschechische Psychotherapeut, Soziologie und katholische Priester Tomáš Halík, hat nun eine umfangreiche Autobiographie vorgelegt. Er berichtet darin
anschaulich, wie er in der Zeit des Sowjetkommunismus zunächst Philosophie und Soziologie studierte und später zum katholischen Glauben fand, wie
er den Prager Frühling 1968 zugleich als Frühling
seines Lebens, seines Glaubens und der nachkonziliaren Kirche erlebte und wie er unter der darauf
folgenden Restauration der sozialistischen Diktatur litt. Er erzählt, wie er 1978, fünf Tage nach der
Wahl von Johannes Paul II., heimlich in Erfurt (damals DDR) zum Priester geweiht wurde und in der
tschechischen Untergrundkirche tätig war, wobei er
einem säkularen Beruf nachging, also in gewisser
Weise ein „Arbeiterpriester“ war. Nicht einmal seine Mutter durfte davon wissen. Beeindruckend sind
die Berichte darüber, wie versucht wurde, westliche
Theologen verdeckt nach Prag zu Vorträgen einzuladen. Seine Schilderungen der Repression und der
Verfolgung ermöglichen einen Einblick in Lebensbedingungen, die Lesern aus dem Westen aus eigenen
Erfahrungen kaum oder gar nicht zugänglich sein
dürften, erst recht nicht den jüngeren. Sie nachzuvollziehen ist aber wichtig, um auch das heutige
Tschechien und das spannungsreiche Verhältnis
der tschechischen Gesellschaft zur katholischen
Kirche zu verstehen, ein Verhältnis, das auch noch
durch den Reformator Jan Hus (geboren um 1369,
am 6. Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt)
geprägt ist. Halík betont selbst, die Entkirchlichung
in Tschechien dürfe nicht nur als ein Ergebnis der
kommunistischen Ideologie verstanden werden.
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Die Wende von 1989 bedeutete eine tiefgreifende
Veränderung auch im Leben von Halík. Durch seine
Tätigkeit im Widerstand war er mit vielen Regimekritikern eng verbunden, unter ihnen auch mit Václav
Havel, der nach der „Samtenen Revolution“ von 1989
bis 1992 Staatspräsident der Tschechoslowakei und
ab 1993 bis 2003 Präsident der Tschechischen Republik war. Damit eröffneten sich für den Theologen
ganz neue Wirkungsmöglichkeiten. Sein Priesterstand wurde publik, er hatte in der Öffentlichkeit
großen Einfluss und übernahm wichtige Aufgaben.
Havel hätte sich ihn sogar als seinen Nachfolger gewünscht. Zugleich stand ihm durch die gewonnene
Reisefreiheit auf einmal die ganze Welt offen, was
er intensiv nutzte und alle Kontinente einschließlich
der Antarktis bereiste.
Halík berichtet über sein Leben mit viel Humor.
So schreibt er, bevor er Priester werden wollte, habe
er als Kind ursprünglich „Eisbär“ werden wollen.
Selbstkritisch meint der in bürgerlich-intellektuellen Kreisen als Einzelkind aufgewachsene Autor,
die Erfahrung der Solidarität mit Altersgenossen sei
bei ihm zu kurz gekommen. Verständlich wird seine
zeitweilige Nähe zu konservativen kirchlichen Strömungen, die sich ja durch ihren, für Halík sicherlich positiv gesehenen Antikommunismus auszeichneten – von deren Einfluss er dann aber doch, wie
er schreibt, „geheilt“ wurde. Er kritisiert, manche
besonders konservative Katholiken aus dem Westen seien nach der Wende in den Osten gekommen,
„als wären sie Märchenprinzen und unsere Kirche
das Dornröschen, das während des Kommunismus
[…] das Zweite Vatikanische Konzil selig verschlafen hätte, und als würden sie es nun mit einem
zauberhaften Kuss wecken, auf dass die liebliche
Unbeflecktheit der vormodernen Kirche wiederhergestellt sei“. Halík weiß, dass Kirche und Glauben
zu Weiterentwicklungen bereit sein müssen, wenn
sie sich im „Labyrinth der Freiheit“ bewähren wollen. Er beklagt sich massiv über die häufige „invidia clericalis“, das Laster des Neids unter Klerikern,
das er selbst schmerzlich erfahren musste, als er
vom Dekan der Theologischen Fakultät in Leitmeritz
1992 mit einem Disziplinarverfahren aus der Fakultät hinausgedrängt wurde. Der Theologe zieht sogar
Parallelen zwischen manchem Mechanismus in der
kommunistischen Diktatur und in der katholischen
Kirche. So stellt er sich auch deutlich gegen Forderungen nach einem „katholischen Staat“: „Dort, wo
der Glaube in den Rang einer staatlichen Ideologie
erhoben würde, wäre ich – im Namen des Glaubens
wie auch im Namen der Freiheit – wohl der erste
Dissident.“
Auch dunkle Seiten seines Lebens, seine Unsicherheit vor der Priesterweihe und andere schwierige Situationen voller Selbstzweifel und Glaubenskrisen
verschweigt er nicht. Halík erzählt seine Lebensgeschichte zugleich als eine Geschichte seiner Beziehung zu Gott. Das macht den Titel des Buches und
die eingestreuten theologischen Reflexionen verständlich. Als sein Vorbild nennt er den Heiligen Augustinus und seine „Confessiones“.
Die umfangreiche Autobiographie ist spannend
zu lesen, verständlich geschrieben und äußerst anregend. Man kann sie nur wärmstens empfehlen!
Gerhard Kruip
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Matthias Drobinski
Kirche, Macht und Geld
Peter Marshall
Die Reformation in Europa
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2013
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier
255 Seiten
Stuttgart: Reclam Verlag. 2014
19,99 €
209 Seiten mit s-w. Abb.
ISBN 978-3-579-06595-3
19,95 €
ISBN 978-3-15-010866-6
Das deutsche Kirchensteuersystem, der konfessionelle Religionsunterricht, der Dritte Weg beim Arbeitsrecht und die an die Kirchen gezahlten Staatsleistungen sind Gegenstand medialer Erörterung.
Matthias Drobinski greift diese aktuellen Diskussionen um das Staatskirchenrecht in seinem Ende 2013
erschienenen Buch auf. Er ist Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und dort für Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig. Seine fundierten Kenntnisse zeigen sich in seinen Ausführungen. Drobinski
will „weder einfach die Kirchenposition verteidigen,
noch einer laizistischen Verfassung das Wort reden.
Er geht davon aus, dass, bei allen Problemen, die es
gibt, Religionen und Religionsgemeinschaften insgesamt einer Gesellschaft guttun und dass ein Staat, der
die Religionsfreiheit schützen will, diesen Religionen
auch einen Platz in der Öffentlichkeit garantieren
muss.“ Allerdings sieht er es wegen der voranschreitenden Säkularisierung in der Gesellschaft als notwendig an, dass sich das Staat-Kirche-Verhältnis in
eine andere Richtung entwickeln und ändern muss.
Der Verfasser zeigt historische Entwicklungen und
die rechtlichen Voraussetzungen des Staatskirchenrechtes auf. Dabei verdeutlichen seine Ausführungen
immer wieder, dass er die großen christlichen Kirchen für Gesellschaft und Staat als unentbehrlich
einschätzt. Er hält das Staatskirchenrecht und -verhältnis für stabil, sieht es aber für die Zukunft in seiner jetzigen Form als gefährdet an. Daher plädiert er
für eine Reformierung, Erweiterung und Ergänzung
des gegenwärtigen Staatskirchenrechts zu einem
Gesellschafts-Religionen-Recht. So sollte nach seiner Ansicht die Kirchensteuer, die im Moment noch
die beste Form der Kirchenfinanzierung sei und dem
Staat auch Geld bringe, in Zukunft durch eine Gemeinwohlabgabe ersetzt werden. Für die rechtlich
begründeten Staatsleistungen schlägt er vor, dass die
Bundesländer und die Kirchen Schritt für Schritt da-
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rauf hinarbeiten sollten, die Staatsleistungen abzulösen. Nach seiner Ansicht sollte der Dritte Weg im
Arbeitsrecht der Kirchen noch besser begründet und
durch ein besonderes christliches Profil des Arbeitgebers unterstützt werden. Bei der Loyalitätspflicht
der Arbeitnehmer schlägt er ein Stufenmodell vor. Als
Beispiel führt er den Bischof, Pfarrer oder Religionslehrer an, dem jeweils eine andere Verpflichtung der
Kirche gegenüber obliege als etwa dem Hausmeister
der Gemeinde. Den konfessionellen Religionsunterricht sieht er durch die Vermittlung von Wertvorstellungen als wichtiges Fach an. Nach seiner Auffassung
sinkt die Zahl der konfessionell gebundenen Schüler
aber so stark, dass überlegt werden sollte, welche
Möglichkeiten es jenseits des konfessionellen Religionsunterrichtes geben könnte, etwa Kooperationsmodelle von evangelischem und katholischem Religionsunterricht. Wichtig ist ihm auch die hinreichende
Einbeziehung des Islam.
Insgesamt hat Drobinski eine kritische Bestandsaufnahme vorgelegt. Auch wenn nicht alle Vorschläge von Drobinski überzeugen, vermitteln sie dennoch gute Denkanstöße. Von der Diktion her ist das
Buch leicht zu lesen und setzt kein besonderes Wissen der Rezipienten voraus.
Magdalene Kläver
Soll im Vorfeld des Gedenkens an 500 Jahre Reformation noch ein weiteres Buch angezeigt werden,
das ob seiner Kürze doch nur verkürzend sein kann?
Nein, nach der Lektüre von Peter Marshalls Studie
bleibt ein anderer Eindruck zurück. Der britische
Historiker hat in gut englischer Tradition einen
Essay vorgelegt, der einen breiten Bogen schlägt,
alle wichtigen Themen behandelt und doch einen
originellen Ansatz wählt. Sieben Kapitel fassen die
Ereignisse und Entwicklungen jeweils unter einer
Hauptüberschrift zusammen: Reformationen – Erlösung – Politik – Gesellschaft – Kultur – Andere –
Erbe. Eine Zeittafel und Literaturhinweise aus dem
deutsch- und englischsprachigen Raum schließen
die Studie ab.
Zunächst einmal überzeugt der zeitliche Rahmen. Marshall spannt ihn von etwa 1400 bis etwa
1700. Damit kann er sowohl die „Vorläufer“ Wyclif
und Hus als auch die Konfessionskriege des 17.
Jahrhunderts und beginnende Toleranzansätze unterbringen. Dann ist sein Ansatz interkonfessionell.
„Reformation“ ist nicht nur die Opposition gegen
die römische Kirche, sondern vollzieht sich zu Beginn der Neuzeit in allen religiösen Teilgruppen.
Der Plural „Reformationen“ kann daher eine gute
Ergänzung zum Konfessionalisierungsparadigma
sein. Marshall weist auf Abhängigkeiten und Wechselwirkungen hin. Kein religiöser und theologischer
Aufbruch der Frühneuzeit geschah unabhängig von
der Umwelt. Die internationalen Verflechtungen zwischen den Mächten wirkten sich erheblich auf die
Akteure der Reformationen aus. So kann Marshall
die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen
in den europäischen Ländern ebenso interpretieren wie die Ausgrenzung von Minderheiten und das
missionarisch-kolonisatorische Ausgreifen in die
neu entdeckten Kontinente.
Dabei klammert Marshall die theologischen Fragestellungen keineswegs aus. Unter der Überschrift
„Erlösung“ fasst er sie auf 25 Seiten knapp und konzis zusammen. Rechtfertigung und Glaube, Prädestination, Autorität der Schrift, Sakramente und die
Erwartung eines baldigen Endes der Welt sind die
Stichworte, die sowohl die reformatorischen Anfragen als auch die katholischen Antworten umkreisen.
Marshall fasst seine Thesen in mehreren Paradoxien zusammen: Die Reformationen wollten gesellschaftliche und religiöse Uniformität und haben einen Pluralismus befördert. Die Festigung der Macht
des Staates öffnete den Weg zur Kritik an dessen
Autorität. Der Kampf gegen Aberglaube und Ketzerei schuf einen Aktionsraum für tolerantes Handeln.
Die angestrebte Sakralisierung der Gesellschaft
schuf die Bedingungen für deren Säkularisierung.
Für eine erste Information und einen schnellen
Überblick sind die 200 Seiten aus der Feder Peter
Marshalls nur zu empfehlen. Sie machen Lust, an
der einen oder anderen Stelle selber noch tiefer zu
graben.
Joachim Schmiedl
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Bernward Schmidt
Die Konzilien und der Papst
Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen
Konzil (1962-65)
Lenelotte Möller / Hans Ammerich
Einführung in das Studium der Kirchengeschichte
Einführung Theologie
Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2014
Freiburg: Herder Verlag. 2013
160 Seiten
318 Seiten
17,95 €
24,99 €
ISBN 978-3-534-23541-4
ISBN 978-3-451-30636-5
Eine etwas andere Konziliengeschichte legt der
Aachener Kirchenhistoriker Bernward Schmidt vor.
Er kommt aus den Münsteraner Sonderforschungsbereichen und Exzellenzinitiativen, die sich seit
Jahren mit der Bedeutung symbolischer Kommunikation beschäftigen. Deshalb nimmt die Ereignisgeschichte der Konzilien auch nur einen Teil seiner
Ausführungen ein. Schmidt interessiert sich für die
Formen, unter denen Entscheidungen gefällt wurden, die Geschäftsordnungen und die Sitzordnung,
für die Zeremonien und die (Selbst-)Darstellungen
der Protagonisten. Dabei erzählt Schmidt nicht nur
eine Geschichte des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, sondern weist auf, welche Bedeutung Stilfragen bis zum Zweiten Vatikanum hatten.
Mit diesem Konzil ist der Endpunkt seiner Untersuchungen erreicht, die mit dem Konzil von Pisa
(1409) einsetzen. Durch das Abendländische Schisma war das Ansehen des Papsttums auf einem Tiefpunkt angelangt. Theorien wurden entwickelt, die
entweder den päpstlichen Primat überhöhten oder
kritisierten. Drei Päpste waren nicht zum Rücktritt bereit. In ausweglos scheinender Situation
übernahm König Sigismund die Initiative. Auf dem
Konzil von Konstanz (1414-1418) wurde der Konsens wiederhergestellt. Die weiteren Konzilien des
15. Jahrhunderts mussten sich mit der Theorie des
Konziliarismus auseinandersetzen – Kirche als Demokratie oder Monarchie?
Das Fünfte Laterankonzil, einberufen zur Versöhnung der Kardinäle des Pisaner „Conciliabulums“
und zum Ausgleich mit Frankreich, ist für den Autor Höhepunkt und Exempel der symbolischen Ausdrucksform eines Papstkonzils. Der Papst thront
über dem Konzil, neben ihm Kaiser und Könige. Die
Überordnung des Papstes war in Zeremoniell, Liturgie und Raum deutlich zum Ausdruck gebracht.
Zudem hatte der Papst in den Kardinälen und den
Kurienbehörden Personen, die seinen Hofstaat bildeten. Gegenüber der Bestreitung des Papsttums
durch die Reformatoren setzte Rom auf Repräsentation und Inszenierung statt auf strukturelle Reformen.
Das Konzil von Trient bildete in dieser Hinsicht
noch einmal eine Zwischenphase ab, insofern kein
Papst direkt daran beteiligt war, sondern nur über
Legaten einwirkte. Die Stärkung der bischöflichen
Position führte nach Trient zur Bestreitung päpstlicher Ansprüche durch Gallikanismus und Jansenismus, Episkopalismus und Staatskirchentum.
Doch im 19. Jahrhundert setzte sich die päpstliche
Monarchie endgültig durch. In Frontstellung zur
Moderne, besonders zu den Ideen der Französischen
Revolution, war der Ultramontanismus die Antwort auf die Herausforderungen der Moderne, deren Instrumente zwar übernommen, aber gegenläufig eingesetzt wurden. Höhepunkt der päpstlichen
Monarchie sind die beiden Definitionen des Ersten
Vatikanums von der Unfehlbarkeit des Papstes und
seinem Jurisdiktionsprimat.
Auch wenn im 20. Jahrhundert alternative ekklesiologische Bilder wie das vom Leib Christi auftauchten, änderte sich im Zweiten Vatikanum an
der grundsätzlichen Überordnung des Papsttums
über die Kirche nichts. Doch wie das genaue Zusammenspiel von Kirchenleitung und Gläubigen, von
Papst- und Bischofsamt, von monarchischen und
kollegialen Strukturen aussehen kann, wird bis heute unterschiedlich gesehen und interpretiert. Man
kann Bernward Schmidt deshalb nur zustimmen,
wenn er eine Zukunftsoffenheit für die Konkretisierung einer monarchischen Ekklesiologie sieht und
erhofft.
Joachim Schmiedl
16
Die Umstellung der Studiengänge auf das Bachelor-Master-System hat auch in der Theologie eine
Flut schmaler und leicht handhabbarer Einführungswerke hervorgebracht. Die Herausforderung
für ihre Autoren besteht darin, angesichts eines zur
Ausbildung mutierten Studiums ihre Leser an anspruchsvolles wissenschaftliches Arbeiten heranzuführen, ohne sie zu überfordern und abzuschrecken.
Die Herausforderung für eine Einführung in das
Studium der Kirchengeschichte besteht zudem darin, mehr als nur einen Überblick über die einzelnen
Epochen zu bieten. Dies, so darf vorausgeschickt
werden, gelingt dem vorliegenden Werk in Aufbau
und Themenauswahl überzeugend.
Es gliedert sich in sieben inhaltliche Kapitel und
einige Übersichten, wobei zunächst die Disziplin
charakterisiert und Fragen nach ihrem Ort im Konzert der Wissenschaften aufgeworfen werden (Kap. I
und II), bevor die Einteilung in Epochen thematisiert
(Kap. III) und in dem mit gut 50 Seiten längsten Teil
des Buches ein grober Abriss der Kirchengeschichte
in Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne
gegeben wird (Kap. IV). Der Weg von der Fragestellung über die Quellen zur eigenen Darstellung wird
in den folgenden beiden Kapiteln nachvollziehbar:
Die Autoren stellen verschiedene Teilgebiete der Kirchengeschichte (Dogmen-, Ordens-, Konzilien-, Missionsgeschichte etc.) in knapper Form vor (Kap. V)
und bieten einen Abriss der Quellenkunde und eine
allgemeine Anleitung zum Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit (Kap. VI). Das letzte inhaltliche
Kapitel präsentiert schließlich kirchenhistorische
Themen in den Lehrplänen der Sekundarstufe I und
bietet eine Auswahl an Beispieltexten für den Unterricht zur Reformationsgeschichte.
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Hinsichtlich seines Aufbau und der Themenauswahl könnte das vorliegende Werk durchaus die
Grundlage für eine einschlägige universitäre Lehrveranstaltung bieten. Doch bedauerlicherweise haben die Autoren auf etliche Details zu wenig Sorgfalt
verwandt, so dass sich das Werk teilweise nicht auf
der Höhe des aktuellen Diskurses befindet. Dies sei
an einigen Beispielen illustriert:
Die Verortung der Kirchengeschichte zwischen
Theologie und Geschichte bleibt vor allem mit Blick
auf den Diskurs der katholischen Kirchengeschichte der letzten 50 Jahre unterkomplex, einschlägige
Ansätze (Klaus Schatz, Hubert Wolf, Andreas Holzem
u.a.) werden nicht berücksichtigt. Den Verfassern
gelingt es daher in der Konsequenz nicht zu begründen, warum Kirchengeschichte eine theologische
Disziplin sein soll und nicht an historischen Seminaren gelehrt wird.
Manche Formulierungen transportieren überholte Geschichtsbilder: Konstantin erließ kein „Toleranzedikt“, man spricht besser von der Mailänder
Vereinbarung; in der mittelalterlichen Geschichte
sollte man mit dem Staatsbegriff vorsichtiger umgehen, da es keinen Staat im modernen Sinne gab; dies
gilt noch mehr für „Staatskirche“ – einen Begriff für
das 18./19. Jh.; im Jahr 1517 zerbricht nicht die Einheit der westlichen Kirche; Karl der Große „erneuerte“ nicht das antike Kaisertum; eine Opposition
zwischen historisch-kritischer Methode und Apologetik zu behaupten, geht an neueren Forschungserkenntnissen komplett vorbei; der „Dictatus papae“
von 1075 war ein internes Arbeitspapier ohne große
Breitenwirkung, sollte also nicht zu hoch eingeschätzt werden; die Französische Revolution war
nicht „Höhepunkt und Abschluss der Aufklärung“.
Auch wenn die knappe Darstellung zu Kürze und
Verkürzung zwingt, ist lobenswert, dass die Verfasser der Kirchengeschichte der DDR viel Raum geben. Dafür fehlt manches, was für das Verständnis
nötig wäre: für das Spätmittelalter etwa die intensive Frömmigkeit als Voraussetzung für die Reformationszeit (56); für die Frühe Neuzeit lutherische
Orthodoxie und Pietismus; für das 20. Jahrhundert
fehlen das Zweite Vatikanische Konzil und seine
Rezeptionsgeschichte völlig; die Dogmengeschichte wird aus evangelischer Sicht präsentiert, ohne
Rücksicht auf die erheblichen Probleme in der katholischen Theologie (v.a. in der Modernismuskrise).
Der Band wendet sich explizit an Studierende
und an „Praktiker in Kirche und Schule“. Für diese
Zielgruppe fallen die genannten Defizite scheinbar
kaum ins Gewicht. Doch werden auf diese Weise
Geschichtsbilder evoziert und perpetuiert, die von
der Forschung nicht gedeckt sind. Der „Einführung“
muss also in jedem Fall weitere Lektüre aktueller Literatur folgen.
Bernward Schmidt
18
Kunst
20 Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und
Religion // 22 Der Gott der Maler und Bildhauer. Die
Inkarnation des Unsichtbaren // 24 Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „ChristusTrilogie“ bis „SUNRISE. Das Buch Joseph“ // 26 Die Fülle
des Lebens. Zeichnungen im neuen Gotteslob
Erich Garhammer (Hg.)
Literatur im Fluss
Brücken zwischen Poesie und Religion
Regensburg: Pustet Verlag. 2014
176 Seiten
12,00 €
ISBN 978-3-7917-2575-8
Regensburg ist eine Stadt am Fluss und reich an
Brücken. Flüsse und Brücken sind topografische
Orte und zugleich Metaphern, die für Austausch
und Kommunikation unter Menschen vielfältig einsetzbar sind. „Mit Christus Brücken bauen“ lautete
das Motto des Regensburger Katholikentages 2014.
Anlässlich dieses Treffens haben der Würzburger
Pastoraltheologe Erich Garhammer und seine Mitarbeiter Texte zeitgenössischer Autoren erbeten und
zu einer Anthologie zusammengestellt, die um die
Themen Fluss und Brücke kreisen und zugleich eine
Beziehung zu Religion oder Transzendenz eröffnen.
Programmatisch heißt es im Vorwort: „Im Fluss der
Zeit gibt sie (sc. die Literatur) dem flüchtigen Leben
eine sprachliche Gestalt; sie beschreibt, sie erzählt,
sie formt, sie entreißt mit ihrer Angel dem Meer der
Zeit eine Beobachtung, eine Notiz, sie webt ein Textum, ein Netz, in dem sich Wirklichkeit verfängt. Solch
festgehaltene Wirklichkeit ist nicht endgültig und
irreversibel, sonst wäre sie tot. Insofern ist Literatur
im Fluss, sie schlägt Brücken zwischen Flüchtigem
und Bleibenden.“ Die hier versammelten „Brückentexte“ sind sehr unterschiedlicher literarischer Art
und Herkunft: autobiografische Skizzen (Hugo Loetscher, Hanns-Josef Ortheil), Essays über die Kunst
des Übersetzens (Ulrike Draesner) und über Wege in
die Welt von Jean Paul (Petra Morsbach), die Erzählung „Die Reise des Erzengels Michael auf der Donau“
(Sibylle Lewitscharoff), Kommentare zum eigenen
Werk (Patrick Roth, Thomas Hürlimann), die Übertragung des Psalms 90 (Arnold Stadler), zeitgenössische islamische Mystik in Form freier Rhythmen
(SAID) sowie lyrische Gedichte von Reiner Kunze und
Harald Grill. Den jeweiligen Texten sind Porträts
der Autoren mit kurzen Einführungen in ihr literarisches Schaffen angefügt, wobei es den Verfassern
„in literarisch-theologischer Absicht“ immer auch
um die religiöse Dimension im Werk des Autors geht.
20
Dieser bleibt gelegentlich äußerlich oder wird dem
Leser nicht hinreichend erschlossen (Jan Skácel
/ Reiner Kunze: Dank und Harald Grill: schönsee).
Andere Beiträge überraschen den an der modernen
Exegese geschulten Theologen, weil sie Glaubensgeheimnisse des Christentums in unerwartet direkter
Weise neu vergegenwärtigen. Dies trifft vor allem
für Patrick Roth zu, dem die Bibel zur Inspirationsquelle seiner Jesusbücher wird, aber auch für Sibylle Lewitscharoff, bei der das Wunder als Brücke zum
Jenseits neue Aktualität gewinnt.
Rüdiger Kaldewey
Die Autorenporträts sind durchweg gelungen
und für den Nicht-Fachmann gut lesbar. Die Verfasser zeigen sich mit dem Werk ihrer Referenzautoren vertraut, scheinen – das gilt für die Porträts Reiner Kunzes von Erich Garhammer und
Harald Grills von Werner Schrüfer – sogar mit ihnen befreundet zu sein und interpretieren methodisch fachgerecht, ohne theologisch zu vereinnahmen. Auf diese Weise wird der Leser mit einer
Reihe anspruchsvoller Autoren bekannt, die nicht
im Mittelpunkt der öffentlichen literarischen Diskussion stehen, die kennen zu lernen und zu lesen
sich für den literarisch-theologisch interessierten
Leser aber lohnen dürfte. Einer Crux bei solchen
zu einem bestimmten Anlass und zu einem Thema
zusammengestellten Anthologien entgeht auch diese Textzusammenstellung nicht. Der Herausgeber
ist auf solches Material angewiesen, das ihm die
eingeladenen Autoren liefern. Deshalb sind die Primärtexte sehr heterogen. Das betrifft nicht nur die
Textgattungen, sondern auch den Reflexionsgrad,
das Anspruchsniveau und den Bezug zum Thema
des Bandes „Brücken zwischen Religion und Poesie“.
21
François Bœspflug
Der Gott der Maler und Bildhauer
Die Inkarnation des Unsichtbaren
Aus dem Französischen übersetzt von
Annett Röper-Steinhauer
ISBN 978-3-451-34149-6
Gottvater als Greis „zu einem Allgemeinplatz“, was,
so die Vermutung des Verfassers, damit zusammenhängen könnte, dass alte Menschen besser als junge
die Pest seit Mitte des 14. Jahrhunderts überlebten
– und das Alter zum „Emblem für die Ewigkeit“ firmierte. Durch Abweichungen von der lange gültigen
Regel des Christomorphismus entstanden freilich
allzu anthropomorphe Darstellungen Gottes, die „zu
einem Glaubwürdigkeitsverlust des Gottesgedankens in Europa“ beigetragen haben könnten.
Die bildtheologische Frage nach der „Inkarnation des Unsichtbaren“ steht im Zentrum von François Bœspflugs jüngstem Buch. Es beruht auf Vorlesungen, die er 2013 in Regensburg gehalten hat.
Der Autor, Professor für Religionsgeschichte an der
Universität Straßburg, ist ein ausgewiesener Kenner
christlicher Kunst und ihrer Ikonographie.
Die Bibel sagt nichts über das Aussehen Jesu, der
Christomorphismus lässt es offen. Ohne lehramtliche Rückendeckung füllen Künstler diese visuelle
Leerstelle aus, indem sie den menschgewordenen
Gott als „schön“ und Verkörperung „aller Eigenschaften eines idealen Menschentums“ darstellen.
Mit dieser ikonographischen Tradition bricht erst
das 19. Jahrhundert.
Freiburg: Herder Verlag. 2013
248 Seiten mit 31 Nachzeichnungen von Ines Baumgarth-Dohmen
29,99 €
Für das Verhältnis von Theologie und bildender
Kunst gilt ganz allgemein, dass für das Wort das
Nacheinander des Erzählten, für das Bild das Simultane des Gemalten charakteristisch sind. Das diskursive Denken der Theologie und das figurative Denken
der Künstler funktionieren nicht auf dieselbe Weise.
Schon deshalb sind Bildwerke keine Illustrationen
biblischer Perikopen oder christlicher Lehraussagen,
sondern immer schon eigenständige Interpretationen. In seinem „Essay“ nun gilt das besondere Interesse des Autors solchen Bilderfindungen, die nicht
mit dem Credo kongruent sind und in gelungenen
Fällen die Theologie zum Nachdenken anregen und
um neue Problemstellungen bereichern können.
Bœspflug geht von einem menschlichen Bedürfnis
nach einer Veranschaulichung des Göttlichen aus.
Anders als im Judentum und im Islam kommt das
Christentum diesem Bedürfnis mit seinem Bekenntnis, dass der unsichtbare Gott sich selbst in der
historischen Person Jesus von Nazareth geoffenbart und so sichtbar gemacht hat, entgegen. Daher
ist es nur konsequent, wenn der Verfasser seine vielen Bildbetrachtungen am narrativen Leitfaden des
Lebens des Gottessohnes von der Inkarnation bis
zu seiner Wiederkehr als endzeitlicher Richter orientiert – ist Jesus Christus doch „das Ebenbild des
unsichtbaren Gottes (Kol 1,15).
22
Untersuchungsgegenstand sind Bildwerke seit
der Entstehung der christlichen Kunst im 3. Jahrhundert bis ins späte Mittelalter. Hinweise auf später entstandene Kunstwerke und solche der modernen Kunst bilden eher die Ausnahme. Insbesondere
die Buchmalerei erweist sich als ein Ort bildtheologischer Innovationen.
Hinsichtlich der christlichen Gottesvorstellung
macht Bœspflug die nirgends schriftlich niedergelegte, dennoch gut belegte und vom 3. bis zum 13.
Jahrhundert befolgte Regel des Christomorphismus
aus, die darin besteht, „sich an das Bild des menschgewordenen Gottes zu halten“. Ihr folgen bspw. die
Darstellungen der Maiestas Domini in romanischen
Kirchen. Hier lässt sich beobachten, dass der Gott
der Künstler ein Gott ist, der die Gläubigen mit seinen Augen anblickt.
Durch die nummerische Differenzierung zwischen Gottvater, Gottes Sohn und Gottgeist sowie
die Altersdifferenzierung zwischen Vater und Sohn
wurden die kühnen Neuerungen bei der Darstellung
der Trinität seit Ende des 11. Jahrhunderts möglich.
Ab dem 16. Jahrhundert wird die Darstellung von
Grundlegend für das Christentum ist die theologische Vorstellung der Inkarnation. Um solche Glaubenswahrheiten zu verbildlichen, haben Künstler,
angeregt von Autoren der Mystik und Andachtsliteratur, verschiedene Szenarien entwickelt. Die wohl
bekannteste findet sich auf einer Ikone von A. Rubljow, in welcher die Beratung der Trinität über die Inkarnation Christi zur Rettung der Menschheit dargestellt ist. Andere Bilder zeigen den Aufbruch des
Sohnes, die Aussendung Gabriels zu Maria oder die
Eingebung der Seele Christi in den Leib Marias. Die
Variante der zuletzt genannten Darstellung, welche
die kreuztragende Seele Jesu ins Bild setzt, kritisierten Theologen wegen der Gefahr des Doketismus. Sie
wurde auf dem Konzil von Florenz 1439 zwar verurteilt, später dennoch wieder aufgegriffen.
Ein weiteres Verbot bezog sich auf die Darstellung des Hl. Geistes als junger Mann. Diese auf Visionen der Kreszentia von Kaufbeuren fußende Darstellung wurde 1745 verboten. Insgesamt jedoch,
so Bœspflugs Resümee, waren „Affären um Bilder“
äußerst selten, was damit zusammenhängt, dass
„der religiösen Kunst in den Augen der Theologen
im Grunde keine große Bedeutung“ zukommt und
sie gerade deshalb künstlerische Freiheit besaß. So
wurde bspw. eine seit dem 13. Jahrhundert verbreitete Bilderfindung ohne biblische Referenz, die den
auferstandenen Christus beim Verlassen des Grabes
zeigt, nicht verboten, obwohl sie das Missverständnis von Auferstehung als Wiederbelebung eines
Leichnams nahelegt.
Eine bildtheologisch erstrangige Erfindung ist
das seit dem späten 14. Jahrhundert beliebte Motiv
der Not Gottes; es zeigt Gottvater, der den Leib des
vom Kreuz abgenommenen Christus an sich drückt.
Ein besonders schönes Beispiel ist im Städel Museum zu sehen, eine Grisaille-Malerei des Meisters
von Flémalle. Da beim Frankfurter Gemälde noch
die Taube des Hl. Geistes hinzukommt, handelt es
sich um eines der seltenen Beispiele für ein Leiden
der Trinität. Hier wird deutlich, dass sich die christliche Kunst keineswegs damit begnügt, die Magd der
Theologie zu sein, sondern ausgesparte Züge eines
Gottesverständnisses zum Ausdruck bringen kann,
die in diesem Fall erst die Theologie des 20. Jahrhunderts explizit thematisiert hat.
Das kenntnis- und erkenntnisreiche Buch von
François Bœspflug wird von einem performativen
Widerspruch durchzogen. Die Werke, die beschrieben und gedeutet werden, sind zumeist Bilder,
häufig Miniaturen, deren Farbigkeit das Auge des
Betrachters entzückt. Der Leser indes bekommt entweder gar nichts zu sehen – oder 31 schwarz-weiße
Nachzeichnungen. Im Anhang werden Hinweise auf
22 Bildwerke, manche mit Internetadresse, gegeben.
Wie kann so erlebbar werden, was der Autor christlicher Kunst zutraut, nämlich „das Credo glaubhaft
und liebenswert zu machen… Gott für all jene erträglicher zu machen, die nicht Heilige und nicht
Theologen sind: für die breite Masse“?
Thomas Menges
23
Michaela Kopp-Marx / Georg Langenhorst (Hg.)
Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth
Von der „Christus-Trilogie“ bis „SUNRISE.
Das Buch Joseph“
Göttingen: Wallstein Verlag. 2014
384 Seiten
39,90 €
ISBN 978-3-8353-1452-8
Ein Sammelband präsentiert anregende Kommentare zum Werk von Patrick Roth. Der Schriftsteller ist 1953 in Freiburg im Breisgau geboren und
hat 27 prägende Jahre seines Lebens in der FilmMetropole Los Angeles verbracht. Die Novellen seiner „Christus-Trilogie“ (seit Anfang der 1990er) erscheinen zu einer Zeit, da noch nicht allerorts devote
Dichter und Geisteswissenschaftler die Wiederkehr
der Religion durch den Kanon lärmten; sein Roman
„Sunrise. Das Buch Joseph“ (2012) verschiebt den
Akzent des klassischen Jesus-Romans und erweitert
den biblischen Stoff.
Roths Erzählweise ist von einer Nähe zum Film
sowie dem Duktus der Klassischen Moderne geprägt
– „[…] eine Ästhetik“, schreibt Michael Braun in seinem Kommentar, „die den Riss deutlich macht, der
die erkennbare von der unerkennbaren Welt trennt,
und diesen Riss zugleich als ‚transzendenten Überstieg‘, als spirituelle Bindung zeigt, als Religion im
Wortsinn.“ Sonnenaufgang – im Gegensatz zum Sonnenuntergang bei Bert Brecht – „ist die ästhetische
Grundformel und die anthropologische Grundlage
für Patrick Roths postbiblisches Erzählen.“
Kurzum: Patrick Roth scheint öfters den Rechen
durch die Zen-Gärten Kaliforniens gezogen zu haben, denn sein Umgang mit biblischem Stoff ist
so überaus unbeeindruckt von jenem spießig-verhuschten Symbolismus, dem man sonst bei vielen
Literaten begegnet.
24
Michaela Kopp-Marx (Universität Heidelberg)
und Georg Langenhorst (Universität Augsburg) versammeln unter dem Titel „Die Wiederentdeckung der
Bibel bei Patrick Roth“ siebzehn vielfältige Beiträge
sowie ein Interview mit dem Schriftsteller plus einer
gut sortierten Bibliographie. Erfreulich dabei ist vor
allem die thematische Spannbreite. Die Herausgeber
notieren, dass sie an Roth exemplarisch literarische
Strategien und Funktionen mythopoetischer Rede in
der Gestaltung von biblischem Material betrachten
möchten; dabei reagieren sie auch auf die Ambivalenz des Gottesbildes in zeitgenössischer Literatur.
Nirgends hat man das Gefühl, der Autor werde konfessionell oder ideologisch eingenommen.
Uwe Schütte beispielsweise schreibt: „Was [Roths]
Texte leisten, ist die vielleicht vornehmste Kunst: In
der Öffnung der profanen Welt zum Transzendenten
hin Trost zu spenden, Mut zuzusprechen und Kraft
zu geben. Damit wir die erbärmliche Wahrheit aushalten können, dass all unsere elaborierten Denksysteme, Religionen und Geisteswissenschaften angesichts der entropischen Tendenz aller natürlichen
Systeme nur notwehrhafte Konstruktionen und hilflose Versuche sind, die Kontingenz zu verleugnen,
indem wir Mythologeme von Sinn, Ordnung und
Dauer errichten, weil es mehr als ein Leben vor dem
Tode nicht gibt.“
Karl-Josef Kuschel und Georg Langenhorst präsentieren wesentliche Züge der Jesus-Romane im
20. Jahrhundert. Durchgängig findet man ergiebige
Vergleiche zu Thomas Manns Josephs-Romanen,
zum Film (wenn hier auch ein wenig retro) und der
bildenden Kunst. Daniel Weidner zeigt, wie Roth Erzählverfahren der Bibel und Bibelübersetzung durch
Buber/Rosenzweig in die Tat umsetzt; und Eckhart
Reinmuth stellt denn Stoff des Josephs-Romans in
den Kontext apokrypher Kindheitsevangelien vor,
wie z.B. die koptische Erzählung „Geschichte von
Joseph, dem Zimmermann“, die wohl um 400 n.Chr.
entstand. Interessant ist, dass Reinmuth bei aller
textkritischer Sorgfalt doch sagen kann: „Die Gotteserfahrung der Protagonisten [in Roths ‚Sunrise‘]
wird weder in den Bereich des Psychischen ausgelagert noch auf andere Weise rationalisiert. Sie findet
in der Profanität und Trivialität der Welt der Handelnden, ihres Lebens und ihrer Geschichte statt.
Hier ist, gerade auch dann, wenn der Name Gottes
nicht fällt, der Ort seiner Präsenz, die Erfahrungen
seiner Gegenwart“. Andere Autoren kommen zu anderen Schlüssen; diese tolle Vielfalt an Lesarten
charakterisiert das gesamte Projekt.
Braun hebt auch das spezifisch gelagerte interfigurale Beziehungsnetz in „Sunrise“ hervor, das
durch den Fokus auf die Josephs-Figur entsteht, und
gelangt so u.a. zu einem Bild der Familie, welches
eine Korrektur der einseitigen marianischen Monopolisierung des Stoffs darstellt.
Unbeschadet solcher Defekte jedoch ist an dem
Band hübsch, dass die Beiträge relativ voraussetzungsfrei gelesen werden können: Literaturhistorische Daten, theoriespezifischer Jargon und Wissen
wie die biblischen Referenztexte lassen die Autoren
ausreichend in ihre Argumentation einfließen, um
keinen Leser außen vor zu lassen. Überhaupt charakterisiert Klarheit die Essays, die bei aller Ausführlichkeit meist prägnant bleiben.
Abschließend möchte ich noch auf das Interview,
das Rita Anna Tüpper mit dem Schriftsteller führte,
hinweisen. Es lässt sich in mehrfacher Hinsicht als
short cut zu seiner Poetik lesen. Tüpper stellt zunächst Fragen hinsichtlich Roths Verhältnis zum
Filmemachen; dabei thematisiert jener in seiner
Antwort die anders gelagerte individuelle Arbeit
des Schriftstellers im Hinblick auf die kollektive
Produktion eines Films, um dann festzustellen: „Die
ästhetische Dimension des Textes oder Films muss
– meiner Meinung nach – zunächst einmal ‚dienen‘,
das heißt, sie muss die aufmerksamste Entsprechung zum Inhalt anstreben. Und dann, letztlich,
muss diese ästhetische Dimension durchbrochen
werden. Auf ein Anderes, uns Übersteigendes hin.
Dieses Andere, dieses Erlebnis des Anderen, ist dann
auch verpflichtend – ethisch verpflichtend.“
Christopher Paul Campbell
Etwas ermüdend allerdings sind gelegentlich die
Sentimentalität, die an den Texten klebt, sowie die
verträumte Rezeptionsbehäbigkeit. Bei manchen
Autoren nervt die Auto-Immunisierung gegen die
„ausgemachte Peinlichkeit“, die religiöse Literatur
alter Manier erweckt hätte, nur um erleichtert feststellen zu können, dass Roth nun ja gar nicht, also
keineswegs mit Luise Rinser und Elisabeth Langgässer zu verwechseln sei. Da möchte man den von
„Peinlichkeit“ tangierten Kommentatoren zurufen:
Seien Sie doch nicht so verschämt! Locker bleiben:
Ist doch in Wahrheit nur erfunden!
25
Monika Bartholomé
Die Fülle des Lebens
Zeichnungen im neuen Gotteslob
Münster: Verlag der Akademie Franz Hitze Haus. 2013
71 Seiten m. s-w Abb.
7,50 €
ISBN 978-3-930322-62-6
Katholische Kirche und Pracht der Bilder sind wie
zwei Seiten einer Medaille. Doch im Gotteslob von
1975 gab es keine Bilder, die womöglich vom Beten
und vom Singen hätten ablenken können. Umso bemerkenswerter ist die Entscheidung der Kommission der deutschen Bischofskonferenz unter Leitung
des Würzburger Bischofs Dr. Friedhelm Hofmann,
neben zwei Farbbildern 19 Zeichnungen in den
Hauptteil zu integrieren. Sie treten als eigenständiges, sich in keiner Weise hervordrängendes Medium zwischen die Texte und die Noten.
Den außergewöhnlichen Auftrag, für ein Buch
mit einer Startauflage von ca. 4 Millionen Exemplaren Kunstwerke zu gestalten, bekam die 1950
geborene Zeichnerin Monika Bartholomé. Aus über
600 Zeichnungen kamen ca. 120 in die nähere Auswahl; daraus wurden die Bilder für das am ersten
Advent 2013 eingeführte neue Gotteslob bestimmt.
Auf weißes Papier sind mit dem Bleistift oder dem
Pinsel wenige Linien gesetzt, die Bewegung, aber
auch Ruhe evozieren. Die Zeichnungen sind keine
Illustrationen; es fehlt der Bezug auf die bekannte
christliche Ikonografie. In ihrer Uneindeutigkeit und
Offenheit treffen die „kleinen linearen Kunstwerke“
(Bischof Hofmann) auf einen Betrachter, der sie erst
lebendig werden lässt. Dazu schreibt die Künstlerin: „Das Zeichnen ist Zwiesprache, zwischen dem
was entsteht, was sich zeigt und dem möglichen Betrachter. Zeichnen ist kommunizieren.“
Philosophie / Ethik
In eine solche Kommunikation kann schon das
elegante Signet auf dem vorderen Bucheinband
der Kirchenausgabe führen. Es besteht aus drei
geschwungenen Linien – auf der ursprünglichen
Zeichnung sind es drei getuschte Pinselstriche –, die
zu Deutungen anregen: ein Beter mit gehobenen Armen; ein Kruzifix; eine dynamische Bewegung von
„unten“, die eine Antwort „oben“ erfährt… Schade
nur, dass dieses Signet sich nicht auch auf den Standardausgaben des Gotteslobes befindet!
Wer sich intensiver mit den Zeichnungen im neuen Gotteslob und ihrer Gestalterin befassen möchte,
dem sei der kleine Katalog des Franz Hitze Hauses
empfohlen, der außer den Kunstwerken u.a. ein Gespräch mit Monika Bartholomé enthält. Damit ist
die Diskussion über die Kunstwerke im neuen Gotteslob eröffnet.
Thomas Menges
26
28 Zukünftige Personen. Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur
genetischen Manipulation // 30 Alles // 32 Religion
für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben // 34 Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin
als Theologe // 36 Das Andere des Begriffs. Hermann
Schrödters Sprachlogik und die Folgen für die Religion
Anja Karnein
Zukünftige Personen
Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der
künstlichen Befruchtung bis zur genetischen
Manipulation
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian
Heilbronn
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2013
270 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-518-29586-1
Die In-vitro-Technologien radikalisieren die ohnehin heftige Kontroverse über das ungeborene
menschliche Leben auf den pränidativen menschlichen Embryo hin: Erstens ist mit Blick auf die embryonale Stammzellforschung ganz grundsätzlich
zu fragen, ob wir auch schon pränidative menschliche Embryonen als Personen ansehen müssen, die
wir nicht zerstören dürfen, und zweitens stellt sich
im reproduktionsmedizinischen Kontext die Frage,
ob wir solche pränidative menschliche Embryonen,
die für den Transfer in einen Uterus vorgesehen
sind, genetisch bzw. biotechnologisch manipulieren
dürfen, und wenn ja, nach welchen Kriterien?
Diese beiden Fragen gliedern den Versuch der USamerikanischen Politikwissenschaftlerin und Philosophin Anja Karnein, eine die Forschung und Reproduktionsmedizin umfassende ethische Theorie
des ungeborenen menschlichen Lebens vorzulegen.
Sie beabsichtigt ferner, zwei nationalen Diskursen
über den menschlichen Lebensbeginn zu begegnen,
der deutschen und der US-amerikanischen. Während sie der Legislative und Exekutive in Deutschland die viel zitierten Wertungswidersprüche zwischen einer de facto liberalen Abtreibungspraxis
hinsichtlich des postnidativen Embryo in vivo und
restriktiven Forschungsvorschriften bezüglich des
pränidativen Embryo in vitro vorwirft, kritisiert sie
an den amerikanischen pro-choice-Vertretern, d.h.
den Befürwortern einer liberalen Abtreibungspolitik, nicht über eine konsistente Theorie des moralischen Wertes früher menschlicher Embryonen zu
verfügen, so dass die Gefahr bestehe, Embryonen,
die zu Personen werden, sogar im reproduktions-
28
medizinischen Kontext vollkommen schutzlos zu
lassen. Da es aber für geborene Personen durchaus
relevant sei zu erfahren, was mit dem Embryo geschah, aus dem sie sich entwickelt haben – so die
Grundthese der Autorin – könne dieser blinde Fleck
in der liberalen US-amerikanischen Abtreibungsdebatte nicht hingenommen werden. Genau dafür
entwickelt Karnein ihr „Prinzip der zukünftigen
Personalität“ (PZP), demzufolge wir solche Embryonen, für die noch nicht ausgeschlossen ist, dass sie
sich zu Personen entwickeln, „in Antizipation jener
Achtung“ behandeln, „die wir den Personen schulden, zu denen sie sich entwickeln werden“. Damit ist
zugleich eine normative Entscheidungsbasis für die
im zweiten Teil des Buches behandelte Frage grundgelegt, ob und inwieweit pränidative Embryonen
manipuliert werden dürfen, für die die Autorin eine
diskussionswürdige Kasuistik entwickelt.
Unbestritten verdienstvoll ist, dass Karnein den
Versuch einer umfassenden Theorie ungeborenen
Lebens unternommen hat, denn die In-vitro-Technologien erlauben längst nicht mehr, zwischen den
Praxisbereichen wissenschaftlicher Grundlagenforschung einerseits und Reproduktionsmedizin
andererseits zu unterscheiden. Das haben nicht zuletzt die Diskussionen über die tatsächlichen oder
vermeintlichen Wertungswidersprüche zwischen
Embryonen in vivo und in vitro vor Augen geführt.
Auch dass Karnein so deutlich unterstreicht, dass
der Umgang mit frühen menschlichen Embryonen
unbedingte moralische Relevanz besitzt, ist zu begrüßen. Der neuralgische Punkt ihrer Argumentation ist jedoch ihre empiristische Personentheorie, die
bestimmten Stadien des Menschseins den Personenstatus vorenthält. Wenn die Philosophin zunächst
„all diejenigen Wesen […], die zu moralischem Handeln imstande sind“, zu Personen erklärt, um dann
„sekundär“ auch jene Wesen einzuschließen, „die
vertraute Teile unserer sozialen Welt und menschlicher Abstammung sind“, obwohl sie über diese
Fähigkeit empirisch nachweisbar nicht verfügen,
ungeborenen Menschen aber den moralischen Personenstatus vorenthält, weil sie „auf die Entwicklung
im Körper einer Frau angewiesen sind“, wird die
Brüchigkeit ihrer Persontheorie offenbar, die einerseits einen humanistischen Standard und zugleich
eine liberale Abtreibungspolitik gesellschaftspolitisch sichern will. Beide Anliegen mögen politisch
legitim und moralisch wünschenswert sein, aber
sie sind ethisch nicht gut begründet. Wenn Karnein
dann auch noch für die Möglichkeit einer Adoption
überzähliger Embryonen „vielleicht sogar gegen den
Willen der biologischen Eltern“ plädiert, zeigt sich
vollends die Inkonsistenz einer Argumentation, die
den Personenstatus früher menschlicher Embryonen vom Anerkennungswillen einer Frau abhängig
machen will. Immerhin unterläuft die Autorin um
des offensichtlich hohen moralischen Gutes der Entwicklungsförderung früher menschlicher Embryonen willen das Eigentumsrecht der biologischen Eltern an ihren Körpersubstanzen.
Das lesenswerte Buch von Anja Karnein zeigt,
dass die ethische Debatte über den menschlichen
Lebensbeginn noch deutlicher differenzieren muss
zwischen individual- und sozialethischen Argumentationen sowie zwischen moralischen Forderungen
und rechtlich erzwingbaren Ansprüchen.
Heike Baranzke
29
Janne Teller
Alles
München: Hanser Verlag. 2013
144 Seiten
12,90 €
ISBN 978-3-446-24317-0
Nach ihrem umstrittenen, aufwühlenden Jugendroman „Nichts, was im Leben wichtig ist“ erschien
2013 ein Band mit Kurzgeschichten der dänischen
Autorin Janne Teller unter dem Titel: „Alles, worum
es geht“. Es handelt sich um sieben Kurzgeschichten, in deren Zentrum zumeist junge Menschen stehen, die in existentiell entscheidenden Momenten
dargestellt sind. Immer geht es um Situationen oder
folgenschwere Entscheidungen, die an das Innerste
des Menschen rühren, sein Wesen offenlegen und
seine Existenz bestimmen. Dabei wird der Leser
mit verstörenden Eindrücken konfrontiert, denn zumeist geht es hier um die Frage, wie es im Leben
der Protagonisten zum Ausbruch von Gewalt, zu
Diskriminierung, Mobbing kommt, wie ein Opfer
zum Täter wird …, kurz: wo liegen die Ursachen des
Bösen? Alle Geschichten wirken düster und in einer
eindrucksvollen, messerscharfen, schnörkellosen
Sprache von Beginn an Unheil verkündend und ziehen den Leser gerade deshalb in ihren Bann.
In der ersten Kurzgeschichte „Warum?“ ist es ein
jugendlicher Gewalttäter, der scheinbar sinnlos einen Migranten lebensgefährlich verletzt hat. Im
beklemmenden Dialog mit einer Sozialarbeiterin
benennt diese gesellschaftliche und familiäre Hintergründe bei der Suche nach Gründen für die Tat,
aber der Jugendliche selbst bemerkt zu der Frage im
Titel nur lakonisch: „Alles ist möglich.“ Damit hinterlässt er das ungute Gefühl, dass letztlich jeder
zum Täter werden kann – ohne tragfähige Erklärung.
In der zweiten Kurzgeschichte „Sich so in den Hüften wiegend…“, in der das Problem der Integration
und Toleranz fremder Kulturen angesprochen ist,
verwischen die Grenzen zwischen Täter- und OpferSein. Der zunächst in Leserbriefen des Ich geäußerte
unverhohlene Rassismus findet Zuspruch und eskaliert, bis sich schließlich die Intoleranz umkehrt
und das Ich sich selbst bedroht fühlen muss.
30
In „Gelbes Licht“ treibt die durch Medienberichte
hervorgerufene Angst vor Entrechtung und Prostitution einen mit zu viel Verantwortung überlasteten
Jugendlichen zu einer Verzweiflungsaktion, die ihn
und seine Geschwister aber gerade in diese Gefahren hineinzuführen droht. Am Ende steht in aller
Ausweglosigkeit der geflüsterte Hilferuf des Jungen,
der weder genügend Vertrauen zu Freunden noch Eltern hatte: „Lieber Gott, … Kommst du?“
Auch die dritte Geschichte „Der türkische Teppich“ erzählt von der Begegnung zweier fremder
Kulturen. In einer Atmosphäre, die von Anfang an
„knisternd“ erscheint, wo die Beziehungen von zwei
Männern aus unterschiedlichen Kulturen – Tourist
und türkischer Teppichhändler – und die zwischen
Vater und Tochter offenbar auf dünnem Eis stehen,
führen Ignoranz und Überheblichkeit letztlich zu
(selbst-)zerstörerischer Gewalt, die bleibende Wunden reißt.
Es ist die Verletzlichkeit und Einsamkeit kindlicher Seelen, mit denen einige dieser Kurzgeschichten in eindrucksvoller Weise konfrontieren. Diese
korrespondiert mit deren Sprachlosigkeit: Wo keinem Erwachsenen und keinem Gleichaltrigen (bedingungsloses) Vertrauen entgegengebracht wird,
wo Fragen und Ängste nicht kommuniziert werden,
kommt es zu einer unabwendbaren Eskalation der
Geschehnisse, die den Leser zum rat- und hilflosen
Beobachter machen.
Der Todeskandidat in der amerikanischen Gefängniszelle konfrontiert angesichts seiner Hinrichtung mit der Feststellung: „Es gibt Momente, da darf
man töten.“ Eine Verkettung unglücklicher Umstände, die in dem Monolog mosaikartig zusammengetragen werden, und berechtigte Wut haben ihn aus
seiner Perspektive zum Mörder gemacht. Selbst ein
Opfer, wurde er zum Täter und ist nun wieder Opfer
der Justiz, denn schließlich wird er in ihrem Namen
selbst getötet. Wie in allen Geschichten ist die Sprache weder belehrend noch wertend, sondern präzise.
Im Moment der tiefsten Demütigung durch seine Mitschüler wird ein ausgegrenztes Mädchen in
„Die Vögel, die Blumen, die Bäume“ vom Opfer zum
Täter. Die Einsamkeit und Ausgrenzung eines geistig behinderten Jungen münden in „Lollipops“ auf
tragische Weise genau in dem Moment in eine Katastrophe, als er vermeintlich eine Freundschaft geschlossen hat und diese mit allen Mitteln zu verteidigen sucht.
In ihrem abschließenden Essay thematisiert die
Autorin den Schreibprozess selbst – dieser kann
also als Schlüssel zum Verständnis ihrer Texte gedeutet werden. Die Autorin deutet „Alles“ als die
Quelle ihres Schaffens, von der sie gleichsam ergriffen wird. Im Schreiben „hängt Alles zusammen“; in
ihrem Nachwort bezeichnet Teller „Alles“ gar als einen „Ort, an dem alles mit allem zusammenhängt,
alles einen Sinn ergibt“. Dies bedeutet aber nicht,
dass die vorliegenden Kurzgeschichten Antworten
auf die aufgeworfenen Fragen bereithalten oder gar
einen Sinnhorizont umschreiben. Vielmehr konfrontieren die Geschichten mit existentiellen Ängsten,
Wünschen und Fragen, aber: „Nicht auf alle Fragen
gibt es Antworten, aber auch die Annäherung, das
Fehlen von Antworten, kann zwischen den Zeilen
stehen wie eine Frage, die zu ihrer eigenen Antwort
geworden ist.“
Ein lesenswertes Buch, das nicht nur junge Leser
aufrütteln und zum Nachdenken über ihren persönlichen Sinnentwurf anregen kann.
Ute Lonny-Platzbecker
31
Alain de Botton
Religion für Atheisten
Vom Nutzen der Religion für das Leben
Aus dem Englischen übersetzt von Anne Braun
Frankfurt: S. Fischer Verlag. 2013
320 Seiten mit s-w Abb.
21,99 €
ISBN 978-3-10-046327-2
Religion für Atheisten, das ist nichts wirklich
Neues. Allerdings stimmt der Rückblick in die Geschichte nicht sehr hoffnungsfreudig. So hat man
z.B. nach der französischen Revolution versucht,
einen Kult der Vernunft zu etablieren, der wegen eklatanter Lachhaftigkeit im Sand der Geschichte verlief. Weit anspruchsvoller war Hegels Versuch, das
Christentum spekulativ aufzuheben im Rahmen einer die gesamte Kultur umfassenden Synthese. Das
giganteske Unternehmen Hegels hielt keine 30 Jahre
und die Marxisten, die ebenfalls die Religion ersetzen wollten, haben nichts als Unheil angerichtet.
Man wird also skeptisch sein gegenüber einer
solchen Religion für Atheisten, da alle früheren Versuche gescheitert sind. Bei Botton fällt auf, dass er
sich kaum auf solche älteren Versuche bezieht, sonst
wäre dieses Buch vielleicht nicht geschrieben worden. Er rekurriert einzig auf den Gründer des Positivismus, Auguste Comte. Comte entwickelte in seinen
späteren Jahren eine atheistische Ersatzreligion,
die er den Fürsten Europas empfahl. Ohne Erfolg.
Sowohl seine atheistischen als auch seine frommen
Zeitgenossen machten sich nur über ihn lustig, so
dass er verbittert starb.
32
Botton wagt einen neuen Versuch. Sein Grundgedanke ist: Die Religion hat wesentliche soziale und
psychologische Funktionen, die in der aufgeklärten
Gesellschaft brachliegen. So vermittelte sie eine allgemeine Moral, die imstande war, die Sittlichkeit
der Gesellschaft zu garantieren und die den Menschen daran erinnert, dass letztlich alle gleich sind,
arm oder reich, dumm oder intelligent. So etwas fällt
heute weitgehend aus. Die Religion spendete Trost
in den Wechselfällen des Lebens und sie erlaubte
es dem Menschen, seine Schwächen zu zeigen, während wir heute in der Öffentlichkeit beständig den
Sieger spielen müssen.
Bottons Gesellschaftskritik ist durchaus nachvollziehbar. Anders sieht es mit seinen Lösungen
aus. Mir kommt eine Religion ohne Gott so ähnlich
vor wie ein Luftballon ohne Luft, ein kraftlos und
schlaff herabhängender Gummi, der – wie einstmals
bei Comte – bloß noch Gelächter hervorruft, wenn
er denn als Ersatz für einen vormals prall gefüllten
Ballon ausgegeben wird. Tatsächlich musste ich bei
der Lektüre dieses Buches oft schallend lachen, aber
immer auf Kosten des Autors. Wie würde nun ein
atheistisches Nachfolgeprojekt der christlichen Religion aussehen?
Zunächst einmal müsste man menschheitsvereinigende Mahlzeiten in den Restaurants einführen,
bei denen der Bettler neben dem Professor sitzen
dürfte, nicht ohne eine gewisse Nötigung, so wie
man früher zur Kirche gehen musste. Man sollte
die Museen in moralische Anstalten verwandeln,
nicht mehr gegliedert nach Epochen, sondern nach
Tugenden. Ein Stockwerk für die Mäßigung, eines
für Tapferkeit, eines für die Nächstenliebe und weil
man bei den modernen Künstlern oft nicht mehr den
Inhalt errät, müsste man sie fragen, was sie eigentlich gewollt hätten, um sie in den atheistischen Tugendkatalog einzurangieren.
Die großen Reklamebildschirme in den Städten
sollten ebenfalls umfunktioniert werden zur Tugenddarstellung. Auch müsste man überall atheistische Tempel errichten, in denen Whitman statt
Jeremias, Schiller statt Matthäus zitiert würde.
Statt der Heiligen würde man Gutenberg und Einstein verehren, statt Weihnachen und Ostern würde man die sterbende und wiedererwachende Natur
feiern. Stratford-upon-Avon und Weimar würden
zu Wallfahrtsorten. Der leidende Mensch würde an
das Universum verwiesen, angesichts dessen Größe
unsere Leiden gering seien. In den Städten würden
riesige Videoleinwände installiert, damit man sich
angesichts des Kosmos klein fühlen kann. Außerdem brauche man Jammerzirkel, wo die Leidenden
gemeinsam ihrem Elend Ausdruck verleihen. Man
würde des Weiteren säkulare Kreuzwege einführen.
Botton gibt das Beispiel eines alten, inkontinenten
Mannes in großen Windeln als zu empfehlendes Objekt einer säkularisierten Kreuzwegersatzstation.
Warum wirkt all dies lächerlich oder sogar lästerlich? Weil Botton ein durch und durch funktionalistisches Verständnis von Religion hat, wie schon der
Untertitel des Buches signalisiert. Alles ist zu irgendetwas gut und lässt sich deshalb im Sinn multipler
Realisierbarkeit durch ein atheistisches Äquivalent
ersetzen. Konsequenterweise kommt in diesem Buch
das zentrale Prinzip des Christentums, die Gnade,
nirgends vor. Das Gute um des Guten willen gibt
es hier nicht und deshalb degeneriert selbst die
Kunst zur moralförderlichen Propagandaveranstaltung und die Religion erscheint als etwas technisch
Machbares. Wir müssten eine neue Religion „erfinden“, heißt es ständig.
Ob der Blick in den gestirnten Himmel auch nur
mein Zahnweh geringer erscheinen lassen würde,
bleibt fraglich, und ob gemeinsames Jammern den
Jammer vielleicht nicht noch größer macht, wäre
ebenfalls zu fragen. Die Ersatzreligion Auguste
Comtes ging als Skurrilität in die Geschichte ein,
während Alain de Bottons Ansatz vermutlich überhaupt nur eingehen wird.
Hans-Dieter Mutschler
33
Michael Blume
Evolution und Gottesfrage
Charles Darwin als Theologe
Freiburg: Herder Verlag. 2013
176 Seiten
9,99 €
ISBN 978-3-451-06582-8
In Blumes ausführlicher Skizze der Rezeptionsgeschichte spart der Autor den desaströsen Wildwuchs
des Sozialdarwinismus ebenso wenig aus, wie er die
positiven Rezeptionen – so etwa Michael Endes „Jim
Knopf“ – in seine Überlegungen einbindet.
Roma locuta: Evolution – das ist „mehr als nur
eine Hypothese“, so zumindest Papst Johannes Paul
II im Jahr 1996. Im öffentlichen Diskurs kommt das
päpstliche Diktum allerdings gar nicht an. Wenn es
um Darwin und die Evolutionstheorie geht, wird
nach wie vor mit hoher Emotionalität gestritten.
Kreationisten und Intelligent Designer stempeln den
britischen Forscher mit Vorliebe zum Erz-Atheisten,
Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins meinen
mit ihm gegen den Gottesglauben zu Felde ziehen
zu können.
In dieser Situation kommt das Buch von Michael
Blume genau richtig. Sehr unaufgeregt hat es sich
der Religionswissenschaftler in dem 176 Seiten
starken Bändchen zur Aufgabe gemacht, gegen die
„Zerrbilder“ von Vereinnahmung und Verteufelung
anzuschreiben. Neben dem gängigen und häufig verkürzten Quellenmaterial zieht Blume auch solches
heran, das bislang wenig oder mangels Übersetzung
gar keine Beachtung gefunden hat.
Der Autor zeichnet im ersten Großkapitel das
sehr differenzierte Bild eines Mannes, der mit seinem einzigen Studienabschluss in Theologie mehr
und mehr zum Agnostiker wird. Der Ansatz ist zunächst biografisch orientiert, fokussiert aber klar
die sich im Laufe der Zeit verändernde Haltung Darwins in der Gottesfrage. Es wird deutlich, dass diese Veränderungen nur bedingt auf den Konflikt von
empirischem Wissen und spezifischen Glaubensaussagen zurückzuführen ist. Wenigstens gleichberechtigt stehen daneben Darwins Beschäftigung mit der
Theodizee-Problematik sowie seine aufklärerische
Ablehnung jeder Form eines christlichen Heilsexklusivismus.
34
In das differenzierte Bild Darwins gehören nicht
zuletzt dessen Arbeiten zur Evolution der Religion
als kulturelles Phänomen. Hat man das heute vielfach verbreitete Verdikt im Kopf, wonach es sich bei
der Religion lediglich um ein nutzloses bis schädliches Nebenprodukt der Evolution handelt, wird die
Lektüre des zweiten Großkapitels umso spannender.
In akribischer Arbeit mit den Quellen arbeitet Blume heraus, „dass man Darwin keinen biologistischen Reduktionismus von Religion unterstellen
kann, sondern eine grundsätzliche Wertschätzung
reflektierter Theologie(n) und Philosophie(n) beobachten kann.“ Leicht vergröbernd kann man es auf
den Punkt bringen, dass Darwin in der biologischen
Evolution lediglich eine Voraussetzung für die Kultur- und Religionsentwicklung sah. Die von Darwin
angenommenen Stufen der Religionsentwicklung
selbst, deren höchste der Monotheismus und sein
Moralgefüge ist, sind bis heute in der Religionswissenschaft anschlussfähig. Bemerkenswert ist dabei
Darwins Weitblick, die Gottesthematik als metaphysische Fragestellung von den bloß empirischen Beschreibungen entkoppelt zu haben.
Das dritte Großkapitel widmet sich schließlich
dem Briefwechsel zwischen Darwin und dem englischen Philosophen und Juristen William Graham
unter dem systematischen Gesichtspunkt des evolutionären Theismus. Graham hatte mit dem Werk
„The Creed of Science“ 1881 ein Buch platziert, in
dem es um die Vereinbarkeit von empirischer Forschung und theistischem Gottesglauben ging. Er
entwickelte darin Überlegungen, die in gegenwärtiger Nomenklatur als panentheistisch-prozesstheologisch zu bezeichnen wären. Der Briefwechsel zeigt
einmal mehr Darwins innere Überzeugung, „dass
das Universum kein Resultat des Zufalls“ sein kann,
andererseits aber auch seine erkenntnistheoretisch
„furchtbaren Zweifel“ an der Zuverlässigkeit und
Gültigkeit des evolvierten Menschengeistes, in dieser Frage zu einer letzten Gewissheit zu kommen.
Das Buch ist ein gefährliches Buch! Zumindest
für diejenigen, die sich in reduktionistischen Synthesen mit Lückenbüßer-Göttern oder naiven Empirismen andererseits samt einem verkürzten DarwinBild wohlig eingerichtet haben. All denjenigen, die
existenzielle Spannungen und geistige Friktionen
aushalten können, sei es empfohlen.
Matthias Werner
35
Linus Hauser / Eckhard Nordhofen (Hg.)
Das Andere des Begriffs
Hermann Schrödters Sprachlogik
und die Folgen für die Religion
Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2013
180 Seiten
€ 24,90
ISBN 978-3-506-77627-3
Im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes
steht Hermann Schrödters Definition von „Religion“.
Diese wurde erstmals 1975 in kritischer Auseinandersetzung mit den maßgebenden Religionskonzeptionen der damaligen Religionspädagogik in einer
genuin philosophischen Perspektive von ihm ausgearbeitet und seitdem in zahlreichen Publikationen
weiterentwickelt. In dem hier wieder abgedruckten
Beitrag von Klaus Ebeling und Schrödter, der dem
Leser als Einstieg in das Thema des vorliegenden
Bandes empfohlen sei, lesen wir: „Religion ist Ausdruck und Erscheinung des Bewusstseins radikaler
Endlichkeit der menschlichen Existenz und deren
realer Überwindung.“
Es sind zwei Anforderungen, denen ein angemessener Religionsbegriff zu genügen hat: „Er muss 1.
auf einer Einsicht in die natürliche Grundausstattung von uns Menschen beruhen und 2. eine selbstverantwortliche Entscheidung (Wahl) über mögliche
Welt- und Lebensorientierungen zulassen.“ Beide
Anforderungen erfüllt die Schrödter‘sche Religionsdefinition in paradigmatischer Weise: Religion beruht auf einer allen Menschen zugänglichen anthropologischen Grundverfasstheit, dem Bewusstsein
der radikalen Endlichkeit menschlicher Existenz, ist
aber selbst kein Grundzug der menschlichen Natur.
Ansonsten müsste eine nicht-religiöse Lebensform
als anthropologisch defizitär gelten. Die Definition
gestattet es, Religion als eine mögliche Stellungnahme zum fundamentalen Endlichsein des Menschen
zu verstehen, die eine bestimmte Form von Weltund Lebensorientierung neben anderen darstellt.
Damit kommt nach Schrödter ein Entscheidungsmoment mit hinein: „Das für einen philosophischen Religionsbegriff unabdingbare Moment der Freiheit“,
so Schrödter im Nachwort zum vorliegenden Band,
36
„findet hier in der Struktur des Religionsbegriffs
seinen logischen Ort.“ Das für die Religion charakteristische Verhältnis zum Bewusstsein radikaler
Endlichkeit beruht auf dem „absoluten Transzendieren“, in dem der Horizont menschlicher Verfügbarkeit „auf eine ‚neue‘ Wirklichkeit hin“ überstiegen
wird: Die Überwindung der radikalen Endlichkeit,
die menschliches Können übersteigt, wird hier als
Realität erfahren.
Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich unter
verschiedenen Rücksichten mit dem Sinn dieses
Religionsbegriffs und sie machen, indem sie ihn in
verschiedenartiger Weise konkretisieren, seine Leistungsfähigkeit deutlich. Hans-Jürgen Müller erläutert den begrifflich-systematischen Hintergrund der
Religionsdefinition, wobei er besonders auf die Religion als einen vernünftigen actus humanus eingeht:
Entscheidungen im Feld der Religion stehen nicht
jenseits von Rationalität und Humanität, sie „implizieren reflexive Distanzierung vom unmittelbaren
Lebensvollzug, Ausdrücklichkeit, sprachlich-symbolische Artikulation.“ Hans-Joachim Höhn setzt
bei Schrödters „Identifikation eines existenziellen
Bezugsproblems“ für Religion an und entwickelt
von hier ausgehend einen existentialpragmatischen
Religionsbegriff. Im Blick auf die Limitationen des
Daseins und unseres rationalen Umgangs mit ihnen
stellt sich die Frage, wo für die Religion ein existenzielles Bezugsproblem identifiziert werden kann.
„Die Fragen“, so Höhn, „auf die Religion die Antwort
sein bzw. geben soll, beziehen sich […] nicht auf etwas in der Welt, sondern auf das In-der-Welt-Sein
des Fragenden.“ Religion kann verstanden werden
„als eine spezifische Einstellung zu Lebenseinstellungen, als eine besondere Umgangsform, mit den
Formen, mit den Limitationen des Daseins umzugehen“. Damit gewinnt Höhn einen Maßstab sowohl
für die Kritik an angemaßten Zuständigkeiten der
Religion als auch für den Nachweis ihrer „unabgegoltenen existenziellen Relevanz“, nämlich dort, wo
es „die Vernunft mit dem […] Unbegreiflichen, Unverfügbaren und Unheimlichen zu tun bekommt,
wofür sie selbst keine zureichenden vernunftgemäßen Umgangsformen entwickeln kann“: Hier ist
es Sache der Religion, „sinnvolle Bezugnahmen auf
das in Vernunftverhältnisse Unübersetzbare auszubilden“, um so das Dasein trotz alles Befremdlichen
„für letztlich zustimmungsfähig zu halten“.
Eckhard Nordhofen widmet sich dem Zusammenhang von Monotheismus und Liturgie: Im Gott der
Offenbarung stehe dem Menschen eine Wirklichkeit
gegenüber, der ein ontologischer Sonderstatus zukommt, was in Ex 3,15 deutlich wird. Die reine Anwesenheit ohne jede weitere Bestimmung wird hier,
so Nordhofen, als Name ausgerufen, Intension und
Extension koinzidieren: „Auf buchstäblich einmalige Weise ist es hier gelungen, die Einzigkeit und
Andersheit Gottes zum Ausdruck zu bringen.“ Das
zeige sich im „privativen Index“ aller Offenbarungsgeschichten, in dessen Folge sich eine „Semantik des
Entzugs“ ausbildet. Kult und Liturgie sollten endlich „in der Tradition privativer Alteritätsmarkierung“ begriffen und gedeutet werden.
Michael Novian knüpft an Schrödters Arbeiten zur „neomythischen Kehre“ in der Moderne an
und bezieht seine religionsphilosophischen Überlegungen auf eine Theorie des Retromythos. Während der Neomythos die radikale Endlichkeit des
Menschen negiert und als innerkosmisch, und zwar
durch menschliches Handeln, überwindbar vorstellt
(Fortschrittsgläubigkeit,
Wissenschaftsmythen),
wird dies durch den Retromythos verneint: „Retromythen sind aus einem kritischen Reflexionsvollzug
erwachsenes, kulturelles und individuelles SichBeziehen auf Endlichkeit im Bewusstsein ihrer Radikalität und im Bewusstsein der Grenzen menschlichen Fortschrittvollzugs.“ Dies vollziehe sich im
Ausgriff auf tradierte Mytheme, die reformuliert
werden und die so auf eine erneute Verzauberung
der Welt abzielen.
37
Linus Hauser analysiert den Begriff „Sinn des
Lebens“ im Begriffsfeld von „Weltanschauung“.
In ihrem Horizont liegt, so Hauser, „zum einen die
Feststellung von Endlichkeit und zum anderen das
Streben nach ihrer Aufhebung als menschlichem
Zweckhorizont.“ Von hier aus lässt sich die Frage
nach dem „Sinn des Lebens“ eines Menschen als die
Art und Weise bestimmen, wie er die Spannung zwischen diesen beiden Momenten interpretiert und/
oder lebt. Johannes Drescher widmet sich der Frage
nach dem Verhältnis der Begriffe „Offenbarung“ und
„Vernunft“. Er wendet sich gegen ein positivistisch
verengtes Verständnis von Vernunft als bloßem
Werkzeug, „denn die Möglichkeiten werden nicht
nur festgestellt, sondern der Mensch nimmt dazu
Stellung“ und entwirft sich auf Sinn hin. „Offenbarung“ bestimmt Drescher in Anlehnung an Kant
„als die für religiöse Erkenntnis bestimmende Form
der Anschauung“. Hans-Dieter Mutschler vertritt
die These, „dass es Geist entweder überall oder nirgends gibt, dass also der Naturalismus nicht falsch
sein kann für den Menschen und wahr für die Natur,
sondern nur entweder überhaupt ganz wahr oder
ganz falsch.“ Über eine Kritik des szientifischen Naturalismus kommt er zu einem „weichen Naturalismus“ oder Protopanpsychismus, der bestreitet, dass
man die Natur als „an sich“ geistlos denken könne.
Während in den meisten Beiträgen die Möglichkeit von Religion als solcher im Mittelpunkt stand,
beleuchtet Iris Gniosdorsch das Verhältnis zwischen
den Religionen: Sie unterzieht den Dialog zwischen
Christen und Muslimen einer kritischen Reflexion
mit Hilfe des philosophischen Wahrheitsbegriffs.
Susanne Nordhofen macht auf „die vielen kleinen
Endlichkeiten“ aufmerksam, die in ähnlicher Weise
religionsgenerativ sind wie die große.
38
Der Band bietet eine vielgestaltige Auseinandersetzung mit Hermann Schrödters Religionsbegriff.
Er regt zur weiteren Beschäftigung mit seinem Werk
an.
Stephan Herzberg
Religionspädagogik
40 Die Grundschulbibel // 42 Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen. Konturen einer religionspädagogischen
Grundlagentheorie // 44 Schule interkulturell. Geschichte – Theorie – pädagogische Praxis am Beispiel Nürnberg
// 46 Mit Bildern lernen. Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht // 48 Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen // 50 Jesus Christus. Themenheft für den evangelischen Religionsunterricht in der Oberstufe // 51 Fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie
Axel Wiemer (Hg.)
Die Grundschulbibel
Erarbeitet von Esther Richter, Juliane Zeuch, Axel Wiemer unter
Mitarbeit von Karin Hank, Sara Henkel. Illustration von Liliane Oser
Mit Audio-CD
Stuttgart / Leipzig: Ernst Klett Verlag. 2014
304 Seiten
19,95 € (Audio-CD: 25,95 €)
ISBN 978-3-12-006660-6 (Audio-CD: 987-3-12-006664-4)
Mit der „Grundschulbibel“ hat der Klett Verlag
eine Bibel veröffentlicht, die speziell für den Einsatz
in der Grundschule entwickelt wurde. Zunächst zeigt
sich das in der Textauswahl: Es finden sich die biblischen Texte, die in den Lehrplänen der Bundesländer
für den Grundschulunterricht vorgesehen sind; man
stößt erfreulicherweise aber auch auf Texte, die weniger häufig in Kinder- oder Schulbibeln vorkommen
wie z.B. eine Auswahl von Psalmen oder Exemplarisches aus dem Buch der Sprüche. So ist mit etwas
mehr als 300 Seiten eine ausgesprochen umfangreiche Bibel zusammengekommen, bei der in den wenigsten Fällen vergeblich ein Text für den Unterricht
gesucht werden dürfte.
Den Autoren Esther Richter, Axel Wiemer und Juliane Zeuch war es wichtig, dass sie mit ihrer Bearbeitung einerseits nahe am Ursprungstext bleiben (hier:
der Lutherbibel von 1984) und andererseits durch
einfache Satzstrukturen Verständlichkeit für Kinder bieten. Wie man es von einer guten Kinder- oder
Schulbibel erwarten kann, verzichten sie auf Harmonisierungen, die Widersprüche oder Anstößiges
glätten, und sie sparen selbst Texte nicht aus, die im
Hinblick auf Gott oder die großen Figuren der biblischen Tradition Fragen aufwerfen. So gibt es keine
Erklärung dafür, dass Gott das Opfer Abels ansieht,
das von Kain aber nicht. Und die Erzählung, in der
Gott von Abraham das Opfer seines Sohnes Isaak fordert, wird dem Leser nicht vorenthalten oder beschönigt. Vielleicht gehören ja gerade Fragen, die sich bei
solchen Texten stellen, zu den fruchtbaren Elementen
des Religionsunterrichtes.
40
Den Unterricht bereichern können noch weitere
Elemente dieser Grundschulbibel. Da sind zum einen
die einleitenden Texte zu Beginn größerer Kapitel.
Hier wird auf Fragen und Erfahrungen verwiesen,
die einen Zugang zu den biblischen Texten eröffnen
können. „Warum ist die Welt so, wie sie ist? ... Warum
geschieht so viel Böses in der Welt? ... Was hat Gott
damit zu tun? ... Schon früher haben Menschen solche Fragen gestellt. Antworten haben sie gefunden in
den Geschichten vom Anfang, die die Bibel erzählt.“,
heißt es etwa vor dem ersten Kapitel. Nicht immer
mögen diese Fragen und Erfahrungen für die eigene
Lerngruppe die richtigen sein, aber sie sind ein Modell, wie man im Unterricht vorgehen kann.
Daneben enthalten die Seiten am unteren Rand
Hinweise auf weitere didaktische Möglichkeiten. Ein
Symbol verweist auf zum Text passende Lieder einer
CD, ein weiteres auf Arbeitsmöglichkeiten mit einer
Lernkartei. Daneben gibt es zu einzelnen Begriffen
des Textes Hinweise auf einen Anhang am Ende des
Buches. Dieser enthält ein Kapitel mit Wort-, ein Kapitel mit Namenserklärungen sowie jeweils ein Kapitel mit einer Ortsliste zum Alten und eine zum Neuen Testament. Beide Kapitel enthalten übersichtlich
gestaltete Landkarten, auf denen sich die erläuterten
Orte finden lassen.
Neben den genannten Symbolen gibt es ggf. einen
Verweis auf einen anderen Text der Bibel, in dem derselbe Sachverhalt noch einmal in einem anderen Zusammenhang aufgegriffen wird. So wird die Tatsache
in den Blick genommen, dass viele Ereignisse in der
Bibel aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Ganz bewusst werden daher die Erzählungen
von der Geburt Jesu bei Lukas und Matthäus nacheinander und nicht miteinander vermischt präsentiert.
Natürlich kann das irritierend für Kinder sein, die in
der Weihnachtszeit irgendwo die übliche Mischung
dieser beiden Geschichten hören. Aber diese „Irritation“ kann zu der Beobachtung führen, dass es im Neuen Testament zwei Versionen dieser Geschichte gibt
und dass die Verfasser vielleicht Unterschiedliches
erzählen wollen. An einigen wenigen Stellen sind Parallelstellen direkt nebeneinander abgedruckt (z.B. die
Berufung der ersten Jünger).
Bei der Bebilderung haben sich die Autoren für
eine Mischung entschieden: Auf der einen Seite finden sich Bilder, die für diese Bibelausgabe von der
Hamburger Illustratorin Liliane Oser erstellt worden
sind, zum anderen Bilder verschiedener Künstler vor
allem des 20. Jahrhunderts. Neben eher illustrierenden Bildern laden viele andere dazu ein, sich über
ihre Betrachtung dem Thema des zugehörigen Bibeltextes anzunähern.
Insgesamt haben die Autorinnen und Autoren eine
Bibel vorgelegt, die eine wirkliche gute Grundlage für
die Bibelarbeit in der Grundschule bietet. Neben dem
Text bieten sie eine Vielzahl von didaktischen Anregungen, die vielleicht in dem noch nicht erschienen
Lehrerkommentar ergänzt und erläutert werden.
Christoph Dohmen-Funke
41
Paul Platzbecker
Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen
Konturen einer religionspädagogischen
Grundlagentheorie
Stuttgart: Kohlhammer Verlag. 2012
464 Seiten m. Abb.
49,90 €
In den beiden folgenden Kapiteln „Diskurse“ erprobt der Autor seinen Ansatz an zwei Konfliktfeldern der aktuellen religionspädagogischen Praxis: der Einführung des Kompetenzmodells sowie
der gegenwärtigen Diskussion um die Korrelationsdidaktik. Platzbecker vertieft diesen Diskurs, indem er alternative Modelle religionspädagogischen
Handelns (abduktive Korrelation, performativer RU)
und deren Bewertung von Erfahrung im religiösen
Lernprozess aufgreift. Dem Rahmen der Arbeit ist
geschuldet, dass die verschiedenen Modelle nicht
systematisch dargestellt werden können.
ISBN 978-3-17-022439-1
Bereits der Titel der von Paul Platzbecker vorgelegten Habilitationsschrift „Religiöse Bildung
als Freiheitsgeschehen“ zügelt die Erwartungen
des religionspädagogisch tätigen Lesers, in diesem
umfangreichen Buch „vorgefertigte“ Leitprinzipien
für den Religionsunterricht vorzufinden. Statt der
vielerorts kritischen Situation des Religionsunterrichts in einer Bewegung nach vorne – etwa durch
die Entwicklung didaktischer und methodischer Alternativen – zu begegnen, tritt der Verfasser einen
Schritt zurück, um dem religionspädagogischen
Handeln ein neues Fundament zu legen.
Hierzu vollzieht Platzbecker den notwendigen
Schritt einer Beziehungsbestimmung von systematischer und praktischer Theologie. Dieser recht umfangreiche Prolog ist geboten, weil er das prekäre
Verhältnis beider Seiten zueinander und zu sich
selbst in ausreichendem Maße abbilden möchte. Der
Autor hütet sich davor, eine exakte Determinierung
des Verhältnisses im Allgemeinen vorzunehmen, betont aber die jeweilige Verwiesenheit beider aufeinander und die unerlässlich gewordene Kooperation
zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen.
Im zweiten Kapitel entfaltet Platzbecker einen
Grundriss des in seinem Werk anvisierten Dialogs
mit der Religionspädagogik, nämlich eine transzendentalphilosophisch gedachte Theologie der Freiheit, die entlang Fichte, Krings und vor allem Pröpper und Verweyen entwickelt wird. Anschließend
lotet der Autor die unter anderem auch ökumenisch
relevanten Dimensionen des für den weiteren Fortgang wichtigen Begriffsinstrumentariums „Glaube“
und „Religion“ aus. An dessen Ende betont er die
letztendliche Unverfügbarkeit von Glauben als eines
personalen Aktes und kommt anhand der zuvor gemachten Ausführungen zu dem Schluss, dass „Glaube lernt, indem Religion gelehrt wird“.
Am Ende der Arbeit stehen eine sehr knapp gefasste Zusammenfassung des Gedankengangs und
das Aufzeigen offener Arbeitsfelder. Hier erweist
sich, dass Platzbecker Extrempositionen vermeidet
und für die Aufrechterhaltung des Spannungsfelds,
in dem schulisches religiöses Lernen stattfindet,
plädiert, würde eine Aufhebung doch „den Balanceakt zum Kippen bringen, der gerade den einzigartigen Reiz und die Bedeutung religiöser Bildung (…)
ausmacht“.
Die Stärke des Werkes ist die Betonung der Notwendigkeit eines tieferen Austausches der Religionspädagogik mit der Systematischen Theologie
und der allgemeinen Bildungstheorie. Wie der Autor
anhand zweier ausgesuchter Felder zeigt, bietet der
freiheitstheoretisch begründete Ansatz die Grundlage für einen Dialog mit den genannten Gesprächspartnern der Religionspädagogik. Für die Leserin
und den Leser bleibt beim konkreten Weiterdenken
offen, wie die auszubalancierenden Merkmale „Erfahrungsorientierung“ und „Traditionsbezug“ (z.B.
im Falle des Trinitätsglaubens) in Bildungsprozessen zu verknüpfen sind; Platzbecker verweist auf
den transzendentalen Charakter seiner „Begründungsfigur“, der eine direkte Ableitung auf religionspädagogische Prinzipien verbietet. An dieser
Stelle wird deutlich, dass das Werk keine Vorlagen
für Übertragungen in die Praxis bereitstellt, sondern
einen fundierten Beitrag, eben eine „Grundlagentheorie“ zur systematischen Standortbestimmung des
Religionsunterrichts liefern möchte. Zu empfehlen
ist es allen, die sich wissenschaftlich mit dem Religionsunterricht beschäftigen, aber auch Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die sich für
die Positionierung und das Selbstverständnis ihres
Faches interessieren.
Matthias Emsbach
In den beiden Kapiteln „Klärungen“ versucht
Platzbecker neben dem Ausweis der Lernbedürftigkeit des Glaubens und der Lehrbarkeit von Religion
die religiöse Bildung in einen freiheitstheoretisch
begründeten Bildungsbegriff einzutragen. Hierbei
spricht er von einer „wechselseitigen Verwiesenheit des Glaubens, der Religion und der Bildung“,
in der die Freiheit die vermittelnde Basis für deren
gemeinsamen Vollzug darstellt.
42
43
Schule interkulturell
Geschichte – Theorie – pädagogische Praxis am
Beispiel Nürnberg
Würzburg: Echter Verlag. 2013
104 Seiten
9,95 €
ISBN 978-3-429-03675-1
Bildung nicht nur retrospektiv an die Dokumentation interkultureller Projektarbeit rückzubinden, sondern aktuelle Ansätze innerhalb der Interkulturellen
Pädagogik mit Blick auf die zukünftige interkulturelle Arbeit des Instituts zu diskutieren und fruchtbar werden zu lassen.
In ihrem Buch „Schule interkulturell“ dokumentieren und reflektieren die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg (IPSN) die bisherige
interkulturelle Projektarbeit in der bayrischen Metropole.
Die Leserinnen und Leser erwartet in diesem Buch
ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik (Kapitel 1).
Kompakt wird der Weg von defizitorientierten Ansätzen der Ausländerpädagogik über die differenzorientierten Ansätze der frühen Interkulturellen
Pädagogik hin zu begegnungsorientierten neuen
Ansätzen einer Pädagogik der Vielfalt (Annedore
Prengel) oder der Transkulturalität nachgezeichnet.
Diese Entwicklung wird exemplarisch am Rückblick
auf die eigene interkulturelle Projektarbeit des IPSN
veranschaulicht (Kapitel 2). Ob Ausbildung von Elternlotsen oder interkulturelle Kommunikationsseminare an Schulen, Leserinnen und Leser erhalten
vor allem in der Darstellung der Projekte nach der
Jahrtausendwende interessante Einblicke in die
Nürnberger Praxis. Ziel der Veröffentlichung ist es,
künftige Ziele und Aufgaben der interkulturellen
Projektarbeit am IPSN in Nürnberg genauer zu konturieren. Dazu werden Ergebnisse einer Expertenbefragung, die mit dreißig Beteiligten und Verantwortlichen der interkulturellen Stadt- und Schularbeit
geführt wurden, diskutiert und ausgewertet (Kapitel
3). Wünsche der Befragten nach Informationsseminaren zur Vertiefung des interkulturellen Wissens
oder nach Fortbildungsangeboten zur Verbesserung
der interkulturellen Kompetenzen werden in Vorschlägen zum Ausbau bestehender Projekte am IPSN
konkretisiert (Kapitel 4). Den Abschluss bildet ein
wertschätzendes Nachwort des Oberbürgermeisters
der Stadt Nürnberg Ulrich Maly.
44
Das Buch bietet einen kompakten und informativen Rückblick auf die pädagogische Praxis des
IPSN und liefert damit für Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter an vergleichbaren Instituten und interessierten Schulen in Deutschland engagierte Projektideen im Bereich Interkultureller Trainings und
Anregungen für die Personal- und Projektentwicklung vor Ort. Die Ausführungen zu Geschichte und
Theorie von Migration und Bildung erfolgen mit
Blick auf die Selbstvergewisserung der eigenen Arbeit. Hier stößt die Projektdokumentation an ihre
Grenzen, denn mit wissenschaftlichen Standards
kann und darf das Buch wohl nicht gemessen werden. Entgegen dem eigenen Anspruch, den Stand
der wissenschaftlichen Diskussion darzustellen,
werden zentrale Begriffe wie Interkulturelle Bildung, Interkulturelle Kompetenz oder auch Kultur
nur unzureichend und teilweise auf Basis von Internetquellen (darunter Wikipedia) definiert. Auch
die Darstellung der Einwanderungsgeschichte nach
Deutschland ist zu sehr verkürzt. Die Auswertung
der Expertenbefragung erfolgt leider nur unsystematisch anhand von Einzelzitaten, sodass der Leser
keinen wirklichen quantitativen oder qualitativen
Einblick erhält. Wünschenswert wäre außerdem gewesen, die Einsichten in die Genese Interkultureller
Einen profunden Einblick in die Theorie und Geschichte einer „interkulturellen Schule“, wie es der
Untertitel verspricht, bietet dieses Buch folglich nur
bedingt. Der Einblick in die Praxis interkultureller
Projektarbeit, die Migration, Multikulturalität und
Mehrsprachigkeit als Chancen für die Stadtentwicklung begreift, bleibt nichtsdestotrotz gewinnbringend.
Dorothee Herborn
45
Rita Burrichter / Claudia Gärtner
Mit Bildern lernen
Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht
München: Kösel Verlag. 2014
272 Seiten, durchgehend vielfarbige Ill.
24,99 €
ISBN 978-3-466-37086-3
Wer sich je in einem barocken Gotteshaus der
überwältigenden Flut von Bildwerken ausgesetzt
hat, wird nicht daran denken, dass intellektuelle
Kämpfe um die Rolle des (Kult-)Bildes im Christentum ausgefochten und zentrale Fragen gestellt
wurden: Wie soll der unsichtbare Gott in einem Bild
visualisiert werden? Oder: Wie soll in einem Bildnis
Jesu Christi sein wahres Gottsein dargestellt werden? Die Antworten, die sich schließlich durchgesetzt haben, stammen von Gregor dem Großen (600)
und Johannes von Damaskus (8.Jh.): Gregor erkannte den religionspädagogischen Nutzen von Bildern
für die Gläubigen – frei nach dem Motto: Und wer
nicht lesen kann, der schaut sich die Bilder an. Das
theologische Argument stammt von Johannes, Thomas von Aquin hat es später wiederholt: Das Christentum ist weder eine Bild- noch eine Schriftreligion, im Zentrum steht vielmehr die Inkarnation des
unsichtbaren Gottes im Leib des einst sichtbaren
Jesus von Nazareth. „Da Gott Mensch geworden ist“,
so Thomas, „kann Er in einem körperlichen Bild angebetet werden.“
46
Damit ist der bildtheologische Hintergrund skizziert, den Rita Burrichter und Claudia Gärtner in
ihrer „Bilddidaktik für den Religionsunterricht“
darstellen. In ihren bilddidaktischen Ausführungen
schreiben sie das Anliegen von Günter Lange fort,
der einen „Inhaltismus“ kritisierte, der auf der Linie
Gregors Bilder zu Illustrationen verkürzt. Bilder indes sind eine eigenständige Objektivation menschlichen Geistes: Was ein Text in einem zeitlichen Nacheinander präsentiert, ist auf einem Bild gleichzeitig
gegenwärtig – und damit etwas anderes! Im Zuge
der Betonung ästhetischen Lernens im Religionsunterricht haben Bilder, wie ein Blick in neuere Schulbücher zeigt, Konjunktur; Langes griffige Formel
„Kein Gehalt ohne Gestalt“ ist allgemein akzeptiert
worden. Doch wie mit Bildwerken, insbesondere
zeitgenössischen, umgehen, wenn man nicht Kunst
studiert hat? Konkrete Hilfen bietet die vorliegende
Bilddidaktik.
In drei großen Kapiteln werden (1) bilddidaktische und (2) bildtheologische Grundfragen reflektiert sowie (3) die Rezeption von Bildern an unterschiedlichen Lernorten bedacht. Der Clou dabei ist
die enge Verzahnung von (manchmal zu knappen)
bildtheoretischen Darlegungen und (ausführlicher)
praktischer Bilderschließung. Insgesamt 49 Bildwerke – überwiegend Gemälde, darüber hinaus Installationen, Fotos und einige weitere Bildformen –
werden auf je vier Seiten nach dem gleichen Muster
erschlossen: Das (zumeist in ausreichender Größe)
reproduzierte Werk wird mit Bezug auf die zuvor
dargelegten theoretischen Überlegungen beschrieben und gedeutet; ein Infokasten informiert über
die Künstlerin/den Künstler; es folgen instruktive
„Praxisbausteine“ und einige wenige „Literaturhinweise“. Von hinten nach vorn gelesen ergibt „Mit Bildern lernen“ eine Bilddidaktik. Die besondere Qualität des Buches liegt in der Auswahl, die traditionelle
wie zeitgenössische, religiöse wie religionsferne
und einige provokative Bildwerke umfasst; da sind
selbst für Kunstinteressierte manche überraschenden Entdeckungen zu machen!
Das Buch durchzieht die Spannung zwischen dem
ausdrücklichen und wiederholt betonten künstlerischen Eigensinn der Bilder auf der einen und den
unterrichtlichen Erfordernissen auf der anderen
Seite. Denn anders als im Kunstunterricht kommen
Bilder im Religionsunterricht vornehmlich mit Blick
auf Thematik und Motivik, die nicht immer ausdrücklich religiös sein müssen, zum Zuge. So wird
an je einem traditionellen wie einem zeitgenössischen Bild zu den Themen Schöpfung, Inkarnation,
Erlösung, Trinität und Eschatologie belegt, dass Bilder wegen ihrer visuellen Eigenlogik theologische
Gehalte niemals eins zu eins abbilden und wegen
ihres „Mehrwerts“ sogar zu einem locus theologicus
werden können.
Hinsichtlich der Bildrezeption reflektieren die
Verfasserinnen nicht nur auf das Alter der Schülerinnen und Schüler, sondern halten darüber hinaus
Aspekte wie Gender, soziokulturelles Milieu sowie
die geistige und körperliche Entwicklung für relevant. Für Religionslehrerinnen und -lehrer wichtig
sind die Überlegungen zum außerschulischen Lernort Museum, der ja die anschauliche Begegnung
etwa mit einem Altaraufsatz ermöglicht. Dabei muss
bedacht werden, dass das Museum einen hermeneutischen Rahmen bildet, der einst für die religiöse
Praxis geschaffene Werke zu ästhetischen Objekten
macht und sie so einer Außenperspektive unterwirft.
Gerne hätte ich noch ein weiteres Kapitel gelesen,
in dem sich die Autorinnen anhand einschlägiger
Dokumente den grundsätzlichen Problemen der
Bildtheologie gewidmet hätten. Vielleicht wird sich
der eine oder andere Schüler fragen, warum es trotz
Bilderverbot im Christentum so viele Gottesbilder,
etwa den verbreiteten Gnadenstuhl, gibt. – Natürlich muss man nicht von jedem reproduzierten Bild
und jeder Interpretation begeistert sein und wird
eigene Lieblingsbilder vermissen. Das ändert aber
nichts an dem großen Gewinn, mit dem man das
Buch liest und die ausgewählten Bildwerke zu betrachten lernt.
Thomas Menges
47
Rudolf Englert/ Elisabeth Hennecke/ Markus Kämmerling
Innenansichten des Religionsunterrichts
Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen
München: Kösel Verlag. 2014
247 Seiten
19,99 €
ISBN 978-3-466-37098-6
Seit den 70er Jahren ist „Korrelation“ der Leitbegriff der katholischen Religionsdidaktik. Er steht
für einen Religionsunterricht, der die religiöse Tradition und ihre Zeugnisse in Beziehung zur Lebenswirklichkeit und zu den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler (SuS) setzt. Er beschreibt damit
auch die Differenz zwischen einem konfessionellen
und einem religions- oder christentumskundlichen
Unterricht. Während letzterer die Schüler mit religiösen Texten, Ritualen und Lebensweisen bekannt
macht, beansprucht ein konfessioneller Religionsunterricht, den Geltungsanspruch einer bestimmten
religiösen Tradition und deren Relevanz für das Leben hier und heute zu erschließen.
Wie dieser Anspruch religionsdidaktisch umgesetzt und vor allem wie die beiden Pole „religiöse
Tradition“ und „Lebenswelt“ ins rechte Verhältnis
gesetzt werden sollen, darüber wurde in den vergangenen Jahrzehnten in der Religionspädagogik
heftig gestritten. Es hat auch nicht an grundsätzlicher Kritik am Korrelationsbegriff gefehlt, aber –
abgesehen von der Symboldidaktik von Hubertus
Halbfas – hat keiner der Kritiker einen didaktischen
Alternativentwurf vorgelegt, der jenseits der „Korrelation“ anzusiedeln wäre.
48
Doch inwiefern steuern religionspädagogische
Konzeptionen den Religionsunterricht? Welche
Formen der Korrelation werden in der Unterrichtswirklichkeit umgesetzt? Kann die gegenwärtige
Unterrichtpraxis überhaupt sinnvoll als Korrelationsgeschehen verstanden werden? Diesen Fragen
ist eine Forschergruppe an der Universität EssenDuisburg unter Leitung des dortigen Religionspädagogen Rudolf Englert nachgegangen. Zu diesem
Zweck wurden 113 Unterrichtsstunden zu dreizehn
Unterrichtsreihen im vierten Jahrgang der Grundschule und in Klasse 10 verschiedener Schulformen
im Ruhrgebiet aufgezeichnet und ausgewertet. Das
Ergebnis liegt nun in einem gut lesbaren Buch vor,
das der Verlagsankündigung gerecht wird und „Innenansichten des Religionsunterrichts“ vermittelt.
Die Verfasser skizzieren ebenso präzise wie konzise die verschiedenen Varianten der Korrelationsdidaktik und stellen bei der Auswertung der Unterrichtsstunden fest, dass jene Typen von Korrelation,
die die Relevanz religiöser Tradition erschließen
und den Geltungsanspruch des christlichen Glaubens kritisch prüfen, kaum mehr in der Unterrichtswirklichkeit vorkommen. Eher wird die Perspektive
des christlichen Glaubens als eine unter mehreren
Optionen präsentiert, die individuell wählbar oder
eben auch nicht wählbar ist. Inhaltliche Kontroversen, die die SuS zur Stellungnahme herausfordern
könnten, werden eher vermieden. Nicht selten konzentriert sich der Unterricht auf die – sicher unverzichtbare – Vermittlung sachkundlichen Wissens.
Dieses Ergebnis ist überraschend. Denn man sollte
doch meinen, dass die religiöse Pluralität im Klassenraum kontroverse Diskussionen hervorruft, die
Anlass zur vertieften Beschäftigung mit religiösen
Themen bieten. Das ist zumindest nicht generell der
Fall.
Die hier thetisch zugespitzt wiedergegebenen Ergebnisse der Studie werfen grundsätzliche Fragen
zur Zukunft des Religionsunterrichts auf. Offenkundig sichert die konfessionelle Organisation des Religionsunterrichts im Sinne der Trias (Lehrer, Lehre,
Schüler) keineswegs schon das konfessionelle Profil.
Wer den konfessionellen Religionsunterricht erhalten will – wofür es gute Gründe gibt –, der sollte weniger Energie und Zeit auf die administrative Durchsetzung der Trias verwenden und sich stattdessen
der Frage zuwenden, wie der Geltungsanspruch des
christlichen Glaubens im Unterricht so zur Sprache
kommen kann, dass die SuS zur eigenen Stellungnahme herausgefordert werden. Dabei wird man die
Lehrerinnen und Lehrer aber auch nicht überfordern dürfen. Es mag ja sein, dass die Alltagsrelevanz
des Glaubens im Religionsunterricht zu wenig zur
Sprache kommt. Aber ist das nur ein Problem des
Religionsunterrichts oder nicht vielmehr der kirchlichen Verkündigung?
Andreas Verhülsdonk
Nun könnte man versucht sein, diese Entwicklung mit dem religiösen Desinteresse der SuS zu
erklären. Doch die Auswertung der Unterrichtsbeispiele stützt diese These nicht. Die wiedergegebenen Unterrichtssequenzen zeigen vielmehr, dass
SuS Fragen aufwerfen und Überlegungen anstellen,
die eine theologische Klärung geradezu herausfordern. Zu den enttäuschenden Ergebnissen der Studie gehört, dass genau diese theologische Klärung
kaum stattfindet. Religionslehrerinnen und -lehrer
agieren im Unterricht weniger als „Zeugen des Glaubens“ (Adolf Exeler) oder als theologische Experten.
Vor allem in der Grundschule verstehen sich viele
eher als Moderatoren. Allerdings ist hier eine Einschränkung anzubringen. Ob dieser Befund auch für
die gymnasiale Oberstufe gilt, muss offen bleiben,
da diese Jahrgänge nicht Gegenstand der Untersuchung waren.
49
Silke Hagemann / Marion Keuchen
Jesus Christus
Themenheft für den evangelischen
Religionsunterricht in der Oberstufe
Viera Pirker
Fluide und fragil
Identität als Grundoption zeitsensibler
Pastoralpsychologie
Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2014
Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. 2013
48 Seiten mit s-w Abb.
459 Seiten
14,99 €
39,00 €
ISBN 978-3-525-77670-4
ISBN 3-7867-2975-1
Jesus Christus gehört zweifellos zu den zentralen Inhalten des Religionsunterrichtes, gerade auch
in der gymnasialen Oberstufe. Die vorliegende Arbeitshilfe orientiert sich inhaltlich und formal (bis
hin zu den Operatoren in den Aufgabenstellungen)
an den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der
Abiturprüfung Evangelische Religionslehre. Aber
natürlich lässt sich das Allermeiste auch für den
katholischen Religionsunterricht übernehmen. Gerade aufgrund der innovativen Auswahl von Texten,
Bildern und Sachbezügen stellt das Heft eine Bereicherung für den Unterricht beider Konfessionen dar.
Es handelt sich hier um eine reine Materialsammlung, die auf lange fachdidaktische Hinführungen
verzichtet und zum sofortigen Loslegen einlädt. Die
Materialien können größtenteils einzeln verwendet
werden. Sie sind jedoch in einer gut nachvollziehbaren und inhaltlich stimmigen Reihenfolge dargeboten, in der sich mühelos eine didaktische Struktur
für die Gestaltung einer längeren Unterrichtsreihe
erkennen lässt. Von daher erscheint das Heft nicht
bloß als „Steinbruch“-Kopiervorlage für die Lehrkraft, sondern auch als durchgängiges Arbeitsmaterial für die Schülerinnen und Schüler bestens geeignet.
In allen Bausteinen geht es neben den eigentlichen Themen um die Auseinandersetzung mit dem
biblischen Textverständnis, so dass sich hermeneutische Fragen und Vergewisserungen wie ein zweiter roter Faden durch die ganze Arbeitshilfe ziehen.
Letztlich zielt der Band auf die Entwicklung und argumentative Aneignung eines eigenen Jesus-Bildes.
Gegliedert ist der Band in vier sogenannte „Bausteine“. Inhaltlich geht es darin um Jesu Geburtsgeschichten, um seine ethische Ausrichtung, um die
Reich-Gottes-Dimension sowie um Tod und Auferstehung Jesu. Am Anfang jedes Bausteins steht eine
Anforderungssituation mit Bezug zur heutigen Lebenswelt. Dadurch wird die Auseinandersetzung
mit dem Thema eröffnet. In den nachfolgenden Materialien und Aufgabenstellungen wird jeweils ein
anderer Kompetenzschwerpunkt gesetzt, so dass
die verschiedenen Kompetenzbereiche des RU abgedeckt sind.
Neben klassischen Sachtexten finden sich Interviews, Zeitungsartikel, Romanauszüge, Bibeltexte
in verschiedenen Übersetzungen (u.a. auch Volxbibel und Bibel in gerechter Sprache) und eine Reihe
von Bildern. Die Auswahl der Bilder reicht von der
mittelalterlichen Malerei bis zu moderner Fotografie oder einem Werbeplakat. Leider sind die Abbildungen schwarz-weiß gehalten. Gerade wenn die
Arbeitshilfe im Klassensatz vorliegt, wären farbige
Bilder wegen der größeren Ausdruckskraft hilfreich.
50
Die Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und die Einbeziehung unterschiedlicher theologischer Deutungsvorschläge machen dieses Themenheft zu einer inspirierenden Fundgrube für
Religionslehrkräfte und zu einem anregenden Arbeitsbuch für den Oberstufenunterricht.
Sebastian Lindner
Der Begriff „Identität“ ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Kernbegriff der Praktischen
Theologie avanciert. Identitätstheorien bauen „auf
vielfältigen inter- und transdisziplinären Vermengungen“ auf, die den Diskurs erschweren, da sich
z.B. der philosophische und der human- bzw. sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff unterscheiden. In der philosophischen Tradition wird mit Hilfe
dieses Begriffs die Frage zu beantworten versucht,
wie eine Person trotz aller biographischen Veränderungsprozesse dieselbe bleibt. Das Gesamtspektrum
der Begriffsgeschichte wird im ersten Kapitel dargestellt. Um die „Landschaft der Identitätsdiskussion
zu systematisieren“, verwendet Viera Pirker das Modell des Rhizoms, das von Gilles Deleuze und Félix
Guattari aus der botanischen Metapher der Wurzel
entwickelt wurde. Anders als die hierarchisch strukturierte Metapher des Baums „bedient [sich] dieses
Modell der Wissensstrukturierung „vielfältiger Vernetzungen und [erlaubt] heterogene Zugänge“, ohne
Vollständigkeit zu beanspruchen.
Einen umfassenden Überblick über die humanund sozialwissenschaftliche Diskussion bietet
Kapitel 2: von den psychologischen Theorien der
Identitätsentwicklung (Erikson, Marcia), dem Symbolischen Interaktionismus (Mead, Goffmann, Krappmann) und den Theorien der Identitätskonstruktion
(Gergen, Keupp) bis zu psychotherapeutischen und
diagnostischen Ansätzen (Psychoanalyse, humanistisch-psychologische und verhaltenstherapeutische Ansätze, die Frage von Identitätsstörungen;
zusätzlich ein neurowissenschaftlicher Diskurs). Da
„die heterogene Verwendung des Begriffes eine vollständige Definition erschwert“, stellt die Verfasserin
graphisch ein „integratives Modell von Identität“
dar, das die genannten Ansätze bündelt.
51
neue Möglichkeitsräume, aber auch für das nicht
Fassbare und Flüchtige. Fragilität wird im Anschluss an Paul Ricœur mit Fehlbarkeit konnotiert.
Die Metapher einer fluiden und fragilen Identität
„birgt einen starken Widerspruch in sich, der indes
Wesentliches der Anthropologie zur Geltung bringt“.
Im nächsten Kapitel skizziert Pirker die Entwicklung der Pastoralpsychologie als wissenschaftlicher
Disziplin von ihren Anfängen bis heute als eine
„transdisziplinäre Wissenschaft“, die zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Psychologie und in
Abgrenzung zur Religionspsychologie verortet ist.
Sie ist in der Praktischen Theologie „als Forschungszweig mit transdisziplinärem Selbstverständnis für
eine lebensweltorientierte und psychologisch starke
Hermeneutik für das subjektive Erleben, Handeln
und Reflektieren der Menschen etabliert“.
„Wie ein zeitsensibles und subjektorientiertes
Verständnis vom Menschen, vermittelt durch die
Identitätsdiskurse, praktisch-theologisch fruchtbar
werden kann“, ist Leitfrage des 4. Kapitels. Hierzu legt die Verfasserin aufbauend auf Karl Rahner
ein theologisch-anthropologisches Fundament. Es
folgen drei zeitgenössische Varianten eines Identitätsmodells in der Praktischen Theologie: ein pastoralanthropologischer Entwurf (Stenger), Identität im Horizont gewährter Freiheit (Mette/Werner)
und Identität im Fragment (Luther). Auf dieser Basis
formuliert Pirker „eine transdisziplinäre Identitätsmetapher“, welche die Vorstellung des Fragments
weiterführt und Identität als fluide und fragil beschreibt. Das Fluidum steht für Prozessualität, für
52
Die Autorin fasst „Identität als Grundoption einer
zeitsensiblen Pastoraltheologie“ zusammen, die sich
mit dem „Postulat gelingender Identität“ und der
„Grenzerfahrung Identität“ auseinandersetzt und
sich als „Praxis des Heilens und Befreiens“ versteht.
Abschließend formuliert sie, dass Pastoraltheologie
Menschen besonders im Bereich „der Reflexivität,
der Differenzbefähigung und der solidarischen Begegnung in Compassion“ begleitet und damit immer
wieder Wandlungsprozesse in den Blick nimmt.
Insgesamt bietet das Buch eine profunde Auseinandersetzung sowohl mit der Entwicklung als
auch der aktuellen Diskussion des Identitätsbegriffs, die zu einer Neuformulierung von Identität
als fragil und fluide führt. Mit Hilfe der RhizomTheorie und durch zusammenfassende Graphiken
und Thesen sowie eine gut lesbare Sprache gelingt
es der Verfasserin, die Breite der Diskussion zu bündeln und weiterzuführen. Obwohl sich die Arbeit
pastoralpsychologisch verortet, ist die Lektüre auch
aus religionspädagogischer Perspektive ein Gewinn.
Am Ende sei ein Gedanke von Viera Pirker noch einmal aufgegriffen: „Identität ist letztlich ein Begriff
der konkreten Lebenspraxis. Ohne Relationen und
Interaktionen ist sie nie zu denken.“
Angela Kaupp
Theologie
54 Was Christen glauben. 20 Antworten für kritische Zeitgenossen // 55 Was Atheisten glauben
Franz M. Wuketits
Was Atheisten glauben
Wolfgang Beinert
Was Christen glauben
20 Antworten für kritische Zeitgenossen
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2014
Regensburg: Pustet Verlag. 2014
191 Seiten
376 Seiten
19,99 €
24,95 Euro
ISBN 9978-3-579-08503-6
ISBN 978-3-7917-2575-4
In Zeiten zunehmender Globalisierung und Beschleunigung verlieren für viele Menschen nicht
nur materielle, sondern auch geistige Güter ihren
überkommenen Alleinvertretungsanspruch, auch
und gerade in Sachen Religion/Religionen. Dieser
unaufhaltbare Modernisierungsprozess mit seiner
prägenden Signatur „Vom Singular zum Plural“ löst
traditionelle Selbstvergewisserungen auf und zwingt
dazu, autochthone Identitätsressourcen zu reformulieren und zugleich sich mit seinem Proprium auf
dem Markt der Sinnangebote attraktiv zu profilieren.
In dieser Verschränkung von Innen- und Außenperspektive entwickelt Wolfgang Beinert, emeritierter
Dogmatikprofessor und langjähriger Weggefährte
von J. Ratzinger, aus expliziter Glaubensposition
für „kritische Zeitgenossen“ – so der Untertitel des
Werkes – eine umfängliche „Rechenschaft“ biblischer
Hoffnung im Sinne von 1 Petr 3,15, um „eine rationale
und auch eine möglichst umfassende Annäherung an
das christliche Glaubensgut zu erleichtern.“
Der Verfasser gliedert seine Darlegungen in die
beiden Hauptteile „Grundlagen“ und „Grundthemen“: Im ersten Teil rollt er für die Leserschaft klassische Problemkreise, wie man sie etwa von der Einführungsphase eines Theologiestudiums her kennt,
auf. Es sind dies z.B.: „Wirklichkeit“ („Was ist Wirklichkeit?“, empirischer versus transzendenter Wirklichkeitsbegriff, Möglichkeiten und Grenzen der
Wirklichkeitserfassung); „Vernunft“ (Wahrheitsfähigkeit endlicher Erkenntnis, Diskurskriterien rationaler Aussagen). Es folgen zwei sehr umfangreiche
Abschnitte zum Thema „Glauben“ (etwas/jemandem/an jemanden glauben, Glauben als Liebe, Glaubensbekenntnisse, Bezeugungsinstanzen: Schrift/
Tradition/Lehramt/ Theologie/sensus fidelium). Ein
Kapitel zur Heiligen Schrift (Offenbarungsverständnis, Kanon u.a.) schließt den ersten Teil ab.
54
Im zweiten Teil stellt der Verfasser klassische Topoi der Theologie im Horizont aktueller Forschung
dar; es sind dies: ein Jesus-Kapitel (Quellen/historischer Jesus); ein Kapitel zu „Wundern“ (geschichtlicher Begriff von Wundern, ein biblisches Beispiel,
ein Abschnitt zur Auferstehung u.a. mit der soteriologischen Bedeutung des Ostersamstages). Es folgen dann Kapitel zu den Schwerpunkten: Gott, Trinität, Leiden (Theodizee-Frage), Kirche, Ökumene (ein
Herzensanliegen des Autors!), Jenseits-Vorstellung.
Abschließend folgt ein Blick zurück mit Zukunftsperspektive auf das Zweite Vatikanische Konzil, das
Beinert nach wie vor – besonders mit seiner Kernbotschaft von „Gaudium et Spes“ – als richtungsweisend ansieht. Johannes Paul ll. und Benedikt XVI.
werden auf diesem Hintergrund explizit für ihre
Versuche eines „rollback“ getadelt, während der
Franziskus-Papst als Hoffnungsträger gehandelt
wird. Summa summarum sieht man: Beinert hat ein
quantitativ umfangreiches und sachlich anspruchsvolles Credo des christlichen Glaubensschatzes vorgelegt.
Positiv hervorzuheben sind drei Schwerpunkte,
die bereichernd sein können: Erstens seine aufrichtigen Erörterungen zur Theodizee-Frage, zweitens
sein hoffnungsvolles Plädoyer dafür, dass die Kirche
auch angesichts konstatierter Krisensymptome auf
den Spuren des Zweiten Vatikanums wird fruchtbar
sein können. Drittens profiliert Beinert überzeugend
den unausweichlichen und nötigen Dialog der weltweiten Religionen (Plural!). Kritisch indes muss die
Form des ganzen Werkes gesehen werden: Der (Unter-)Titel des Buches („Antworten für kritische Zeitgenossen“) suggeriert, dass Bezugs- vielleicht sogar:
Ausgangspunkt der Überlegungen die Fragen seien,
die „kritischen Zeitgenossen“ auf den Nägeln brennen. Das Buch ist jedoch weder methodisch noch
inhaltlich daraufhin angelegt. Allenfalls tauchen
mögliche Fragestellungen jener Personengruppe an
nur raren Stellen indirekt auf; etwa: dies oder jenes
stelle „eine besondere Hürde für den heutigen Menschen dar“, damit würden sich die meisten „schwertun“ oder daraufhin „skeptisch werden“. Die Darstellungsweise des Verfassers ist insgesamt weniger
von aktuellen Fragen (der Verlag bewirbt das Buch
mit Hinweis auf den Katholikentag 2014!) als vielmehr von dogmatisch-katechetischen Antworten her
konzipiert. Abschließend sei im Blick auf die spezielle Leserschaft von Eulenfisch Literatur ernüchternd erwähnt, dass der Dogmatiker den schulischen
Religionsunterricht tendenziell als ein gescheitertes
Projekt ansieht, weil dessen „Ergebnis frustriert“
habe und bezüglich der Glaubensvermittlung „leer“
ausgegangen sei. Wenn man mehr mit Antworten
als mit Fragen operiert, ist diese Einschätzung kein
Wunder.
Gustav Schmiz
In seiner neuesten Veröffentlichung gibt der österreichische Biophilosoph und Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits vor, sich mit dem Glauben
der Atheisten auseinanderzusetzen. Was dem Titel
nach verheißungsvoll klingt – als würde der Autor
den Versuch einer (selbst-)kritischen Reflexion glaubensförmiger Strukturen im modernen Neoatheismus wagen –, erweist sich bereits im Vorwort als
eine Apologetik des Nicht-Glaubens. Seine Rechtfertigung gründet in der Unterstellung, ein gläubiges
und/oder unwissendes Gegenüber erblicke im Atheismus nicht mehr als eine sowohl amoralische als
auch sinnentleerte Lebensform. Entsprechend kann
Wuketits, der selbst der Giordano-Bruno-Stiftung
angehört, sich und dem Leser im Ausgang die Frage
stellen: „Wie lebt es sich in einer Welt, in welcher
der Gottesglaube als eine (evolutionär begründete)
Nutzfunktion, eine auf Illusion beruhende Gehirnakrobatik entlarvt ist?“
In seinen Antworten zeichnet der Autor einen
Atheismus, der – wenig überraschend – in seinen
Moral- und Sinnkonzeptionen ohne die Hypothese
eines Gottes auskommt. Hierzu greift er in durchaus lesenswerter Manier altbekannte Theorien einiger Aufklärer auf und verknüpft sie mit modernen
evolutionstheoretisch-naturalistisch begründeten
Atheismen. Einen Gewinn kann der Leser vor allem
dann aus diesen Passagen ziehen, wenn er die von
Wuketits proklamierte Inkompatibilität von Glaube
und Wissenschaft aufbricht und in den Hartzeichnungen religiöser Missbräuche berechtigte Anfragen und fundamentalistische Irrwege erkennt. So
prangert er ein auch fern kreationistischer Positionierungen in theologischen Diskursen auffindbares Denkmodell an, demnach die Leerstellen wissenschaftlicher Theorienbildungen mit Postulaten
göttlichen Einwirkens gefüllt würden, und hält berechtigt fest: „Als Lückenbüßer sollte uns Gott ent-
55
Abhängigkeiten gedacht wird. Zumindest räumt der
Biophilosoph ein, dass der Glaubende nicht – wie
von dem Briten Richard Dawkins unlängst formuliert – an einem Wahn leide, und er erkennt in der
Religiosität eine anthropologische Universalie – von
der der vorgestellte Atheismus gänzlich unberührt
scheint.
behrlich erscheinen.“ An anderer Stelle konstatiert
Wuketits nicht selten vorzufindende Jenseitsvertröstungen in den Religionen, die das Diesseits zum
„Diesseitsstadium“ und einem „Ort der Bewährung“
degradierten.
Um solche Sinnspitzen zu ergründen, muss sich
der religiöse Leser bei der Lektüre allerdings oftmals mit banalen Skizzen von Gläubigen konfrontieren lassen, die sich seiner Auffassung nach allzu
oft jeder Doktrin ergeben und für Gewaltmissbrauch
anfällig seien. Auf diese Weise überantworteten sie
ihr Geschick leichtgläubig dem Wohlwollen einer
höheren Macht und verwirkten ihre individuelle
Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Die
dem Atheisten eigene kritische Vernunft setze ihn
hingegen in die Lage, dort nach naturwissenschaftlichen Prozessualitäten zu forschen, wo der Gläubige sich noch mit Fragen des Warums in der Ergründung göttlichen Handelns herumplage. Letztlich
befähige dies den Atheisten, ein besseres Leben zu
führen – ein Leben, dessen Sinn sich in der hedonistischen Befriedigung von Bedürfnissen erschöpft
und das ohne die Untiefen zwischenmenschlicher
56
Wuketits bemerkt mit Recht, dass, wer ein
„geschlossene[s] in sich stimmiges Weltbild“ haben möchte, sich zwischen Glaube und Religion
entscheiden muss, verkennt aber zugleich, dass die
Inanspruchnahme eines in sich geschlossenen und
stimmigen Weltbildes einen unerfüllbaren Absolutheitsanspruch markiert. So verbleibt sein Bild
des Gläubigen beim unkritischen Wunschdenker,
der die Welt als ohne Widersprüche geschaffen und
gelenkt annimmt, wohingegen ein Atheist sein von
Sinnfragen und religiösen Sehnsüchten befreites
Vernunftkalkül unablässig vorantreiben kann. Der
Autor selbst vermeint mittels der Evolutionstheorie bereits einen absoluten Standpunkt gewonnen
zu haben, von dem aus Ideen von göttlichem Wirken ausgeschlossen und noch offene Fragen in der
Erklärung von Welt künftig beantwortet werden
können. Hierfür kommt er nicht ohne dogmatisch
erscheinende Theoreme wie das „physikalische Prinzip der Unordnung“ oder die in der natürlichen Auslese begründeten Lebenspotentiale und -strategien
aus; bestehende Anfragen an das Erklärungsmodell
der Evolutionstheorie im Bereich der spontanen
Mutation bleiben gänzlich unthematisiert. Es hätte
gelohnt, diese Fragen näher zu betrachten, will man
wirklich dahinterkommen, was Atheisten glauben.
Michael Novian
Andere Religionen / Weltanschauungen
58 Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und Christentum // 60 Den Islam
neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte // 62 The
Circle
Hamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.)
Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und
Christentum
Beiträge zur Komparativen Theologie, Band 10
Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2014
186 Seiten
24,90 €
ISBN 978-3-506-77281-1
Verschärfen monotheistische Religionen Konflikte
oder liegt in ihnen sogar die Ursache von Gewalt
schlechthin? Darauf versuchen Klaus von Stosch,
Professor für Katholische Theologie an der Universität Paderborn, und Hamideh Mohagheghi, wissenschaftliche Mitarbeiterin für islamische Theologie an der Universität Paderborn, eine Antwort zu
geben. Der von ihnen herausgegebene Sammelband
„Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und
Christentum“ dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung.
Anhand ausgewählter Textbeispiele wird das
Gewaltpotential von Islam und Christentum untersucht. Dazu zählt der kriegerische biblische Text
Dtn 7,1-6: „Wenn der Herr, dein Gott [...] dir viele Völker aus dem Weg räumt […], dann sollst du sie der
Vernichtung weihen“. Die historisch-kritische Auslegung zeigt, dass die Gewaltdarstellung in Dtn 7,16 nicht zur Tötung anderer Völker aufruft, sondern
sich gegen bestimmte religiöse Praktiken innerhalb
der eigenen Gruppe richtet. Texte des Terrors, erfahren wir, gibt es keineswegs nur im Alten, sondern
ebenso im Neuen Testament, vor allem im letzten
Buch der Bibel, der Johannesapokalypse.
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Der zweite Teil der Studie setzt sich mit dem Koran auseinander. Er gelte den Gläubigen als das
geoffenbarte und unmittelbare Wort Gottes und besitze damit überzeitlichen Charakter. Damit sei die
koranische Botschaft nicht auf eine bestimmte Zeit
und Gesellschaft begrenzt. Aus diesem Verständnis
heraus seien Gewaltverse in ihrer wörtlichen Bedeutung ernst zu nehmen. Anhand von ausgewählten Suren (Abschnitten) wird etwa den Fragen nachgegangen, ob die heilige Schrift der Muslime die
Vormachtstellung des Mannes gegenüber der Frau
festschreiben oder Gewalt gegen Andersgläubige
rechtfertigen würde. So heißt es im Koran, Sure 9,
Vers 5: „[...] tötet jene, die etwas anderes neben Gott
als Göttlichkeit zuschreiben, wo immer ihr auf sie
stoßt, und nehmt sie gefangen [...]. Doch wenn sie
bereuen und sich an das Gebet machen [...], lasst sie
ihres Weges ziehen [...].“ Zum Verständnis werden
klassische exegetische Arbeiten herangezogen, die
darlegen, dass dieser Text, auf den sich häufig Extremisten beziehen, weder die Ermordung von Nichtmuslimen befürwortet noch zu Zwangskonversionen
aufruft. Der Koran, so die Analyse, unterstützt die
Idee eines rechtfertigbaren Krieges ausschließlich
im Falle der Selbstverteidigung.
Für das Verstehen koranischer und biblischer
Gewalttexte gelte, dass sie immer nur im Blick auf
ihre Kontexte zu verstehen seien. Der Sinn ergebe
sich aus dem Kontext ihrer Entstehungs-, Überlieferungs- und Rezeptionszusammenhänge; dennoch
blieben, so die Quintessenz der Studie, Gewalttexte
auch nach Anwendung aller literarischen, historischen und theologischen Kontextualisierungsmethoden sperrig. Diese Anstößigkeit könne nicht aufgehoben werden: „Es ist nicht zu leugnen, dass in
den Religionen Elemente zu finden sind, die als verstärkende, vielleicht sogar treibende Kraft für das
Auftreten von Gewalt dienen können. Gleichwohl
wäre es ein Trugschluss zu behaupten, dass die Welt
ohne Religionen friedfertiger wäre.“ So hätten die
großen atheistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts unzählige Todesopfer gefordert. Gleichzeitig
lebten Milliarden von gläubigen Menschen in Frieden und handelten friedfertig. Es gehe, so die Herausgeber, an der Realität vorbei, würde man die
Religion einseitig glorifizieren oder verurteilen.
Vielmehr gehe es darum, beide Seiten von Religion
zu sehen und sich um eine sorgsame Auslegung der
jeweiligen heiligen Schrift zu bemühen.
Christine Leuchtenmüller
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Katajun Amirpur
Den Islam neu denken
Der Dschihad für Demokratie,
Freiheit und Frauenrechte
München: C.H. Beck Verlag. 2013
256 Seiten
14,95 €
ISBN 978-3-406-64445-0
Angesichts von Terrorgruppen wie IS, Hamas oder
Boko Haram, die derzeit ganze Völker terrorisieren
und sich dabei auf den Islam berufen, angesichts
von Salafismus und vorerst weitgehend gescheiterten Freiheitsbewegungen in arabischen Ländern
hat der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung kein
gutes Image, ganz zu schweigen vom Wort „Dschihad“. Wenn Katajun Amirpur, Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg und
Publizistin, in diesem Kontext für einen „Dschihad
für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“ wirbt,
sollen damit bewusst gewohnte Wahrnehmungen
und Denkmuster gestört und in Frage gestellt werden. Dass es „den Islam“ und „die Muslime“ nicht
gibt, ist heute zumeist ein Allgemeinplatz, dass die
islamische Welt vielfältig, komplex, ja widersprüchlich ist, wissen die aufgeklärten Zeitgenossen. Doch
viel zu wenig bekannt sind die intellektuellen Neuaufbrüche und theologischen Reformansätze, die
die Autorin in ihrem leicht und doch interessant zu
lesenden Buch beispielhaft vorstellt.
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wichtigsten Stimmen innerhalb der Diskussion um
die Reform islamischen Denkens im 20. Jahrhundert“. Mit Ausnahme von Rahman nehmen die genannten Reformer mehr oder weniger Anleihen bei
modernen westlichen philosophischen und geisteswissenschaftlichen Denkern und Strömungen, greifen aber auch auf rationale Diskurse in der eigenen
Tradition zurück. Alle zielen auf individuelle Freiheit, Gleichheit und Pluralismus. Der ideologiekritische Impetus all dieser Ansätze brachte deren Vertreter in den Heimatländern meist in Bedrängnis,
nicht selten ins westliche Exil.
Erste Reformansätze in der islamischen Welt gab
es zwar schon Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts in Reaktion auf die europäische Moderne, doch gerieten diese Ansätze schnell in den Sog
islamistischer Ideologien. Heutige Reformer definieren sich bewusst als Gegenbewegung zu den
politisch-religiösen Machtideologien. Amirpur konzentriert sich bei ihrer Auswahl der Reformer im
Wesentlichen auf hermeneutische Ansätze, die die
Frage nach der Interpretation des Korans ins Zentrum stellen, ist der Koran doch die entscheidende
Bezugsquelle islamischen Denkens und Strebens bis
heute. Zu Wort kommen ausführlich der ägyptische
Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (†
2010), der pakistanischstämmige islamische Gelehrte Fazlur Rahman († 1988), die US-amerikanische
Konvertitin und Aktivistin Amina Wadud (geb. 1952),
die 2005 erstmals ein öffentliches Freitagsgebet einer gemischten Gemeinschaft leitete, die gebürtige
Pakistanerin Asma Barlas (geb. 1950) sowie die beiden iranischen Denker Abdolkarim Soroush (geb.
1945) und Mohammed Mojtahed Shabestari (geb.
1936). Dabei wird nicht klar, warum Amirpur nicht
mit Fazlur Rahman beginnt, beziehen sich doch viele
Reformansätze mehr oder weniger auf ihn, „eine der
Weitere Pioniere wie Khaled Abou El Fadl, Farid Esack, Ebrahim Moosa, Muhammad Shahrour,
Mahmoud Muhammad Taha, Abdullahi An-Na’im,
Sadiq al-Azm, Mohammed Arkoun oder der schillernde Tariq Ramadan, die sich allesamt auf ihre
Weise dem Problem des Glaubens in der modernen
Welt stellen, werden zumindest kurz angerissen.
Leider kommen von kurzen Hinweisen abgesehen
(vgl. 113: Mehmet Paçacı, 115: Ömer Özsoy) keine Stimmen aus dem türkischen oder südostasiatischen Raum ausführlicher zur Sprache, die das
Spektrum an Positionen noch bereichern würden.
Insgesamt sind es immer noch Minderheitenpositionen, doch sie vernetzen sich zunehmend und
befruchten sich gegenseitig. Junge muslimische
Nachwuchswissenschaftler/-innen in Deutschland
und anderen westlichen Ländern werden von diesen
Ansätzen angesprochen, sodass zu hoffen ist, dass
sie immer mehr Einfluss auf den islamischen Mainstream nehmen werden. Auch die nichtmuslimische
Welt kann einen Beitrag dazu leisten, diesen Stimmen – gegen die Schreihälse der Salafisten – Gehör
zu verschaffen.
Andreas Renz
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Dave Eggers
The Circle
Roman – Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag. 2014
560 Seiten
22,99 €
ISBN 978-3-462-04675-5
Dave Eggers, geboren 1970, ist Menschenrechtsaktivist und engagiert sich dafür, Menschen an die
Schreibkultur heranzuführen. In seinem Roman
setzt er sich mit der Verführungskraft der sozialen
Netzwerke und ihrem Potential auseinander, auf
sanfte Art totale Herrschaft zu erobern. Die fiktive
Firma „The Circle“ verfügt über Technologien, die es
bereits gibt: das Internet, Videokameras, Drohnen
– nichts Phantastisches. Bei der Beschreibung der
Interna des Circle stand offenbar die Firma Google
Pate, deren Rundumbetreuung der Mitarbeiter mit
Sportangeboten, Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge, Wohnheimen, großzügigen Arbeitszeitregelungen legendär ist.
Auf Empfehlung ihrer Freundin Annie wechselt
die Protagonistin, Mae Holland, von einem drögen
Job bei den Strom- und Gaswerken zum Circle:
Wahnsinn, dachte Mae, ich bin im Himmel. Mit diesem ersten Eindruck beginnt der Roman. Er bezieht
sich auf die Ausstattung des Campus, auf dem sich
Mae fortan bewegt. Ihr erster Job ist in der Customer Experience-Abteilung, in der sie sich um Kundenrückmeldungen kümmert.
Mae ist mit Hunderten Circlern zusammen im
großen Saal, als eine Webkamera vorgestellt wird,
die sich jedermann kaufen soll, um die Orte zu überwachen, die ihn interessieren. In großen Lettern
wird der Slogan an die Wand projiziert: Alles, was
passiert, muss bekannt sein. Denn selbstverständlich werden die Millionen Livestreams auch im Circle eingespeist und für alle Welt verfügbar: Wir werden allwissend sein – allsehend, verkündigt einer
der Geschäftsführer unter donnerndem Applaus.
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Die transparente Mae wird zum Star auf dem
Campus. Millionen von Viewern und Followern lassen sich von ihr die Ereignisse im Circle erklären,
während Mae mit der unübersichtlichen Welt da
draußen immer weniger klarkommt. Zuletzt muss
sie eine Entscheidung treffen.
Unterdes steigt Mae im Unternehmen auf. Da alle
ihre Leistungen ununterbrochen überwacht und bewertet werden, weiß sie, dass sie nicht nur in der
Beantwortung der Kundenanfragen zu den besten
gehört, sondern auch in den sozialen Netzwerken
hohe Punktzahlen erreicht.
Ein grober Schnitzer führt zu Maes großem Durchbruch: Nachts entdeckt die Kajakbegeisterte ein Boot,
das ungesichert am Strand ihrer Lieblingsbucht
liegt, und fährt damit los. Eine Webcam erfasst den
Diebstahl, Polizei ist da, die Festnahme droht, bis
die Besitzerin des Kajaks ihre Stammkundin aus der
peinlichen Lage befreit. Mae wird zum Geschäftsführer des Circle zitiert. Sie muss einsehen, dass sie sich
nur deshalb unmoralisch verhalten hat, weil sie sich
unbeobachtet fühlte. Sie beschließt, sich transparent
zu machen, also eine Kamera zu tragen, die aller Welt
ermöglicht, zu sehen und zu hören, was sie sieht und
hört. Mae selbst formuliert die neuen Slogans: Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Alles Private
ist Diebstahl. Mit großem Tamtam machen sich nun
Politiker transparent, und die Öffentlichkeit beginnt
zu fragen, was diejenigen, die sich weigern, wohl zu
verbergen haben.
Eggers erzählt seine Geschichte konsequent aus
der Perspektive Maes, und er erzählt streng chronologisch. Das führt dazu, dass der Roman streckenweise zäh zu lesen ist, etwa wenn Mae seitenweise Kundenreaktionen beantwortet oder im sozialen
Netzwerk unterwegs ist. Aber gerade dadurch macht
uns der Autor bewusst, mit welchen Belanglosigkeiten Menschen sich Stunden um Stunden befassen, wenn sie sofort durch eine gute Bewertung belohnt werden. Der Autor erzeugt Sympathie für seine
Protagonistin und veranlasst den Leser zugleich,
über Maes Verhalten zu erschrecken: Das erzeugt
eine Spannung eigener Art. Und der Leser denkt unweigerlich darüber nach, ob er selbst schon seine
Privatheit den diversen Verlockungen der Netzwelt
zu opfern bereit war.
Karl Vörckel
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Bistum Limburg
ISBN 978-3-944142-06-7