Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Lore Knapp
Formen des Kunstreligiösen
Lore Knapp
Formen des Kunstreligiösen
Peter Handke – Christoph Schlingensief
Wilhelm Fink
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5887-2
INHALT
EINLEITUNG
The artist is present 7 Ästhetische und religiöse Erfahrungen 13
Ästhetische Transzendenzäquivalente 16 Frühromantik 21 Richard
Wagner 34 Kunstreligion als Ersatzreligion 44 Zeitgenössischer
Diskurs 50
IPETER HANDKE.
SAKRALISIERUNG DER SCHRIFT UND DES SCHREIBENS
1
2
3
4
Mystik der Zeichen . . . . . . . . . . . . 57
„Evangelium der Fälschung“ . . . . . . . . . . 95
Holzstoß, Schwellen und Slowenien. Privatmythologie . . 125
„Ethik und Ästhetik sind Eins“ . . . . . . . . 148
IICHRISTOPH SCHLINGENSIEF.
ÄSTHETIK DER TRANSZENDENZ
1
2
3
4
5
6
Ineinander von Theater und Religion . . . . . . Lunge, Gral und Hase. Privatmythologie . . . . . Schein als Jenseits? – Metaphysik der Musik . . . . . Ästhetische Negativität . . . . . . . . . . Zufall, radikale Autonomie und Eigenleben . . . . . Ästhetische Transzendenz . . . . . . . . . . 155
192
216
234
257
285
III THEORIE DES KUNSTRELIGIÖSEN
1 Kunstreligiöses in der philosophischen Ästhetik . . . . 2Performativität . . . . . . . . . . . . .
3 Formen des Kunstreligiösen . . . . . . . . . 291
313
333
Anhang
Siglenverzeichnis 339 Verzeichnis der verwendeten Texte und Dokumentationen 340 Zusätzlich verwendetes Dokumentationsmaterial
369 Dank 371 Register 373 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 377
EINLEITUNG
The artist is present
Im Frühjahr 2010 führte Marina Abramović anlässlich einer Ausstellung
im Museum of Modern Art , New York , eine außergewöhnliche Performance durch. Sie tat nicht mehr und nicht weniger als drei Monate lang
im unteren Geschoss der Ausstellung auf einem Stuhl zu sitzen und den
Menschen in die Augen zu sehen , die ihr gegenüber Platz nahmen. Sie
saß dort an sechs Tagen der Woche immer sieben Stunden am Stück
ohne Pause , ohne zu essen , ohne zu trinken , und stellte die Perfor­mance
über ihre körperlichen Bedürfnisse.
Es bildete sich eine lange Schlange und immer mehr Menschen campierten nachts vor dem Museum , um sich ihrem Blick und ihrer Anwesenheit am nächsten Morgen direkt aussetzen zu können. Viele fingen
an zu weinen , berichteten von einer ungeheuren Energie , von Kraftströmen , von heilender Wirkung , von einer lebensverändernden Erfahrung , als sei Abramović eine Magierin oder eine Heilige.1 Abramović
machte sich zu einer neuen Geistlichen im Sinne Pierre Bourdieus , der
die schwindende Rolle der Religion in der westlichen Gesellschaft mit
einer Erweiterung des religiösen Feldes einhergehen sieht.2
Doch machte Abramović sich wirklich selbst zur Heiligen ? Waren es
nicht vielmehr die Ausstellungsbesucher , die eine solche Figur suchten ,
die der Performance Funktionen der Sinnstiftung oder der Heilsübertragung zusprachen ? Hier wirkten offenbar Bedürfnisse nach Berührung ,
Orientierung , nach dem Außergewöhnlichen. Wer an der Performance
teilnahm und Abramović gegenübersaß , konnte intensive Erfahrungen
emotionaler Ergriffenheit machen. Solche Grenz- oder Schwellenerfahrungen provozieren religiöse Deutungen. Das haben sie gemeinsam mit
dem Empfinden des Erhabenen bei der Betrachtung eines Kunstwerks ,
1 Vgl. den Dokumentarfilm Marina Abramović : The Artist is Present von Matthew
Akers und Jeff Dupre ( 2012 ).
2 Pierre Bourdieu : Religion , Schriften zur Kultursoziologie , Bd. 5 , Konstanz 2009 ,
244.
8
EINLEITUNG
mit dem Gefühl allumfassender Einheit in der Natur oder mit der Inspiration im künstlerischen Schaffensprozess.
Auch zahlreiche zeitgenössische Bilder , Installationen , Texte und Filme machen diffuse Anleihen bei den Bereichen des Mystischen , Mythischen , Sakralen und Transzendenten. Die Bezugnahmen sind häufig , weit
verbreitet und sehr unterschiedlich. Der Kreuzgang von Bruce Nauman ,
ein dunkles , begehbares dreidimensionales Kreuz , in dessen Zentrum
ein Licht leuchtet , bedient sich einer christlichen Formtradition und
lässt eine sakrale Atmosphäre entstehen , ohne damit automatisch religiöse Kunst zu sein.3 Ähnlich ambivalent ist Douglas Gordons Aufnahme
einer Hand with spot , die an eine Kreuzigung erinnert.4 Symbole , Traditionen und Denkweisen werden aufgegriffen und in neue Kontexte
gesetzt. So hat es einen gar nicht heiligen , sondern aufwühlend grotesken Charakter , wenn Christoph Schlingensief im Film Fremdverstümmelung , anspielend auf die ans Kreuz genagelten Frösche von Martin
Kippenberger , die Kreuzigung eines Behinderten inszeniert.5
Zahlreiche literarische Texte der Gegenwart – man denke an Die letzte Welt von Christoph Ransmayr , Lichter des Toren von Botho Strauß ,
Martin Mosebachs Blutbuchenfest oder Christa Wolfs Kassandra – verweisen auf antike Mythen , die ihrerseits ähnlich wie manche Rituale
bereits als eine Überschneidungsform von Kunst und Religion gelten
können. Zudem ritualisieren Schriftsteller wie Peter Handke oder Joseph Winkler ihre Schreibprozesse oder entwickeln anknüpfend an das
frühromantische Konzept einer Neuen Mythologie ihre eigenen Privatmythologien. Wenn Paul Klee über seine Bilder schreibt , sie könnten diesseitig überhaupt nicht begriffen werden ,6 dann geht es um
3 Bruce Nauman : Room with My Soul Left Out , Room That Does Not Care , 1984 , Rauminstallation zuerst in der New Yorker Galerie von Leo Castelli , seit Mai 2010 im
Hamburger Bahnhof Berlin.
4 Douglas Gordon : Hand with spot , 2001 , Chromogenic color print , 57 1 / 3 × 48‘‘
( 146,7 × 121,9 cm ) Gagosian Gallery , New York.
5 Christoph Schlingensief : Fremdverstümmelung , Film anlässlich der Oper FREAX
von Moritz Eggert , Internationales Beethovenfest Bonn 2007 , http://www.schlingensief.com/Arbeiten/A001/freaxfilm.html , 14. 7. 2014 , Martin Kippenberger : Zuerst die Füße , Skulptur 1990.
6 Paul Klee : Gedichte , hg. v. Felix Klee , Zürich 1980 , 7 : „Diesseitig bin ich gar nicht
faßbar“.
The artist is present
9
eine andere Wirklichkeit hinter der sprachlich beschreib- und objektiv wahrnehmbaren , die in seiner Formulierung als ein christliches
Jenseits gedacht ist.
Während sich in den verschiedenen Künsten der Gegenwart Bezüge
zu religiösen Ritualen , theologischen Formulierungen oder Denkweisen häufen , bleibt das eigentliche Verhältnis zur Religion häufig äußerst
unklar , denn um explizit religiöse oder gar christliche Kunst handelt es
sich in den wenigsten Fällen. Zahlreiche Überschneidungsformen von
Kunst und Religion gehören heute zum Spiel mit der ästhetischen Autonomie. Aus dem religiösen Kontext bekannte Symbole und Rituale werden transformiert und zum Teil eines ästhetischen Selbstzwecks.
Eine solche Integration religiöser Elemente , die häufig dazu dient , das
Ästhetische zu legitimieren oder zu erhöhen , wird hier als ästhetische
Kategorie des Kunstreligiösen beschrieben.
Im Laufe der Arbeit hat sich die folgende Definition herausgebildet.
Kunstreligiöse Kunst zeichnet sich im Gegensatz zu religiöser Kunst dadurch aus , dass sie nicht im Dienst einer Religion steht , sondern sich
vielmehr Charakteristika und Funktionen des Religiösen zu eigen macht.
Vom Kunstreligiösen einer Ästhetik lässt sich dann sprechen , wenn erstens ein Bezug zu einer bestehenden Religion nachweisbar ist , zweitens
die ästhetische Form nachweislich daran orientiert ist und drittens eine
selbstreflexive Tendenz vorhanden ist , durch die das Religiöse in den
Dienst der ästhetischen Wirkung oder der ästhetischen Form gestellt
wird. An eine kunstreligiöse Ästhetik , bei der diese drei Bedingungen
erfüllt sind , kann sich zwar eine religiöse Rezeption binden , Voraussetzung für das Kunstreligiöse im hier definierten engeren Sinne ist jedoch , dass einer ästhetischen Funktion durch institutionelle oder persönliche Rahmensetzung Priorität zugesprochen wird.7
Nun ist bei weitem nicht jedes katholische Ritual , das im Theater
nachgespielt wird , ein Zeichen kunstreligiöser Ästhetik. Wenn es jedoch
7 Die für das Kunstreligiöse letztlich ausschlaggebende Dominanz der ästhetischen
Funktion lässt sich an der Struktur der Texte , Aufführungen und ästhetischen Konzepte nicht festmachen , weil sie auf einer subjektiven Setzung basiert. Bei einer Beschäftigung mit Handkes Erzählungen und mit Schlingensiefs Aufführungen entspricht eine Zuordnung zur Institution Kunst allerdings den paratextuellen und
institutionellen Rahmensetzungen.
10
EINLEITUNG
wesentlich zur ästhetischen Atmosphäre und Wirkung beiträgt , dann
lässt sich die Szene als kunstreligiös bezeichnen. Wenn Schlingensief
sich auf der Bühne bekreuzigt , wird Religiosität ausgestellt , aber die
Integration der katholischen Geste gibt seiner Inszenierung noch keinen kunstreligiösen Charakter. Genauso wenig ist eine Inszenierung
des Horváth-Titels Glaube , Liebe , Hoffnung oder ein russisch-orthodoxer Altar in Frank Castorfs Wirtin im engeren Sinne kunstreligiös.
Doch wenn in Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir
durch die aufwendige Inszenierung eines Kirchenraums und das Nachspielen eines Abendmahls der Charakter eines Gottesdienstes entsteht
und durch ein überraschendes Anhalten der Bühnenhandlung gleichzeitig das Spiel und die Inszeniertheit hervorgehoben werden , kann
vom Kunstreligiösen gesprochen werden. Dem Verweis auf die ästhetische Ausdrucksform in Szenen der scheinbaren Ununterscheidbarkeit
von Kunst und Religion , etwa dem Verweis auf die performative Dimension religiöser Rituale , entspricht auf sprachlicher Ebene die Kombination sprachkritischer und zeichentheoretischer Überlegungen mit
einem biblischen Sprachstil , wie es in einigen Passagen bei Handke vorkommt. So ist vom Kunstreligiösen die Rede , wenn religiöse Denkfiguren , Traditionen und Funktionen bestimmend für die ästhetischen
Formen , Aussagen , Wirkungen oder deren Beschreibung sind oder als
solche ausgestellt werden.8 Finden theologisches Denken oder Anklänge an religiöse Topoi und Symbole Eingang in die ästhetischen Formen ,
so bewegt sich das Verhältnis zur Religion meistens ambivalent zwischen
Affirmation und Abwehr , zwischen einer nahen Verwandtschaft , Blasphemie , Parodie und Kritik.
8 Eine strukturelle oder funktionale Ähnlichkeit mit der Religion genügt nur dann ,
um eine praktische oder theoretische Ästhetik als kunstreligiös bestimmen zu können , wenn diese Ähnlichkeit sich durch einen konkreten Bezug zur Religion objektivieren lässt. In der folgenden Textinterpretation wird dieser Bezug – wie im
Diskurs des Kunstreligiösen häufig – nur vom Betrachter hergestellt : „Das Nichts
kommt hier zur Sprache : als Schweigen. Das Unsagbare , das Lautlose erhält einen
Ort im Raum unserer etablierten Kommunikationsformen , indem diese zugleich
gesprengt werden. Sie werden überschritten , ohne anders als in der Gestalt formaler Transzendenz einen Bezug zum Religiösen herzustellen“ ( Alois Halbmayr : Einleitung , in : Ders. ( Hrsg. ): Negative Theologie heute ? Zum aktuellen Stellenwert einer
umstrittenen Tradition , Freiburg im Breisgau 2008 , 12 ).
The artist is present
11
Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei der prominentesten Beispiele
für das Kunstreligiöse in der zeitgenössischen Ästhetik : ausgewählte
Erzählungen von Peter Handke und die späten Theaterarbeiten von
Christoph Schlingensief. Damit werden zwei grundverschiedene Œuvres betrachtet , die jeweils exemplarische Formen des Kunstreligiösen
ausprägen sowie hoch komplexe und in sich widersprüchliche Verhältnisse zu verschiedenen Traditionslinien der Kunstreligion aufweisen.
Stilistisch könnten die Arbeiten und Arbeitsweisen beider kaum unterschiedlicher sein. Während Handke die Ruhe und Abgeschiedenheit sucht , scharte Schlingensief für jede Arbeit Teams und Gleichgesinnte um sich und provozierte die Überreizung und Überforderung
seiner Zuschauer. Auf Schlingensiefs Homepage erschienen zu seinen Lebzeiten fast täglich neue Bilder , Videos , Texte , Links , Ankündigungen und Berichtigungen , immer bunt , teilweise grell , auf dem
integrierten Blog auch ergänzt durch mehrere Tonspuren. Handkes
Homepage ist schlicht weiß.
Auch der Stand der Vorarbeiten zu den beiden Œuvres ist höchst unterschiedlich. Im Gegensatz zu der Fülle an Forschungsliteratur , die zu
Peter Handkes Erzählungen veröffentlicht wurde und wird , gab es über
Christoph Schlingensief zu Beginn der vorliegenden Arbeit kaum mehr
als einige Texte von Carl Hegemann und diverses Aufführungs- , Interview- und Dokumentationsmaterial.9 Dass sich diese ungleiche Verteilung der Forschung in der nächsten Zeit kaum ändern wird , ist in der
9 Vgl. die Homepage www.schlingensief.com, 30. 5. 2014 ; Carl Hegemann : Für ein
postcaritatives Theater , in : Julia Lochte , Wilfried Schulz ( Hrsg. ): Schlingensief !
Notruf für Deutschland. Über die Mission , das Theater und die Welt des Christoph
Schlingensief , Hamburg 1998 , 159–164 ; Christoph Schlingensief , Carl Hegemann :
Chance 2000 – wähle Dich selbst , Köln 1998 ; dies. : Theater ALS Krankheit. Kunst
und Gemüse , Berlin 2004 ; Thekla Heineke , Sandra Umathum ( Hrsg. ): Christoph
Schlingensiefs „Nazis rein“ , Ffm. 2002 ; Alice Koegel , Kasper König ( Hrsg. ): AC :
Christoph Schlingensief Church of Fear , Köln 2005 ; Carl Hegemann : Plädoyer für
die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980–2005 , hg. v. Sandra Umathum , Berlin 2005 , sowie den Aufsatz Udo Bermbach : Anmerkungen zu
Schlingensiefs Bayreuther Parsifal , in : wagnerspectrum 1 / 2005 , 240–251. Tara Forrest : Mobilizing the Public Sphere : Schlingensief ’s Reality Theatre , in : Contemporary Theatre Review ( 2008 ), 18 :1 , 90–98 und eine tagebuchartige Monographie
von Catherina Gilles : Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief , Würzburg 2009.
12
EINLEITUNG
gattungsbedingten Materiallage begründet.10 Während alle publizierten und inzwischen sogar die meisten der nicht als Bücher publizierten
Texte Handkes jederzeit zum Lesen verfügbar sind ,11 lassen sich Schlingensiefs Aufführungen kaum wiederholen. Die mit ihnen verbundenen flüchtigen Momente und Erfahrungen können den gängigen theaterwissenschaftlichen Methoden entsprechend nur aus der Erinnerung
oder anhand von Dokumentationsmaterial analysiert werden. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die Erlebnisse zahlreicher Aufführungen
der letzten Theaterarbeiten Schlingensiefs.12
10 Seit 2009 sind weitere Forschungstitel über Christoph Schlingensief und zum Gegenstandsbereich des vorliegenden Kapitels dazugekommen. Caroline A. Lodemann : Regie als Autorschaft. Eine diskurskritische Studie zu Schlingensiefs „Parsifal“,
Göttingen 2010 ; Tara Forrest ( Hrsg. ): Christoph Schlingensief. Art without borders ,
Bristol 2010 ; Pia Janke , Teresa Kovacs ( Hrsg. ): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief , Wien 2011 ; Karin Nissen-Rizvani : Autorenregie : Theater und Texte von Sabine Harbeke , Armin Petras , Fritz Kater , Christoph Schlingensief und René Pollesch ,
Bielefeld 2011 , 149–182 ; Thomas Liersch : Zur performativen Erneuerung von Gesellschaft am Beispiel Christoph Schlingensief , Berlin 2010 ; Lore Knapp : Christoph
Schlingensiefs Blog. Multimediale Autofiktion im Künstlerblog , in : Ansgar Nünning ,
Jan Rupp , Rebecca Hagelmoser , Jonas-Ivo Meyer ( Hrsg. ): Narrative Genres im Internet : Theoretische Bezugsrahmen , Mediengattungstypologie und Funktionen , Trier
2012 , 117–132 ; Kaspar Mühlemann : Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys , Ffm. 2011 ; Roman Berka : Christoph Schlingensiefs Animatograph. Zum Raum wird hier die Zeit , Wien 2011 ; Elisabeth Schweeger : Ein persönlicher Blick auf Christoph Schlingensief , in : Susanne Gaensheimer ( Hrsg. ): Christoph
Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011 ( 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia ), Köln 2011 , 327–329 ; Remigius Bunia : Vom Philister zum Fundamentalisten. Mit guten Absichten Gewalt für alle – Der 11. September nach Schlingensief und Sloterdijk , in : ders. ( Hrsg. ): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur
der neueren deutschen Literatur , Berlin 2011 , 477–498 ; Teresa Kovacs : 60 Sekunden
im Krieg : Christoph Schlingensiefs Umgang mit den Bildern des Irakkriegs in Elfriede Jelineks „Bambiland“, in : Jelinek( Jahr )Buch 2011 , 207–219 ; Klaus Biesenbach :
Kunst-Werke , Berlin : Christoph Schlingensief ( Ausstellung Christoph Schlingensief
KW Institute for Contemporary Art , Berlin , 1. Dezember – 19. Januar 2014 , Moma
PS1 , New York 9. März – 31. August 2014 ), Köln 2014. Lore Knapp : Ästhetik der
Transzendenz. Christoph Schlingensiefs Parodie der Kunstreligion , in : Albert Meier ,
Alessandro Costazza , Gérard Laudin ( Hrsg. ): Kunstreligion , Bd. 3 Diversifizierung
des Konzepts um 2000 , Berlin 2014 , 241–262.
11 http://handkeonline.onb.ac.at/, 2. 9. 2013.
12 Die Analysen beziehen sich auf folgende Aufführungen von Christoph Schlingensief : Atta Atta ( 2002 ) am 18. Mai 2003 in Berlin ; Parsifal ( 2004 ) am 6.  August
2004 in Bayreuth ; Fluxus Oratorium. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in
Ästhetische und religiöse Erfahrungen
13
Ästhetische und religiöse Erfahrungen
Christoph Schlingensief demonstriert in seinen Arbeiten , dass der institutionelle Rahmen , der normalerweise darüber entscheidet , ob Aufführungen „als künstlerisch oder nicht-künstlerisch einzustufen sind“,13
durch die persönliche Wahrnehmung und Einordnung unterlaufen werden kann. Aufführungen im kirchlichen Rahmen können rein ästhetisch
gedeutet und autonomer Kunst kann durch religiöse Interpretation ein
außerhalb ihrer Institution liegender Zweck zugesprochen werden. Ob
ästhetischen Erfahrungen – sei es im Konzert , im Museum , in der Natur oder in einem Ritual – eine religiöse Funktion zugesprochen wird ,
liegt in der Einstellung des Rezipienten begründet.14 So greift Schleiermacher , um Religion als Anschauung des Universums und als Gefühl zu erklären , auf das wahrnehmungstheoretische Vokabular der im
18. Jahrhundert neu entstandenen ästhetischen Schriften zurück , während Novalis zeitgleich und vor dem Hintergrund einer ähnlich pietistischen Sozialisation Poetisches mit religiösen Metaphern beschreibt.15
mir ( 2008 ) am 7. Juni 2009 in Amsterdam ; Mea Culpa. Eine Ready-Made-Opera
( 2009 ) am 13. und 14. September 2009 in München , am 9., 10. und 11. April 2010
in Wien , sowie nach Schlingensiefs Tod am 24. Oktober 2010 in Hamburg ; Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen ! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten ( 2009 )
am 4. und 6. Dezember 2009 in Zürich ; Via Intolleranza II ( 2010 ) am 23. und
24. Mai 2010 in Hamburg sowie nach Schlingensiefs Tod am 21. und 23. Mai 2011
in Berlin. Des Weiteren beziehe ich mich auf Aufführungen von Die heilige Johanna ( 2009 ) und Metanoia ( 2010 ) in Berlin , in denen Schlingensief nicht mitgespielt hat , sowie auf die Installationen Animatograph. Island Edition ( 2006 ) und
Stairlift to Heaven ( 2008 ).
13 Erika Fischer-Lichte : Ästhetik des Performativen , Ffm. 2004 , 352.
14 William James beschreibt Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur , Ffm. 1997 , mit einer Sprache , die der poetischen Sprache seines Bruders
Henry James ähnelt. Vgl. auch die dreibändige Publikationsreihe Wolfgang Braungart , Gotthard Fuchs , Manfred Koch ( Hrsg. ): Ästhetische und religiöse Erfahrungen
der Jahrhundertwenden , I : um 1800 , Paderborn 1997 ; II : um 1900 , Paderborn 1998 ;
III : um 2000 , Paderborn 2000 ).
15 „Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn
für das Eigentümliche , Personelle , Unbekannte , Geheimnisvolle , zu Offenbarende ,
das Notwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare ,
fühlt das Unfühlbare etc.“ ( Novalis : Fragmente und Studien 1799–1800 , in : Schriften , hg. v. Paul Kluckhohn u. a., Stuttgart 1960- [ HKA ], Bd. III , 685 ).
14
EINLEITUNG
Die Begriffspaare des faszinierten Entzückens und ehrfürchtigen Erschauerns oder des fascinosum und tremendum , die Rudolf Otto als Erfahrungsweisen des Heiligen beschreibt , haben Ähnlichkeit mit den Gemütsstimmungen des Schönen und des Erhabenen in der ästhetischen
Theorie bei Edmund Burke , Karl Philipp Moritz und Kant.16 Auch in
die poetischen Texte des 18. Jahrhunderts finden angenehme ebenso wie
schmerzvolle Emotionen aus dem sakralen Kontext Eingang , um der Literatur , wie Gottsched es in seiner Vorrede Über die heilige Poesie intendiert , zu ihrer Wirkung zu verhelfen. Ob Erfahrungen als religiös oder
als ästhetisch bezeichnet werden , ist Ergebnis persönlicher Einordnungen , die in den jeweiligen kulturellen und historischen Ausprägungen
der Verständnisse von Religion und Kunst wurzeln.
Auch heute ergeben sich Unterschiede und Überschneidungen zwischen Kunst und Religion je nach Interpretation , Rahmensetzung und
Funktionszuschreibung , so dass die Attribute religiös oder ästhetisch implizite Aussagen über die kulturelle Zugehörigkeit enthalten. So wie die
Bezeichnung einer eigenen Erfahrung als religiös Auskunft über eine soziale Zugehörigkeit oder einen Glauben des Sprechenden gibt , verbirgt
sich in der Reflexion und Versprachlichung einer Erfahrung als ästhetisch ein kultureller Bildungs- und Erfahrungshintergrund. Erst über
die Interpretation von Erlebnissen und Empfindungen wird eine Zuordnung zu tradierten Auffassungen von Kunst oder Religion vorgenommen.
Erlebnisse , die zu Erfahrungen werden , sind generell prozesshaft und
flüchtig. Besonders die Beschreibung eines passiven Charakters der Erfahrung von Kunstwerken nähert deren Theoretisierung traditionellen
Beschreibungen religiöser Erfahrung an , die an Offenbarungskonzepten
orientiert sind. Zudem lassen sich in Anlehnung an Novalis‘ Gleichsetzung von Glauben und Imagination Parallelen zwischen aktiven Prozes16 Rudolf Otto ( Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein
Verhältnis zum Rationalen., Breslau 1917 ) stellt den Bezug zum Erhabenen selbst her
( ebd., 54 ; vgl. Wolfgang Braungart : Ritual und Literatur , Tübingen 1996 , 21 ). Auch
John Deweys Theorie von Art as Experience gründet im Gedanken an ein Absolutes : „Either our experiences [ … ] have ultimate meaning and worth , and the ‚Absolute‘ is only the most adequate possible construing of this meaning ; or else , having
it not , they are not available to give content to the Absolute“ ( John Dewey : Josiah
Royce , The World and the Individual ( 1902 ), in : ders. : The Middle Works , 1899–1924 ,
Bd. 2 , Carbondale u. a. 1976 , 137 ).
Ästhetische und religiöse Erfahrungen
15
sen der Fiktionsbildung und performativen Glaubensformen beschreiben.17 So wie es der Entscheidung bedarf , sich auf die fiktive Welt eines
Romans oder eines Films einzulassen , können auch religiösen Erfahrungen Vorsätze und Entscheidungen zugrundeliegen , wenn beispielsweise gezielt Rituale durchgeführt werden.
Ästhetische Erfahrung kann erkenntnisbildend sein oder die eigenen
Wertvorstellungen neu ordnen. Werden Empfindungen wie das Wohlgefallen am Schönen oder die Lust am Hässlichen und Schmerzhaften ,
werden die Bildung von Gemeinschaften oder die Entstehung des Gefühls der Verbundenheit mit einer anderen Person als wirkmächtige ästhetische Erfahrungen gedeutet , so stabilisieren sie das System der Kunst
ähnlich , wie religiös gedeutete Erfahrungen das System der Religion
fundieren. Über solche systeminternen Funktionen ästhetischer Erfahrungen hinaus ist es in den verschiedenen Kulturen üblich , ästhetische
Erfahrungen in den Dienst ökonomischer , politischer , moralischer , religiöser oder therapeutischer Systeme zu stellen. Dagegen geht es in einer Ästhetik des Kunstreligiösen darum , religiös gedeutete Erfahrungen
und Funktionen auf einen ästhetischen Selbstzweck zurückzuführen.
So erklärt sich über die Nähe zwischen ästhetischen und religiösen
Erfahrungen , dass zeitgenössische Definitionen ästhetischer Erfahrung
an Kategorien aus dem ursprünglich religiösen Formenspektrum anknüpfen. Martin Seel definiert ästhetische Erfahrung generell als Erscheinen ,18 was in anderen Zusammenhängen als eine weltliche Form der
christlichen Epiphanie bezeichnet wird. Erika Fischer-Lichte schlägt als
Definitionskriterium ästhetischer Erfahrungen den Begriff der Schwellenerfahrung vor und greift damit auf den in der Ritualtheorie geläufigen Begriff des Schwellenzustands zurück , der das Rauschgefühl des
betwixt and between geltender Normen19 bei der Teilnahme an Ritualen
beschreibt und Erfahrungen des Außer-sich-Seins bei mystischen Erweckungserlebnissen ähnelt. Theorien ästhetischer und religiöser Erfah17 Novalis : Das Allgemeine Broullion , HKA III , 421 : „Vernunft ist directer Poët – direct productive Imag[ ination ] – Glauben ist indirecter Poët indirect prod[ uktive ]
Imag[ ination ].“
18 Martin Seel : Ästhetik des Erscheinens , Ffm. 2000.
19 Erika Fischer-Lichte : Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung , in : Joachim Küpper , Christoph Menke ( Hrsg. ): Dimensionen ästhetischer Erfahrung , Ffm. 2003 , 158.
EINLEITUNG
16
rung ähneln sich vor allem dann , wenn sie liminale , transzendente oder
transformative Vorgänge beschreiben.
Ästhetische Transzendenzäquivalente
Bei den ästhetischen und religiösen Erfahrungen , die sich in ihren phänomenologischen Beschreibungen ähneln und sich erst im Moment ihrer Deutungen und Funktionszuschreibungen unterscheiden , handelt
es sich um Überschreitungen des Alltags , deren ästhetische Deutungen
einen Kunstbegriff voraussetzen und deren religiöse Interpretationen einen Gottesbegriff voraussetzen. Es wird deutlich , dass das Abstraktum
Kunst als romantische und historisch ungebunden gedachte Größe so
wenig erklärbar ist wie religiöse Jenseitskonzepte. Die Annahme einer
Größe Kunst wird mit Kant gesprochen zum transzendenten Grundsatz des ästhetischen Denkens. Kant schreibt in seiner Einleitung zur
Transzendentalen Dialektik :
Wir wollen die Grundsätze [ des reinen Verstandes ], deren Anwendung
sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält , ­immanente ,
diejenigen aber , welche diese Grenzen überfliegen sollen , transzendente
Grundsätze nennen.20
Kant geht davon aus , dass die Vernunft nur arbeiten kann , wenn sie
transzendente Grundsätze aufstellt , zum Beispiel vom Anfang oder von
einer Einheit des Seienden , mit denen sie sich einen Rahmen steckt.
Metaphysische Annahmen oder Glaubensinhalte können zu solchen
transzendenten Grundsätzen des Denkens werden. Transzendental sind
dagegen die Denkbewegungen , die sich auf der Basis dieser Grundsätze
abspielen. Sie haben auch einen überschreitenden Charakter , indem sie
Erkenntnisse anstreben , die aus dem reinen Erfahrungswissen heraus
nicht erklärbar sind , also mittels der Vernunft darüber hinausgehen.21
20 Immanuel Kant : Werke , hg. v. Ernst Cassirer , Berlin 1973 , Bd. 3 , Kritik der reinen
Vernunft , 246 , A 295 f. / B 352.
21 Da Kants transzendentale Logik mit dem kritischen Denken gleichzusetzen ist , folgt
die Transzendentalpoesie seiner Zeit einer Verbindung von philosophischem Den-
Ästhetische Transzendenzäquivalente
17
Mit seiner Verwendung des Begriffs transzendent löst Kant sich vom
ursprünglichen prozesshaften Sinn des Verbs transcendere. Denn zwar
sind die transzendenten Grundsätze vom Denken getrennt , so dass die
Grenzen des Denkens gewissermaßen überschritten werden müssen , um
diese Grundsätze zu bezeichnen. Die einmal formulierten transzendenten Grundsätze des Denkens sind in ihrer Bewegungslosigkeit jedoch
von der dynamischen Wortbedeutung des Übersteigens unterschieden.
Kants Abgrenzung des immanenten Denkens von einem transzendenten Bereich hatte in der christlichen Theologie eine Gleichsetzung des
substantivierten Begriffs von Transzendenz mit dem Gottesgedanken zur
Folge.22 Auch der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas oder der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers verwenden den Begriff der Transzendenz synonym mit Gott im Sinne einer außerweltlichen Wirklichkeit.23
Da auch die Substantive Immanenz und Diesseitigkeit vom theologischen Denken geprägt sind , formuliert der religiös denkende Novalis
sich von Kants Begriffsverwendung unterscheidend : „Transscendenz
und Immanenz ist Eins , nur umgekehrt“.24 Der dynamischen und daher performativen frühromantischen Poetik entsprechend verleiht er
auch der Immanenz den Sinn einer aufstrebenden Bewegung , während er die Transzendenz als aufnehmende Wahrnehmung denkt. Die
Analogie entspricht damit seinem kunstreligiösen Prinzip der „Wechselerhöhung und -erniedrigung“25 , das bezeichnend für das frühromanken und poetischem Ausdruck. Wenn dieses philosophische Denken wie bei Novalis von christlichen transzendenten Grundsätzen geprägt ist , so führt das zu einer
anderen Form von Transzendentalpoesie als bei Schiller oder Goethe.
22 Johannes Zachhuber : Transzendenz und Immanenz als Interpretationskategorien antiken Denkens im 19. und 20. Jahrhundert , in : Nathan MacDonald , Izaak J. de Hulster
( Hrsg. ): Divine Presence and Absense in Exilic and Post-Exilic Judaism , Tübingen 2013 ,
23–54 , 24 , sowie Ludger Oeing-Hanhoff : Immanent , Immanenz , in : Historisches Wörterbuch der Philosophie , hg. v. Joaochim Ritter u. a., Bd. 4 , Basel 1998 , 220–237.
23 Karl Jaspers : Chiffren der Transzendenz , München 1984 ; Emmanuel Lévinas : Wenn
Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz , Freiburg
1988 [ 1985 ], 172 ff. ; vgl. Markus Enders : Transzendenz , Transzendieren , in : Historisches Wörterbuch der Philosophie , Bd. 10 , 1442–1455.
24 Novalis : Philosophische Studien der Jahre 1795 / 96 , HKA II , 158.
25„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn , dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn , dem Bekannten die Würde des Unbekannten , dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe , so romantisire ich es – umgekehrt ist die Operation
18
EINLEITUNG
tische Konzept der sympoesie ist , in dem sich die Poesie mit den Wissenschaften , der Philosophie und den anderen Künsten mischt , nach
einer Einheit über bestehende Grenzen hinaus strebt und mit dem Geheimnisvollen , Unerreichbaren und Unverständlichen analogisiert wird.
Neben den theologischen und romantischen Transzendenzkonstruktionen gibt es religionssoziologische , ritualtheoretische , affekttheoretische , psychologische und ästhetische Ansätze , in denen individuelle und
gemeinschaftliche Formen der Überschreitung oder des Transzendierens
beschrieben werden. Beispielsweise kann die ästhetische Erfahrung , wie
oben bereits angedeutet , anschließend an das ritualtheoretische Konzept der Schwellenerfahrung als Erweiterung der eigenen Wirklichkeitsgrenzen definiert werden.26 Ähnlich betont Martin Seel , wie angesichts
ästhetischer Ereignisse nicht nur die bisherige Wahrnehmung , sondern
auch das Selbstverständnis sowie der Möglichkeitssinn auf ungeahnte
Weise überschritten und verändert werden.27 In diesem Zusammenhang lässt sich auch Wolfgang Isers Formel von der Literatur als „Spiegel für ein ständiges Sich-Selbst-Überschreiten des Menschen“ erwähnen , in der er den anthropologischen Grundzug von Literatur sieht.28
Darüber hinaus sind in der Soziologie Überschreitungen des Alltags
als große Transzendenzen von den die Kulturen überhaupt erst ausprägenden kleinen Transzendenzen unterschieden worden.29 Ob sich
für das Höhere , Unbekannte , Mystische , Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisiert. Es bekommt einen geläufigen Ausdruck“ ( Novalis : Logologische Fragmente , HKA II , 545 ).
26 Fischer-Lichte : Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung , 158.
27 Vgl. Martin Seel , Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen , in : Über
die Reichweite ästhetischer Erfahrung – fünf Thesen , in : Gert Mattenklott ( Hrsg. ): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste : epistemische , ästhetische
und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich , Hamburg 2004 , 73–81.
28 Wolfgang Iser : Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie ,
Ffm. 1991 , 12. Auch für Christoph Menke „besteht das ästhetische Werk der Kunst
nur in der , ja durch die ( Selbst- )Überschreitung jeder selbstbewußten Tätigkeit des
Subjekts“ ( Die Kraft der Kunst , Ffm. 2013 , 27 ). Er knüpft darin an Adornos Diktum „Ästhetische Erfahrung muss sich selbst überschreiten“ an , womit bei Adorno
die zur Artikulation notwendige , philosophische Reflexion der Erfahrung gemeint
ist ( Adorno : Ästhetische Theorie , 514 ).
29 Hubert Knobloch : Transzendenzerfahrung und symbolische Kommunikation. Die phänomenologisch orientierte Soziologie und die kommunikative Konstruktion der Religi-
Ästhetische Transzendenzäquivalente
19
eine große Transzendenz „als ( vom Alltag nur unscharf unterschiedene ) ‚Traumzeit‘ äußert wie bei australischen Aborigines , als Unterwelt
der Schamenen oder als christlicher Himmel , kann [ … ] phänomenologisch nicht begründet werden. [ … ] Zwar besitzt das Bewußtsein die
Fähigkeit zur Erfahrung großer Transzendenzen ; ob diese jedoch religiöser , ästhetischer oder theoretischer Art sind , ist Folge kultureller Konstruktionsprozesse.“30 Alle Religionen , aber letztlich auch alle Kulturen
werden durch Transzendenz definiert , wozu auch der Gedanke eines
Jenseitsbezugs in den monotheistischen Religionen gehört.
In den vorliegenden Analysen wird gezeigt , wie verschiedene Transzendenzkonstruktionen in ästhetischen Strukturen wiederkehren. Es geht
um ästhetische Merkmale auf der Werk- und Aufführungsebene. Gezeigt wird das Denken der Transzendenz in den ästhetischen Formen
sowie in deren Beschreibungen. Manifestieren sich affektive Transzendenzerfahrungen in der Form von Texten oder der Struktur von Kunstereignissen , so ist die Rede von ästhetischen Transzendenzäquivalenten.
Zu unterscheiden sind die Arten der Religionsbezüge , die die ästhetischen Transzendenzäquivalente zu Formen des Kunstreligiösen machen ,
sowie die individuellen ästhetischen Ausdrucksformen selbst. Denkfiguren der Transzendenz finden zu allen Zeiten und in allen Kulturen Eingang in die Künste. Es ist zum Beispiel möglich , in muslimischen Mosaiken Formen des Kunstreligiösen zu beschreiben. Man denke an die
farbenprächtigen Muster der Unendlichkeit , in die extra kleine Fehler
und Unregelmäßigkeiten eingebaut sind , um zu vermeiden , dass das
Muster als eine Gottesdarstellung missverstanden wird. Es handelt sich
um Kunst , deren Form offensichtlich vom theologischen Denken der
Unendlichkeit Allahs beeinflusst ist , ohne diesen abbilden zu wollen.
Narrative Formen der Dauer , quasiunendliche Verweisstrukturen oder
Erweiterungen des Gesamtkunstwerksgedankens werden zu Formen des
Kunstreligiösen , sobald sie mit einem Religionsbezug verbunden sind. Es
on , in : Hartmann Tyrell , Volkhard Krech , Hubert Knoblauch ( Hrsg. ): Religion als
Kommunikation , Würzburg 1998 , 147–186 , 149 ff. ).
30 Ebd., 160 f. Verwiesen sei hier auch auf den Zusammenhang der Religionsphilosophie und Ästhetikgeschichte zur Psychoanalyse , dokumentiert etwa bei Odo Marquard : Transzendentaler Idealismus – Romantische Naturphilosophie – Psychoanalyse ,
Köln 1987.
20
EINLEITUNG
liegt dann nahe , die materiellen , zeichenhaften oder performativen Formen als Symbol oder Ersatz für ein Göttliches zu interpretieren.
Bezeichnend für das Kunstreligiöse ist die Rede von einer ( ontologischen ) Transzendenz in der Immanenz oder von einer immanenten
Göttlichkeit. Sie ist ausgehend von einem Dualismus von Gott und Welt
paradox , wobei auch die Paradoxie selbst eine im theologischen Denken häufige Figur ist. Das , was Rudolf Otto das Heilige oder Numinose , Schleiermacher das Universum und Nikolaus von Kues das Göttliche nennt , ist jedoch spätestens seit der Verbreitung des Pantheismus
nicht entschieden auf ein Außerweltliches bezogen.31 So kann auch die
kunstreligiöse Denkformel der religiösen Selbstreferentialität , des Verweisens traditionell religiöser Worte und Symbole im Sinne des sakralen Signifikats auf sich selbst , als Identität des Zeichenträgers mit dem
Heiligen gedacht werden. Nebensächlich wird hier wie in mystischen ,
pantheistischen , buddhistischen oder anderen diesseitig orientierten
Glaubensrichtungen der Unterschied zwischen einer außerweltlichen
Transzendenz ( einem Jenseits der Grenze ) und dem Unendlichen ( also
dem Fehlen einer Grenze ).
Beide theologischen Verwendungen des Begriffs Transzendenz , sowohl für die Vorstellung einer ontologischen Jenseitigkeit als auch für
eine dynamische Bewegung des Transzendierens , spiegeln sich in der
ästhetischen Diskussion , wobei ästhetische Transzendenzäquivalente ,
welche Grenzen überschreiten , Unendlichkeit andeuten oder die Aufhebung von Raum und Zeit suggerieren , die häufigste Form des Kunstreligiösen bilden.32
Ästhetische Strukturen , in denen das Denken der Transzendenz erkennbar wird , werden hier an Texten von Peter Handke und Kunstereignissen mit Christoph Schlingensief greifbar gemacht. Bei der Betrachtung kunstreligiöser Text- und Aufführungsstrukturen werden das Spiel
mit den Erfahrungen der Teilnehmenden sowie Lesevorgänge mit be31 Vgl. Gunter Scholtz : Schleiermacher und die Kunstreligion , in : Ulrich Barth ( Hrsg. ):
200 Jahre „Reden über die Religion“, Berlin 2001 , 515–533 , 517.
32 Da es jedoch Kunst nicht unabhängig vom Menschen und der Gesellschaft gibt ,
funktioniert auch Ästhetik nur in Verbindung mit Anbindungen an anthropologische , phänomenologische , soziologische oder historische Theorien , sonst wird sie
zur Theologie.
Frühromantik
21
rücksichtigt. Die Analyse der beiden Œuvres sowie verschiedener theoretischer Positionen zeigt , dass es über die ästhetischen Transzendenzäquivalente hinaus zahlreiche weitere Formen des Kunstreligiösen gibt ,
wobei der Bezug zur Religion häufig in der Abgrenzung von der Mystik oder in der kritischen Auseinandersetzung mit religiösen Ritualen ,
Symbolen und Texten besteht.
Frühromantik
Im Rahmen der neuzeitlichen Ideengeschichte sind mit dem Kunstreligiösen vor allem die literarische Frühromantik und die musikalische
Romantik verbunden. Das Wort Kunstreligion fällt zum ersten Mal bei
Schleiermacher in seinen Reden Über die Religion im Jahr 1799.33 Kurz
darauf bezeichnet Novalis Schleiermachers von Anschauung und Gefühl bestimmte Theologie als Kunstreligion.34 Der Ausdruck traf „einen
bestimmten Nerv der Zeit um 1800“.35 Denn als Begründung für das
Entstehen und die zunehmende Verbreitung des Phänomens im Laufe
des 18. Jahrhunderts gilt die funktionale Autonomisierung des gesellschaftlichen Teilbereichs der Kunst.36 Erst wenn sich die Kunst aus liturgischen Kontexten löst , kann eine Kunstreligion entstehen und erst
dann ist die Verlagerung des theologischen Denkens in die ästhetischen
Formen bemerkenswert.
Eine frühe , implizite Theoretisierung des Kunstreligiösen findet sich
in Klopstocks Vorrede zum Messias mit dem Titel Über die heilige Poesie.
33 Friedrich Schleiermacher : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern , hg. v. Rudolf Otto , Göttingen 1967 , 120 , hier und im Folgenden nach
den Seitenzahlen der Erstausgabe [ EA ] zitiert , die aus der angegebenen , 1967 in der
sechsten Auflage erschienenen Ausgabe hervorgehen ( EA 168 ).
34 Novalis : Dialogen und Monolog. 1798 / 99 , HKA II , 562.
35 Scholtz : Schleiermacher und die Kunstreligion , 515. Verwendet wird der Begriff auch
von Bettina von Arnim in Clemens Brentanos Frühlingskranz und von August Klingemann in Die Nachtwachen des Bonaventura ( für die entsprechenden Nachweise
siehe ebd. ).
36 Bernd Auerochs : Die Entstehung der Kunstreligion , Göttingen 2006 ; Heinrich Detering : Was ist Kunstreligion ? Systematische und historische Bemerkungen , in : Meier
u. a. ( Hrsg. ): Kunstreligion , Bd. 1 Der Ursprung des Konzepts um 1800 , Berlin 2011 ,
11–27 , 12 ( zur Vorgeschichte bei Herder und Klopstock vgl. ebd., 15 f. ).
22
EINLEITUNG
Darin geht es um eine Poesie , die sich die Mittel des Heiligen zu eigen
macht , um die höchste Wirkung zu erzielen. Als höchste Wirkung gilt
es , die ganze Seele zu bewegen. Während sich die Theologie der Zeit
auf kirchengeschichtliche Darstellungen oder auf die Vernunft und deren Vereinbarkeit mit dem Offenbarungsgedanken konzentriert , sieht
Klopstock eine Verlagerung emotionaler Aspekte des Religiösen in den
Bereich der Literatur vor : „Der Verfasser des heiligen Gedichts ahmt
der Religion nach“37. Er bedient sich dazu des „Erhabne[ n ]“,38 spielt mit
der „Einbildungskraft“, dem Verlangen des Lesers nach „Leidenschaft“39
und „Harmonie“40 oder dem „stummen , erstaunungsvollen Schmerz“41
und verleiht der Poesie „Würde , Hoheit“.42 In Klopstocks Vorrede findet eine ästhetische Theoriebildung statt , die die wirkungsvolle Poesie
sogar ausdrücklich an die bisher dem Heiligen zugesprochene höchste Stelle rücken lässt : „Das Herz ganz zu rühren , ist überhaupt , in ieder Art der Beredtsamkeit , das höchste , was sich der Meister vorsetzen ,
und was der Hörer von ihm fordern kann.“43 Nach einer kurzen Überlegung , ob ein Ausmalen und Weiterdichten biblischer Geschichten erlaubt sei , grenzt Klopstock sich mit Ehrerbietung von denjenigen ab ,
die „aus wirklicher Frömmigkeit“ 44 dichten , und begründet stattdessen eine Ästhetik des Kunstreligiösen.
Klopstocks Überlegungen zeugen von den neuen Überschneidungen ,
die durch die funktionale Ausdifferenzierung von Kunst und Religion
im 18. Jahrhundert ermöglicht werden. In der „wechselseitigen Konturierung von ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ “45 und der daraus neu entstehenden
Möglichkeit ihrer Verbindung liegt die Begründung dafür , dass der Be37 Friedrich Gottlieb Klopstock : Von der heiligen Poesie , in : Der Messias. Erster Band.
Kopenhagen 1755 , IX-XIX , XV.
38Ebd., XI.
39Ebd., XII.
40Ebd., XV.
41Ebd., XIV.
42Ebd., IX.
43Ebd., XVIII.
44 Ebd., X.
45 Heinrich Detering : Kunstreligion und Künstlerkult , in : Kulturen und Konflikte. Georgia Augusta. Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen ( 2007 ),
H. 5 , 124–133 , 124.
Frühromantik
23
griff der Kunstreligion gerade um 1800 aufkommt. Voraussetzung der
Verbindung von Kunst und Religion ist also zunächst die Trennung beider im Zuge der Autonomisierung der Künste , die im 18. Jahrhundert
die Kunst als ein gesellschaftliches Teilsystem und die Ästhetik als philosophische Disziplin etabliert sowie ästhetische Entwürfe der Zweckfreiheit ermöglicht.46 Während religiöse Kunst der Religion dient , indem
sie deren Glaubensinhalte vermittelt – man denke an die Kirchenarchitektur und -malerei sowie an musikalische und theatrale Elemente in
Gottesdiensten – , dient in der kunstreligiösen Literatur die Religion der
Kunst , indem die autonomen Texte durch Strategien der Sakralisierung
erhöht werden. Es entsteht die ästhetische Kategorie des Kunstreligiösen , bei der sich ein theologisches Denken der Transzendenz , der Einheit
und Unendlichkeit auf subtile Weise in die ästhetische Form verlagert.
Dieser Wechsel in der Hierarchie ist eindrücklich innerhalb des Kreises der Jenaer Frühromantiker zu beobachten. Schelling strebt zwar noch
danach , ein ganz Anderes , Absolutes , Transzendentes zu denken und
greifbar zu machen , wobei ihm die Kunst als „das einzig wahre und
ewige Organon zugleich und Document der Philosophie“ willkommen
ist.47 Auch die anderen Romantiker des Kreises um Friedrich Schlegel
gehen „noch von der Existenz eines Ursprungs , eines Letztbegründenden , Absoluten aus , stellen aber die Möglichkeit seiner reflektierenden Darstellung in Frage“.48 Schleiermacher erklärt sich Schellings Dik­
46 Zwischen der ästhetischen Autonomie und „dem religiösen Anspruch auf die Vermittlung eines Unbedingten“ ergibt sich nach Detering eine Spannung ( ebd. ). Seiner Auffassung nach müsste deren Auflösung „entweder in den Verzicht der Kunst
auf religiöse Ansprüche münden oder in eine Kunst , die sich wieder der Religion
unterordnet“ ( ebd. ). Doch das tatsächliche Resultat dieser Spannung liegt in der
Verlagerung der Hierarchie.
47 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling : System des transcendentalen Idealismus , in :
Historisch-kritische Ausgabe , hg. v. Wilhelm G. Jacobs , Jörg Jantzen u. Walter Sieche , Stuttgart 1976- , Bd. 9.1 , 328 ; Vgl. Bernhard Barth : Schellings Philosophie der
Kunst. Göttliche Imagination und ästhetische Einbildungskraft , Freiburg 1991. Manfred Frank erklärt lakonisch : „Die Poesie muss in die Bresche springen , wo der Philosophie die Luft zum Atmen zu dünn wird“ ( in : Einführung in die frühromantische
Ästhetik. Vorlesungen , Ffm. 1989 , 248 ).
48 Ebd., 77 f. Schlegel schreibt über die „Nichterkennbarkeit des Absoluten“: „Das
Absolute selbst ist indemonstrabel“ ( Friedrich Schlegel : Philosophische Fragmente
1796 , in : Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe ( KA ), hg. v. Ernst Behler , Paderborn
24
EINLEITUNG
tum von der Kunst als Organon der Philosophie zunächst so , dass die
Kunst „Darstellung des Absoluten auch im einzelnen relativen“ sei.49
Diese Rezension relativiert er später , indem er betont , in der künstlerischen Darstellung könne genauso wenig wie bildlich oder begrifflich
eine Anschauung Gottes gegeben werden.50
Schleiermachers Reden reagieren auf die in der Aufklärungszeit dominierenden Vorschläge einer rationalen oder natürlichen Religion , die
sich auf sogenannte Vernunftwahrheiten über Gott als Schöpfer und
die tugendhafte Bestimmung des Menschen beschränken.51 Schleiermachers neue Herangehensweise lautet : „Religion ist Sinn und Geschmack
fürs Unendliche.“52 „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln , sondern Anschauung und Gefühl.“53 „Anschauen des Universums [ … ] ist
die allgemeinste und höchste Formel der Religion.“54 Er will nicht das
Christentum gegen das Heidentum oder den Monotheismus gegen den
Polytheismus verteidigen , sondern der Religiosität Gültigkeit zuspre1979 , XVIII , 512 ) – „[ E ]inen absoluten Punkt , ein Ey für das Universum giebts
nicht“ ( Friedrich Schlegel : Philosophische Fragmente , KA XVIII , 409 ). Vgl. dazu
Winfried Menninghaus : Unendliche Verdopplung , Ffm 1987 , 74 , 89. Die Metapher
vom ‚Hauch‘ und ‚Atmen‘ in Schlegels Äußerung „Es gibt alte und moderne Gedichte , die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie
atmen“ ( Friedrich Schlegel : Lyceum , KA II , 152 ), erinnert Pikulik an „die Vorstellung vom belebenden Pneuma des Hauch Gottes“ sowie daran , dass Schlegel auch
die sokratische Ironie „im Essay über Georg Forster mit einem Heiligenschein versieht : ‚Es ist ein zartes , geflügeltes und heiliges Ding‘ “ ( Friedrich Schlegel : Charakteristiken und Kritiken , KA II , 90 ; Lothar Pikulik : Frühromantik. Epoche – Werk –
Wirkung , München 1992 , 107 ).
49 Zitiert nach Ingolf Hübner : Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schleiermachers Dialektik , Berlin 1997 , 83.
50 Wiedergegeben nach Thomas Lehnerer ( Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers ,
Stuttgart 1987 , 357 ), der über Schleiermacher außerdem schreibt : „Einzig das religiöse Gefühl repräsentiert und kennt die höchste Einheit als Einheit. Daher ist die
religiöse Kunst nicht nur nicht durch Gott hervorgebracht , religiöse Kunst ist auch
keine wie auch immer gedachte Erscheinung Gottes.“ Siehe dort auch Lehnerers
Ausführungen zu vergleichbaren Gedanken in Hegels Ästhetik.
51 Vgl. das entsprechende Kapitel bei Ernst Müller : Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus , Berlin 2004 , 201–208.
52 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 53.
53 Ebd., 50.
54 Ebd., 55.
Frühromantik
25
chen , ohne damit die Metaphysik im Sinne der religionsphilosophischen Frage nach dem Absoluten noch die Moral im Sinne normativer
oder ethischer Funktionen von Religion zu meinen. Dass seine Theologie ähnlich wie die Kunst auf der Einbildungskraft basiert ,55 führte
Jean Paul zu der Bemerkung , Schleiermacher gebe „dem Worte Religion eine neue , unbestimmte , poetische Bedeutung“.56
Im Spannungsverhältnis zur theologischen Ambition entfaltet Schleiermachers Argumentation eine Eigendynamik , die „eine Gleichberechtigung , wenn nicht Gleichsetzung von Kunst und Religion“57 nahelegt
und damit die Ideengeschichte des Phänomens der Kunstreligion mitbegründet. Schleiermacher beschreibt die „Sehnsucht nach dem Unendlichen , nach dem Einen in allem“58 als einen anthropologischen Antrieb
des „sinnigen Menschen“, der zwar von der individuellen Veranlagung ,
nicht aber von der historischen Situation abhänge.59 Da die Religiosität
nach Schleiermacher ähnlich wie in Anschauung und Gefühl auch in
ästhetischen Erfahrungen liegen kann , lässt sich seine Gefühlsreligion als Kunstreligion verstehen. Wegen der Tendenz zur Gleichsetzung
von religiöser Anschauung und ästhetischer Erfahrung wurden Schleiermacher in der zeitgenössischen Kritik Pantheismus und Ästhetizis-
55 Vgl. Scholtz : Schleiermacher und die Kunstreligion , 521.
56 Jean Paul : Werke , hg. v. Norbert Miller , München 1975 , Bd. 6 , Clavis Fichtiana seu
Leibgeberiana , 1030.
57 Detering : Was ist Kunstreligion ? 18.
58 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 165 ; vgl. Lehnerer : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers , 341 , sowie Detering : Was ist Kunstreligion ? , 24.
59 „Drei verschiedene Richtungen des Sinnes“ (Über die Religion , EA , 165 ) zur Religion unterscheidet Schleiermacher , nämlich die mystische Versenkung nach innen ,
die metaphysische Anschauung des Universums nach außen sowie ein verbindendes „stetes hin und her Schweben zwischen beiden“, das „nur in der unbedingten
Annahme ihrer innigsten Vereinigung Ruhe findet ; dies ist die Richtung auf das
in sich Vollendete , auf die Kunst und ihre Werke“ ( Über die Religion , EA , 165 f. ).
Deutlich wird die privilegierte Stellung des vermittelnden Kunstsinnes , wobei
Schleiermacher einschränkt , die Menschen tendierten je nach Veranlagung meistens zu einem der Sinne. Für den Kunstsinn stellt Schleiermacher fest , er gehe von
sich allein über in Religion , überlässt die Erklärung dieser These jedoch den Adressaten seiner Rede , die den ästhetischen Weg zur Religion , so Schleiermachers
„Strategie“ ( L ehnerer : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers , 342 ) selbst erfahren sollen.
26
EINLEITUNG
mus vorgeworfen.60 Nicht Gott , sondern seine Schöpfung , das Weltganze oder das Universum würden hier zum Bezugspunkt der Religion ,
dabei geht Schleiermacher bei aller Verehrung Spinozas nach wie vor
von einer außerweltlichen Wirklichkeit aus , die er das grundsätzlich
Andere nennt. Momente der Offenbarung und Erleuchtung kann er
sich vor allem vermittelt über die Kunst vorstellen : „wenn es wahr ist ,
daß es schnelle Bekehrungen gibt [ … ] so glaube ich , daß mehr als irgendetwas andres der Anblick großer und erhabener Kunstwerke dieses
Wunder verrichten kann“.61 Deswegen beklagt er den Mangel an religiösen Kunstwerken. Die Religion seiner Zeit würde der Hilfe der Kunst
entbehren.62 Die ästhetische Erfahrung bleibt bei Schleiermacher Mittel zum Zweck , einen „Sinn fürs Universum“ und seine „Herrlichkeit“
zu bekommen.63 Er betreibt „bewusst die Verschmelzung von Religion und Kunst , möchte aber doch stets die Religiosität als das Grundlegende , erste , und die Kunst als deren Artikulationsorgan , als zweite ,
verstanden wissen“.64 Zwar dient die Kunst in seinem Verständnisder
Religion , doch seine Ästhetisierung des Religiösen besitzt „ein Potential religiöser Aufladung des Ästhetischen , das diese Rangordnung wie60Ebd., 439. Für entsprechende Quellen siehe außerdem Ferdinand Christian Baur :
Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen
Entwicklung , Tübingen 1835 , 632 , und Hübner : Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis , 205.
61 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 167.
62 Ebd., 169.
63 Ebd., 167.
64 Scholtz : Schleiermacher und die Kunstreligion , 531 ; vgl. auch ders. : Schleiermachers
Musikphilosophie , Göttingen 1981 , 94 f. Die Kunst hat es in Schleiermachers Augen
„niemals zur Ausprägung einer eigenen Religionsform gebracht [ … ], sich vielmehr
immer an bereits vorliegende Religionen angeschlossen und so deren ‚ursprüngliche
Beschränktheit‘ freundlich gemildert“ ( Auerochs : Die Entstehung der Kunstreligion ,
452 ). Vgl. auch Lehnerers Ausführungen , Schleiermacher ergreife klar Partei „gegen
Intentionen der Frühromantik , die die hohe Kunst ( im Sinne einer Art Kunstreligion ) zunächst außerhalb der Institution Kirche zu etablieren unternahm“ ( Die
Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers , 360 ). Abgesehen von einem Sonderzweig der
geselligen Kunst , der für sich die Autonomie in Anspruch nimmt , rechnet Schleiermacher die Kunst generell der Institution Kirche zu ( ebd., 355 , 365 ). Lehnerer gibt
dazu zahlreiche Nachweise , behauptet aber im gleichen Buch , Kunst und Religion
würden Schleiermacher „als zwei gleichwertige geistig-gesellschaftliche Phänomene“ gelten ( ebd. 343 ).
Frühromantik
27
der unterläuft“,65 indem die Anschauung , das Gefühl und die persönliche Erfahrung entscheidend für die Entstehung von Religion werden.
Dass Schleiermacher mit seiner Verwendung des Wortes Kunstreligion in der ersten Ausgabe der Reden sogar die Begriffsgeschichte begründet , wäre ihm selbst jedoch gar nicht recht gewesen. Denn er betont : „von einer Kunstreligion , die Völker und Zeiten beherrscht hätte ,
habe ich nie etwas vernommen“.66 Zudem hat er den Begriff in den
folgenden Ausgaben gestrichen und ersetzt durch die Umschreibung ,
von einer „Religion“, „die von der Kunst ursprünglich ausgegangen
ist“, also sich an der Betrachtung von Kunstwerken entzündet , habe
er nie etwas gehört.67 Schleiermacher distanziert sich vom romantischen Griechenlandbild sowie von Schlegels Projekt , eine eigene Religion zu gründen.68 Die Überarbeitung der Textstelle in der zweiten
Fassung signalisiert Schleiermachers Bewusstsein für die Spannung ,
die sich zwischen seinem protestantischen Anspruch und dem ergibt ,
was sich ideengeschichtlich zu seiner Zeit als Kunstreligion herauskristallisiert. Zugleich sind die Reden bezeichnend für das widersprüchliche Phänomen der Kunstreligion um 1800 , bei dem nie sicher ist , ob
es religionskritischen oder -schwärmerischen Charakter hat. Denn obwohl Schleiermacher sich vom Begriff Kunstreligion distanziert , verwendet er , um das Wesen religiösen Erlebens begreiflich zu machen ,
Begriffe wie „Sinn“ und „Geschmack“, die in der noch jungen Ästhetikdiskussion kursieren.69
Dazu gehört auch die Rede von den Priestern als Virtuosen ihres
Faches ,70 die für Novalis gar nicht in Frage kommt : „Warum kann
65 Detering : Was ist Kunstreligion ? , 19.
66 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 168.
67 Vgl. Scholtz : Schleiermacher und die Kunstreligion , 525 ( Scholtz zitiert hier aus der
Kritischen Gesamtausgabe , hg. v. Günter Meckenstock , Andreas Arndt , Jörg Käppel , Notger Slenczka , Band I , 12 / 172 , Berlin 2011 ).
68 Auerochs : Die Entstehung der Kunstreligion , 440.
69 In seiner Schrift zur praktischen Theologie behandelt Schleiermacher die Ästhetik
als eine integrierte Teilwissenschaft der Theologie ( Lehnerer : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers , 380 ).
70 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 19. Schleiermacher stellt sich in seiner praktischen Theologie die Frage , wie sich der Priester gegenüber einer von der Religion unabhängigen Kunst zu verhalten habe , und spricht umgekehrt selbst solchen
Künstlern , die religiöse Kunstwerke schaffen würden , persönliche Unabhängig-
28
EINLEITUNG
in der Religion keine Virtuositaet stattfinden ? Weil sie auf Liebe beruht.“71 Mit dem gleichen Fragment begründet Novalis die Rede von
Schleiermachers Theologie als einer Kunstreligion. „Schleyermacher
hat Eine Art von Liebe , von Religion verkündigt – Eine Kunstreligion – beynah eine R[ eligion ] wie die des Künstlers , der die Schönheit
und das Ideal verehrt.“72 Novalis sieht die Kunstreligion in der Haltung des Künstlers , der sich über die Wertschätzung des Schönen und
Idealen definiert , welche Schleiermacher als Anschauung bezeichnet.73
Die Nähe der Auffassungen beider wird deutlich , wenn Schleiermacher schreibt : „Nicht der hat Religion , der an eine heilige Schrift
glaubt , sondern welcher keiner bedarf , und wohl selbst eine machen
könnte“,74 oder wenn Novalis bestätigt : „Alle absolute Empfindung
ist religiös. Religion des Schönen. Künstlerreligion.“75
Während Novalis von Schleiermachers Reden begeistert ist , verfasst
er nicht nur Die Christenheit oder Europa , seine Abhandlung über den
Katholizismus , sondern auch die Hymnen an die Nacht , in denen sich
der fließende Übergang zwischen Mittlerreligion , Pantheismus und der
romantischen Auffassung des griechischen Polytheismus spiegelt. Die
keit im Hinblick auf die Religion zu ( L ehnerer : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers , 347 ). Für Schleiermachers Vergleich von Künstlern und Klerikern siehe ebd. 362.
71 Novalis : Fragmente und Studien 1799–1800 , HKA III , 562. Remigius Bunia argumentiert in Anlehnung an Luhmann , Novalis ziehe eine Grenze zwischen Kunst und
Religion , weil die Religion , selbst wenn sie Kunstreligion werde , nur beinahe eine
Religion der Künstler wäre ( „…in einer andern Welt“. Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis , in : Meier u. a. ( Hrsg. ): Kunstreligion , Bd. 1 Der Ursprung des Konzepts um 1800 , Berlin 2011 , 103–113 ).
72 Novalis : Fragmente und Studien 1799–1800 , HKA III , 562. Vgl. dazu auch eine sinngemäße Äußerung von Friedrich Schlegel aus dem gleichen Jahr 1799 : „Sollte die
natürl[ iche ] Rel.[ igion ] nicht ganz einfach die Rel[ igion ] der Physiker seyn – die
Künstler dürfen in Schlei[ ermacher ]’s Sinne keine ‚( eigne )‘ Rel[ igion ] haben – wohl
aber einen Theil und Sinn für die Höchste.“ ( Friedrich Schlegel : Philosophische Fragmente , KA XVIII , 311 ).
73 Dieses flexible Verständnis vom Künstlertum trägt zu einer Ausweitung des Kunstbegriffs und dessen Bestimmung über die ästhetische Erfahrung bei. Mit Novalis’ Satz „Jeder Mensch sollte Künstler seyn. Alles kann zur schönen Kunst werden“
( HKA II 497 , Glauben und Liebe ) ist die berühmte Formulierung , jeder Mensch sei
ein Künstler von Joseph Beuys vorgeprägt , die Schlingensief aufgegriffen hat.
74 Schleiermacher : Über die Religion , EA , 122.
75 Novalis : Fragmentblatt , HKA II , 395.
Frühromantik
29
Hymnen bewegen sich zwischen den Auffassungen , dass einzelne Dinge , also auch Kunstwerke , Mittler zu Gott sind , dass Gott in allen Dingen ist oder dass einzelne Dinge göttlich sind. Zu Beginn der fünften
Hymne wird ein Bild des antiken Griechenland gezeichnet , das in ein
intertextuelles Spiel mit Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands verwoben ist. Novalis hebt das rauschhafte , genussvolle Leben der Griechen und die Unmittelbarkeit ihrer Götter hervor , weil er nach einem
sinnlich erfahrbaren Göttlichen strebt. Die polytheistische Gottesimmanenz verbindet er mit dem Monotheismus , indem er auf drei Wegen
die sinnliche Erfahrbarkeit des transzendenten , christlichen Gottes herausstellt. Erstens werden über erotische Komponenten der christlichen
Glaubensäußerung sinnliche Aspekte des Christentums betont , was sich
an der Marienverehrung sowie an den Abendmahls- und Brautnachtsmetaphern zeigt.76 Zweitens stellen die Hymnen Zusammenhänge zwischen dem Polytheismus und der Trinität her , als sei die Menschwerdung des christlichen Gottes am Anthropomorphismus der griechischen
Mythologie orientiert. Und drittens führt die Lehre von der Allgegenwart Christi zu dem , was Novalis „Mittlerthum“77 nennt. In seinem
hierarchischen Mittlersystem wird Jesus „zum Mittler der Mittelwelt
des Pantheism“.78 Die „Trauben“ und „des Mandelbaums Wunderöl“,79
aber auch die „Geliebte“ sind Mittler der Nacht. Diese vermittelt die
Transzendenz , denn sie trägt den „Schlüssel“ zu den „Wohnungen der
Seligen“.80 Nicht nur den Pantheismus , auch den griechischen Polytheismus sieht Novalis als eine Vorstufe der christlichen Mittlerreligion , deren Mittelglieder lediglich von feinerer Qualität sind.81 Der Vorstellung
entsprechend , dass alles Mittler sein kann , lassen sich in den Hymnen
76 Vgl. dazu auch Gabriele Brandstetter : Erotik und Religiosität. Eine Studie zur Lyrik
Clemens Brentanos , München 1986.
77 Novalis : Die Christenheit oder Europa , HKA III , 523.
78 Novalis : Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub , HKA II , 445.
79 Novalis : Hymnen an die Nacht , HKA I , 133.
80 Ebd., 135.
81 „Je selbständiger der Mensch wird , desto mehr vermindert sich die Quantität des
Mittelglieds , die Qualität verfeinert sich , und seine Verhältnisse zu demselben werden mannichfaltiger und gebildeter : Fetische , Gestirne , Thiere , Helden , Götzen ,
Götter , Ein Gottmensch.“ ( HKA II , 443 , Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub ).
30
EINLEITUNG
auch das „Gedicht“82 oder die „alten Geschichten“83 – kurz die Poesie als
Mittler des Göttlichen sehen.84 Das Schwanken zwischen den theologischen Denkmodellen ist für die religionsphilosophische Herangehensweise an die Kunstreligion bezeichnend. Dient die Kunst dem christlichen Gott als Mittler , so befindet sie sich in der Hierarchie unter der
Religion. Nimmt sie die Stelle der Götter ein , so macht sie sich das Göttliche , nämlich den Anspruch auf Universalität und Absolutheit zu eigen.
So wie in Novalis’ vorsichtiger Bemerkung , Schleiermachers Religion sei beinahe eine Kunstreligion , eine Unterscheidung des Begriffs der
Kunstreligion von echter Religion mitschwingt , führt ihn das Nachdenken über das eigene Schaffen zu der Aussage : „( Der Künstler ist durchaus irreligiös − daher kann er in Religion wie in Bronze arbeiten. Er gehört zu Schleyerm[ achers ] Kirche ).“85 Den Künstlern , zu denen Novalis
sich selbst zählt , sind religiöse Symbolik , Sprache und Gedankengut nur
ein Material , das ihnen zur Veranschaulichung ihrer ästhetischen Ideen dient. Im Zwiespalt zwischen der pietistischen Prägung und der ästhetischen Lebensphilosophie verleiht er seiner Befürchtung Ausdruck ,
die neuen Ideen um Kunstreligion und Schleiermachers Kirche könnten sich gegenüber der christlichen Tradition Priorität verschaffen. Als
ein scharfer Beobachter des Potentials der kunstreligiösen Ideen seiner
Zeit warnt er : „Auf Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisierten – auf ihre[ r ] Identisirung [ … ] beruht der ganze Aberglaube und
Irrthum“.86 Entgegen den eigenen Tendenzen zur diesseitigen Religiosität beharrt Novalis mit dieser Unterscheidung auf der Vorstellung einer
außerweltlichen Transzendenz. Er wendet sich gegen die Kunstidolatrie
82 Novalis : Hymnen an die Nacht , HKA I , 153.
83 Ebd., 135.
84 Auch ist der „Sänger“, der in den Hymnen die frohe Botschaft wie ein Apostel verbreitet ( HKA I , 147 ), häufig als Anspielung auf den Dichter gesehen worden , dem
Novalis besondere Qualitäten in der Vermittlung des Göttlichen zuspricht , da er
Gottes Schöpfung künstlerisch nachahmt und dessen Botschaft wie ein Priester
über die Sprache vermittelt. Verglichen mit Schelling begegnet Novalis der Künstler-Schöpfer-Analogie allerdings mit Skepsis , da sie seinem Ideal der Reflexion nicht
gerecht wird ( Heinz Paetzold : Kunst als Organon der Philosophie. Zur Problematik
des ästhetischen Absolutismus , in : Richard Brinkmann ( Hrsg. ): Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion , Stuttgart 1978 , 392–403 , 398 ).
85 Novalis : Randnotiz zu Friedrich Schlegel Ideen , HKA III , 367.
86 Novalis : Das Allgemeine Brouillon , HKA III , 397.