Frauen in Wissenschaft und Technik

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Frauen in Wissenschaft und Technik
Astrid Franzke/Rudolf Schweikart
(Herausgeber)
Frauen in Wissenschaft und Technik
Ergebnisse einer Fachtagung
vom 30. September bis 2. Oktober 1999
am Fachbereich Sozialwesen der
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH)
Leipzig, September 2000
Inhalt
Vorwort
5
Grußwort des Dekans des Fachbereiches Sozialwesen der
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HTWK Leipzig
Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der
Stadt Leipzig
15
Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten
der HTWK Leipzig
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Barbara Bertram
Neue Formen der Arbeitsorganisation
Neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familienund Berufsarbeit?
1. Gravierende Veränderungen der Erwerbsarbeit sind im
Gange
2. Erfahrungen mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
3. Zu einigen neuen Formen der Arbeitsorganisation im
Einfluss auf Vereinbarkeit an Beispielen
23
23
29
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Gesine Bächer
Frauen in Wissenschaft und Technik
Chancen und Risiken moderner Formen
der Arbeitsorganisation
1. Telearbeit – eine moderne Form der Arbeitsorganisation
2. Motive für Telearbeit
51
52
61
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Inhalt
Gabriele Hartung
Frauen ins Netz
Die Informationsgesellschaft im Wandel
1. Die Informationsgesellschaft im Wandel
2. Frauen ins Netz
3. Informationen im Netz
4. Informationssuche durch Suchmaschinen
5. Anhang
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75
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Barbara Stiegler
Heim zur Arbeit
Telearbeit und Geschlechterverhältnis
85
1. Problemstellung
85
2. Technikentwicklung als „Gendering-Prozess“ und Telearbeit
als ihr Produkt
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3. Der Ein- und Ausschluss von Frauen durch Telearbeit
92
4. Die Unvereinbarkeit der Telearbeit mit dem
Vereinbarkeitsargument
100
5. Tele(heim)arbeit als Mittel der Umverteilung von Geld,
Arbeit und Macht zwischen den Geschlechtern?
106
6. Fazit
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Gabriele Winker
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
Umverteilung von Arbeit als Chance?
1. Einführung
2. Informationsgesellschaft und Normalarbeitsverhältnis
3. Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der
Informationsgesellschaft
4. Chancen und Risiken der Flexibilisierung
5. Verbesserung der Lebensqualität für Frauen und Männer
115
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3
Ellen Sessar-Karpp
Frauen geben der Technik neue Impulse
1. Hintergrund
2. Frauen und (neue) technische Berufe
3. Frauen geben Technik neue Impulse – Initiativen
und Strategien
4. Ausblick
141
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Karin Hildebrandt
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
Entwicklungschancen für Frauen in den neuen Bundesländern.
Selbstständigkeit in Freien Berufen als erfolgversprechende
Alternative
1. Ausgangsbedingungen
2. Entwicklung der Selbstständigkeit und der Professionen in
Freien Berufen in der DDR und den neuen Bundesländern
3. Frauen in Freien Berufen
4. Förderungsmöglichkeiten und Vorstellungen der
Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer Situation
Anlage 1: Katalogberufe
Anlage 2:Frauenanteile an den Selbstständigen in Freien
Berufen in den alten und neuen Bundesländern
Anlage 3: Freie Berufe in Sachsen 1995 und 1997
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Astrid Franzke
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
1. Der Beitrag des Allgemeinen deutschen Frauenvereins
für die Etablierung des Frauenstudiums
2. Die "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF
3. Die ersten Studentinnen
4. Die erste Akademikerinnengeneration
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180
185
4
Inhalt
Karin Reiche
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen
Studienrichtungen
Ergebnisse der Sommeruniversität für SchülerInnen an der
TU Dresden
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Inga Kirst
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der
HTWK Leipzig
Integrationschancen in den Erwerbsarbeitsmarkt
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Vorwort
Astrid Franzke, Rudolf Schweikart
Der Fachbereich Sozialwesen der HTWK Leipzig richtete vom
30.September bis 2.Oktober 1999 eine Fachkonferenz aus, die geschlechterspezifische Aspekte neuer Formen der Arbeitsorganisation in den Mittelpunkt stellte. Der vorliegende Konferenzband ist mit zwei Aufsätzen
mit Ergebnissen von am Fachbereich Sozialwesen laufenden Projekten
erweitert. Unterstützt wurde diese Publikation durch die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Leipzig.
Die Konferenzidee entstand mit Blick auf das fachliche Profil der
HTWK Leipzig, als einer vorwiegend technisch-naturwissenschaftlich
ausgerichteten Hochschule und im Kontext aktueller Entwicklungen in
den Informations- und Kommunikationstechnologien und den sich daraus ergebenden geschlechterspezifischen Fragestellungen.
Zu Beginn der Konferenz stellten der Dekan, Prof. Dr. Thomas Fabian, Profil und Aufgaben des Fachbereichs Sozialwesen dar und die
Gleichstellungsbeauftragte der HTWK Leipzig, Dipl.-Ing. Andrea Hildebrandt, betrachtete die Hochschule aus der Frauenperspektive. Die
Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Leipzig, Dipl.-Ing. Genka Lapön,
hielt in einem ebenso nachdenklich stimmenden wie eindrucksvollen
Begrüßungsbeitrag ein Plädoyer für die Selbstverständlichkeit der Kinder- und Familienarbeit für beide Geschlechter. Sie reflektierte dies vor
dem Hintergrund eigener Erfahrungen unter dem Aspekt „das unendliche Märchen über die Vereinbarkeit von Frau mit sich selbst“ und „die
unendliche Geschichte der Frauenförderung ohne Förderer“.
Es nahmen ca. 40 Personen die Einladung zur Fachtagung an. Darunter waren überwiegend Frauen, die auf naturwissenschaftlichtechnischem Gebiet und in Frauen- und Mädchenzentren arbeiten, Studentinnen, Vertreterinnen von Frauenverbänden und -vereinen aus verschiedenen östlichen und westlichen Bundesländern und aus dem westeuropäischen Ausland.
6
Vorwort
Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturveränderungen sind
mit einem gravierenden Wandel in der Arbeitswelt verbunden. Der
Dienstleistungssektor weitet sich aus. Der Einsatz neuer Informationsund Kommunikationstechnologien prägt diese Prozesse entscheidend
mit. Klassische Formen der Arbeitsorganisation sowie Ausbildungs- und
Erwerbschancen verändern sich.
Mit diesen Veränderungen scheinen Chancen und Risiken der Frauenerwerbstätigkeit gleichermaßen verbunden zu sein. Neue Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit von und neue Berufsfelder für Frauen scheinen
in Entwicklungen zu liegen, die mit dem Begriff „New Work“ zusammengefasst werden. Es könnten sich neue Perspektiven für die individuelle
Ordnung des Arbeitstages und die Verbindung von beruflicher und familialer Arbeit eröffnen. Andererseits scheint aber auch ein Comeback der
Frauen als „elektronische“ Heimarbeiterinnen mit den Folgen häuslicher
Isolation, Verlust an personaler Kommunikation und Reproduktion überkommener Geschlechterrollenstereotype nicht ausgeschlossen zu sein.
Diese und ähnliche Problem- und Fragestellungen wurden aus unterschiedlichen Fachperspektiven in den Beiträgen vorgestellt. Die Einzelbeiträge verdeutlichen verschiedene Erkenntnisinteressen und Herangehensweisen. Sie zeigen, die Spannbreite vorhandener Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet, aber auch die noch offenen Fragen. Daraus resultieren sowohl interessante Sichtweisen in der Zusammenführung von
ost- und westdeutschen Forschungsergebnissen als auch von praktischen
Erfahrungen im Umgang mit den neuen Medien.
Es zeichneten sich auf der Konferenz vor allem zwei inhaltliche
Schwerpunkte ab, auf die sich das Interesse der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer konzentrierte:
• Chancen und Risiken der Vereinbarkeit von familialer und beruflicher Tätigkeit von Frauen und den Perspektiven von Frauen in
Selbstständiger Erwerbstätigkeit,
• Ursachen und mögliche Handlungsoptionen für das rückläufige Berufswahlverhalten von Mädchen und jungen Frauen für technischnaturwissenschaftliche Fachrichtungen.
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bertram, Soziologin, Leipzig, eröffnete mit
einem Überblicksreferat zum Thema „Neue Formen der Arbeitsorganisation - neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsar-
Astrid Franzke, Rudolf Schweikart
7
beit“ die inhaltliche Debatte. Die Referentin bearbeitete es aus der ostdeutschen Perspektive unter Berücksichtigung der historisch anderen
Erfahrungen der Verknüpfung von familialer und beruflicher Tätigkeit.
Sie skizzierte dies vor dem Hintergrund des zeitlichen Zusammenfallens
einer doppelten Entwicklung. Es sind einerseits Veränderungen zu bewältigen, die aus dem wenn auch geringer gewordenen strukturellen
Umbruch, der durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess bedingt ist, erwachsen und andererseits solche, die durch die rationalisierungs- und technisierungsbedingten Entwicklungen hervorgerufen worden sind. Diese Überlegungen wurden ausgehend von den gravierend
veränderten Rahmenbedingungen bis hin zu gegenwärtigen Perspektiven von Frauenerwerbstätigkeit im Kontext der Veränderung von Arbeitsinhalten, des Wandels der Arbeitsorte, der Entzeitlichung und
Enträumlichung von Arbeit, der Flexibilisierung und Teilzeittätigkeit
geführt.
Das Thema „Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis. Umverteilung von Arbeit als Chance?“ behandelte Prof. Dr. rer. pol. Gabriele
Winker, FH für Technik und Wirtschaft Furtwangen. Sie thematisierte in
ihrem Beitrag die Veränderungsprozesse im Geschlechterverhältnis im
Rahmen der Informationsgesellschaft, wobei sich auf den Aspekt der
Erwerbsarbeit unter Bezug auf die Reproduktionsarbeit konzentriert
wird. Die mit der Erwerbsarbeit in der Informationsgesellschaft einhergehenden Produktivitätsfortschritte sind sowohl mit raum-zeitlichen
Entkopplungen von Erwerbsarbeitsprozessen verbunden, als auch mit
der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Die Flexibilisierung der
Erwerbsarbeitsverhältnisse wird an drei Dimensionen festgemacht:
a) Erwerbsarbeitsmenge: Verringerung des Erwerbsarbeitsvolumens und Zunahme von minderbezahlten, befristeten, ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen
b) Erwerbsarbeitszeit: Flexibilisierung nach betrieblichen Anforderungen
c) Erwerbsarbeitsort: Zunahme der mobilen, alternierenden und isolierten Telearbeit.
„Heim zur Arbeit. Telearbeit und Geschlechterverhältnis“, so lautet der
Titel des Beitrags von Dr. Barbara Stiegler, Friedrich-Ebert-Stiftung
Bonn. Vier Perspektiven dieses Themas werden diskutiert. Telearbeit
wird als ein Teil der Technikentwicklung analysiert, der auf der auf der
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Vorwort
Vergeschlechtlichung (gendering) aufbaut und sie beeinflusst. Darüber
hinaus wird Telearbeit als widersprüchliche Form des Ein- und Ausschlusses von Frauen in technisch unterstützter Erwerbsarbeit untersucht. Das Versprechen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Telearbeit wird als eine Stabilisierung der Geschlechterhierarchie dargestellt. Schließlich werden die Möglichkeiten der Veränderung der Geschlechterhierarchie durch Telearbeit geprüft.
Gesine Bächer, M.A., bearbeitet in einem Promotionsvorhaben das
Thema „Frauen in Wissenschaft und Technik – Chancen und Risiken
moderner Formen der Arbeitsorganisation“. In einem ersten Teil ihres
Beitrages wird eine detaillierte Analyse der Formen und Verbreitung der
Telearbeit sowie ihrer Rahmenbedingungen unterbreitet. Telearbeit an
verschiedenen Orten, Rechtsformen der Telearbeit und schließlich auch
der Begriff der Telearbeit erfahren u.a. eine nähere Bestimmung. In einem zweiten Teil diskutiert sie die Motive für die Telearbeit von Frauen.
Ausgehend von der Doppelorientierung im Lebenskonzept junger Frauen, das beide Lebensbereiche Partnerschaft/Familie einerseits und Beruf
andererseits umfasst, werden Lebenskonzepte und ökonomische Motive
junger Frauen untersucht. Schließlich wird die Telearbeit hinsichtlich
ihrer Chancen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie befragt.
Dr. Ellen Sessar-Karpp, Internationales Netzwerk (INET e.V.), Technologie- und Beratungszentrum für Frauen, Dreiskau-Muckern, gegründet 1995 als europäisches Modellprojekt im Leipziger Landkreis, stellte
die Initiative „Frauen geben der Technik neue Impulse“ vor. Diese Initiative ordnet sich, ähnlich wie die FrauenTechnikzentren, von denen das
erste in den neuen Bundesländern 1990 in Leipzig gegründet wurde, in
die Bemühungen der Frauen ein, auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren. Sie wurde Anfang 1990 als Gemeinschaftsaktion des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Bundesanstalt für
Arbeit und der Deutschen Telekom ins Leben gerufen. Zielstellung ist es,
junge Frauen zu motivieren, sich für gewerblich-technische Berufe zu
entscheiden. An der FH Bielefeld, an der seit 1996 die Koordinierungsstelle der Initiative ihren Sitz hat, gibt es erprobungsweise für fünf Jahre
im Rahmen des Elektrotechnikstudiums eine neue Studienrichtung „Energieberatung und -marketing“, die von Frauen sehr angenommen wird.
Dadurch konnte der Frauenanteil in der Elektrotechnik an der FH Bielefeld bereits auf 25 % gesteigert werden (im Durchschnitt liegt der Frauenanteil an allen Studienanfängern nur bei ca. 5 %).
Astrid Franzke, Rudolf Schweikart
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Ein Beitrag, der die praktischen Fähigkeiten der Teilnehmerinnen im
Umgang mit den neuen Medien herausforderte, bildete der Workshop
zum Thema „Frauen ins Netz - Die Informationsgesellschaft im Wandel“.
Dipl.-Päd. Gabriele Hartung, COBRA - Frauen gestalten Zukunft e.V.
Leipzig, die den Workshop leitete, gab eine Einführung in die historischen Anfänge von Frauen im Netz , z.B. zu den „Cyberfrauen“ Grace
Murray Hopper, Betty Holberton sowie Esther Dyson, der First Lady des
Internet und in die praktische Nutzung des Internets. Daten zur Nutzung des Mediums Internet aus dem Jahre 1999 belegen, dass in
Deutschland nur etwa 9 % der Bevölkerung online sind. Im Vergleich
dazu haben in Leipzig etwa 5 bis 7% der Privathaushalte einen Internetanschluss. Berührungsängste bezüglich der Internetnutzung von Frauen
sind nachweisbar. Nach Untersuchungen der w3b-Online-Umfrage von
Hamburger Marktforschern sind gegenwärtig rund drei Viertel aller
Nutzer Männer und nur knapp ein Viertel Frauen. Zu den Fragen wie
Internet „funktioniert“, „gewusst wo und gewusst wie“, was Frau mit
oder im Netz machen kann, wie Informationssuche zielgerichtet gestaltet
werden kann, wurden interessante Einblicke vermittelt, praktische
Handreichungen bis hin zu empfehlenswerten Suchmaschinen unterbreitet.
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder - Entwicklungschancen für
Frauen in den neuen Bundesländern thematisierte Dr. Karin Hildebrandt, BTU Cottbus, anhand von Untersuchungen zur „Selbstständigkeit in Freien Berufen als erfolgversprechende Alternative“. Aus soziologischer Sicht legte sie den Schwerpunkt auf die Selbstständige Erwerbsarbeit von Frauen und verortete sich damit im aktuellen Diskurs um
Existenzgründungen von Frauen. Mit einem historischen Rückblick zur
Situation der Selbstständigen in der DDR wurde die Entwicklung der
Frauen in Freien Berufe in den neuen Bundesländern aufgezeigt. Die
sprunghafte Zunahme von Existenzgründungen und „Freien Berufen“
nach 1989 in den neuen Bundesländern impliziert einen Entwicklungsprozess von der abhängigen zur Selbstständigen Erwerbsarbeit und die
zunehmende Attraktivität dieser Form der Erwerbsarbeit für Frauen.
Günstige Voraussetzungen für Frauen, wie ihre Sozialkompetenz und
Kommunikationsfähigkeit scheinen mit bewirkt zu haben, dass in Sachsen 1995 32 % der Selbstständigen in freien Berufen Frauen waren. Die
Referentin reflektierte ausgehend von den zahlreichen Programmen zur
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Vorwort
Förderung von Existenzgründungen auch Vorstellungen der Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer Situation.
Zu den Anfängen des Frauenstudiums in Leipzig im Jahre 1906 führt
der Aufsatz von Dr. Astrid Franzke, Philosophin, FB Sozialwesen der
HTWK Leipzig. Am Beispiel der Universität Leipzig ging sie der Frage
nach, wie sich die Integration der Studentinnen in die Hochschule vollzog, welchen Beitrag dafür die sich organisierende bürgerliche Frauenbewegung leistete. Dabei fanden insbesondere deren Verdienste um die
Frauen- und Mädchenbildung in Leipzig ihre Berücksichtigung. Nach
Karlsruhe (1893) und Berlin (1893) waren die Leipziger Gymnasialkurse
für Mädchen des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (1894) deutschlandweit die dritte Möglichkeit, die Frauen zum Ablegen des Abiturs
befähigte, eine elementare Voraussetzung für die Zulassung zum Universitätsstudium. Das Studienwahlverhalten der Frauen zeigte bereits zu
diesem Zeitpunkt eine ausgeprägte Geschlechterspezifik. Weibliche Studentinnen waren zuerst an der philosophischen Fakultät und an der medizinischen Fakultät zu finden. Die Gründe dafür dürften aber auch in
den spezifischen Zugangsvoraussetzungen der Frauen gelegen haben.
Die meisten der Frauen hatten über Studienanstalten und Lehrerinnenseminare den Hochschulzugang erworben, der lediglich zum Pädagogikstudium berechtigte.
Ergebnisse der Sommeruniversität 1998 und 1999 an der TU Dresden „Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen“ präsentierte Dr. Karin Reiche, Physikerin und Gleichstellungsbeauftragte der TU Dresden. Zielstellung war es, ausgehend von der
Geschlechterspezifik des Studienwahlverhaltens eine spezielle Form der
Studienberatung für Schülerinnen unter dem Motto „erst ausprobieren dann studieren“, vorzunehmen. In zwei Jahren haben 286 Mädchen und
junge Frauen das insgesamt über 3 bzw. 4 Projektwochen laufende Angebot angenommen. Die Auswertung der Sommeruniversität zeigte, dass
das persönliche Interesse, die Schule und die Familie auf das Berufswahlverhalten entscheidenden Einfluss haben. Besonders hohe Bewertungen erhielten praxisbezogene Veranstaltungsangebote: z.B. Experimentalvorträge der Fachrichtung Elektrotechnik, “Akustik - Wohlklang Lärm - Information“, „Der sprechende Computer“, „Alternative Energiegewinnung - Solarenergie“.
Inga Kirst, Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, stellt in ihrem
Beitrag Ergebnisse einer im Jahre 1999 durchgeführten Erhebung zu
Astrid Franzke, Rudolf Schweikart
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den Integrationschancen von AbsolventInnen der HTWK Leipzig in den
Erwerbsarbeitsmarkt vor, anhand einer quantitativen Erhebung unter
der AbsolventInnengeneration des Jahres 1998. Von den 523 AbsolventInnen beteiligten sich 179, d.h. 34,2%. Es zeigten sich u.a. geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der Wahl des Studienfachs, der
Berufserfahrungen vor dem Studium und der Bewerbungsstrategien.
Der größte Teil der männlichen Absolventen hatte sich laut offizieller
AbsolventInnenstatistik für einen der technischen Studiengänge entschieden (77%). Die Frauen dominierten dagegen in der Verpackungstechnik, im Bibliothekswesen und im Sozialwesen. Deutlich mehr Männer als Frauen hatten eine Ausbildung vor dem Studium zumindest begonnen. Die Absolventinnen präferierten stärker die Stellensuche über
die traditionellen Medien. Die Absolventen gaben häufiger an, dabei auf
das Medium Internet zurückzugreifen. Hinsichtlich des Berufsstarts
sagten 33% der Männer gegenüber 13,7% der Frauen, dass sie sofort
nach der Beendigung des Studiums einen Arbeitsplatz erlangt hatten.
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Grußwort des Dekans des Fachbereiches
Sozialwesen der HTWK Leipzig
Thomas Fabian
Sehr geehrte Damen und Herrn,
ich begrüße Sie ganz herzlich und heiße Sie am Fachbereich Sozialwesen
der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig willkommen.
Als erstes möchte ich im Namen des Fachbereiches Frau Dr. Franzke
und Frau Kirst für die Organisation dieser Tagung und die Zusammenstellung des Programmes ausdrücklich danken. Es handelt sich hier um
die erste von Mitgliedern unseres Fachbereiches ausgerichtete Tagung.
Und dabei freut es mich ganz besonders, daß sie ein interdisziplinäres
Thema gewählt haben.
Die HTWK Leipzig wurde erst 1992 gegründet, sie kann jedoch auf
eine längere Geschichte zurückblicken. Ich möchte nur zwei Daten nennen: 1838 wurde die Königlich-Sächsische Baugewerkenschule zu Leipzig
und 1977 wurde die Technische Hochschule Leipzig gegründet. Die
HTWK Leipzig setzt die Tradition ihrer Vorgängereinrichtungen fort.
Abgesehen von den Studiengängen Bibliothekswesen, Museologie und
Betriebswirtschaft befindet sich die Mehrzahl der Studiengänge und der
Studienplätze in den technischen Fachbereichen Bauwesen, Elektrotechnik, Maschinen- und Energietechnik sowie Polygraphische Technik. Insofern führte die Gründung der Fachbereiches Sozialwesen im Jahre 1994
zu einer Erweiterung des Fächerspektrums auf bisher völlig ungewohntem Gebiet. Nach anfänglicher Skepsis seitens mancher Kollegen aus den
technischen Fachbereichen sind wir – so glaube ich feststellen zu dürfen
– inzwischen gut integriert.
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Grußwort des Dekans des Fachbereiches Sozialwesen der HTWK Leipzig
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang zwei Sätze zum Tagungsthema aus einer hochschulinteren Perspektive des Fachbereiches
Sozialwesen: Ich bin überzeugt, daß Ihre Tagung einen wichtigen Beitrag
zur weiteren Annäherung und Zusammenarbeit zwischen dem Fachbereich Sozialwesen und den technischen Fachbereichen führen wird. Der
Bereich Technik ist ein Markenzeichen unserer Hochschule und frauenspezifische Themen sind wesentlicher Bestandteil des Studiums und der
Forschung am Fachbereich Sozialwesen.
Die Auseinandersetzung mit Fragen der Technikentwicklung ist sicher ungewöhnlich für einen Fachbereich Sozialwesen und die Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven gehört ebenfalls nicht
zum Alltag technischer Fachbereiche. Schon allein deshalb wird diese
Tagung einen besonderen Stellenwert in der interdisziplinären Diskussion an unserer Hochschule erhalten.
Ich bin sicher, daß Sie angesichts des vielseitigen inhaltlichen Tagungsprogramms anregende Diskussionen führen werden. Auch das kulturelle Rahmenprogramm verspricht interessante Begegnungen. Ich
wünsche Ihnen einen angenehmen Tagungsverlauf und hoffe, Sie behalten ihren Aufenthalt an unserem Fachbereich und in der Stadt Leipzig in
guter Erinnerung.
Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten
der Stadt Leipzig
Genka Lapön
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Frau, die Wissenschaft, die Technik, die Arbeit und die Organisation
– 5 Worte aus dem Tagungstitel. Sie sind alle weiblich, zumindest aus
der Grammatikperspektive. Da es aus anderen Perspektiven nicht so ist,
sind Sie nach Leipzig gekommen, um Erfahrungen auszutauschen und
Strategien für gesellschaftliche Veränderungen zu erarbeiten, damit
nicht nur die Worte, sondern auch die Inhalte dem weiblichen Geschlecht
selbstverständlich Chancengleichheit anbieten.
Die Arbeit und ihre Organisation. Damit möchte ich beginnen.
Die Zukunft der Arbeit beschäftigt viele Gehirne – elektronische und
natürliche. Jeden Tag werden Schubladenfächer mit innovativen Konzeptionen gefüllt und die Printmedien sorgen mit vollen Seiten dafür,
dass die Zukunft nicht klarer, aber die Diskussion ausführlicher geführt
wird. Ob das für eine Frau immer gut ist?
Beim Blättern durch „Zeit-Punkte“ – unter diesem Titel erscheint eine Herausgabe der Zeit-Redaktion – entdeckte ich ein Leitinterview mit
einem Vertreter vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB).
Die Überschrift machte mich neugierig. Es stand mit dicken Lettern geschrieben: Kinder und eine Karriere in der neuen, flexiblen Arbeitswelt?
„Da muß man sich eben entscheiden.“
Einige Auszüge möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.
Frage: „Wie werden wir morgen arbeiten?“
Antwort / IAB: „Das Normalarbeitsverhältnis, in dem Arbeitszeit,
Arbeitsort und Arbeitsaufgaben, die Hierarchie und das Einkommen
langfristig festgelegt waren, wird sich zum Teil auflösen und durch offene Arbeitsformen ersetzt werden.
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Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig
In den Multimediaberufen, wo vor allem Hochschulabsolventen arbeiten, sind knapp die Hälfte der neuen Arbeitsverhältnisse freiberuflich
und projektbezogen.“
Frage: „In Zukunft wird lebenslanges Lernen immer wichtiger. Wie
finanziere ich die eigene Weiterbildung, wenn die Selbstständigkeit zur
Norm wird?“
Antwort / IAB: „Wenn ein Projekt fertig ist , kann ein nachfolgendes
Beschäftigungsloch zur Fortbildung genutzt werden. Vorher müssen Sie
etwas sparen, wie das Eichhörnchen. Das abhängige Arbeitsverhältnis
und die soziale Sicherung hat den Menschen zu einer gewissen Verantwortungslosigkeit geführt.“
Frage: „Für Frauen wird es eng mit der Nachwuchs-Planung. Das
heißt also: Kinder oder Karriere?“
Antwort / IAB: „Wer Kinder will, muß schauen, wie er das ökonomisch einplant.“
Frage: „Motto: Heirat oder Sozialhilfe – die Frauen als Verliererinnen?“
Antwort / IAB: „Wenn sich Rollenverständnisse nicht wandeln,
schon. Aber wenn Männer sich mehr an der Erziehung beteiligen, ist das
kein Frauenproblem mehr.“
Im Interview war mir der Mann echt unsympathisch. Seine, die IABVorstellungen, fand ich nicht gerade sozial. An wen hatte er gedacht?
Was hatte er erlebt oder wem geholfen?
In einem Punkt war ich echt begeistert! Meine Damen, unsere einzige
Chance, als Mütter nicht zu den ständigen Verliererinnen zu zählen, ist
es, den Vätern Familienaufgaben ohne Wenn und Aber zu übertragen
und das gesamtgesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit werden zu
lassen, und das ohne schlechtes Gewissen und ohne Rabenmutter-Gefühl
zu praktizieren.
Die Naturwissenschaft und die Technik werden selten mit Frauen in
Verbindung gebracht. Den Berufsalltag in dieser Männerdomäne hat die
Hamburger Psychologin Renate Kosuch untersucht. Sie kam zu dem
Ergebnis, dass die inneren Konflikte von Naturwissenschaftlern und von
Ingenieuren der beruflichen Integration von Frauen im Wege stehen.
Frauen werden beruflich ausgegrenzt, weil sie Frauen sind. Verhalten
sie sich entsprechend ihrer Berufsrolle, sind sie nicht weiblich genug.
Setzen sie sich erfolgreich durch, bezeichnen sie jedoch manche Kollegen
als „bessere Männer“, die nur an der Arbeit interessiert und nicht emoti-
Genka Lapön
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onal genug seien. Arbeitsplätze in Naturwissenschaft und Technik sind
auf männliche Lebensmuster abgestimmt. Die meisten der befragten
Frauen haben keine Kinder. (11 Frauen und 11 Männer wurden befragt,
die in Norddeutschland in naturwissenschaftlichen oder technischen
Berufen tätig sind.)
Interessant ist es, welche Empfehlung Frau Kosuch aus ihrer Studie
ableitet: Naturwissenschaftler und Ingenieure sollten Seminare besuchen, die dazu beitragen, dass sich ihr Selbstbild vom innovativ arbeitenden Einzelgänger zum sozial kompetenten Teamarbeiter verändere,
kommunikative Fähigkeiten verbessert, Konkurrenzverhalten abgebaut
und sie selbst zu mehr Selbstkritik fähig würden. Dies könne sich auch
positiv auswirken auf die Übernahme von Familienarbeit.
Das Thema „Frauen in Naturwissenschaft und Technik“ lässt mir
keine Ruhe. Studiert habe ich an einer Technischen Universität mit 2 %
Frauenanteil an den Studierenden. Meinen akademischen Titel – Dipl.Ing. habe ich auf dem Gebiet der Technischen Kybernetik und der Automatisierungstechnik mit Auszeichnung erworben. Mein Einstieg in die
Berufswelt war eine Katastrophe, da ich über die Eigenschaften weiblich,
mit Kinderwunsch und Ausländerin verfügte. Das hinderte die so sehr
gewünschte wissenschaftliche Karriere zwischen Messinstrumenten und
Programmiermaschinen. Nur mit Hilfe von sozial denkenden und klugen
Menschen gelang mir die Unterzeichnung meines ersten Arbeitsvertrages in einem kleinen Industrieunternehmen. Es war nun das Jahr 1984
und das geschah im Land der Vollbeschäftigung - in der DDR.
Dankbar bin ich dafür, dass ich nicht von der Universität sofort ins
Labor kommen durfte. In dem kleinen Betrieb – damals 130 Beschäftigte
– herrschten fast familiäre Verhältnisse. Für große Veränderungen der
innerbetrieblichen Abläufe war diese Tatsache eher ein Hindernis, für
das Nachvollziehen von einzelnen Berufsbiografien war es eine echte
Fundgrube. Da mir das Arbeitsgebiet Betriebsorganisation und Rechentechnik übertragen wurde, kam ich in Kontakt mit allen Abteilungen und
auch mit Frauen unterschiedlichen Alters. Diese Erfahrungen – über die
ich Ihnen nicht im einzelnen berichten möchte – werden meinen Berufsweg und meine ideellen Ziele für menschliches Handeln begleiten.
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Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig
Erste Erfahrung ...
oder das unendliche Märchen über die Vereinbarkeit von Frau mit
sich selbst.
Kinder bereichern das Leben beider Eltern und bestimmen die Zeitplanung der Familie maßgeblich mit. Zeitbudgets von beiden Eltern sollen die Komponente Kind enthalten. Eine Frau ist nicht Arbeitskraft
minderer Wertigkeit, wenn sie Mutter ist und sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligt. Das Vatersein eines Mannes darf nicht nur mit dem
Tragen eines symbolischen Titels verglichen werden, dazu gehören die
Rechte und die Pflichten der Kindererziehung in der Familie. Ein Mann
ist nicht Arbeitskraft höherer Wertigkeit, wenn er als verheirateter
Mann und Vater ständig für das Unternehmen da ist, zu einem Einzelgänger mit Sonderbehandlung in der Familie wird und das Leben an
ihm vorbeizieht. Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausschließlich auf dem Rücken der Frauen halte für die falscheste politische Entscheidung und für eine Flucht der Frauen vor ihren Problemen zu einer
Frauennische, die zu einer großen Sonderbehandlungszone wird. Nicht
viel weiter wird uns dieser Weg führen. Mütter werden an der Zeit und
an ihren Wünschen hart basteln müssen, solange die Männer – befreit
von diesen Zwängen – in der nächsten Sitzung über effektivere Zeitabläufe nachdenken oder Überstunden schieben, um die steigenden Lebenshaltungskosten gerade für die Familien aufzufangen.
Zweite Erfahrung ...
oder die unendliche Geschichte der Frauenförderung ohne Förderer.
Junge Frauen mit Fachschul- oder mit Hochschulabschluss kamen in
den 80er Jahren in mein damaliges Unternehmen per Absolventenvermittlung. In der Technologie oder in der Konstruktion hatten viele einen
Arbeitsplatz erhalten. Die meisten hatten kleine Kinder und äußerten
keine Karrierewünsche. Die älteren Technologen und Konstrukteure
freuten sich über die „jungen, hübschen Dinger“, um so mehr, wenn sie
Kaffee kochten und ständig Abwaschdienst hatten. An einer Fortbildung
oder an anspruchsvollen und mit hohem persönlichem Einsatz verbundenen Aufgaben für die jungen Kolleginnen dachte kein Leiter. Der
Frauenförderplan war voller Unverbindlichkeiten und voller Berichte
mit Eigenlob für Betriebs- und Gewerkschaftsleitung. Mit dem Aufbau
Genka Lapön
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eines Rechenzentrums holte ich mir gezielt akademisch gut ausgebildete
und an ihren Arbeitsplätzen ständig unterforderte junge Mütter. Der
Widerstand anfangs war groß, vor allem bei den Frauen. Die neuen Aufgaben allerdings haben sie motiviert, sich fortzubilden und auch in der
Freizeit über das eine oder das andere Problem nachzudenken. Fortbildungen machten sich notwendig. Auf einmal bekamen die Frauen
Schwierigkeiten in der eigenen Familie. Ein Ehemann weigerte sich,
Einkäufe zu erledigen, das sei eine Frauenaufgabe. Das sind lustige Episoden am Rande. Leicht hatte ich es als Chefin auch nicht immer mit den
Damen. Termineinhaltung und die Kontrolle der Ergebnisse war ja mein
bitteres Los. Reine Anwesenheit zu belohnen, war nicht mein Ding. Motiviert, ergebnisorientiert und intelligent sollten die Mitarbeiterinnen
ihre Arbeitszeit gestalten. Unbewusst betrieb ich damals eine Förderung
für Frauen von Frauen. Diese Entwicklung haben meine damaligen Mitarbeiterinnen nicht bereut. Sie haben heute gute, interessante und sichere Arbeitsplätze in der Datenverarbeitung.
Nach meinem Lebenstraum 1989 gefragt, antwortete ich prompt:
„Einen Frauenbetrieb gründen, um den Frauen Mut zu machen und zu
zeigen, dass jede Funktion auch von Frauen sehr gut ausgeführt werden
kann.“ Meine Erfahrungen lehrten mich damals, dass über Frauenförderung viel geschrieben und am 8. März auch viel geredet wurde, aber eigentlich Männer- Förderung aktiv betrieben wurde.
Der DGB-Vorstand, Abteilung Frauenpolitik, berichtete im Info-Brief
vom März 1999 über die Ergebnisse einer Studie, die das Frauenministerium in Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben hatte: „Danach werden
90 % der Männer, aber nur 57 % der Frauen von ihren Vorgesetzten gefördert.“ Die Meldung überraschte mich nicht, sondern sie bestätigte nur
meinen ausdrücklichen frauenparteilichen Wunsch, endlich die heimliche Männerquote offen zu legen und sie auf 50 % herunterzufahren. Da
sind die Frauen gefragt. Nicht ihre ewige Geduld, ihr Kampfgeist ist
gefordert. Die Zukunft setzt auf uns, auf die Frauen, und sie wird es uns
übel nehmen, wenn wir bei Dummheit und Überheblichkeit im globalen
Maße nicht eingreifen mit den uns in der Demokratie zur Verfügung
stehenden Mitteln, und mit einem großen Veränderungswillen gegen
Verkrustung und festgefahrene Normen und Regeln.
Gute Ansätze finde ich bei den Wettbewerben auf Landesebene –
„Frauenfreundlicher Betrieb“ – und auf Bundesebene – „Familienfreundlicher Betrieb“, um gesellschaftliche Vorbilder und Akzeptanz zu errei-
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Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig
chen. Denn was wollen Frauen, was wollen Männer? Die Entwicklung
rollt und darf die Frauen nicht überrollen oder gar vergessen. Es liegt in
unserer Hand, die Weichen anders zu stellen. Aktionen wie „Frauen ans
Netz“ geben auch die Chance, sich vom Stricknetz zu befreien. Lassen Sie
uns dann nicht bei den Telekundinnen bleiben, sondern zu den Gestalterinnen und zu den Macherinnen gehören. Das Netz soll zur Hälfte uns
gehören – von uns geschaffen und für alle menschlich annehmbar. Erschrecken Sie dabei nicht vor den Nebenwirkungen in der nächsten Phase. Lassen wir uns lieber übertriebene Berufsneigung vorwerfen als stille
Güte und Fügsamkeit in der einsamen elektronischen Heimathölle mit
Kind und Kübel – das Letzte wegen der gewünschten Reinheit...
Im Namen der Stadtverwaltung begrüße ich Sie recht herzlich in
Leipzig und wünsche Ihnen einen aufregenden Aufenthalt und viele anregende Diskussionen. Locken Sie Ihren Mut aus der tiefsten Körpernische heraus und machen Sie sich stark für die entscheidenden Jahre am
Anfang des nächsten Jahrtausends. Frauen haben die Chancen, Frauen
und Männer tragen die Risiken! Nur beide gemeinsam können es schaffen!
Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten
der HTWK Leipzig
Andrea Hildebrandt
Sehr geehrter Herr Dekan, meine Damen und Herren,
auch ich möchte Sie ganz herzlich an unserer Hochschule begrüßen und
freue mich, dass sich so viele kompetente Leute mit dem wichtigen Thema „Frauen in Wissenschaft und Technik“ beschäftigen werden.
Meine Aufgabe als Gleichstellungsbeauftragte der HTWK Leipzig ist
es, auf Chancengleichheit von Frauen und Männern zu achten und die
Hochschule auf Defizite und Mängel in diesem sensiblen Bereich hinzuweisen.
Unsere Hochschule ist mit rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und etwa 4.800 Studierenden eine vergleichsweise überschaubare
Einheit. Sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Studierenden sind
etwa 50 % weiblich. Das klingt erst mal ganz gut, aber geht man ins Detail, relativieren sich die Zahlen: von 174 Professuren sind nur 23 mit
Frauen besetzt und leider sind Leitungsposten wie Rektor, Prorektoren,
Kanzler und alle Dekane sämtlich fest in Männerhand! Bei den Studierenden sieht es ähnlich aus: den hohen Frauenanteil verdanken wir
Fachbereichen wie Buch und Museum und Sozialwesen, während in den
technischen Fachbereichen Elektrotechnik, Maschinenbau oder Bauingenieurwesen der Frauenanteil unter 10 % liegt.
Und damit sind wir beim Thema: Die Wirtschaft benötigt dringend
gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure. Und gerade große Unternehmen wie Volkswagen oder die Telecom möchten explizit mehr
Frauen für Forschungs-/Entwicklungsabteilungen haben, weil „gemischte“ Teams effizienter arbeiten und das Arbeitsklima besser ist.
Nun werden uns nach VDE/VDI in den nächsten Jahren Tausende
Ingenieure fehlen (wohlgemerkt, damit sind gut ausgebildete und lernfä-
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Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der HTWK Leipzig
hige Absolventen gemeint, nicht die vielen arbeitslosen Ingenieurinnen
und Ingenieure älterer Jahrgänge, die es reichlich gibt).
Und fehlen werden die Absolventen und erst recht die Absolventinnen, weil in den letzten 8 Jahren kaum einer ein bestenfalls Arbeitslosigkeit verheißendes Ingenieurstudium absolviert hat. Langsam steigen
die Studentenzahlen wieder an. Und zur Steigerung des Frauenanteils
bieten viele Hochschulen Sommeruniversitäten für Frauen, Schnupperstudien oder Mädchentechniktage an. Dazu werden wir ja noch etwas
hören. Und an zwei Fachhochschulen gibt es monoedukative Ingenieurstudiengänge.
Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Berufsfelder, die nur
oder überwiegend von Frauen besetzt sind, einen geringeren gesellschaftlichen Wert erfahren, was sich auch bei der Bezahlung auswirkt.
Ich wünsche uns viele interessante Vorträge und eine lebhafte Diskussion.
Und ich möchte mich bei Frau Dr. Franzke, Frau Kirst und Herrn
Prof. Schweikart für Ihre engagierte Arbeit bedanken, der wir diese Tagung hier zu verdanken haben.
Neue Formen der Arbeitsorganisation
Neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familien- und
Berufsarbeit?
Barbara Bertram
Veränderungen im Bereich der Arbeit vollziehen sich ständig, aber in
den letzten Jahren vehementer, rascher und mit weitreichenderen existenziellen Auswirkungen. Das gilt nach wie vor mehr für Ost- als für
Westdeutschland. In den neuen Ländern treffen die immer noch anhaltenden, wenn auch geringer gewordenen, strukturellen Umbrüche durch
den gesellschaftlichen Transformationsprozess mit den rationalisierungsund technisierungsbedingten Entwicklungen zusammen. Sie haben Einfluss auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die folgenden Ausführungen beziehen Ergebnisse von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ein, vorzugsweise vom Deutschen Jugendinstitut
(DJI) München/Leipzig. Sie stellen ostdeutsche Bedingungen mehr in
den Mittelpunkt, verweisen jedoch auf Unterschiede zu den westdeutschen.
1. Gravierende Veränderungen der Erwerbsarbeit
sind im Gange
Wir sprechen heute nicht mehr nur von der Einführung neuer Technologien und einem Wandel der Arbeit schlechthin, sondern von einer Revolutionierung der Erwerbslandschaft (Liesering 1999, S. 985). Das geschieht im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Auswirkungen auf
Qualifikations-, Beschäftigungsstrukturen und Arbeitsinhalte, die sich
v. a. mit dem immensen Fortschreiten der Informations- und Kommunikationstechnologien vollziehen. Die Entwicklungen im Multimediabereich beeinflussen alle anderen Wirtschaftsbereiche. Es gibt Stimmen,
die eine Revolutionierung von Arbeit v. a. in Ostdeutschland noch für
ferne Zukunftsmusik halten. Aber fest steht, dass viele in den letzten
Jahren prognostizierten Entwicklungen im Erwerbsarbeitsbereich und
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
am Arbeitsmarkt rascher eintraten, weil zu den Veränderungen, mit
denen wir es zu tun haben, auch eine immense Tempobeschleunigung
gehört und bestimmte Zusammenhänge und Folgen von immer weiter
ansteigender Technisierung und Flexibilisierung nur sehr schwer exakt
vorauszuberechnen sind. Zudem nehmen wir bereits heute einige solche
Prozesse überdeutlich wahr, die sich schon vor 1990 in Westdeutschland
und teilweise auch in Ostdeutschland bemerkbar machten - aber hier
nicht revolutionär für den gesamten Beschäftigungsbereich und nicht
existenziell für die Erwerbstätigen. Solche Prozesse, sind:
Eine zunehmende Verknappung von Erwerbsarbeit durch fortschreitende Technisierung und Rationalisierung, besonders in Ostdeutschland
anhaltend viele Firmenkonkurse aus anderen Gründen (schlechte Auftragslage, ungenügende Konkurrenzfähigkeit am Markt gegenüber Großfirmen/-ketten, fehlende finanzielle Rücklagen usw.). Arbeitsplatzreduzierungen konnten um 1999 in Westdeutschland ansatzweise durch neu
entstehende Branchen aufgehalten werden, aber entsprechend Prognosen auch nur vorübergehend. Die Arbeitslosenzahlen gingen dort 1999
leicht zurück, vor allem die Dienstleistungsbranche legte zu. In Ostdeutschland konnte die systematische Verknappung von Erwerbsarbeit
bisher überhaupt nicht ausgeglichen werden. Die Massenarbeitslosigkeit
war im Herbst 1999 doppelt so hoch wie in Westdeutschland, ohne Aussicht auf nennenswerte Reduzierung. Prognosen für die nächsten 10-20
Jahre gehen dahin, dass wir bundesweit einem immensen Abbau von
Arbeitsplätzen in allen Branchen, auch im Dienstleistungssektor, entgegengehen und neu entstehende Arbeitsfelder, die auch Einstiegsmöglichkeiten für Frauen bringen könnten, das nicht annähernd auffangen.
Wirkliche Lösungen für dieses Problem kann nur eine Umverteilung von
Erwerbsarbeit mit neu zu erschließenden Bereichen (Umwelt u. a.), neuen Inhalten, Zeit- und Beschäftigtenstrukturen bringen. Vielfältige,
möglichst solidarische, Formen der Umverteilung von Arbeit sind gefragt
(Zukunftskommission 1998, S. 189).
Die Verknappung von Arbeitsplätzen wird von einer Reihe Politiker
und Unternehmen zum Anlass genommen, Frauen wieder vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Das bezieht sich in Ostdeutschland auch auf ehemalige Frauenberufe und -arbeitsplätze. Es drückt sich in Diskriminierung von Frauenerwerbsarbeit sowie in der bevorzugten Auswahl von
Männern bei Bewerbungen gegenüber gleich qualifizierten Frauen aus,
besonders wenn Kinder vorhanden sind oder noch kommen könnten. Es
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drückt sich ferner in einer zunehmenden Härte der Unternehmen gegenüber Vereinbarkeitsregelungen aus, selbst entgegen vorhandener
gesetzlichen Bestimmungen, wie etwa bei Kinderkrankheit. („Hier gelten
nur Firmeninteressen, Kinder sind Privatsache.“ „Sie können bei mir
arbeiten, aber Sie haben ständig verfügbar zu sein, Ausfälle wegen des
Kindes sind nicht möglich.“ – Aus Untersuchungen des DJI, Leipzig.)
Auf Grund des Abbaus von Arbeitsplätzen in der Wirtschaft nimmt
bisher der geförderte Arbeits- und Ausbildungsmarkt anteilmäßig zu,
ganz besonders in Ostdeutschland. Die Frage ist, wie lange und mit welchen Langfristeffekten das noch anhält und wie sich das überhaupt
„rechnet“. Ursprünglich als „Brücke“ zum 1. Arbeits- und Ausbildungsmarkt vorgesehen, hat sich der geförderte inzwischen verSelbstständigt.
Zunehmend fanden Frauen hier Bildung und Beschäftigung, inzwischen
entsprechend Gesetz nach ihren Anteilen an Arbeitslosigkeit. Das ist
ambivalent zu bewerten in bezug auf Gleichstellung und künftige Möglichkeiten am 1. Arbeitsmarkt. Eine anteilmäßige Zunahme der geförderten Beschäftigung und Bildung bedeutet keinen gleichwertigen Ersatz
zum 1. Arbeitsmarkt (da kurzzeitig befristet, oft nicht der Qualifikation
entsprechend, niedriger bezahlt, unfreiwillig in Teilzeit, weniger anerkannt) oder zur regulären, insbesondere betrieblichen, Berufsausbildung
(durch Entkopplung von Arbeitsplätzen usw.).
Die Einbeziehung der Frauen in den geförderten Arbeits- und Ausbildungsmarkt ist eine Alternative zur Arbeitslosigkeit bzw. zum Hausfrauendasein mit Kindern. Sie kann unter Umständen, z. B. als ABMStelle, die Vereinbarkeit aktuell erleichtern gegenüber einer Vollzeitbeschäftigung oder kann das individuelle Arbeitskraftangebot für später
verbessern helfen (z. B. über FuU). Aus solchen und anderen Gründen
(Verdienst, Kommunikation, Einbezogensein, Leistungsansprüche vom
Arbeitsamt usw.) sind die Förderungen unverzichtbar geworden. Da im
Anschluss an solche Maßnahmen jedoch heute – vor allem in Ostdeutschland – meist wieder Arbeitslosigkeit oder sogar „MaßnahmeKarrieren“ (Wechsel von Maßnahme – Arbeitslosigkeit) ohne Wiedereinstiegschancen in den 1. Arbeitsmarkt stehen, ist auch unter dem Aspekt
der Vereinbarkeit der geförderte Markt dem regulären nicht gleichzusetzen. Die Umverteilung und Flexibilisierung von Arbeit durch Beschäftigungsförderung widerspricht dem Bestreben der Frauen nach existenzsichernder Vollzeitbeschäftigung und realer Gleichstellung. Durch die Ungleichverteilung der Vermittlungen (an den geförderten Markt mehr
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
Frauen, an den 1. Arbeitsmarkt mehr Männer) wird das Geschlechterverhältnis zuungunsten der Frauen stabilisiert.
Im Zusammenhang mit der starken Verknappung von Arbeit, der
bundesweit bestehenden, aber im Osten flächendeckenden Wegrationalisierung ganzer Branchen, Berufsgruppen und Betriebe nahmen arbeitsbedingtes Pendeln oder Umziehen in andere Regionen mit günstigeren
Arbeitsplatzbedingungen zu. Es ist anzunehmen, dass sich das noch ausbreitet, man „fährt der Arbeit nach“. Das betrifft vor allem die Richtung
von Ost nach West.
Da Frauen mit Kindern stärker in die Familie eingebunden sind als
Männer, haben sie solche Möglichkeiten der Arbeitssuche in geringerem
Maße, obwohl Ostfrauen lt. Untersuchungen vor dem Eintreten von Mutterschaft sogar stärker als Männer bereit sind zum Pendeln oder Umziehen (Leipziger Längsschnittstudie II des DJI). Vereinbarkeit und regionale Mobilität stehen sich entgegen, trotzdem riskieren das nicht wenige
ostdeutsche Frauen, wenn Kinder größer sind und noch eine andere Obhut haben.
Fortschreitende Technisierung und Rationalisierung verbindet sich
mit Globalisierung und Internationalisierung. Gleichzeitig wird eine
zunehmende Vereinzelung und Individualisierung von Arbeit erwartet –
z. B. das durchweg flexible Individuum als sein eigener Arbeitgeber. Das
heißt Beschäftigungsstrukturen, Arbeitsverhältnisse, Berufsfelder und
Arbeitsaufgaben verändern sich nach Organisationsform, Inhalt, Ort und
Zeit. Temporäre Arbeitsverhältnisse verschiedenster Art, allmählich
auch ortsflexible Arbeitsmöglichkeiten, gewinnen weiter an Gewicht.
Für Frauen mit Kindern ergeben sich hierdurch möglicherweise neue
Chancen zur Beteiligung an Erwerbsarbeit, z. B. über zeitliche Flexibilität, Heimarbeit, Selbstständigkeit. All diese neuen Arbeitsformen sind
jedoch – vielfach im Gegensatz zu den Behauptungen der Anbieter –
nicht ohne weiteres günstig zur Vereinbarkeit, oft ungünstig. Frauen
können durch unplanmäßige Arbeitseinsätze, Überstunden oder termingebundene Heimarbeit weitaus stärker unter Zeit- und Verantwortungsdruck geraten als bei Normalarbeitsverhältnissen mit geregelter Arbeitszeit und fester Kinderbetreuung außer Haus.
Lebenslange Weiterbildung ist Trend. Einmal erworbene Berufsqualifikationen sind schon seit längerer Zeit in vielen Bereichen nicht mehr
lebenslang anwendbar. Erfahrungswissen wird durch moderne Information(-stechniken) ersetzt. Berufsinhalte und -strukturen wandeln sich,
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veränderte Basis- und Schlüsselqualifikationen gewinnen in vielen Branchen an Bedeutung. Prognosen sagen Gesamttendenzen zu höheren
Qualifikationsanforderungen bei weiter abnehmenden angelernten Tätigkeiten voraus. Durch die schnelllebigen Trends zum Wissens- und
Technisierungsverschleiß treten massenhaft Entwertungen von Qualifikation auf. Diese werden in Ostdeutschland durch die Transformation
des westdeutschen Wirtschafts- und Bildungssystems stark verschärft
und bundesweit durch Arbeitslosigkeit auch in solchen Berufen vergrößert, die an sich noch „brauchbar“ wären. Gleichzeitig sind Trends zum
Gewinn an Qualifizierung, Information, Erfahrung und Persönlichkeitsreife bei den ArbeitnehmerInnen, die sich bildungs- und aufgabenbezogen flexibel halten, unverkennbar. Der Druck zur Weiterbildung bzw.
Information, zum Wechsel von Arbeitstätigkeiten und -orten, zu flexiblem und mobilem Verhalten hat einerseits viele belastende Aspekte, aber
andererseits auch persönlichkeitsfördernde.
Die fortschreitenden Wissens- und Technisierungstendenzen müssen
von den Erwerbstätigen über Weiterbildungsmaßnahmen, Zusatzqualifikationen, Umschulungen, mehrfache und höhere Bildungsabschlüsse
abgefangen werden. Wer nicht mithalten kann, dessen Arbeitsmarktchancen sinken rapide. Umgekehrt werden bei Bewerbungen zusätzliche
Zertifikate als Ausdruck von Flexibilität des Bewerbers angesehen. Ostdeutsche Frauen mit Berufsabschluss sind entsprechend vielen einschlägigen Untersuchungen in der Gesamttendenz sehr - sogar stärker als
Männer - weiterbildungsbereit, um ihren/einen Arbeitsplatz zu erhalten.
Problem ist jedoch, dass Mütter von zu betreuenden und erziehenden
Kindern sehr große Mühe haben, hierbei konkurrenzfähig zu Männern
zu bleiben. Familie oder Beruf geraten leicht ins Hintertreffen, wenn
Weiterbildung außerhalb von Arbeitszeit oder Wohnort liegt bzw. kostenintensiv ist. Für viele stellt sich dann gerade aus solchen Gründen die
Entscheidung: Beruf oder Familie? – was für ostdeutsche Frauen neu ist.
Sie entscheiden sich dann eher gegen (weitere) Kinder und für Erwerbsarbeit einschließlich der Perspektive einer ständigen Weiterbildung.
Das alte „Normalarbeitsverhältnis“ zerbricht immer mehr (unbefristete qualifikationsgerechte Vollzeitbeschäftigung in einem Unternehmen
nach fester Arbeitszeitvereinbarung auf 8-Stunden-Tag-Basis, in dauerhafter Anstellung über 40 bzw. 45 Jahre). Das löst sich auf zugunsten
von befristeten Arbeits-/Werk-/Honorar-/Projekt-Verträgen mit variabler
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
und Teil-Arbeitszeit, oft unterhalb der Qualifikation, mit Wechsel zur
Arbeitslosigkeit, häufig mit ungenügender sozialer Absicherung.
Heute sind bundesweit mindestens für ein Drittel der Beschäftigten
die alten Normalarbeitsverhältnisse weggebrochen (Zukunftskommission
1998, S.227), die berechenbarer waren, besonders für Frauen in bezug
auf die Vereinbarkeit mit einer Familie. Die neuen Arbeitsverhältnisse
sind variabler, flexibler, diffuser und insgesamt gesehen perspektivisch
weniger berechenbar für Vereinbarkeit. Als aktuelle Variante, am Erwerbsleben überhaupt teilnehmen zu können, sind solche flexiblen Arbeitsverhältnisse mitunter eine Chance für Mütter. Vom Wegbrechen des
Normalarbeitsverhältnisses sind auch Männer betroffen. Aber insgesamt
gesehen geraten Frauen häufiger und zunehmend in unsichere, oft nicht
existenzsichernde Arbeitsverhältnisse – über zeitliche Befristung, den 2.
Arbeitsmarkt, (Schein-) Selbstständigkeit, geringfügige Beschäftigung,
Heimarbeit, Leiharbeit usw. (vgl. auch Frauen in... 1998, S. 11). In Ostdeutschland geschieht das besonders häufig unterhalb ihrer guten Qualifikation (ostdeutsche Frauen bis etwa zum 50. Lebensjahr besitzen das
gleiche, hohe, Qualifikationsniveau wie ostdeutsche Männer). Das bedeutet oft zu wenig Verdienst, um die Familie mit Kindern ausreichend versorgen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ost-Einkommen
geringer als die im Westen sind und Frauen 43% des Familieneinkommens aufbringen (Drauschke 1999, S. 109, Sozialreport 1999). Neue
Formen von Erwerbsarbeit entkoppeln zunehmend Einbeziehung in den
Arbeitsmarkt und existenzsicherndes Einkommen (Zukunftskommission
1998, S. 305).
All diese Prozesse der Veränderung von Arbeit sind von einer ungeheuren Tempobeschleunigung gekennzeichnet. Das heißt, Techniken,
Wissen und Erfahrungen verschleißen im Zuge der gegenwärtigen und
künftigen Wissenschafts- und Technisierungsentwicklung, speziell der
neuen Informationstechniken, rascher, menschliche Erfahrung tritt gegenüber Technik- und Wissens-Know-How in den Hintergrund.
Frauen mit Familie geraten leicht mehrfach in den Rückstand: Sie
haben generell weniger Zeit und Gelegenheit, sich auf diese Entwicklungen außerhalb einer festgelegten Arbeitszeit einzustellen; sie kommen
bei Fehlzeiten (Kinderkrankheiten usw.) oder nach dem Erziehungsurlaub nicht selten in fachliche Rückstände. Unterstellt wird ihnen das
häufig auch dann, wenn sie Arbeitsunterbrechungen verkürzen (z. B. nur
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1 Jahr Erziehungsurlaub beanspruchen) oder zur Weiterbildung nutzen
– was in Ostdeutschland zunehmend geschieht. Hier wirken Vorurteile.
Untersuchungen belegen schon heute, da die neuen Formen der Arbeitsorganisation, speziell die Informationstechnologien, noch am Anfang
stehen, dass der Trend zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse für
Frauen sowohl Chancen als auch Risiken bringt. Das gilt nicht nur für
Vereinbarkeit, sondern für das Geschlechterverhältnis überhaupt. Chancen liegen im Einstieg in die neuen Berufe, beispielsweise im Multimediabereich. Die bisherigen Erfahrungen haben ergeben, dass sich dieses
nicht im Selbstlauf zu Gunsten der Frauen ändert, sondern im Gegenteil
zu deren Ungunsten, wenn sie zu wenig dafür tun.
Die meisten Männer mit Kindern nehmen für sich in Anspruch, Anpassungsleistungen an die hochgradig flexibilisierte Arbeitswelt letztenendes ohne Rücksicht auf die Familie zu bringen. Obwohl sich Differenzierungen bezüglich einer gemeinsam zu tragenden Vereinbarkeit von
Erwerbsarbeit und Elternschaft während der letzten Jahrzehnte nachweisen lassen, hat sich im generellen Trend nichts Grundlegendes geändert. Vereinbarkeit ist in der allgemeinen Tendenz vor allem Frauen-,
weitaus weniger Männersache. Beispielsweise leisten bundesweit Mütter
täglich fast 6 Stunden Haus- und Familienarbeit, Väter etwa die Hälfte.
Männer „unterstützen“ vielfach bei der Vereinbarkeit, ziehen sich aber
häufig sehr rasch aus der familiären Vereinbarkeitsverpflichtung zurück,
wenn es dabei ernsthafte Probleme gibt. Die Mehrheit der Frauen, auch
in Ostdeutschland, fördert das allerdings, gibt unter Entscheidungszwang der Erwerbsarbeit des Mannes den Vorrang - soweit überhaupt
eine Entscheidungsmöglichkeit vorhanden ist. Die Entscheidung Beruf
oder Familie steht für Männer selten, offiziell und in der öffentlichen
Meinung gar nicht. Bei all diesen Trends gibt es allerdings individuellfamiliäre und auch Ost-/West-Unterschiede.
2. Erfahrungen mit der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf
Frauen in Ostdeutschland streben generell und in Westdeutschland zunehmend nach einer langanhaltenden Erwerbstätigkeit im Leben, unabhängig von Verheiratung und „Versorgungsleistungen“ eines Eheman-
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
nes. Das heißt, junge Frauen wollen nach ihrer beruflichen Ausbildung
über weite Zeiträume ihres arbeitsfähigen Alters erwerbstätig sein. Darüber hinaus möchten die meisten Frauen eine eigene Familie mit Kindern haben. Das erfordert günstige Bedingungen zur Vereinbarkeit von
Familie/Elternschaft und Beruf im gleichen Zeitraum (wie in Ostdeutschland bisher üblich) oder nacheinander in unterschiedlichen Lebensphasen (wie bisher mehr in Westdeutschland üblich) oder Verzichtsbereitschaften im Rahmen der Rollen als Erwerbstätige bzw. Elternteil.
Gegenwärtig gehen die Tendenzen allerdings in Ost- wie in Westdeutschland eher in Richtung erzwungener Verzichtsbereitschaften.
Im folgenden wird versucht, allgemeine Tendenzen zu beschreiben,
die sich bei einzelnen Frauen(-gruppen) ganz anders darstellen können.
Landfrauen beispielsweise hatten schon immer Kinder und Landarbeit
im gleichen Zeitraum zu bewältigen. Nicht wenige hochqualifizierte
westdeutsche Frauen in höheren Positionen vereinbaren Beruf und Familie über spezielle, meist erkaufte, Rahmenbedingungen. Aber es geht
hier um Trends bei Mehrheiten.
Im Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit ist heute viel von „neuen
Lebensentwürfen“ die Rede. Die neuen Lebensentwürfe der jungen Frauen in Westdeutschland bedeuten: Heraustreten aus den Hausfrauenrollen, wie sie vielfach die Müttergeneration noch innehatte, Hinwenden
zur Berufsrolle, aber auf Kinder möglichst nicht verzichten. Möglichkeiten und Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit schaffen sich westdeutsche Frauen, anders als ostdeutsche, durch häufigere Teilzeitarbeit, verbreitetere private, statt öffentliche Kinderbetreuung - besonders im Alter
bis zu 3 Jahren (teils erzwungen über die regionale Ausstattung mit
Kindertagesstätten bzw. deren Öffnungszeiten), längere Baby- und
Kleinkind-Pausen, eine häufigere Anreihung mehrerer Erziehungsurlaube. Man muss aber auch festhalten, dass sich westdeutsche Frauen
schon länger als ostdeutsche zu einer Entscheidung: Beruf oder Kind?
gezwungen sehen, vor allem bei Karriereabsichten.
Hervorgehend aus Unterschieden in den Traditionen von Lebensentwürfen der Mütter-/Großmüttergenerationen in West und Ost (als Hausfrau oder Erwerbstätige), in den verbreiteten öffentlichen Wertvorstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern, in der Haltung der Partner
dazu sowie den Rahmenbedingungen zur Kinderbetreuung und sonstigen
Unterstützung von Vereinbarkeit sind die Haltungen der west- und ostdeutschen Frauen zu dieser Problematik heute bei aller Annäherung
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noch nicht gleich. Obwohl die jüngere Generation bundesweit am liebsten Erwerbstätigkeit und Kinder hätte, „kämpfen“ viele ostdeutsche
Frauen mehr um die Vereinbarkeit (sind in organisatorischen Fragen
diesbezüglich auch geübter und werden meist von ihren Lebenspartnern
unterstützt) oder sie wählen bei einer notwendigen Entscheidung eher
die Berufsarbeit als die Geburt eines Kindes (vgl. Sass/Jaeckel 1996, S.
73 ff; Hildebrandt/Wittmann 1996, S. 36 ff). Das heißt, der Unterschied
zeigt sich im Grad der Identifizierung von großen Mehrheiten mit dem
Beruf: Bei ostdeutschen, hier auch älteren Frauen, ist das Streben nach
Vereinbarkeit intensiver, es hat eine positiv erlebte/vermittelte Tradition, und bei Unvereinbarkeit geht die Entscheidungstendenz heute eher
zum Beruf, aber nur notgedrungen. Wenn anhaltend kein Arbeitsplatz zu
bekommen ist, zieht sich inzwischen nur ein geringer Teil ostdeutscher
Frauen resignierend auf Gelegenheitsjobs oder staatliche Unterstützungen zurück. Die weitaus meisten halten ihren Erwerbsanspruch aufrecht.
Eine sehr geringe Minderheit junger ostdeutscher Frauen will ihre Identität als Frau auf der Skala: „Nur Beruf – Beruf und Familie – nur Familie“ lediglich aus der Familie beziehen. In Westdeutschland sind das
immer noch mehr Frauen, aber weniger diejenigen mit höherer Bildung.
Bei diesen polarisiert sich die Entscheidung für nur Beruf oder nur Familie deutlicher; nur ein Teil von ihnen sieht durch ausreichendes Einkommen gute Chancen, auch private Kinderbetreuung zu bezahlen.
In Ostdeutschland sind die Lebensentwürfe nach der Wende wesentlich differenzierter als vorher geworden, die Bedingungen dafür weniger
eng und starr. Restriktionen – was erwartet wird – sind zunächst entfallen, wurden aber versucht in umgekehrter Richtung wiederaufzubauen:
In der DDR sollte eine gesunde Frau im arbeitsfähigen Alter möglichst 2
Kinder haben und in Vollzeit berufstätig sein; aus demographischen und
wirtschaftlichen Gründen (hoher Arbeitskräftebedarf) sowie der Zielstellung „soziale Gleichheit von Frau und Mann“ gab es für die Vereinbarkeit staatliche Unterstützungen. Heute gibt es Versuche, Frauen mit
und ohne Kind „freiwillig“ an den Herd zurückzudrängen - erfolglos, wie
man inzwischen sieht. Die ostdeutschen Frauen gingen nicht ab vom
Anspruch auf Erwerbsarbeit, gleichberechtigt zu den Männern. Auch die
„eigentlichen“ Kinderwünsche sind stabil geblieben: mehrheitlich 2 Kinder, teils 1 Kind, kaum mehr. Stark verändert hat sich die Realisierung
dieser Wünsche: auf spätere Jahr/späteres Lebensalter verschoben oder
reduziert. Aber trotz aller neu entstandenen Probleme am Arbeitsmarkt
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
ist die partnerschaftliche Familie mit 2 Erwerbspersonen und 2 Kindern
unter den Ostdeutschen noch die am meisten verbreitetste und gewünschte Familienform (Sozialreport SH1+2 1998, S. 54; Zukunftskommission 1998, S. 331). Der Anspruch auf Erwerbstätigkeit wird von ostdeutschen Frauen bei Mutterschaft unabhängig von Alter und Zahl der
Kinder aufrecht erhalten. Bei der Nachwende-Jugend deuten sich jedoch
bereits Veränderungen in den Wertorientierungen an: Stand in der Skala
von hauptsächlichen Lebenswerten vor der Wende die Familie (Kinder
haben) an der Spitze vor dem Beruf, ist die Erwerbsarbeit (erwerbstätig
sein) – bei immer noch hohem Wert „Kind(er)“ - heute deutlich wichtiger
(Bertram 1997, S. 34 und 72; Bertram/Schröpfer 1999, S. 39; Sozialreport
II/98, S. 7).
In Ostdeutschland trat schon die heutige Mütter- und Großmüttergeneration der jungen Frauen (die gegenwärtig 40- bis 60/70Jährigen) aus
der traditionellen Hausfrauenrolle heraus. Ihre Probleme mit der Vereinbarkeit lagen vor allem außerhalb der Arbeit: zu viel Zeitaufwand und
Mühe nach einem langen Arbeitstag für die tägliche Versorgung der Familie, generelle Versorgungslücken beim Handel, ungenügende familiäre
Arbeitsteilung – obwohl sich im Laufe der Jahrzehnte bei letzterer bestimmte Veränderungen durchsetzen ließen. Unter diesen Bedingungen
stiegen Teilzeit-Wünsche rapide an, vor allem Ende der 80er Jahre.
Gleichzeitig sanken die Geburtenzahlen (rückläufige Mehrkindfamilien).
Besonders deutlich wurden bei den karrierebewussten Studentinnen/Akademikerinnen wachsende Tendenzen, auf das 2. Kind zu verzichten und teilweise auch den Geburtszeitpunkt des 1. Kindes bewusst in
die Studienzeit vorzuverlegen, um dann ohne größere Unterbrechungen
die Berufslaufbahn gehen zu können. Das war schwer, aber mit viel universitärer und staatlicher Unterstützung in einigen Fachrichtungen
möglich. Heute sind StudentInnen mit Kind wieder die Ausnahme geworden.
In Ostdeutschland vereinbart demnach jetzt bereits die 3. Frauengeneration Beruf und Familie als üblichen Lebensentwurf in Form einer
generellen Erscheinung. Die Probleme dabei sind anders, aber einige
wesentliche Merkmale blieben über die Jahrzehnte und die politische
Veränderungen hinweg gleich: 1. Lösungen haben weitgehend auf individuell-familiärer Basis zu erfolgen, trotz aller Unterstützung, die irgendwie nie ausreicht(e). 2. Vereinbarkeit ist vor allem ein Mütterproblem (Vereinbarkeit von Mutterschaft, kaum Vaterschaft, und Beruf).
Barbara Bertram
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Auch bei Unterstützung durch den Partner sind die Belastungen der
Frauen ungleich höher.
Die hauptsächlichen Probleme, die ostdeutsche Frauen bei der Vereinbarkeit heute haben, liegen im Arbeitsprozess und außerhalb. Sie
betreffen: 1. die Verfügbarkeit für den Arbeitsplatz (deren Umfang, die
Planungsmöglichkeiten von Überstunden, nicht selten auch die Arbeitsintensität – ohne Pausen bei hohem Arbeitsanfall), 2. die Organisierung
und Bezahlung der Kinderbetreuung, vor allem bei differenzierten Arbeitszeitsystemen, denen die Kita-Öffnungszeiten nicht entsprechen,
oder bei Kinder-Krankheit.
Das sind Probleme, die westdeutsche Frauen auch haben - etwas abgewandelt durch die häufigere Teilzeitarbeit einerseits und die immer
noch nicht flächendeckenden Kinderbetreuungseinrichtungen bzw. deren
Öffnungszeiten andererseits. Bis etwa Mitte der 90er Jahre wurden in
Westdeutschland ca. 80% aller Kindergartenplätze nur als Halbtagsplätze angeboten - für weniger als eine Halbtagsarbeit infolge der Schließung
über Mittag und der maximal 4-Stunden-Regelung. Bis heute sind diese
Dinge noch nicht in allen, v. a. ländlichen Regionen entsprechend den
Erwerbsabsichten der Frauen realisiert. Aber auch in Ostdeutschland
deuten sich neue Probleme bei der öffentlichen Kinderbetreuung an:
Schließungen von Einrichtungen verlängern die Wege mit dem Kind,
problematisieren den Wiedereinstieg nach Arbeitslosigkeit, ergeben längere Wartezeiten auf einen Platz. Verteuerungen der Elternbeiträge sind
ein zunehmendes Problem für Geringverdienende, besonders für viele
Alleinerziehende. Teilzeitregelungen für das Personal unterschreiten
vielfach schon die Qualitätsgrenze der Betreuung.
Ostdeutsche junge Eltern bevorzugen trotzdem nach wie vor die öffentliche Kinderbetreuung (kaum Tagesmütter wie westdeutsche), auch
vor dem 3. Lebensjahr. Junge Eltern, die zu DDR-Zeiten selbst die Kinderkrippe besuchten, betrachten diese mehrheitlich für ihr Kind als
Selbstverständlichkeit. Es gibt hier eine Tradition mit überwiegend positiven Erfahrungen – 1989 besuchten in der DDR 80% der Kinder von 1-3
Jahren die Kinderkrippe (Frauenreport 90, 1990, S. 141). An dieser Tradition konnten auch die Verteufelungen nach der Wende nichts ändern.
Andere Betreuungsmöglichkeiten werden im allgemeinen Trend bis heute eher als Ergänzung gewünscht. In den letzten Jahren traten vor allem
ostdeutsche Großeltern - auch vereinbarkeitsgeübte Großväter – neu in
die Kinderbetreuung ein. Vor der Wende standen sie dafür nicht zur Ver-
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
fügung, ähnlich anderen Verwandten, da selbst im Arbeitsprozess stehend. Heute sind sie vielfach arbeitslos oder in Frühverrentung, und die
Enkel sind jünger durch das nach oben verlegte Lebensalter der Eltern
bei Geburten gegenüber DDR-Zeiten.
Zu betonen ist die Rolle der Ehe-/Lebenspartner bei der Vereinbarkeit. Untersuchungsergebnisse belegen, dass ostdeutsche Männer die
Erwerbstätigkeit der Frauen, auch ihrer eigenen Partnerin, eindeutiger
befürworten und real stärker unterstützen als westdeutsche (Hildebrandt ...a.a.O.). In Westdeutschland noch vorzufindende Aussagen:
„Meine Frau hat es nicht nötig zu arbeiten, ich verdiene genug.“, kann
man von Ostdeutschen schon lange nicht mehr hören, und die Frauen
würden sich dagegen wehren. Ostdeutsche Frauen plan(t)en und realisier(t)en vor wie nach der Wende ihren Lebensentwurf und ihre Erwerbstätigkeit generell mit den Männern (Partner, Kollegen) – anfangs
sehr zum Unverständnis mancher westdeutschen Frauenforscherinnen,
die nicht zu Unrecht mehr Eigenständigkeit im Kampf um reale Gleichstellung anmahnten. Aber – bei aller noch vorhandenen Ungleichheit, die
nicht wegdiskutiert werden darf – muss festgehalten werden: Ohne das
Aufeinander-Einstellen der Partner, ohne das Mitziehen der ostdeutschen Männer in Familie und Betrieb hätte die Frauenerwerbstätigkeit
in der DDR nicht solche Ausmaße annehmen können (über 90 % der
Frauen im arbeitsfähigen Alter waren in Arbeit oder Ausbildung). Die
damalige familiäre Arbeitsteilung war noch ungenügend, die Stellung
der Frauen im Arbeitsprozess den Männern nicht gleich, das Versorgungsumfeld oft vereinbarkeitshemmend - was von den Frauen sehr kritisch gesehen wurde (nachzulesen in vielen wissenschaftlichen DDRQuellen). Trotz der Mängel waren der erreichte Stand von Arbeitsteilung
und das Zusammengehen der Frauen mit den Männern neben der öffentlichen Kinderbetreuung und staatlichen Unterstützung sehr entscheidende Voraussetzungen für Vereinbarkeit. Die Vereinbarkeit ist
unter den Bedingungen des allgemein verbreiteten „Normalarbeitsverhältnisses“ ohne einen nichterwerbstätigen Partner im Hintergrund erreicht worden. Dieser Stand wurde bisher weder im damaligen West-,
noch im heutigen Gesamtdeutschland erlangt. Trotz ihrer Probleme besaßen die DDR-Frauen hier einen Gleichstellungsvorsprung.
Die Erfahrungen in Westdeutschland zeigen, dass dies unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ohne Kitas und öffentliche Unterstützung
für Familien mit Kindern generell nicht möglich war: „... das Normalar-
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beitsverhältnis setzt voraus, dass hinter jedem, der sich an ihm als Vollzeitbeschäftigter beteiligt, eine zweite Person steht, die den Rücken freihält für die Organisation des Alltagslebens, die Versorgung und Pflege
der Kinder und älterer Angehöriger.“ (Winker 1998, S. 19)
Gegenwärtig deuten sich insgesamt gesehen zwei Trends zur Bewältigung von Vereinbarkeit an:
• über Auflösung/Ablehnung des Normalarbeitsverhältnisses (Vereinbarkeit vor allem durch Teilzeit, familiengünstige Arbeitszeiten und orte) oder
• über Ausdifferenzierung der bisher üblichen einseitigen Rahmenbedingungen in West- wie auch in Ostdeutschland.
Das heißt, ein Normalarbeitsverhältnis könnte durchaus mehrheitlich von beiden Elternteilen mit Kindern ohne eine ständige Betreuungsperson im Hintergrund vereinbart werden, wenn genügend bezahlbare
öffentliche Betreuungseinrichtungen zu flexibleren Zeiten von hoher
Qualität nutzbar sind. Andere Betreuungspersonen aus der Familie
könnten in diesem Fall die zusätzliche Rolle einnehmen. Es ist jedoch
nicht zu übersehen, dass es eher andere gesellschaftliche Trends gibt,
indem vor allem den ostdeutschen Frauen (und Männern) zu hohe Ansprüche an Arbeitsplätze vorgeworfen werden.
Die positiven Erfahrungsseiten mit der Vereinbarkeit sind in ostdeutschen Familien noch heute tragfähig, da sie auch von der Elterngeneration an die jüngere übertragen werden (Vorbildwirkungen der Väter
usw.). Es gibt von Anbeginn nach der Wende Bemühungen, die Familien
enger zusammenzuschmieden, um die Erwerbstätigkeit einzelner Familienmitglieder abzusichern. Das betrifft heute vielfach auch die arbeitende Mutter durch den arbeitslosen Vater. Individuelle „Prestige“Ansichten der Männer und vorrangige Rollenzuschreibungen auf Beruf
erschweren das allerdings, denn Frauenerwerbsarbeit neben dem Mann
wird durchweg als „normal“ empfunden, anstatt des Mannes noch nicht
überall. Umgekehrt entwickeln sich andere Tendenzen: Bei aufrecht erhaltenem Anspruch der Frauen (und Männer) an die Frauenerwerbstätigkeit treten die Frauen beruflich eher zugunsten ihrer Ehepartner zurück, wenn sich Vereinbarkeit unter den neuen Arbeitsbedingungen
schlecht lösen lässt. Genau genommen war das aber schon zu DDRZeiten so: Frauen leisteten im Interesse der Vereinbarkeit häufiger Verzicht als ihre Ehemänner: Sie veränderten ihren Arbeitsplatz oder –ort
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
zugunsten der Berufsarbeit des Mannes, gaben Karriereabsichten auf
usw.
Die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit differenzieren sich heute sehr
stark nach der Haltung von Lebenspartnern, nach Arbeitszeitregelungen
und dem Einkommen der Familien. Wer über ausreichendes Einkommen
verfügt, kann sich die notwendige Kinderbetreuung kaufen. Auch dadurch lassen sich Vereinbarkeitsprobleme nicht generalisieren, stets nur
Tendenzen feststellen.
10 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist immerhin klar, dass die
ostdeutschen Frauen in ihrem Anspruch auf Erwerbsarbeit nicht zurückgehen und westdeutsche Frauen hierbei immer mehr zulegen. Das
hat vor allem, aber bei weitem nicht nur, materielle Gründe. Frauen
wollen heute arbeiten aus dem Streben nach Selbstständigkeit, Kontakten, Kommunikation, Einbeziehung, Gebrauchtwerden außerhalb der
Familie, Anerkennung. Indem die eingangs erwähnten Technisierungsund Globalisierungstendenzen immer mehr hochqualifizierte Arbeitsplätze für immer weniger Arbeitskräfte mit hohem Veränderungspotential bringen, sind auch immer mehr (west- wie ostdeutsche) Frauen gezwungen zu arbeiten und sich dafür fit zu halten. Eher als auf Erwerbsarbeit wird daher tendenziell auf die andere Seite der Vereinbarkeit verzichtet, vor allem in Ostdeutschland. Unter den Gründen für den dortigen Geburtenrückgang rangieren auf Platz 1-3: 1. Angst vor Arbeitslosigkeit, 2. steigende Kosten für Kinder, 3. fehlende soziale Absicherung
(Sozialreport II/98, S. 7). Für die allgemeine Zufriedenheit im Leben ist
die Erwerbstätigkeit (Arbeit haben/nicht haben und die Art des Beschäftigungsverhältnisses) inzwischen zum hauptsächlichen Differenzierungsfaktor geworden (Kurz-Scherf 1999).
Es ist nicht mehr wegzudiskutieren, dass die Erwerbsarbeit heute
und in Zukunft fest zum Lebensentwurf der bundesdeutschen jungen
Frauen in Ost und West gehört. Das sollte von allen politischen Richtungen akzeptiert und in alle Überlegungen zum Arbeiten in der Zukunft
einbezogen werden. Denn fest steht, dass die gegenwärtigen Marktbedingungen die Vereinbarkeit von Elternschaft und Erwerbsarbeit beider
Partner nicht begünstigen - nicht nur in bezug auf Kinder, sondern vor
allem wegen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und den schwierigen Wiedereinstiegsbedingungen für Frauen in den 1. Arbeitsmarkt.
Die Trends der Erwerbsverläufe von Frauen in Ost und West während der letzten 10 Jahre sind unterschiedlich. Seit 1990/91 nahmen die
Barbara Bertram
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Erwerbstätigenquoten der ostdeutschen Frauen ab (Anteile der 1860jährigen Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung). Sie
lagen 1997 in Ost nur noch bei 63%, in West sind sie bis 59% angestiegen. Hier gibt es für die ostdeutschen Frauen eine Negativ-Angleichung.
Nicht so stark ist das bei den Erwerbsquoten, die Arbeitslose einschließt,
also alle Frauen mit Erwerbsanspruch erfasst (Anteil der 15-65jährigen
Erwerbspersonen [Erwerbstätige plus Erwerbslose] an der gleichaltrigen
Wohnbevölkerung). Die Erwerbsquoten lagen 1997 in Ostdeutschland bei
73%, in Westdeutschland bei 60% (Beckmann/Engelbrech1999 , S. 216).
Diese Zahlen verdeutlichen, dass der Anspruch der Frauen auf einen
Arbeitsplatz in Ostdeutschland wesentlich höher als die Realität ist,
während dieser in Westdeutschland annähernd erfüllt wird. Das erklärt
sich einerseits durch das unterschiedliche Ausgangsniveau, andererseits
durch den Anstieg von Frauenarbeitsplätzen in West (vor allem im
Dienstleistungsbereich und als Teilzeit-, oft geringfügige Beschäftigung),
gegenüber dem Abbau in Ost. Nach Quellen des Statistischen Bundesamtes waren 1998 in Deutschland West 11.3 Mill. Frauen abhängig beschäftigt, in Ost 2.8 Mill. mit einer durchschnittlich höheren Wochenstundenzahl. Hauptbereiche sind in West wie Ost Private und öffentliche
Dienstleistungen (insgesamt 69%), Handel/Gastgewerbe, Banken/Kredit/Versicherungswesen (jeweils über 50% - vgl. Frauenquoten, 1999, S.10).
Das sind aber auch die Bereiche, in denen es in Ostdeutschland Ende der
90er Jahre die meisten Entlassungen von Frauen gab, wo Firmenpleiten
neben Expansion stehen und wo die Verdrängung durch Männer anhält.
In den handwerklich-technischen Bereichen liegen die Frauenanteile
ohnehin unter einem Drittel oder unter 10%.
Was die genannten Beschäftigungszahlen nicht ausdrücken, ist eine
ungeheure Dynamik verschiedenartiger Prozesse: z. B. Wechsel zwischen
Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, Wechsel zwischen verschiedenen
Berufen, Branchen und Arbeitsplätzen, zwischen Voll- und Teilzeit u.a..
Das geschieht in den neuen Ländern noch immer weitaus häufiger als in
den alten und besonders bei Frauen. Da die Arbeitsmarktsituation den
oben erwähnten Wünschen vieler Frauen nach Normalarbeitszeit und
Absicherung der Kinderbetreuung nicht entspricht, sind die Frauen zu
vielerlei Kompromissen bereit, um am Erwerbsleben teilnehmen zu können - und zwar noch häufiger und weitgehender als Männer, wie verschiedenste Untersuchungen der letzten Jahre zeigen (z. B. am Deutschen Jugendinstitut München/Leipzig, am SFZ Berlin-Brandenburg;
38
Neue Formen der Arbeitsorganisation
vgl. auch Pfarr 1999, S. 17). Die Alternative, keine Arbeit zu haben, erhöht die Bereitschaft, sich für den Beruf/Job, flexibel und fit zu halten,
größere Anstrengungen zu akzeptieren, familiäre Belastungen im Sinne
der Vereinbarkeit auf sich zu nehmen, berufliche Nachteile wie Qualifikations- und Geldeinbußen hinzunehmen u.a. Insofern nehmen Tendenzen zu immer kürzer befristeten Arbeitsverträgen zu, ferner zur (in Ostdeutschland weitgehend unerwünschten) Teilzeitarbeit, zu Arbeitsverträgen unterhalb der Qualifikation, Arbeitszeitregimen, die mit der Familie schlecht vereinbar sind, Niedriglohnjobs unter dem Existenzniveau
oder einem dauerhaften Abschieben auf den 2. Arbeitsmarkt. Es deutet
sich dabei schon an, dass die neuen Formen der Arbeitsorganisation in
ihrer realen Handhabung zumindest ambivalente Wirkungen für Frauen
auslösen und nicht schlechthin Chancen bieten.
3. Zu einigen neuen Formen der
Arbeitsorganisation im Einfluss auf
Vereinbarkeit an Beispielen
Unter dem Blickwinkel der Vereinbarkeit werden aus der Vielzahl neuer
Formen der Arbeitsorganisation drei typische Veränderungstendenzen
herausgehoben, die bereits eine Rolle spielen und bei denen sich ambivalente Wirkungen zeigen. Es sind Veränderungen nach Zeit, Arbeitsort
und Arbeitsinhalt. Dabei wird hier die eigentlich wichtigste Veränderung
ignoriert - der weiter anhaltende und prognostizierte Abbau von Arbeitsplätzen, dessen Ausgleich durch Neugründungen bisher nicht in Sicht
ist: Ohne Arbeitsplatz gibt es weniger geplante Kinder, unter den Bedingungen immer knapper werdender Arbeitsplätze eine immer härtere
Konkurrenz um die Verbleibenden und eine immer problematischere
Vereinbarkeit. Nur in diesem Kontext kann das Folgende vollständig
betrachtet werden.
Veränderung der Arbeitsinhalte
Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien werden den
Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft beschleunigen und tief
in einzelne Arbeitsfelder eingreifen. Die klassischen Dienstleistungen
werden nicht nur innerhalb des eigentlichen Dienstleistungsbereichs zu
Barbara Bertram
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finden sein, sondern zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbereichen
(produktionsnahe Dienstleistungen). Der Dienstleistungsbereich selbst
verändert sich: primäre Dienstleistungen (Verkauf, Büro, Lager, Versand, Transport, Reinigung, Bewirtung usw.) nehmen ab, sekundäre zu
(Managen, Forschen/Entwickeln, Betreuen, Pflegen, Beraten, Lehren,
Informieren usw.). Zwischen Produktion und Dienstleistungsbereichen,
speziell Wissen und Information, kommt es zu engeren Verknüpfungen.
Auf Grundlage der neuen Informations- und Kommunikations-(IuK-)
Technologien wird Information zum vierten Produktionsfaktor (Tischer
1999, S. 951-952).
Das alles greift umfassend in die Beschäftigungsstrukturen ein und
verändert alle Bereiche. Es wird Zuwächse an Beschäftigungsmöglichkeiten geben, v. a. über Neuerstellung und Vertrieb von IuK-Technologien, Dienstleistungen und -Berufen, im Multimediabereich, im Infrastrukturbereich (Werbung usw.) und besonders für Hochqualifizierte. Beschäftigungsabbau erfolgt durch a) Rationalisierung von Arbeitsplätzen infolge
erweiterter Techniken/Technologien; b) Ersetzen von Produkten, Verfahren, Leistungen... durch neue, weniger personalaufwendige (z. B. durch
Druckmedien, Postdienste, virtuelle Firmen mit Teleshopping, -banking
usw. - vgl. auch Salimi Asl 1999, S. 2); c) Überflüssigwerden infolge Produktivitätssteigerungen in anderen Bereichen (nicht nur Arbeitsplätze,
sondern umfassende Berufsfelder sind weggefallen und durch EDVgestützte Technologien ersetzt worden, z. B. im Druckereiwesen) sowie d)
besonders für Niedrig-/Falschqualifizierte. Die prognostizierten Zahlen
über das Verhältnis von Beschäftigungszuwachs und -abbau gehen auseinander, werden jedoch eher ungünstiger, je mehr die neuen Technologien bereits wirken.
Obwohl Frauen von Seiten ihrer Bildung, Arbeitseinstellungen, Aktivitäten zu Weiterbildung und Fachkompetenzen in ganz bestimmten
Branchen sehr gute Voraussetzungen für die neuen Beschäftigungsbereiche haben, ist auch hier die Verdrängung durch Männer schon sichtbar.
Die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird härter, und gegen Frauen wirken
bei Bewerbungen vor allem zwei Argumente: ihr notwendiges Engagement für Kinder und Familie (hervorgehend aus dem Rollenbild: „Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf“ – nicht „Vaterschaft und Beruf“)
und ihr geringeres Hinwenden zu technisch orientierten Berufsfeldern was unter heute modernen Berufsbedingungen bereits nicht mehr so
eindeutig ist, wenn man den Umgang mit Computern am Arbeitsplatz
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
oder die „Soft-Technik“-Bereiche ansieht (Frauen zeigen mehr Interesse
an anwenderbezogener Technik und interdisziplinären Technikrichtungen, ähnlich schon zu Vorwende-Zeiten: z. B. Ingenieurökonom usw. in
der DDR).
Gegenwärtig sind die Frauen in den modernen Informations- und
Kommunikationsberufen unterrepräsentiert. Ihr Anteil in den Computer-Kernberufen wird nach einer von der Bundesregierung in Auftrag
gegebenen Studie mit 23% (in den neuen Ländern mit 41%) benannt.
Dieses Ungleichgewicht besteht trotz durchschnittlich besserer Schulabschlüsse von Frauen. Das Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ soll Verbesserungen anregen (Studie 1999, S. 9). Die IuK-Technik wird gegenwärtig
vorwiegend von Männern entwickelt, gestaltet und eingesetzt. Frauen
sind Minderheiten im Entscheidungsbereich, eher Nutzerinnen auf unteren Ebenen (Frauen in ...1999, S. 6-7). Damit setzt sich ein uraltes Problem fort, denn auf einer solchen Basis werden ungünstige Weichen für
die Zukunft gestellt. Die Erfahrung zeigt: Trotz aller Frauenförderung,
Gleichstellungsgesetze oder „Gender-Mainstreaming“-Strategien bevorzugen Männer für verantwortliche/leitende Positionen eher Männer. Nur
wenn Frauen dagegenhalten und wenn (frauenbewegte!) Frauen auf den
Entscheidungspositionen für mehr Frauen auf wichtigen Arbeitsplätzen
und für mehr Lösungen zur Vereinbarkeit sorgen, ändern sich solche
Geschlechterproportionen auf längere Sicht. Es geht nicht nur um gegenwärtige Arbeitsplätze, Mitentscheidungsmöglichkeiten und Verdienstvarianten schlechthin, sondern inzwischen um Privilegien durch
den Einstieg in die neuen IuK-Techniken – Nutzung der umfassenden
Informationsangebote für Beruf und Privat – und damit um Konsequenzen für die Zukunft.
Nicht selten wird Frauen mangelndes technisches Interesse und Verständnis vorgeworfen, wenn es um die modernen Highligth-Berufe oder Arbeitsplätze gehen. Das entspricht aber nur zum Teil der Realität. Zu
Vorwendezeiten waren ostdeutsche Frauen zu wenig, aber häufiger als
westdeutsche in technisch-handwerkliche Berufe integriert. Bei den ostdeutschen ging das inzwischen rapide zurück. Trotz positiver Traditionen
gab es nach der Wende überwiegend negative Erfahrungen in diesem
Bereich (Preiß/Wahler/Bertram 1999, S.23): Massenentlassungen zuerst
und gehäuft bei Frauen, geringere Zugangschancen für Mädchen zu Berufsausbildung und Arbeitsplätzen – außer wenn es bei neuen Bran-
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41
chen/Berufen aktuell zu wenig modern ausgebildete Spezialisten gibt (z.
Zt. z. B. Informatik oder Maschinenbau mit Hochschulabschluss, was
Frauen selten wählen). Diese Erfahrung wiederum zeigt, dass Frauen
ihre Chancen bei neu kreierten Berufen und Arbeitsbereichen schnell
ergreifen müssen, solange noch Bedarf besteht – soweit sie dafür qualifiziert sind. Um das zu erreichen, sind jahrelange Debatten und Überzeugungsversuche nicht mehr sinnvoll, sondern rasches Handeln. Jedoch ist
langfristig nötiger denn je, in Elternhaus und Schule Mädchen ähnlich
Jungen von früher Kindheit an auf Technik zu orientieren - wie das in
Westdeutschland seit langem zur Debatte steht und in Ostdeutschland
auch schon vor zwei Jahrzehnten gefordert wurde (vgl. u. a. Typisch
weiblich... 1989). Aber selbst dies macht die Straße zum Arbeitsplatz für
Frauen mit Kind nicht frei, im Gegenteil. Infolge der sehr differenzierten, weit über den früher üblichen „Feierabend“ ausgedehnten, von Überstunden behafteten Arbeitszeiten in modernen Branchen (im Multimediabereich, aber auch in Banken, Versicherungen u. a.) haben Frauen
mit Kinderbetreuungspflichten große Probleme. Selbst wenn Väter und
andere Familienmitglieder einspringen können, sind die flexiblen Arbeitszeiten oft nicht familienfreundlich. Für alleinerziehende Mütter
bedeutet das häufig den Ausschluss.
Wandel der Arbeitsorte
Andere Formen der Veränderung im Bereich der Arbeit werden mit
„Entzeitlichung und Enträumlichung“ beschrieben. Moderne Informationstechnologien machen die räumliche und zeitliche Trennung von Betrieb/Auftraggeber auf der einen und Arbeit-/Auftragnehmer auf der anderen Seite möglich, auch über Ländergrenzen hinweg. Bilder dazu zeigen den mit Computer, Internetanschluss und Handy ausgerüsteten
Mann arbeitend am sonnigen Strand von Mallorca oder die Frau bei Teleheimarbeit mit spielendem Kind im Zimmer – nicht umgekehrt! Flexible Arbeitsorte bedeuten, dass Fachleute, die von verschiedenen Orten
zusammengeführt werden, ohne räumliches Zusammensein miteinander
kommunizieren und arbeiten können. Das bringt Wandlungen in der
Produktionsweise mit sich, neue Formen von Jobsharing, Jobrotation
und Just-in-time-Arbeit. Standardisierte Massenproduktion wird immer
weiter automatisiert oder in Billiglohnländer verlegt, Lager-Produktion
reduziert, was weitere Arbeitsplatzverluste in Deutschland bringt. Ent-
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
zeitlichung und Enträumlichung führen weiter weg von unbefristeten
Anstellungen der ArbeitnehmerInnen in ein- und demselben Unternehmen. Abhängige Lohnarbeit wird abnehmen zugunsten freier Berufstätigkeit und neuer Selbstständigkeit (Rabe/Schmidt 1999, S. 376-377).
Feste, begehbare Betriebsstandorte können sich in der Zukunft zur virtuellen Organisation entwickeln, mit aktuell abrufbaren Leistungsangeboten.
Das alles kann Frauen mit Kindern nur teilweise und kurzzeitig bei
der Vereinbarkeit helfen. Aufs Ganze gesehen sind die damit verknüpften Anforderungen an fachliche, räumliche und terminliche Disponibilität, an Flexibilität für den Arbeitsauftrag, an Stressresistenz, Anpassungsfähigkeit, Verantwortung und Konkurrenzfähigkeit gegenüber den
Männern eher hinderlich für die Familienarbeit und umgekehrt. Eine
Lösung für Vereinbarkeit auf längere Zeit sind diese neuen Formen weder aus der Sicht der Erwerbsarbeit, noch der Familienarbeit, weil die
Belastungen immens steigen und die “Freiräume“ für die Familie Fiktion
sind. Aber für eine begrenzte Zeit, z. B. im Erziehungsurlaub bzw. im
Kleinkindalter, bei Krankheiten der Kinder oder bei fehlendem KitaPlatz, können solcherlei Flexibilitätsangebote, speziell mit Heimarbeit,
hilfreich sein.
Es zeigt sich jedoch, dass Frauen in Heimarbeit mit Kind ihre individuelle Zeitsouveränität, räumliche Unabhängigkeit bei der Arbeit und
ihr Zusammensein mit der Familie durch Termindruck, sehr hohe Eigenverantwortlichkeit, Isolation von Kollegen, hohe Präsenzerwartungen, oft auch fachliche Einseitigkeit, Abgeschnittenheit von Weiterbildung, von Informationen und Aufstiegsmöglichkeiten erkaufen müssen.
Die Erfahrungen belegen, dass sich Männer bei Heimarbeit – meist in
Vollzeit - von der Familie abschirmen (lassen), um ungestört noch effektiver arbeiten zu können, während Frauen versuchen, bei Heimarbeit
- meist in Teilzeit -, die Familien- und Hausarbeit nebenher zu erledigen.
Das funktioniert auf Dauer nicht (Stiegler 1998, S. 17).
Auch andere Formen der räumlichen Veränderungen von Arbeit
können für erwerbstätige Mütter eher zum Problem als zur Chance werden. Allein schon die insgesamt verlängerten Arbeitswege, besonders in
Ostdeutschland (der Arbeit nachfahren, pendeln), Dienstreisen oder
Fahrten zur Weiterbildung sind nur bei völlig abgesicherter Kinderbetreuung/-aufsicht möglich. Die Tendenz zur Auflösung fester, unbefristeter Arbeitsverträge birgt Risiken: Kann ich meine Familie ernähren,
Barbara Bertram
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genügend versorgen? Die Tendenz zur freien Anbietung der eigenen Arbeitskraft, die VerSelbstständigung als Auftragnehmer verlangt neben
Risikobereitschaft ein absolut flexibles, immer auf der Höhe der Aufgaben befindliches, voll einsatzfähiges Individuum – was mit Kindern
kaum zu leisten ist: Wie soll sich eine Mutter mit Kindern so flexibel,
mobil und zugleich fachlich fit halten? Die Gefahr liegt nahe, dass vorwiegend Männer und Frauen ohne Kinder solche Chancen bei anspruchsvoller, teils einkommensstarker Tätigkeit wahrnehmen können,
während für Mütter allenfalls einfache und trotzdem schwer zu vereinbarende Tätigkeiten oder Arbeitslosigkeit bleiben.
Flexible Arbeitszeit, Teilzeit
Die Trends am Arbeitsmarkt gehen zu zeitlich und räumlich flexibleren
Arbeitsmodellen in Teil- und Vollzeitjobs. Unter der Voraussetzung, dass
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen bei derartigen neuen Lösungen gleichermaßen berücksichtigt und wesentliche Rahmenbedingungen
darauf abgestimmt werden (z.B. variable Öffnungszeiten der Kitas),
können sie über den Abbau von Mehrarbeit und Überstunden sowohl die
Erschließung neuer Arbeitsplätze als auch die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie fördern. Solche Möglichkeiten stellen sich real in Ost- und
Westdeutschland z. Zt. noch unterschiedlich dar. In Westdeutschland
gibt es weitaus mehr und positivere Erfahrungen von ArbeitnehmerInnen mit flexibler Arbeitszeit, auch im Interesse von Vereinbarkeit. Während der letzten Jahre entstanden in verschiedenen Regionen aus Modellversuchen abgeleitete Verträge zwischen Großbetrieben und ArbeitnehmerInnen bzw. deren Vertretungen zur Nutzung von flexibler Arbeitszeit für Familienaufgaben - bei verbleibender Sicherheit des Arbeitsplatzes. In Ostdeutschland ist die Situation noch wenig ausgereift:
Flexible Arbeitszeit hat sich in ihrer Formenvielfalt geringer ausgebreitet, und wo sie besteht, existieren nicht von vornherein vereinbarkeitsfördernden Lösungen. Aber es gibt auch hier bereits Modellversuche zur
Problematik, beispielsweise angeregt durch Gleichstellungsbeauftragte
bei Arbeitsämtern. Eine Reihe von Rahmenbedingungen erschwert in
Ostdeutschland solche Beschäftigungsverhältnisse objektiv oder subjektiv. Viele Unternehmen wagen sich auf Grund der unsicheren Wirtschaftslage nicht an Jahresarbeitszeitkonten heran, das können meist
nur große Arbeitgeber in gesicherter Position tun - meist mit westdeut-
44
Neue Formen der Arbeitsorganisation
schem Stammhaus. Wir stießen bei Unternehmen aber auch auf negative
Beispiele, die nur im Arbeitgeberinteresse geregelt werden: Die Basis
flexibler Arbeitszeiten sind dort sehr häufig Zeitverträge ohne Tarifbezahlung, Urlaubsanspruch usw. Die täglich zu leistende Stundenzahl ist
nicht immer vorher festgelegt. Ein Teil der anfallenden Überstunden
wird weder bezahlt, noch „abgebummelt“. ArbeitnehmerInnen – meist
Frauen – haben keine Mitspracherechte bei der Planbarkeit von täglichen und längerfristigen Überstundenregelungen. Solches ist mit einer
Familie nur bei größeren Kindern oder flexiblem Kinderbetreuungsangebot möglich.
Da es bundesweit hierzu auch beispielhafte positive Erfahrungen
gibt, wären Erfahrungsaustausche sinnvoll, ferner neue Modellprojekte,
z. B. in Zusammenarbeit von Kommunen, Unternehmen und Fachwissenschaftlern, ggf. auf der Basis von Fördermitten. Gleichzeitig erscheint
es notwendig, arbeitnehmerInnen- und frauendiskriminierende Modelle
von flexibler Arbeitszeit in bestimmten Unternehmen stärker öffentlich
zu diskutieren.
Teilzeitarbeit ist für viele Frauen die Möglichkeit, in Erwerbstätigkeit einsteigen oder verbleiben zu können. Die Haltungen der Frauen zur
Teilzeit veränderten sich im Verlauf der letzten 10 Jahre: War der
Wunsch danach zu DDR-Zeiten stets höher als die eingeräumten Möglichkeiten und Ende der 80er Jahre stark ansteigend, glaubten nach der
Wende viele Frauen, v.a. Mütter kleinerer Kinder, hierdurch Beruf und
Familie günstig verbinden zu können. Aber die Erfahrung, dass Teilzeitjobs in Ostdeutschland neben anderen Nachteilen (auf den Gebieten der
gleichberechtigten Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten, des Einkommens und der sozialen Absicherung für später) besonders anfällig für
Stellenabbau und Arbeitslosigkeit sind, reduzierte in den letzten Jahren
die Teilzeitwünsche erheblich. Das ist auch im Zusammenhang mit der
steigenden Erwerbslosigkeit der Männer, den geringeren Familieneinkommen sowie den Diskontinuitäten und Unsicherheiten in den ostdeutschen Erwerbsverläufen zu sehen – wesentliche Ursachen für unterschiedliche Einstellungen und Handhabungen zur Teilzeit gegenüber
Westdeutschland, wo deren Quote höher, der individuell vereinbarte
Stundenanteil aber durchschnittlich niedriger ist (vgl. auch Beckmann/Engelbrech 1999, S. 216-21; Schirmer 1998, S. 9-11). Die vertraglich festgelegte Teilzeitarbeit ist in Ostdeutschland oft nur wenig geringer als Vollzeit (z. B. 6 statt 8 Stunden tägliche Arbeitszeit), real wird oft
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länger gearbeitet als vertraglich geregelt. Auf der anderen Seite steht
geringfügige Arbeitszeit, die in Westdeutschland aber verbreiteter ist.
Etwa die Hälfte der verheirateten Frauen in West- und ein Viertel
(mehrheitlich unerwünscht) in Ostdeutschland arbeitet in Teilzeit (Pfarr
1999, S. 19).
In den aktuellen Wünschen nach Teilzeitarbeit unterscheiden sich
zwar Altersgruppen immer noch ein wenig, aber stets entsprechend ihrer
sozialen und familiären Lage, den Arbeitsplatzangeboten und den zu
befürchtenden künftigen sozialen Unsicherheiten. Einerseits strebt ein
geringer Teil vornehmlich junger ostdeutscher Mütter auf Grund ungünstiger Arbeits-/Wegezeiten nach Teilzeitarbeit, ferner manch ältere
Frau, die sich den steigenden Arbeitsbelastungen nicht mehr voll gewachsen fühlt – und sie können dies wegen entgegenstehender Unternehmensinteressen oft nicht realisieren. Andererseits wird in einigen
Branchen (z.B. Handel) Teilzeitarbeit häufig an AusbildungsabsolventInnen vergeben, die daran kein Interesse haben, weil sie am Anfang
ihres Arbeitslebens „power machen“ und mehr verdienen möchten, um
Selbstständig zu werden. Auch beim geförderten Arbeitsmarkt (LKZ,
ABM usw.) ist der Anteil von Teilzeitarbeit wesentlich höher als von den
Frauen v.a. aus finanziellen Gründen gewünscht. Die Haltungen und
Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit sind insgesamt gesehen ambivalent und
widersprüchlich.
Interessen und Realitäten laufen noch zu wenig zusammen, das zeigt
sich in unterschiedlichen Ausmaßen bundesweit (IAB-Agenda `98,
S.63 ff). Es gäbe einerseits mehr Möglichkeiten, über größere Teilzeitangebote BürgerInnen zur Arbeit zu verhelfen, gepaart mit Überstundenabbau. Andererseits dürfte die Qualität der zu leistenden Arbeit dadurch
nicht in Frage stehen. Das aber ist in verschiedenen ostdeutschen Regionen durch Stellenabbau und Teilzeitarbeit von Angestellten in Kitas
bereits der Fall – es geht auf Kosten der Betreuungsqualität der Kinder!
(Plöger 1999, S. 5) Gleichzeitig müssten an Teilzeitarbeit bessere soziale
Absicherungen geknüpft sein, sonst gehen Vorhaben zu ihrer Ausdehnung schnell an den Interessen der Betroffenen vorbei. 1998 fragten z. B.
nur 3,3% % der Leipziger Arbeitslosen einem Teilzeitarbeitsplatz nach
(Frauen und..., 1998, S. 12). Es gibt bisher zu wenig attraktive Teilzeitangebote (mehr als ½ Stelle, existenzsicherndes Einkommen, gesicherter
Arbeitsplatz für die nächsten Jahre, auf Wunsch planbarer Umstieg in
Vollzeit, auch für hochqualifizierte Positionen). Das ist in Ostdeutschland
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Neue Formen der Arbeitsorganisation
zu wenig der Fall, würde aber den Mut zur Teilzeitarbeit erhöhen, auch
bei Männern, und Familien bei der Vereinbarkeit helfen.
Laut Mikrozensus waren beispielsweise 1998 in der Stadt Leipzig
18,7% der weiblichen Erwerbstätigen in Teilzeitarbeit beschäftigt, ähnlich dem Vorjahr (Statistisches LA des Freistaates Sachsen). Es betraf
v.a. Frauen im Angestelltenverhältnis, weitaus weniger Arbeiterinnen
und keine Selbstständigen. Damit hat sich in den letzten Jahren nichts
am Geschlechterrollenverhältnis verbessert. In den Unternehmen verbindet sich Teilzeitarbeit nur selten mit verantwortungsvollen Positionen
und Karrierelaufbahnen. Zudem ist Teilzeitarbeit oft nicht existenzsichernd, ein Teil dieser Beschäftigten bekommt begleitende Sozialhilfe,
besonders viele alleinerziehende Mütter.
Nicht wenige Teilzeitarbeitende sind nur geringfügig beschäftigt, besonders Frauen. Deutschlandweit wurde der Frauenanteil an diesem
Beschäftigungsverhältnis bereits 1997 auf 75% geschätzt (Tischer 1999,
S. 954). Aber die Dunkelziffer ist groß. Die geringfügigen Beschäftigungen konzentrierten sich am häufigsten auf die Bereiche: Gastronomie,
Reinigungsdienste, Zeitungsvertrieb, Lagerarbeiten/Regalauffüllung,
Schreib-/Bürodienste, Verkaufsaushilfen/Werbung, Pflege/Betreuung/
Haushalttätigkeit. Sie stellten bis 1998 zunehmend nicht nur Hinzuverdienste zu anderen Einkommensarten dar (z.B. für Mütter im Erziehungsjahr, Studenten, Rentner), sondern wurden von Unternehmen als
geteilte Vollzeitjobs für Arbeitnehmer kostensparend eingesetzt - besonders in großen Gastronomie-, Handelsketten und im Gesundheitswesen:
Neben einem verringerten Stammpersonal mit Tarifbezahlung werden
viele jederzeit abrufbereite Jobber auf 530/620.-DM-Basis beschäftigt,
mehrheitlich Frauen. Diese Art von Beschäftigung liegt im Interesse
einer kleineren Gruppe von Frauen, die beispielsweise viel Zeit für die
Kinder haben und hinzuverdienen wollen. Die meisten würden jedoch
auf der Basis regulärer Arbeitsverträge gern mehr arbeiten und verdienen.
Zusammenfassend und schlussfolgernd lässt sich folgendes feststellen:
Die unterschiedlichen neuen Formen der Arbeit haben eine sehr differenzierte Wirkung auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Grundsätzlich lässt sich nicht sagen, dass eine bestimmte Form eine
durchweg negative oder positive Wirkung hätte. Es kommt auf die konkrete familiäre und berufliche Ausgangssituation der jeweiligen Frau,
Barbara Bertram
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auf die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Arbeit, Familie und Vereinbarkeit im gesamten Umfeld sowie auf die jeweilige konkrete Handhabung neuer Formen von Arbeitsorganisation an. Aus Erfahrungen wie
speziellen Untersuchungen lässt sich erkennen, dass gegenwärtig Weichen für die Chancen der Frauen bei der Erwerbsarbeit gestellt werden
müssen. Ohne Zutun, im Selbstlauf realisiert der Wandel von Arbeit für
Frauen keine günstigeren Arbeits- und Geschlechterrollenpositionen.
Nur durch entsprechende Aktivitäten können für Frauen Chancen durch
neue Erwerbsbereiche und Arbeitssituationen errungen werden.
Frauen bringen dafür nicht weniger günstige Voraussetzungen als
Männer mit, beispielsweise durch ihren unbedingten Willen zur Erwerbsarbeit, ihre Flexibilitäts- und Anpassungsbereitschaften , ihr insgesamt hohes Bildungs- und Qualifikationsniveau, einschl. Weiterbildung.
Günstig wirken auch positive Erfahrungen und gewachsene Bereitschaften der Familien zur Vereinbarkeit.
Gleichzeitig brauchen die Frauen Unterstützung. Vereinbarkeit sollte
stärker zur Sache von Frau und Mann werden.
Die öffentliche Kinderbetreuung müsste – unter Einhaltung der
Qualitätsstandards - der Flexibilisierung von Erwerbsarbeit beider Eltern besser angepasst werden in Zeit, Ort und Kosten.
Erforderlich ist eine stärkere Unterstützung durch die Politik, die
wesentliche Rahmenbedingungen setzt: Akzeptanz des Gleichberechtigungsanspruchs der Frauen auf Erwerbsarbeit, auch in HighlightBerufen und an führenden Positionen - ohne dass Frauen zwischen Kind
und Erwerbsarbeit entscheiden müssen; Beendigung der diskriminierenden Zurückweisungen an den Herd, sofern Frauen nicht wünschen nur
Hausfrau zu sein; Herstellung von mehr öffentlicher Lobby für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Schaffung von günstigeren Rahmenbedingungen für sehr differenzierte Lebensentwürfe von Frauen und Männern – in denen mehr Varianten als heute allgemein üblich vorkommen und wo beispielsweise auch
sozial abgesicherte, planbare Wechsel einzelner Lebensphasen ihren
Platz haben, die Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Weiterbildung, ehrenamtliche Tätigkeit oder gesicherte Umstiege zwischen Voll- und Teilzeitarbeit beinhalten.
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50
Frauen in Wissenschaft und Technik
Chancen und Risiken moderner Formen der
Arbeitsorganisation
Gesine Bächer
Die Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechniken
wirkt sich nicht nur auf die in wissenschaftlichen und technischen Berufen eingesetzten Arbeitsmittel aus, sie bedeuten nicht alleine Veränderungen im Konsum, Freizeit und Unterhaltungsbereich. Der Umbau zur
Informationsgesellschaft führt auch zu Veränderungen in den Erwerbsprozessen und -strukturen, d.h. neue Technologien in der Datenverarbeitung und -übertragung haben in den letzten Jahren die Grundlage für
neue Arbeitsformen geschaffen. Nicht nur die technischen Veränderungen ermöglichen eine Öffnung der Arbeitsstrukturen, sondern auch Veränderungen im Bewusstsein der Menschen, die Erwerbsarbeit nicht
mehr als einzigen Lebensinhalt sehen, sondern versuchen Arbeit und
Freizeit besser zu integrieren.
„Outscouring“, „Core competencies“, „Telecommuniting und Telework“ werden zu Kennwörtern neuer Konzeptionen. Mit dieser Entwicklung werden Vollbeschäftigung, Arbeitsplatzsicherung und Sicherung sozialer Netze neu definiert, d.h. dieser Strukturwandel hat Auswirkungen auf Zeit und Qualität der traditionellen Arbeitsplätze, auf
Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhältnisse und die Struktur des Arbeitsmarktes.
Die Erwerbstätigkeit und damit auch das Erwerbsverhalten vieler
Frauen ist nach wie vor durch die Doppelbelastung in Beruf und Haushalt gekennzeichnet. Daran anknüpfend soll die Frage beantwortet werden, welche Chancen und Risiken die neuen Formen der Arbeitsorganisation Frauen in Wissenschaft und Technik bei dem Versuch bieten, Beruf und Familie vereinbaren zu können.
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Frauen in Wissenschaft und Technik
1. Telearbeit – eine moderne Form der
Arbeitsorganisation
1.1. Was versteht man unter Telearbeit?
Die Unsicherheiten in Wissenschaft und Forschung sowie bei den Anwendern (Unternehmen und Telearbeiter), bezüglich dessen was unter
Telearbeit verstanden werden kann, haben eine Vielzahl von Definitionen des Begriffes „Telearbeit“ hervorgebracht. Mit anderen Worten, eine
verbindliche Begriffsbestimmung, an der sich diejenigen die etwas über
die Verbreitung und Auswirkungen dieser Form der Arbeitsorganisation
aussagen wollen, orientieren können existiert nicht.
So unterschiedlich die Formulierungen jeweils klingen mögen und
unabhängig davon, wo jeweils der Schwerpunkt gesetzt wird, beinhalten
sie jedoch alle mehrere gemeinsame Dimensionen, die für die Charakterisierung von Telearbeit bedeutsam sind.
Zunächst betrifft dies den Arbeitsort: Telearbeit liegt dann vor, wenn
ein Teil der zu erledigenden Arbeit außerhalb der zentralen Geschäftsräume des Auftraggebers verrichtet wird, wobei außerhalb immer wohnort- bzw. kundenah heißt. Telearbeit kann also in der Privatwohnung des
Arbeitnehmers, in Nachbarschaftsbüros, die von mehreren Arbeitgebern
genutzt werden, in Filial-, Außen- oder Satelittenbüros, in Hotels, Fahrund Flugzeugen oder Geschäftsräumen der Kunden stattfinden. Kurz
gesagt: Aufgrund der IuK- Technologien und der möglichen Vernetzung
mit dem Arbeitgeber oder auch dem Kunden, ist Telearbeit an jedem
beliebigen Ort möglich, da man immer erreichbar und somit zumindest
kundennah arbeiten kann.
Wie schon zu erkennen war, spielt der Umfang der außerhalb der
Zentrale verbrachten Arbeitszeit eine entscheidende Rolle. Für Telearbeit
heißt dies, die Arbeit muss mit gewisser Häufigkeit und Regelmäßigkeit
außerhalb der zentralen Büros stattfinden. Nichts ausgesagt wird in den
allgemeinen Begriffsbestimmungen über das Verhältnis der innerhalb
und außerhalb des Betriebes verbrachten Arbeitszeit. Dazu muss Telearbeit nach seinen verschiedenen Formen differenziert werden.
Die Dimensionen Arbeitsort und Arbeitszeit alleine sind kein Charakteristikum nur für Telearbeit. Berufe wie die der Journalisten, Architekten, Wissenschaftler usw. nutzen schon immer die Möglichkeit, unab-
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hängig vom betrieblichen Geschehen bzw. freiberuflich zu Hause zu arbeiten. Es muss das Kriterium Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie hinzukommen, welches für Telearbeit als neue Form
der Arbeitsorganisation charakteristisch ist. An dieser Stelle ist eine
Festlegung zu treffen, welche technikgebundene Arbeit mit Telearbeit
gemeint ist: Handelt es sich nur um die Arbeiten die sozusagen in Auftrag gegeben werden oder kann man auch private Arbeit (wie Homebanking, Teleshopping) unter dem Begriff Telearbeit einordnen? Um die
private Nutzung der IuK-Technologie als Telearbeit auszuschließen, wird
Telearbeit in diesem Rahmen als ein Verhältnis zwischen Auftraggeber
und Auftragnehmer (zunächst unabhängig von der Rechtsform dieses
Verhältnisses) verstanden, bei dem immer auf Grundlage der Kombination von Computer und Nutzung der Fernmeldedienste gearbeitet wird.
Trotz der erwähnten Abgrenzungsschwierigkeiten dieser Arbeitsform, soll eine vorläufige zusammenfassende Eingrenzung des Begriffes
Telearbeit als Grundlage für eine Differenzierung der verschiedenen
Formen von Telearbeit dienen.
Telearbeit ist also jede auf Informations- und Kommunikationstechnologien gestützte Tätigkeit, einschließlich der Übertragung der Arbeitsergebnisse, die ausschließlich oder alternierend an einem räumlich außerhalb des Betriebes im herkömmlichen Sinne liegenden Arbeitsplatz
verrichtet wird, der mit der zentralen Betriebsstätte durch elektronische
Kommunikationsmittel verbunden ist.
1.2. Formen der Telearbeit
Entsprechend der diskutierten Dimensionen, die für die Arbeitsform der
Telearbeit kennzeichnend sind, lassen sich verschiedene Formen bzw.
Ausprägungen von Telearbeit unterscheiden. Dabei kann einmal nach
der Organisationsform, d.h. nach Arbeitsort und Arbeitszeit und andererseits nach der Rechtsform differenziert werden.
Telearbeit an verschiedenen Orten
Tele-Heimarbeit oder isolierte Telearbeit. Dabei wird die Arbeit mittels
Computer in der Wohnung der Arbeitnehmer ausgeführt und die Arbeitsergebnisse und -aufträge werden ganz oder teilweise über den mit
der Firma vernetzten PC ausgetauscht. Es handelt sich also um aus-
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Frauen in Wissenschaft und Technik
schließliche Arbeit zu Hause, wobei die Kommunikation mit der Zentrale
nur durch Austausch von Arbeitsunterlagen stattfindet. Angewendet
wird diese Form vorwiegend für Softwareherstellung, Übersetzungstätigkeiten und allgemeine Schreibarbeiten.
• Kollektive Telearbeitsbüros. Bei dieser Form werden einzelne Funktionseinheiten eines Unternehmens räumlich dezentralisiert, wobei die
Telearbeiter zusammen mit unternehmensinternen oder –externen
MitarbeiterInnen in den dezentralen Büros in Wohnortnähe arbeiten.
Dabei werden Satelittenbüros von Nachbarschaftsbüros unterschieden. In ersteren arbeiten mehrere Arbeitnehmer eines Unternehmens zusammen in ausgelagerten Büros des Unternehmens. In
Nachbarschaftsbüros hingegen sind Beschäftigte verschiedener Unternehmen in einem wohnortnahen Büro tätig.
• Telekooperation. Unter Telekooperation versteht man die mediengestützte arbeitsteilige Leistungserstellung von individuellen Aufgabenträgern, Organisationseinheiten und Organisationen, die über
mehrere Standorte verteilt sind (vgl. Reichwald 1996). Dezentralisierte, selbstverantwortliche Einheiten können durch Satelittenbüros, Nachbarschaftsbüros, Tele-Teams oder Tele-Heimarbeit realisiert werden, wodurch eine weitläufige Vernetzung der Unternehmen
möglich wird.
• Mobile Telearbeit. Aufgrund der handlich und leistungsfähig gewordenen PC’s und der sich ausbreitenden Mobiltelefone, werden zunehmend Reisezeiten für Büroarbeiten genutzt. Warte- und Aufenthaltsräume, Hotels, Fahr- und Flugzeuge und Geschäftsräume der
Kunden sind dabei mögliche Orte der Telearbeit. Die Abgrenzungskriterien bei diesen Außenbüros sind nicht zufriedenstellend, da selten festzustellen ist, wann die Arbeit im Außenbüro tatsächlich Telearbeit und wann reguläre Büroarbeit ist. Bezüglich der Technik steht
die Frage, was an IuK-Technologie kennzeichnet einen mobilen Telearbeiter? Reicht ein mobiles Telefon oder Fax als Verbindung zur
Zentrale oder benötigt man Hoch-Technologie-Equipment, um als
Telearbeiter zu gelten?
Um die genannten Probleme zu verringern, möchte ich folgende Abgrenzung übernehmen: Telearbeit wird als Form der technisch unterstützten
organisatorischen Dezentralisierung definiert, bei der die Wohnortnähe
und nicht primär die Kundenähe zum Kriterium der Auslagerung wird
(vgl. Glaser 1995).
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Die mobilen Arbeitsformen werden damit ausgeschlossen und der
Begriff der Telearbeit im wesentlichen auf die Arbeit in der eigenen
Wohnung beschränkt. Was genau damit gemeint ist, drückt die Form der
alternierende Telearbeit aus.
• Alternierende Telearbeit. Die Telearbeiter verbringen einen Teil ihrer
Wochenarbeitszeit zu Hause am dezentralen Arbeitsplatz und den
anderen Teil im Unternehmen. Dabei unterscheidet man die bürozentrierten und die wohnungszentrierte Telearbeit, wobei der Hauptteil der wöchentlichen Arbeitszeit jeweils hauptsächlich im Büro der
Firma bzw. im Büro der Wohnung verrichtet wird.
Rechtsformen der Telearbeit
Arbeitnehmer
Als Arbeitnehmer gilt, wer nur für einen Auftraggeber „telearbeitet“,
andauernde Dienstbereitschaft hat und genau zugeteilte Arbeiten bekommt. Außerdem erledigt er für ein Unternehmen ständig die gleiche
Arbeit und für die Erledigung der Aufgaben setzt er Arbeitsmittel ein,
die dem Auftraggeber gehören und auf die er angewiesen ist (vgl. BMA;
BMWi; bmb+f 19981).Unabhängig von der Organisationsform, d.h. ob
Telearbeit alternierend, mobil oder in Satellitenbüros durchgeführt wird,
gelten für das Arbeitnehmerverhältnis in Telearbeit sämtliche Rechte
und Schutzvorschriften (Arbeitszeit, Direktionsrecht, Gehalt, Kündigung, Krankheit, Urlaub, Arbeitsschutz usw.), wie sie für das sogenannte
Normalarbeitsverhältnis zutreffen. Im Arbeitsvertrag zusätzlich vereinbart werden sollten (vgl. BMA; BMWi; bmb+f 1998):
• Ort, Dauer und Zeit der Telearbeit, d.h. Anzahl der Telearbeits-Tage
pro Woche, die tägliche Präsenzpflicht sowie die Art der Anwesenheit
im Betrieb,
• die Art der Arbeit,
• Haftung im Falle der Beschädigung oder des Verlustes von technischer Einrichtung im häuslichen Büro, Versicherungsschutz, Datenschutz und Aufwandsentschädigung für Miete und Strom für die außerbetriebliche Arbeitsstätte.
1
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung; Bundesministerium für Wirtschaft;
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.): Telearbeit. Ein Leitfaden für die Praxis. Bonn 1998
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Das Arbeitnehmerverhältnis ist die in Deutschland am weitesten
verbreitete Rechtsform der Telearbeit, unter anderem weil dies die Gewerkschaften und Betriebsräte von den Unternehmen fordern.
Heimarbeit
„Heimarbeiter ist, wer zu Hause allein oder mit seinen Familienangehörigen erwerbsmäßig im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern arbeitet und diesen die Verwertung seiner Arbeitsergebnisse
überlässt.“ (vgl. BMA; BMWi; bmb+f 1998, S.43)
Zeitsouveränität ist eine Voraussetzung für das Vorliegen von Heimarbeit, d.h. wird die Arbeitszeit nach Lage und Dauer durch den Auftraggeber vorgeschrieben, liegt keine Heimarbeit vor.
Die Versicherungsbeiträge für Kranken-, Pflege-, Renten- und, Arbeitslosenversicherung übernimmt der Auftraggeber zur Hälfte und für
die Unfallversicherung ganz.
Telearbeit als reine Heimarbeit gibt es eher selten, aber in letzter
Zeit wurden einige Telearbeitsplätze in Form von Heimarbeit geschaffen,
um die Kostenvorteile gegenüber den Telearbeitnehmern auszunutzen.
Freier Mitarbeiter/Unternehmer
Wenn Telearbeiter ihre Tätigkeiten in Form eines freien Mitarbeiters
oder Selbstständigen Unternehmers anbieten, werden Werk- oder
Dienstverträge geschlossen. Dabei trägt der Telearbeiter das unternehmerische Risiko alleine und muss die technische Ausstattung selbst anschaffen und finanzieren. Arbeitszeit und Arbeitsweise legt der Auftragnehmer selbst fest.
Anhand der Analyse verschiedener Definitionsvorschläge und der
Unterscheidung der verschiedenen Telearbeitsformen nach Organisations- und Rechtsform, kann eine Eingrenzung des Begriffs Telearbeit
vorgenommen werden, die hier als Arbeitsdefinition gilt.
Telearbeit ist also jede auf Informations- und Kommunikationstechnologien gestützte Tätigkeit, einschließlich der Übertragung der Arbeitsergebnisse, die alternierend in Wohnortnähe, d.h. zum Teil im Firmenbüro und
zum Teil an einem räumlich außerhalb des Betriebes liegenden Arbeitsplatz verrichtet wird. Eingeschlossen sind zunächst alle möglichen
Rechtsformen der Telearbeit.
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1.3. Verbreitung von Telearbeit
Seit Beginn der 90er Jahre hat das Thema Telearbeit in Deutschland an
Interesse gewonnen, was nicht zuletzt an der Vielzahl von Publikationen
deutlich wird. Telearbeit wird jetzt nicht mehr nur auf Tele-Heimarbeit
reduziert, sondern es werden die verschiedenen Formen der Telearbeit
betrachtet. In der öffentlichen Diskussion werden heute eher die Chancen statt der Risiken betont. Stichworte wie Autonomie, Kosteneinsparungen für Unternehmen, Schaffung von Arbeitsplätzen in peripheren
Räumen, Integration von Behinderten oder die Reduzierung von Verkehr
und Umweltbelastungen dienen als Mittel zur Aufbesserung des Image
von Telearbeit. Demgegenüber stehen aber auch kritische Stimmen, die
die Vorteile der Telearbeit keineswegs abstreiten, aber sie etwas relativieren.
Inwieweit der Diskussionsstand und die kritischen Meldungen Einfluss auf die heutige Verbreitung von Telearbeit hat, kann nicht eindeutig nachvollzogen werden. Fest steht, dass dem Potential von Telearbeit
eine eher geringe Verbreitung dieser Arbeitsform, zumindest in
Deutschland gegenübersteht.
Will man sich die zahlenmäßige Verbreitung der Telearbeit heute
näher betrachten, stößt man auf Hindernisse. Zum einen begegnet man
dem schon bekannten Definitionsproblem von Telearbeit, d.h. es existiert
keine einheitliche Grundlage dafür was unter Telearbeit verstanden
werden kann und wie sie operationalisiert werden kann. Das führt zu
sehr unterschiedlichen Angaben darüber, wie viel Telearbeitsplätze in
Deutschland und Europa existieren. Zudem dürfte es in vielen kleineren
Unternehmen Telearbeitsplätze geben, die überhaupt nicht bekannt sind
und somit auch nicht erfasst werden. Es handelt sich also offenbar um
ein beinah aussichtsloses Unterfangen, genaue Zahlen über die Verbreitung von Telearbeit zu liefern. Ein kleiner Überblick soll jedoch versucht
werden2.
2
Alle Angaben wurden einer Untersuchung von empirica entnommen: vgl.: Kordey;
Korte 1998
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Abbildung 1: Anzahl der Telearbeiter in Europa 1994
Italien
Spanien
Deutschland
Frankreich
Großbritannien
0
100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000
Quelle: Kordey; Korte 1998, S.27
Für Großbritannien werden Telearbeitsplätze zwischen 250.000 und
1,5 Millionen vermutet. Betrachtet man die Zahlen im europäischen Vergleich, wird deutlich, dass Großbritannien in Europa der Voreiter in Sachen Telearbeit ist (Abbildung 1). Für Deutschland schwanken die Zahlen zwischen 30.000 über 70.000 bis zu 150.000 Telearbeitsplätzen. In
diesen Zahlen sind jedoch nicht diejenigen enthalten, die ein Notebook
besitzen oder ab und zu zu Hause am PC arbeiten. Die Anzahl der Unternehmen in Deutschland, die Telearbeiter beschäftigen betrug laut
Kordey und Korte 1994 rund 4,8% (vgl. Kordey, Korte 1998) und nach
Matuschek 1997 21% (vgl. Matuschek 1999). Inwieweit der Anteil der
Unternehmen in diesem Zeitraum tatsächlich gestiegen ist, lässt sich
aufgrund der genannten Definitionsprobleme nicht sagen, denn die Autoren haben möglicherweise andere Erhebungskriterien für Telearbeit
zugrunde gelegt.
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1.4. Rahmenbedingungen für die Entwicklung von
Telearbeit
Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedingungen überhaupt
dazu geführt haben, dass Telearbeit eine diskutierte Form der Arbeitsorganisation geworden ist und wie sich diese in Zukunft gestalten müssen,
damit Telearbeit für Unternehmen und Arbeitnehmer attraktiv bleibt
und wird.
Ohne Technik geht nichts
Wie die Definitionsversuche des Begriffes Telearbeit gezeigt haben, handelt es sich um eine Form der Arbeit, die sich auf Informations- und
Kommunikationstechnik stützt. Genauer gesagt, muss ein Telearbeitsplatz, um als solcher zu gelten, mit der entsprechenden Hard- und Software ausgestattet sein und über eine Verbindung zum Server der Firma
verfügen.
Die rasante Entwicklung der Telekommunikationstechnologie sowie
der Hard- und Software für computergestützte Arbeitsplätze, die weiter
sinkenden Investitionskosten für PC’s, die Entwicklung der mobilen
PC’s, die Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationssysteme (ISDN, Online-Dienste, Fax, Mobiltelefone) sowie die sinkenden
Kosten für Telekommunikation machen die Datenübertragung immer
einfacher und billiger. Die technische Entwicklung ermöglicht die heute
geforderte Flexibilität und hat damit die Entstehung dieser modernen
Form der Arbeitsorganisation erst möglich gemacht.
Globale Märkte zwingen zur Arbeitszeitflexibilisierung
„Für die Betriebe wie für die Regierung ist die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse die gegenwärtig erforderliche ‚arbeitspolitische Innovation‘, die Leitidee mit Blick auf die Beschäftigungsprobleme wie die Konkurrenz auf den EG- und Weltmärkten.“ (Daheim 1993, S.150)
Weniger die Neugier auf etwas neues als die Notwendigkeit unter
dem Druck des globalen Wettbewerbs die Produktivität zu erhöhen, wird
die Unternehmen dazu bringen, über neue Formen der Arbeitsorganisation nachzudenken. Anders ausgedrückt, erfordert die Zunahme des glo-
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Frauen in Wissenschaft und Technik
balen Wettbewerbs von den Unternehmen eine Steigerung der Produktivität und ein flexibles Reagieren auf Marktanforderungen. Unter diesen
Bedingungen kommt man an einer Auseinandersetzung mit dem
Schlagwort der Arbeitszeitflexibilisierung nicht vorbei.
Dabei steht das sogenannte Normalarbeitsverhältnis zur Diskussion,
genauer gesagt, der Einsatz der Arbeitskräfte hinsichtlich der Arbeitszeit, d.h. Lage und Dauer, und des Arbeitsortes.
Die beteiligten Menschen fordern und sind gefordert
Nicht nur die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Erfordernisse der wirtschaftlichen Situation, sondern auch
die Individuen mit ihren Fähigkeiten sowie ihren Wertvorstellungen
haben entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Telearbeit. Auf der einen Seite sind es die Arbeitnehmer bzw. die potentiellen
Telearbeiter und auf der anderen Seite die Arbeitgeber, d.h. konkret das
Management im Unternehmen, deren Einstellungen und Verhalten die
erfolgreiche Realisierung von Telearbeit maßgeblich beeinflussen werden.
Die Entwicklung neuer Arbeitsformen resultiert nicht zuletzt aus der
Entwicklung im gesellschaftlichen Bewusstsein. Begründet wird die
Tendenz der Arbeitnehmer zu flexiblen Arbeitsformen häufig mit einem
Wertewandel der sich in der Gesellschaft vollzieht.
Aus den Prozessen der Modernisierung und Individualisierung ergibt
sich für die Menschen moderner Gesellschaften die Möglichkeit und die
Notwendigkeit, sich gleichzeitig an verschiedenen Lebensbereichen zu
orientieren. Selbstentfaltung heißt, Erwerbsleben und Privatleben gleichermaßen betonen zu können und zu müssen, d.h. beide Bereiche zur
subjektiven Zufriedenheit zu vereinbaren.
Auf der gesellschaftlichen Ebene scheint es jedoch schwer, Erwerbsleben und Privatleben tatsächlich zu integrieren und dies insbesondere
für Frauen. Wollen Frauen teilhaben an Karrierechancen so müssen sie
im Erwerbsleben ständig präsent sein, was ihnen aber durch ihre natürliche und soziale Mutterschaft nur schwer möglich ist. Die Vorstellung
von der gleichzeitigen Teilhabe am Erwerbsleben und am Privatleben als
Möglichkeit der Selbstentfaltung ist also mit Forderungen an strukturelle Gegebenheiten verbunden.
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Eine diese Forderungen könnte sein, dass Arbeitsdauer, Arbeitsdichte und Arbeitsintensität in der Art zu ändern sind, dass die Lebensqualität steigt und der Einzelne auch nach der Arbeit fähig bleibt, am kulturellen Leben zu partizipieren. Gefragt sind heute Zeitautonomie, Mitgestaltung, Betriebsklima und Selbstverwirklichung in der Erwerbsarbeit.
Wahlzeiten, nach dem sich der Arbeiter die Arbeitsstunden selbst einteilen kann, sind von wachsender Bedeutung (vgl. Schnarrer 1996).
In den westlichen Industrienationen findet ein Wertewandel in der
Einstellung zur Arbeit statt. Die zunehmende Betonung von Selbstbestimmung, Gesundheit und Freizeit führt zu einem Spannungsverhältnis
zwischen Karriere und Freizeit, woraus sich veränderte Wertvorstellungen der Arbeitnehmer zur Arbeitszeitgestaltung, d.h. Veränderung der
Länge und Lage der Arbeitszeit, ergeben.
Die Formen der Telearbeit können einen Beitrag dazu leisten, dass
Arbeitszeiten flexibel gestaltet werden und somit die Möglichkeit besteht, auch im Privatleben dem Wunsch nach Selbstentfaltung nachzukommen. Umgekehrt ist es aber diese Wertvorstellung der gleichzeitigen
Orientierung an Berufs- und Privatleben, die eine Forderung nach flexiblen Arbeitszeiten laut werden lassen und somit den Weg dafür frei
machen, dass sich flexible Formen der Arbeitsorganisation überhaupt
entwickeln.
2. Motive für Telearbeit
Im folgenden soll analysiert werden, warum insbesondere Frauen ein
großes Interesse an dieser Form der Arbeitsorganisation haben. Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass die Motivation für eine
Telearbeit der für Erwerbsarbeit, unabhängig von ihrer Organisationsform, prinzipiell entspricht. Die Intensionen für eine flexible Form der
Arbeitszeitgestaltung entspringt den Arbeits- und Lebensbedingungen
der Frauen, so die zugrundeliegende These.
Es muss also zunächst gefragt werden, warum Frauen heute zunehmend erwerbstätig sind und sein wollen. Im nächsten Schritt stehen die
Rahmenbedingungen der Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt, die letztendlich eine Motivation für flexible Arbeitszeiten, d.h. auch für Telearbeit
hervorbringen können. Mit anderen Worten: Es gibt nicht den einen
Grund, der isoliert von den anderen für eine Erwerbstätigkeit spricht.
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Das Zusammenspiel von individuellen Bedürfnissen, außerberuflichen
Lebensbedingungen, gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie den Arbeitsbedingungen selbst führt letztendlich zu
dem Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeiten.
In den letzten Jahrzehnten sind vor allem verheiratete Frauen zunehmend am Erwerbsleben beteiligt. So war 1994 die Erwerbsquote verheirateter Frauen zwischen 35 und 50 Jahren 20% höher als 1977 (vgl.
Gesellschaft für Informationstechnologie und Pädagogik am IMBSE
1998). Warum hat sich die Erwerbsorientierung geändert bzw. welche
Motive haben Frauen heute, erwerbstätig zu sein?
2.1. Lebenskonzepte junger Frauen
Der entscheidende Faktor für ein verändertes Erwerbsverhalten sind die
veränderten Lebenskonzepte junger Frauen von heute. Die Lebensentwürfe der Frauen werden heute durch einen besseren Zugang zu Bildung
und Ausbildung, der Änderungen im Geschlechtsrollenverständnis, der
anderen Bedeutung von Partnerschaft und Familie sowie einer geänderten Bedeutung von Erwerbstätigkeit herausgebildet. Gekennzeichnet
sind die Lebenskonzepte heute durch eine doppelte Orientierung der
Frauen an Berufsleben und Familienleben.
Als Ursache für die zunehmende Betonung von Selbstentfaltungswerten wird immer wieder der Modernisierungsprozess von Gesellschaften herangezogen. Der Prozess der Modernisierung ist gekennzeichnet
durch eine zunehmende Individualisierung, d.h. einerseits die Veränderung vorgegebener sozialer Lebensformen (Geschlechtsrollen, Formen
des Zusammenlebens, Nachbarschaft, Normalbiographien) und andererseits die Entstehung neuer institutioneller Anforderungen, Kontrollen
und Zwänge (vgl. Beck 1994).
Der Modernisierungsprozess ist gekennzeichnet durch eine beschleunigte Erosion eines verbindlichen Rahmens mit festen Zeitvorgaben,
klaren Rollenzuschreibungen, standardisierten Lebensverläufen und
verbindlichen Werten und Normen für die Lebensgestaltung. Bezogen
auf die Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitszeiten findet eine Deregulierung statt, d.h. unbefristete Arbeitsverhältnisse mit hohen sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Schutz verlieren an Bedeutung,
die ihrerseits zu mehr Offenheit und Unsicherheit der beruflichen Perspektive führt. Modernisierung heißt hier, dass Zeitvorgaben im Alltag
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flexibler werden und zeitliche Rahmenbedingungen alltäglichen Handelns werden offener. Damit bleibt es den Individuen überlassen, wie sie
die unterschiedlichen Zeitordnungen koordinieren.
Modernisierung heißt außerdem eine Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern. Anders ausgedrückt: Personen werden aus traditionellen Bindungen freigesetzt. Dadurch wirken traditionelle Normen und soziale Bindungen weniger prägend auf die Lebensbedingungen und das Verhalten der Individuen und der Spielraum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten erweitert sich. Soziale Beziehungen
können stärker nach eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten geknüpft werden und müssen gleichzeitig selbst hergestellt werden. Damit
sind Individuen auch neuen Anforderungen und Zwängen ausgesetzt.
Mit diesen Prozessen kommt es zur Pluralisierung von Werten und
Lebensformen, denn es existieren keine konkreten Verhaltens- und Orientierungsangebote mehr. Die Person muss sich aus der Wertevielfalt
einen eigenen Wertekanon zusammenstellen an dem sie ihr Handeln
orientiert.
Was bedeutet das im einzelnen? Das traditionelle Lebensmodell der
Ehefrau, Hausfrau und Mutter, das auf die Sorge für andere ausgerichtet
war, wird zunehmend abgelöst durch den Anspruch auf eine stärker
selbstbestimmte und eigenständige Lebensführung, die sich von Geschlechtsrollenzuschreibungen zu lösen beginnt (vgl. Seidenspinner
1994). Das heißt, die ausschließliche Fixiertheit der Frau auf Familie
und Partnerschaft verliert an Bedeutung und damit erweitern sich die
Lebensoptionen von Frauen.
Der Zugang zu neuen, umfassenden Bildungsinhalten war die Voraussetzung für Bewusstseinsprozesse und die aktive Auseinandersetzung
der Frauen mit Restriktionen ihrer Lebensgestaltung, wodurch sie ein
privates und politisches weibliches Selbstbewusstsein herausgebildet
haben (vgl. Brüderl 1992). Frauen können und wollen heute mehr in
Bildung und Ausbildung investieren, was ihnen eine Erwerbsbeteiligung
und damit finanzielle Existenzsicherung und materielle Unabhängigkeit
ermöglicht. In diesem Zusammenhang verlieren partnerschaftliche Formen des Zusammenlebens nicht etwa an Bedeutung, wie manchmal aufgrund steigender Scheidungsraten prognostiziert wird. Vielmehr besitzen
feste Partnerschaften als solche weiterhin einen hohen Stellenwert,
wenngleich die institutionelle Verbindlichkeit, d.h. die rechtlich-formelle
Absicherung durch die Eheschließung eine immer geringerer Rolle spielt,
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denn Frauen sind materiell nicht mehr an die Institution Ehe gebunden.
Neben der Partnerschaft hat Erwerbsarbeit für Frauen an Bedeutung
gewonnen.
Die hohe Investition in Bildung und Ausbildung erhöht das Humankapital der Frauen in der Weise, dass sie dieses nicht durch eine Erwerbsunterbrechung verlieren wollen. Daraus kann abgeleitet werden,
dass die Familie zwar nicht an ihrer Bedeutung als Lebensinhalt verliert,
aber ihre Bedeutung als ausschließlicher biographischer Rahmen hat
verloren währenddessen Erwerbstätigkeit einen festen Stellenwert im
Lebenszusammenhang erhalten hat.
Die subjektiven Ansprüche an die Erwerbstätigkeit selbst tragen dazu bei, dass Berufsarbeit neben Familie und Partnerschaft, zunehmend
an Bedeutung gewinnt. Frauen sehen heute in einer Erwerbsarbeit die
Möglichkeit, ihren Bedürfnissen nach Selbstdarstellung und entwicklung nachzukommen. Sie wollen ihre angeeigneten intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten in kooperativen Vollzügen anwenden, lehnen sachlich nicht begründete Autoritätsverhältnisse ab und
sehen Arbeit als Gelegenheit, etwas neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln (vgl. Baethge 1994). Frauen entwickeln ein verändertes Anspruchsniveau bezüglich ihrer berufsbezogenen Orientierung, d.h. sie
arbeiten nicht mehr primär aus materiellen Zwängen, sondern haben
eine hohe intrinsische Motivation.
Doppelorientierung im Lebenskonzept junger Frauen heißt, dass die
beiden Lebensbereiche Partnerschaft/Familie einerseits und Beruf andererseits keine alternativen Lebensoptionen darstellen, sondern gleichgewichtig in ihrer Bedeutung sind. Der Beruf hat Bedeutung für die Identität, die von Partnerschaft oder dem Wunsch nach Kindern nicht verringert wird, d.h. der Beruf und die Gründung einer Familie haben die gleiche Relevanz. Junge Frauen sind heute familien- und berufsorientiert,
d.h. sie wollen beide Entwicklungsaufgaben wahrnehmen. Diese hohe
Bedeutung des Berufes neben Familie und Partnerschaft, motiviert
Frauen erwerbstätig zu sein.
2.2. Ökonomische Motive für eine Erwerbstätigkeit
Auch wenn gezeigt wurde, dass Frauen zunehmend aus intrinsischer
Motivation heraus erwerbstätig sein wollen, so stehen daneben ökonomische Faktoren, die eine Erwerbstätigkeit notwendig erscheinen lassen.
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Die ökonomischen Gründe verlieren an Bedeutung, wenn Tätigkeiten
im Bereich der qualifizierten Berufsgruppen ausgeübt werden. Dann
wird eher die Erhaltung des arbeitsmarktspezifischen Humankapitals,
d.h. der Bildungsressourcen und beruflichen Qualifikationen, durch eine
Erwerbstätigkeit im Vordergrund stehen. Frauen sind umso mehr an
kontinuierlicher Erwerbstätigkeit interessiert, je höher ihre berufsbezogene Qualifikation und Verdienstmöglichkeiten sind, da sie nur so die
Ressourcen langfristig verwerten, sichern und weiterentwickeln können
(vgl. Heinritz; Walper 1993).
Die Motivation von Frauen erwerbstätig zu sein, hat ihren Ursprung
nicht in einem einzigen Grund, sondern im Zusammenspiel ökonomischer Faktoren und persönlich-individueller Wünsche (vgl. Hegner 1989).
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Erhaltung oder Erweiterung der beruflichen Qualifikation und Sozialkontakte, ein eigenes Einkommen und
ein Gefühl der finanziellen Unabhängigkeit zu haben, der Wunsch nach
sozialer Absicherung und rechtzeitiger Vorsorge für den Fall der
Eheauflösung, nach einem gesellschaftlich anerkannten Sozialstatus und
der Wunsch nach Selbstständigkeit durch Anerkennung der Arbeitsergebnisse außerhalb des Familien- und Haushaltkontextes.
Um die spezifische Motivation für einen Telearbeitsplatz zu analysieren, soll das zentrale Motiv für eine Erwerbstätigkeit, die Doppelorientierung an Familie und Beruf, im Mittelpunkt stehen.
2.3. Telearbeit – Chance für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie?
„Die tatsächliche Möglichkeit (oder Wahlfreiheit, wie politisch oft postuliert) beider Lebensoptionen, das heißt Beruf und Familie miteinander zu
verbinden, scheitert noch immer am Fehlen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel familiengerechte Arbeitswelt sowie ausreichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten.“ (Simm
1989, S.127)
Dieser Satz enthält zwei Aussagen. Zum einen wird behauptet, dass
eine doppelte Orientierung auf Beruf und Familie nicht lebbar sei und
dies aufgrund von bestimmten Rahmenbedingungen. Ich möchte diese
Aussage anders formulieren und erweitern: Die Möglichkeit, Beruf und
Familie miteinander zu verbinden, ist abhängig von verschiedenen Rahmenbedingungen. Individuelle Lebensbedingungen verhindern oft die
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Realisierung beruflicher Ziele und äußere Ereignisse können eine Neugewichtung familiärer und beruflicher Ziele erforderlich machen. Zu diesen gehören die Bedingungen der Arbeitswelt, der Familie, gesellschaftlich-institutionelle Bedingungen sowie die Einstellungen der Frauen
selbst, wobei nicht eine dieser Bedingungen für sich die Realisierung der
Doppelorientierung bestimmt, sondern das Aufeinandertreffen der Rahmenbedingungen der verschiedenen Lebensbereiche. Wie ein roter Faden
durchzieht diese Lebensbedingungen die immer noch vorhandene traditionelle Selbstverständlichkeit der Gesellschaft, der Partner und oftmals
der Frauen selbst, dass Familienarbeit sowie Kinderbetreuung und
-erziehung eine Sache der Frau sei und es demnach ihr Problem ist, wie
sie das mit ihrer vorhandenen Berufsorientierung vereinbaren kann.
Nicht die Gleichzeitigkeit von Familien- und Berufsorientierung der
Frau, sondern die Gleichzeitigkeit der traditionellen Selbstverständlichkeit von Familienbildung und geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung auf der einen Seite und der individuellen Orientierung auf Arbeitsmarkt und Konsum auf der anderen Seite generiert den Konflikt der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie (vgl. Gavranidon 1993).
Bezüglich der Arbeitsbedingungen sind es vor allem die Arbeitszeiten,
die in das Familienleben eingreifen bzw. ihm eher entgegenstehen. Es
gibt kaum Angebote, die zeitlich gesehen zwischen einer Teilzeit- und
einer Vollzeiterwerbstätigkeit angesiedelt sind und für die doppelte Orientierung an Beruf und Familie ideal wären. Teilzeit ist vom Zeitfaktor
zwar ideal, kann aber dem ökonomischen Motiv nach einem (zusätzlichen) Einkommen nicht gerecht werden. Vollzeitarbeit bleibt aufgrund
der wenig entsprechenden Öffnungszeiten von Kindertagesstätten mit
erheblichen Kompromissen bezüglich der Familienarbeit verbunden.
Betrachtet man die Familie als Einflussfaktor auf die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie, so sind es Familienstand, Familienereignisse und
die Partnerschaft, die dabei eine Rolle spielen. Familienstand meint hier,
ob man mit einem festen Partner zusammenlebt oder nicht. Lebt eine
Frau alleine und hat Kinder, so ist sie einerseits auf die Erwerbstätigkeit
angewiesen und muss andererseits die Familie alleine versorgen, d.h. hat
zum Beispiel bei der Betreuung keine Unterstützung durch einen Partner zu erwarten. Ob eine alleinerziehende Mutter Familie und Beruf
zufriedenstellend verbinden kann, soll nicht explizit untersucht werden,
aber es wird im wesentlichen vom Unterstützungssystem der Frau abhängen.
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Bedingungen der Familie meint hier auch die verschiedenen Familienphasen oder -ereignisse. Bevor eine Frau eine Familie gründet, entwirft sie ein Lebenskonzept mit einer Reihe von alternativen Optionen:
Beruf, Kinder, Freunde, Reisen, Freizeit haben zunächst die gleiche Bedeutung, d.h. Familie und Beruf sind noch keine sich ausschließende
Optionen. Je konkreter jedoch die Verwirklichung des Kinderwunsches
wird, umso mehr erhöhen sich die Unsicherheiten bei Frauen, denn mit
der Familiengründung verlagert sich die Bedeutung in Richtung Familientätigkeit, insbesondere wenn die Frau mehr als ein Kind hat. Ist ein
Kind vorhanden, nimmt die Anzahl der Paare, in denen beide erwerbstätig sind, entscheidend ab (vgl. Krombholz 1993). Die Möglichkeiten, Familie und Beruf entsprechend der ursprünglichen Doppelorientierung zu
leben, nehmen mit zunehmender Kinderzahl ab, da mehr in die Familienarbeit investiert werden muss, was wiederum zum Beispiel an Zeit für
eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Verfügung steht.
Zu den Rahmenbedingungen der Familie, die die Realisierung der
doppelten Orientierung beeinflussen, gehört auch die Einstellung der
Partner zu den Geschlechterrollen. Ein Rollenwandel in die Richtung,
dass auch der Mann für Haus- und Familienarbeit verantwortlich ist,
wird noch relativ einseitig von den Frauen forciert. Mit steigender Erwerbsbeteiligung insbesondere verheirateter Frauen mit Kindern, gewann die Forderung nach Beteiligung der Männer an Aufgabenbereichen, die bisher in der Verantwortung der Frauen lag, an Bedeutung. Bei
den Männern ist zunehmend zwar ein Einstellungswandel zu erkennen,
dass sie sich genauso für die Reproduktionsarbeit verantwortlich fühlen
und eine Erwerbstätigkeit ihrer Partnerin befürworten, aber im tatsächlichen Handeln sind die sogenannten Traditionen noch fest verankert.
Würden die Männer gleichberechtigt einen Teil der Familienarbeit übernehmen, so würden die Frauen entlastet und könnten einer Erwerbstätigkeit ungehinderter nachgehen.
Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die Erwerbsleben und Familienleben als gleichwertige Lebensperspektiven realisierbar machen,
gehört einmal das Leitbild was eine Gesellschaft diesbezüglich vertritt
also als Rolle an die Frau heranträgt und zum anderen die strukturellen
Bedingungen, die eine Gesellschaft schafft, um beide Bereiche vereinbaren zu können. Während noch bis in die 60er Jahre eine starke Ausrichtung im Sinne des traditionellen Leitbildes, d.h. die Erwerbstätigkeit von
Müttern stand den Pflichten und Aufgaben der Frau als Mutter und E-
68
Frauen in Wissenschaft und Technik
hegattin entgegen, wirksam war, gewann in den 80er Jahren die politische Einstellung, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gestützt
werden muss, immer mehr an Bedeutung, da sonst mit einem weiteren
Geburtenrückgang gerechnet werden muss (vgl. Lamm-Heß; Wehrspaun
1994). Zur gesellschaftlichen Norm wurde die Erwerbstätigkeit von Müttern, aber nicht in den familienintensiven Lebensphasen. Das zeigt sich
unter anderem darin, dass die sozialpolitischen Hilfeleistungen von einem familienzyklischen Modell der mütterlichen Erwerbstätigkeit ausgehen, d.h. zum Beispiel längerer Erziehungsurlaub statt mehr Kindergartenplätze und den Arbeitzeiten entsprechende Öffnungszeiten der
Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Gesellschaft unterstützt zwar
hiermit die Erwerbstätigkeit der Frauen und Mütter, aber dies tut sie
nicht in der intensiven Familienphase, was die Bedingung für eine erfolgreiche Realisierung von Beruf und Familie wäre.
Oftmals verhindert die ambivalente Haltung der Frauen gegenüber
der Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit eine Verwirklichung der
Vereinbarkeit. Auf der einen Seite stehen die Ansprüche an eine gute
Mutter, die unter anderem durch die zunehmende Sozialisationsfunktion
der Familie wahrgenommen wird. Frauen wollen ihre Kinder erziehen
und fördern und haben auch deshalb oft Schwierigkeiten, die Kinderbetreuung für eine gewisse Zeit Dritten zu überlassen. Zum anderen
wollen sie auch ihre beruflichen Wünsche realisieren und haben das Bedürfnis, auch außerhalb der Familienarbeit anerkannt zu werden. So
entsteht ein Konflikt zwischen der Rolle als Berufstätige und dem Hausfrauendasein, d.h. Mütter bleiben hin- und hergerissen zwischen beruflichen Wünschen und ihren Verpflichtungen den Kindern gegenüber.
Wenn es Probleme gibt, wird oftmals sofort die Berufstätigkeit in Frage
gestellt, d.h. es wird nicht gefragt, ob die Kindertagesstätten und Schulen länger geöffnet haben könnten oder Partner mehr helfen könnten
oder die Organisation verbessert werden könnte (vgl. Mertens 1996). Der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie als gleichwertige Lebensoptionen
steht der Intrarollenkonflikt zwischen Mutter/Hausfrau und Berufsfrau
entgegen.
Wie sich bis hier her gezeigt haben soll, kann der doppelte Lebensentwurf von Frauen aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen, der ungelösten Probleme der Kinderbetreuung, der geschlechtsspezifischen innerfamiliären Arbeitsteilung sowie der Rollenkonflikte der Frauen selbst
nicht konsistent umgesetzt werden. „In der Individualisierungsdebatte
Gesine Bächer
69
wird davon ausgegangen, dass Frauen zwischen neuen, individualisierten Lebensformen und traditionellen Zusammenhängen hin- und hergerissen werden, weil sie zum einen Familie leben, zum anderen aber auch
erwerbstätig sind und sein wollen, und das womöglich noch gleichzeitig
und in häufig nicht konsistenter Form.“ (Seidenspinner 1994, S.24)
Die Unvereinbarkeit der beiden Lebensbereiche basiert also auf einer
Reihe von mangelnder Unterstützung für Frauen, wie das Fehlen von
Kinderbetreuungsplätzen und den Öffnungszeiten der Kindertagesstätten, die den familienunfreundlichen Arbeitszeiten nur unzureichend entsprechen sowie die geringe Bereitschaft der Männer und Väter sich
gleichberechtigt an Hausarbeit und Kindererziehung zu beteiligen. Unter
diesen Bedingungen handelt es sich um eine doppelte Belastung für
Frauen. Ziel müsste es demnach sein, dass die Frauen Entlastung in
beiden Bereichen anstreben. In der gesellschaftlichen Diskussion wird
vor allem das Normalarbeitsverhältnis von Frauen problematisiert und
es werden Forderungen nach täglichen Arbeitszeitverkürzungen, flexiblen Arbeitszeiten sowie Fördermaßnahmen erhoben.
Betrachtet man die propagierten Vorteile der Telearbeit, so wird immer wieder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Mittelpunkt gerückt. Durch die Möglichkeit der flexiblen Zeiteinteilung der
Telearbeit, soll eine Entlastung der Frauen erreicht werden, um Familie
und Beruf besser vereinbaren zu können. Dies entspricht einer Entlastung im Bereich der Erwerbsarbeit. Wenn Telearbeit aber als Möglichkeit zur Vereinbarkeit dienen soll, muss eine Entlastung in allen Lebensbereichen geschaffen werden, denn Vereinbarkeit meint, die Lebensbereiche Familie/Partnerschaft und Erwerbsarbeit gleichwertig realisieren zu können. „Frauen können zwar ohne weiteres so viel wie Männer und mit Sicherheit sind sie auch in der Lage, dies ebenso gut zu leisten, aber ohne grundsätzliche Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld werden für Frauen keine prinzipiellen Verbesserungen ihrer Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie erzielt. Die Forderungen, die sich aus der Gleichberechtigungsstrategie herleiten, müssen
durch Forderungen zu Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und durch Forderungen nach partnerschaftlichen Umgang
miteinander ergänzt werden (Simm 1989, S.63)
Nicht die Flexibilisierung der Arbeitszeiten alleine, sondern ein Einstellungswandel der Männer und die Änderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen werden die Vereinbarkeit besser möglich machen.
70
Frauen in Wissenschaft und Technik
Die Konsequenz daraus heißt, dass in der Forschung die gängige
Trennung von Reproduktions- und Erwerbsarbeit überwunden werden
muss. Will man Telearbeit als Möglichkeit der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie analysieren, müssen die Arbeits- und Lebensbedingungen
von Telearbeitern untersucht werden, denn dadurch wird das Ineinandergreifen von Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit deutlich. Es sollen also nicht nur die Arbeitsbedingungen der beruflichen Tätigkeit untersucht werden, sondern es soll analysiert werden, wie Frauen und
Männer Familien- und Hausarbeit organisieren und bewältigen und welche Konsequenzen sich für die doppelte Arbeit der Frauen zu Hause sowohl für ihre berufliche als auch ihre Familienarbeit ergeben. So können
die Dependenzen einzelner Belastungsformen, die sich gegenseitig verstärken oder aufheben können, heraus gearbeitet werden und Telearbeit
als mögliche Form der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus
der Sicht der Frauen identifiziert werden.
Literatur
Baethge, Martin: Arbeit und Identität. In: Beck, Ulrich; Elisabeth BeckGernsheim (Hg.): Risikante Freiheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Verlag 1994, S.245-261
Beck, Ulrich; Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Risikante Freiheiten.
Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1994
Brüderl, Leokadia; Bettina Paetzold (Hg.): Frauenleben zwischen Beruf
und Familie. Weinheim, München: Juventa-Verlag 1992
Daheim, Hansjürgen; Günther Schönbauer: Soziologie der Arbeitsgesellschaft. Grundzüge und Wandlungstendenzen der Erwerbsarbeit.
Weinheim, München: Juventa Verlag 1993
Gesellschaft für Informationstechnologie und Pädagogik am IMBSE
(Hg.): Beschäftigungsrisiko Erziehungsurlaub. Opladen, Wiesbaden:
Westdeutscher Verlag 1998
Glaser, Wilhelm R.; Margit O. Glaser: Telearbeit in der Praxis. Psychologische Erfahrungen ,it Außerbetrieblichen Arbeitsstätten bei der IBM
Deutschland GmbH. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1995
Gavranidon, Maria: Frauen wollen doch nicht nur das eine – Berufsorientierung von Frauen. In: Nauck, Bernhard (Hg.): Lebensgestaltung
von Frauen. Eine Regionalanalyse zur Integration von Familien- und
Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf. München: Juventa-Verlag 1993,
S.87-117
Hegner, F.; Klocke-Kramer, M.; Lakemann, U.; Schlegelmilch, C.: Dezentrale Arbeitsplätze. Eine empirische Untersuchung neuer Erwerbsund Familienformen. Frankfurt/M., New York: Campus-Verlag 1989
Gesine Bächer
71
Kordey, Norbert; Werner B. Korte: Telearbeit erfolgreich realisieren. Das
umfassende aktuelle Handbuch für Entscheidungsträger und Projektverantwortliche. Braunschweig, Wiesbaden: Verlag Viehweg 1998
Krombholz, Heinz: Die Erwerbstätigkeit in der Partnerschaft – Wunsch
und Wirklichkeit. In: Nauck, Bernhard (Hg.): Lebensgestaltung von
Frauen. Eine Regionalanalyse zur Integration von Familien- und Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf. München: Juventa-Verlag 1993, S.
209-233
Lamm-Heß, Yvette; Charlotte Wehrspaun: Frauen- und Müttererwerbstätigkeit im Dritten und Vierten Familienbericht. http://www.unikonstanz.de/ZE/Bib/vv/soz/luescher/guv09a.htm Juli 1994
Matuschek, Thomas: Marktbarometer Telearbeit. http://www.media.
nrw.de/offensiven/ta/tamarktbarometer.html 02.06.1999
Mertens, Heide: Hausfrau – Karrierefrau? Vereinbarkeit von Beruf und
Familie als Herausforderung. Münster: Votum-Verlag 1996
Reichwald, Ralf: Telearbeit und Telekooperation – Arbeitsformen der
Informationsgesellschaft. Möslein 1996
Schnarrer, J. Michael: Arbeit und Wertewandel im postmodernen
Deutschland. Eine empirische, ethisch-systematische Studie zum Berufs- und Arbeitsethos. Hamburg: Kovac 1996
Seidenspinner, Gerlinde; Barbara Keddi: Lebensentwürfe: wie junge
Frauen leben wollen. In: Hildebrandt, Regine; Ruth Winkler (Hg.):
Die Hälfte der Zukunft. Lebenswelten junger Frauen. Bund-Verlag
1994
Simm, Regina: Partnerschaft und Familienentwicklung. In: Wagner,
Gert; Notburga Ott; Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.): Familienbildung und Erwerbstätigkeit im demographischen Wandel. Berlin
u.a.: Springer Verlag 1989, S. 117-135
Walper, Sabine; Sigrid Heinritz: Mütter nach der Kleinkindphase: Zur
Gestaltung der Berufsbiographie in unterschiedlichen Bildungsgruppen. In: Brüderl, Leokadia; Bettina Paetzold (Hg.): Frauenleben zwischen Beruf und Familie. Weinheim, München: Juventa-Verlag 1992,
S.49-67
72
Frauen ins Netz
Die Informationsgesellschaft im Wandel
Gabriele Hartung
1. Die Informationsgesellschaft im Wandel
Die moderne Gesellschaft befindet sich im Wandel. Kommunikationsund Informationstechnologien prägen unsere Zeit.
Informationen sind nicht nur vielfältiger und umfassender geworden,
sie bestimmen zunehmend unser gesamtes Leben. Ebenso vielfältiger
sind die Möglichkeiten der Informationsvermittlung. Das sich am
schnellsten expandierende Informationsmedium - das Internet - umspannt die Erde und bildet eine neue Dimension aus Daten, Kabeln und
Netzen. Es wächst rasant und greift in unsere Arbeitswelt und in unser
Leben ein. Es verändert die Art, wie wir Menschen einander begegnen,
wie wir lernen, kommunizieren und wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen.
Einige interessante Zahlen sollen das untermauern:
Nach Schätzungen des NUA Internet Surveys gab es im März 1999
weltweit etwa 163,5 Mio. User/-innen. Mehr als die Hälfte davon (etwa
92 Mio.) lebt in den USA und in Kanada, etwa 36 Mio. in Europa, 27 Mio.
in Asien, 4,5 Mio. in Südamerika und etwa 1 Mio. in Afrika. Auch innerhalb von Europa gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Ländern:
während in Island fast 45% der Bevölkerung online sind, sind es in
Schweden und Finnland etwa 30%, in Deutschland nur 9% und in Frankreich etwa 5%.3
Im Vergleich dazu haben in Leipzig nur etwa 5 bis 7% der Privathaushalte einen Internetanschluss (Tendenz langsam steigend).4
3
4
zitiert aus Barabara Schwarze: Frauen ans Netz! Die Internetzukunft ist weiblich
(NUA Internet Surveys, 3/99) in: die frau in unserer zeit 2/99
Kleinwächter, Leipziger Volkszeitung vom 28.9.99
74
Frauen ins Netz
Weltweit wächst die Zahl der User/-innen ständig. Prognosen des
NUA Surveys für 2005 verdeutlichen das:5
Im Jahr 2005 rechnet man mit 717 Mio. Usern/Userinnen weltweit,
d.h. im einzelnen:
Nordamerika (USA + Canada)
Westeuropa
Asien/Pazifik
Süd- und Mittelamerika
Mittlerer Osten + Afrika
230 Mio.
202 Mio.
171 Mio.
43 Mio.
23 Mio.
Interessant ist auch die Altersstruktur der Nutzer/-innen. Daraus ergibt sich folgendes Bild:
50 Jahre und älter
10,4%
40 bis 49 Jahre
15,2%
30 bis 39 Jahre
30,5%
20 bis 29 Jahre
35,1%
19 Jahre und jünger
8,7%
(100,0% gesamt)6
Die jüngeren Nutzergruppen (unter 20 Jahren) und auch die älteren
(über 50 Jahre) wachsen prozentual gesehen immer mehr an. Hingegen
nimmt die Bedeutung der Altersgruppe der 20 bis 29-Jährigen immer
mehr ab: Sie ist seit 1995 um 28% auf heute 35% gesunken.
Die WWW-Anwenderinnen sind im Durchschnitt jünger als ihre
männlichen Kollegen - in den Altersgruppen zwischen 14 und 30 Jahren
sind besonders viele Frauen vertreten. Vor allem Studentinnen und Auszubildende zählen zu den Nutzerinnen. Hinsichtlich der bisherigen Nutzungsdauer des WWW zählen die meisten Nutzerinnen zu den Neulingen
im Netz (57% sind noch keine zwei Jahre online).7
5
6
7
www.nua.ie
siehe: 8.w3b-Umfrage, 1999; www.w3b.de
Fittkau & Maaß, 1995-99
Gabriele Hartung
75
2. Frauen ins Netz
Einige Zahlen auch hier zur Verdeutlichung der derzeitigen Situation:
Nach Untersuchungen der w3b – Online-Umfrage von Hamburger
Marktforschern sind gegenwärtig 76,8% aller User Männer und 23,2%
sind Frauen.8
Die weltweit steigenden Zahlen der Internetzugänge sollten vor allem Frauen ermutigen, sich aktiv mit den Möglichkeiten und Chancen
des Internets auseinander zu setzen und es zu gestalten. Dabei ist es
wichtig zu wissen, wie das Internet „funktioniert“, was Frau mit oder im
Netz machen kann und wo andere Frauen sind (nicht nur im virtuellen
Raum!), mit denen sie sich austauschen und kommunizieren kann.
Sensibel zu beobachten, was sich im Netz tut und kompetent mit dem
Medium umzugehen, sind dabei wichtige Orientierungshilfen.
Und es tut sich sehr viel im Netz, auch oder insbesondere durch engagierte Frauen weltweit.
Nach meinen Erfahrungen gibt es bei Frauen verschiedene Ansätze
und Motivationen, sich mit dem Internet zu befassen:
Da sind z.B. die „Pionierinnen“, die „Cyberfrauen“, die von Anfang an
das Internet mit gestalteten. Die amerikanischen Programmiererinnen
Grace Murray Hopper, Betty Holberton sowie Esther Dyson, die „First
Lady des Internet“ gehörten und gehören dazu.
•
•
•
8
Grace Murray Hopper (1996 – 1992) entwickelte mit an der Programmiersprache Cobol und Betty Holberton (81 Jahre) war maßgeblich beteiligt an der Entwicklung des ersten kommerziellen elektronischen Computer Univac/Universal Automatic Computer).
Esther Dyson (47 Jahre) gründete Anfang der 80er Jahre den Newsletter Release 1.0, ein Diskussionsforum für alle Fragen, die sich aus
der Nutzung des Internets für wirtschaftliche, gesellschaftliche und
politische Zwecke ergeben.
Zudem schrieb sie 1997 die „Bibel des Internet“: Release 2.0 – Die
Internet-Gesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft,
(Droemer Knauer, München 1997).
www.w3b.de
76
Frauen ins Netz
Seit Beginn der 90er Jahre sind viele „Cyberfrauen“ aktiv und im Netz
präsent. Unternehmen, Organisationen, vernetzte Initiativen, Mailboxen, Frauennetze und Online-Magazine gründeten sich und verbreiteten
ihre Erfahrungen, Ziele und jede Menge Informationen über das neue
Medium.
Einige von ihnen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sind:
• die besagte Amerikanerin Esther Dyson
• Rena Tangens (Mitbegründerin der BIONIC-Mailbox und des FoeBuD e.V.)
• die Britin Sadie Plant (die „Cyber-Feministin“ und Autorin von
„Nullen und Einsen“, wo sie behauptet: „...Frauen können mit unstrukturierten Informationen einfach besser umgehen...“ und „...Die
Struktur des Netzes gründet sich genau auf so eine Art informeller
Kontaktaufnahme, es gibt kein Kommandozentrum, keinen organisatorischen Kern – und genau deshalb ist das Netz wie für Frauen gemacht...“9)
• Nicola Tilling (sie war Mitbegründerin des ersten InternetProviderdienstes von Frauen für Frauen in Hamburg: w4w.10 Zudem
spielte sie eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der FrauenMailbox „Fenestra“)
• die Amerikanerin und „weibliche Ausgabe“ von Bill Gates: Kim Polease (Computerwissenschaftlerin und Biophysikerin, hat Java mit
entwickelt und vermarktet)
• die Amerikanerin Aliza Sherman (gründete eigene WebdesignAgentur Cybergirl, schuf mit anderen das weltweite Frauennetzwerk
Webgirls, ein Forum von Frauen, die sich für Internet und neue
Technologien interessieren
• Karin Maria Schertler (das erste deutsche Webgirl, „spinnt“ mit anderen die Fäden für ein bundesdeutsches Netzwerk von Frauen in
den neuen Medien.11
Viele engagierte Frauen haben Netzwerke und Internet-Projekte kreiert
und sind im Netz präsent (siehe Anhang 1: Frauenseiten im Netz).
9
10
11
Interview mit Sadie Plant: Das Netz ist weiblich in: konr@d Dezember/Januar 98-99
www.w4w.de
siehe: Das starke Geschlecht die Cyberfrauen. konr@d – Der Mensch in der digitalen
Welt. Dezember/Januar 98 /99
Gabriele Hartung
77
Leider sind nur wenig ostdeutsche Frauen im Internet vertreten. Es
gibt kaum bzw. keine ostdeutschen Mailboxen oder Frauennetze. Dennoch tut sich auch einiges in den Neuen Bundesländern. Bürger/-innen
Projekte und Frauen-Internetprojekte entstehen, die öffentlichkeitswirksamer werden. Zudem interessiert sich eine zunehmende Zahl von „Normalverbraucherinnen“ für das Internet. Seminare, Schulungen,
Workshops und Schnupperkurse haben regen Zuspruch seitens vieler
Frauen. Die Aktion „Frauen ans Netz“ wird derzeit, nach erfolgreichem
Start Ende 1998, bundesweit fortgesetzt.12
Dennoch muss viel getan werden, um der „zivilen“ Nutzung des Internets, gerade durch Frauen mehr Förderung zu geben. Noch immer
gibt es starke Berührungsängste vor der „neuen“ Technik, psychologische
Barrieren und Vorurteile. Diese gilt es abzubauen. Ein verbesserter und
preiswerter Zugang zum Internet, kostenlose und kostengünstige Surfmöglichkeiten vielerorts sowie „medienkompetente“ und pädagogisch
begabte Frauen bei der Durchführung von Seminaren Kursen und
Schnupperangeboten sind positive Schritte in diese Richtung.
3. Informationen im Netz
Die Fragen „Gewusst wo und gewusst wie?“ werden zum wesentlichen
Antrieb des Menschen in unserer Gesellschaft. Informationen braucht
Frau und Mann ständig, egal ob z.B. es darum geht, wo sich welches Amt
befindet, wann im Kindergarten Elternabend ist, oder welche Ausschreibungen veröffentlicht wurden, und welche Fördermittel zu beantragen
sind. Immer geht es um Informationen!
Mit der Wichtigkeit der Informationen und der technischen Entwicklung gab es in der Geschichte immer Medien, die den Menschen Informationen aufbereiteten und zur Verfügung stellten. Da war die Erfindung der Printmedien, wie Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie
des Telegrafen, Radios und des Fernsehens.
Mit der Zunahme der Informationen wurde es auch dringend notwendiger, neue Technologien der Informationsvermittlung zu entwickeln. Von großer Bedeutung war dabei die Schnelligkeit der Übertra12
eine gemeinsame Aktion von BRIGITTE, der Initiative „Frauen geben Technik neue
Impulse“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Bundesanstalt für
Arbeit, der Telekom und T-online siehe: www.brigitte.de
78
Frauen ins Netz
gung. Nachrichtenagenturen entstanden. Sie nutzten für das Überbringen von Informationen nach den Boten und Flugtauben auch den Telegrafen.
Die elektronische Datenvermittlung entwickelte sich rasant und
wurde zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor.
In enormer Geschwindigkeit sind gerade in den letzten Jahren die
Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und die Informationsmenge
gewachsen. Mit dem Ziel der Vernetzung von Informationen und Nachrichten entstanden die Vorläufer des heutigen Internet Ende der 60er
Jahre in den USA. So richtig bekannt und nicht nur von Forschungseinrichtungen und Militär genutzt, wurde das Internet erst 20 Jahre später.
Mit der Erfindung des WorldWideWeb (WWW) von Schweizer Wissenschaftlern 1991 („Erfinder“: Tim Berners-Lee) wurde das Internet weltweit populär.
Eine Web- bzw. e-mail-Adresse auf der Visitenkarte gehört inzwischen zum „guten Ton“ und ist ein absoluten Muss für Seriosität und
Modernität von Unternehmen und Organisationen geworden.
Die rasant fortschreitende Entwicklung der Technik beeinflusst aber
auch andere Gesellschaftsbereiche. Es entsteht ein neuer, kaum überschaubarer Arbeitsmarkt, eine Vielzahl von neuen, häufig verschwommenen Berufsbildern und Tätigkeiten entwickelt sich. Jobs in der Multimedia - Arena setzen vielfach eine Mischung aus technischem Knowhow, betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, künstlerisch-gestalterischen
und organisatorischen Fähigkeiten, Managementwissen und sozialer
Kompetenz voraus.
Fähigkeiten, wie „Medienkompetenz“ sind auf dem Markt gefragt,
wie nie zuvor. Medienkompetenz kann erworben werden. Dazu zählen
u.a. Fähigkeiten, wie:
• die Nutzung verschiedener Informationsmedien, wie (Rundfunk,
Fernsehen, Printmedien, Internet, Handy, Fax etc.)
• die gezielte Suche nach Informationen, deren Aufarbeitung und die
Erschließung von Hintergrundinformationen (verstehen und lesen
zwischen den Zeilen)
• technische Grundkenntnisse im Umgang mit Informationstechnologien und Erfahrungen in deren Anwendung (Computerprogramme,
Internet, Intranet etc.)
• das Denken in virtuellen Dimensionen und Zusammenhängen.
Gabriele Hartung
79
Die geforderte Interdisziplinarität führt zu neuen Berufs- und Tätigkeitsbildern. Die entsprechenden Anforderungen zielen darauf, dass sich
äußerst vielseitige Fähigkeiten in einer Person vereinigen. In neuen Dimensionen und virtuellen Arbeitszusammenhängen zu denken, Medienund Online-Kompetenz zu erwerben sind die benötigten Eigenschaften
der neuen “Spezialisten”. Technisch fundiertes Basiswissen und fachliche
Kompetenz bilden die Voraussetzungen dafür.
Neue Berufsbilder oder Tätigkeitsprofile sind entstanden. So gibt es
eine Vielzahl wirklich neuer Berufe und Berufsprofile. Einige von ihnen
sind z.B.:
• Online- oder Internet-Redakteur/-in
• Multimediaproduzent/-in
• Screendesigner/-in
• Multimedia-Programmierer/-in
• Webmaster Info-Broker
• Medientechniker/-in
oder:
• System-Administrator/-in
• Web-Designer/-in im Creative-Bereich
• Netzwerkbetreuer/-in
• Informationsmanager/-in.
Aber auch ganz „normale“ Berufe mit „Medienerfahrung“ sind zunehmend gefragt, wie:
• Buchhalter
• Designer
• Einkäufer
• Kundenberater.
Stellenmärkte und Jobsuche online wird zunehmend populärer. Z.B.
„durchforstet“ AOL (American-Online) auf Knopfdruck 720 Stellenmärkte mit mehr als 35.000 Angeboten.
Fast jede renommierte Zeitschrift ist online und hat eigene oder
„verlinkte“ Jobmärkte, die mit steigender Tendenz genutzt werden.
80
Frauen ins Netz
4. Informationssuche durch Suchmaschinen
Um bei der Suche nach bestimmten Informationen erfolgreich zu sein,
werden sogenannte Suchmaschinen genutzt. Das sind Programme, mit
deren Hilfe Mann oder Frau das Web nach Webseiten durchsuchen kann.
Dahinter stehen riesige Datenbanken. Suchmaschinen haben sich darauf
spezialisiert, umfangreiche Listen interessanter Webseiten aus aller Welt
nach Themenbereichen organisiert anzubieten und diese nach Stichworten zu durchsuchen. Leider gibt es inzwischen auch bei den Suchmaschinen eine ganze Reihe und jede/r sollte seine eigenen Erfahrungen sammeln. Dennoch seien im folgenden einige empfehlenswerte Adressen
genannt:
• www.yahoo.de
• www.altavista.de
• www.lycos.de
• www.aladin.de
• www.spider.de
• www.allesklar.de
• www.entry.de
• www.eule.de
• www.excite.de
• www.web.de
• www.fireball.de.de
• www.dino-online.de
• Deutschsprachige Suchmaschinen
Acoon, Aladin, Alles klar, Altavista (D), Bellnet, Eule, Fux,
Intersearch, Lycos (D), Nathan, Netfind, Rex, Sharelook.de,
Sharelook.ch, Spider, Simple Search, Suchmaschine.de, Swiss
Search, Web.de, Witch.de, Yahoo (D)
• Internationale Suchmaschinen
About, Excite, GoTo, Hotbot, Infomak, Looksmart, Lycos.com,
Magellan, NorthernLight, Questfinder, Scrub the web,
Search.MSN.com, Snap, Thunderstone, Webcrawler, Yahoo.com
• Medizinische Suchmaschinen
Datadiwan, Gesundheitstipps, Medivista, Medguide B.H. Selbstmedikation
Gabriele Hartung
•
•
•
•
81
Online-Presse: Computerzeitschriften
c't, Chip, Computerwoche, iX, Telepolis
Domainnamen
Viele TOP-LEVEL Domains gleichzeitig(!) abfragen - auch mehrere Domainnamen gleichzeitig möglich. Erfasst sind derzeit die
TLD's DE, COM, ORG, NET, CH, AT, SW, NL.
Jobbörsen
dv-jobs.de, Heise-Stellenmarkt, Jobs & Adverts, job-suche.de,
Job-Interactive, Jobware, Stellen Online, ZEIT Stellenmarkt
Share- und Freeware
Shareware.de, Shareware.com, Freewarepage
82
Frauen ins Netz
5. Anhang
Frauen im Netz (Webseiten und Adressen)
Adresse
Bemerkungen
http://internetfrauen.w4w.net
Hamburger Fraueninitiativen im Internet
Die erste deutsche Internet-Providerin;
viele Frauen-Links
Deutsches Frauennetz
www.w4w.de
www.woman.de
www.webgirls.de
www.frauennews.de
www.diemedia.de
www.femmenet.de
http://lovelace.fhbielefeld.de/seiten/home.html
www.hausfrauenseite.de
www.zerberus.de
www.bellissimo.de
Deutsches Netzwerk für Frauen in
neuen Medien
Frauenzeitung im Netz, u.a. Pool für
Arbeiten zum Thema Frauen, Datenbank für Frauen- und Geschlechterforschung
Frauen-Information Online, Weiterbildungsangebote, Links
Beratung, Schulung, Links, Datenbank,
Bücher
Initiative: Frauen geben Technik neue
Impulse (BMBF, BfA, Telekom)
Was Hausfrauen alles noch können,
u.a. Mütter mit Modem
viele interessante Fraueninitiativen,
u.a. Mailbox BIONIC
Frauensuchmaschine
Gabriele Hartung
83
Interessante Literatur zum Thema: Frauen und Internet
Broschüre der Universität Bremen, FB Mathematik und Informatik:
„Informatik – Informatikerin – Informatikerinnen“, Bremen 1996
Esther Dyson, Release 2.0 - Die Internet-Gesellschaft, Spielregeln für
unsere digitale Zukunft, Droemer Knaur, 1997, ISBN 3-426-27000-5
FrauenUmweltNetz (Hg.), Computervernetzung für Frauen, Mailboxen,
Internet und alles andere. Ein Handbuch für Einsteigerinnen, eFeF
1995, ISBN 3-905493-79-9
Gabriele Hooffacker, Rena Tangens: Frauen & Netze, Rowohlt 1997,
ISBN: 3499198738
Gabriele Hooffacker: Online-Kompetenz: Informationsmanagement. Zielgenau suchen, auswerten, aufbereiten. Rowohlt 1999, ISBN:
3499600706
Ibv Zeitschrift für berufskundliche Information und Dokumentation
13/99 vom 13.März 1999: Frauen in der Informationsgesellschaft,
Bundesanstalt für Arbeit
Ilse Stiller, Frauen Computer Schule, Internet auf den Punkt gebracht, ipunkt Verlag für Kürzestprosa GmbH 1998, ISBN 3-931004-07-4
Rena Tangens, Alice im Cyberspace in: „die frau in unserer zeit“ 2/99,
Konrad-Adenauer-Stiftung
Sadie Plant: Nullen und Einsen - digitale Frauen und die Kultur der
neuen Technologien , Berlin-Verlag
84
Heim zur Arbeit
Telearbeit und Geschlechterverhältnis13
Barbara Stiegler
1. Problemstellung
Die neuen Techniken verändern die Arbeitswelt. Während die einen prophezeien, dass es neue und interessante Arbeitsplätze geben wird, dass
die Umwelt entlastet wird und dass demokratische Prozesse durch für
jede und jeden zugängliche Informationen verstärkt werden, befürchten
andere, dass eine neue Rationalisierungswelle sowie eine weitere Aushöhlung gesicherter Arbeitsverhältnisse entstehen wird, dass die Umwelt
durch den Elektroschrott um so mehr belastet wird und dass es eher zu
einem Kommunikationsverlust und zu wachsenden Kontrollmöglichkeiten des Privaten kommen wird. Die Geschlechterhierarchie als wesentliches Strukturmerkmal der Gesellschaft spielt in solchen Szenarien überhaupt keine Rolle. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, als träfen die
Verheißungen oder der Fluch der technischen Entwicklung die Menschen
unabhängig von ihrem Geschlecht.
Feministische Technikkritik stellt demgegenüber das Geschlechterverhältnis in den Mittelpunkt der Analysen. Dabei werden die Formen
des Ausschlusses von Frauen aus der Technik, aber auch die widersprüchlichen Arten ihres Einlassens und Einbezogen-Werdens aufgespürt. Technikentwicklung und Anwendung werden als Prozesse beschrieben, die auf das Geschlechterverhältnis wirken und von ihm beeinflusst sind.
13
Erstveröffentlichung in: Expertisen zur Frauenforschung: Stiegler, B., Heim zur Arbeit, Telearbeit und Geschlechterverhältnis, Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Arbeits- und Sozialforschung, Bonn 1998.
86
Heim zur Arbeit
Telearbeit ist eine neue Form der Arbeit, die auf zukunftsweisenden
Techniken beruht. Telearbeit ist definiert als Erwerbsarbeit, die durch die
Nutzung von Telekommunikationsmedien nicht am Ort des Betriebes,
der Firma oder der Verwaltung durchgeführt wird. Die Arbeit in Telehäusern, Telecentern, Call-Centern oder virtuellen Firmen gehört genauso wie die mobile Telearbeit und die Tele(heim)arbeit dazu. Im europäischen Vergleich scheint die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf
die Verbreitung der Telearbeit einen Nachholbedarf zu haben. So wird
die Telearbeit in den letzten Jahren politisch und finanziell gefördert.
Programme zur Wirtschaftsförderung, Projekte, Beratungsinstitute, Studien und Modellversuche beschäftigen sich mit Telearbeit.
Die Schätzungen darüber, wie viele Telearbeitsplätze im Moment in
Deutschland eingerichtet sind, schwanken zwischen 2.000 (DIHT),
150.000 (Empirica 1997), bis hin zu fast 900.000 (BMA 1997). Das letztgenannte Gutachten, das vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft
und Organisation erstellt wurde, bietet eine quantitative Differenzierung
nach der Art der Telearbeit: Danach gibt es etwa 500.000 Arbeitsplätze
für mobile Telearbeit, 350.000 Arbeitsplätze für alternierende Telearbeit,
2.200 Arbeitsplätze, an denen ausschließlich zu Hause gearbeitet wird,
3.500 Arbeitsplätze in Satelliten- und Nachbarschaftsbüros.
Experten und Expertinnen halten die Telearbeit für eine in den
nächsten zehn Jahren durchaus gängige und normale Arbeitsform (IAT
1997, S. 315).
Immer wenn Telearbeit als ideale Schnittstelle zwischen dem Arbeitgeberinteresse an Kosteneinsparung und dem Arbeitnehmerinteresse an
mehr Autonomie gepriesen wird, aber auch in der üblichen Aufzählung
von Vor- und Nachteilen der Telearbeit taucht das „Vereinbarkeitsargument“ auf, mit dem behauptet wird, Telearbeit eigne sich besonders für
Frauen, weil diese Arbeitsform es ermöglichen soll, Beruf und Familie zu
vereinbaren.
Dass die Arbeitsmärkte geschlechtsspezifisch segregiert sind, und
dass es die Frauen sind, die weniger gute Chancen, Positionen und materielle Ressourcen zur Verfügung haben, ist unbestritten. Telearbeit als
eine neue Form der Erwerbsarbeit, die durch die Technikentwicklung
ermöglicht wird, kann diese Situation verstärken oder entschärfen. Sie
kann dazu beitragen, dass Frauen die Unterbewertung ihrer Arbeit abbauen oder dass neue Formen unterbewerteter Frauenarbeit entstehen.
Neuere Ansätze der feministischen Technik- und Arbeitsmarktforschung
Barbara Stiegler
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greifen die Dekonstruktionstheorie auf und versuchen, Technik- und
Arbeitsmarktentwicklung unter der Frage zu verstehen, welche Prozesse
zu der beobachtbaren Differenz zwischen den Geschlechtern führen, wie
die Geschlechterdifferenz immer wieder neu hergestellt bzw. wie die
Geschlechterhierarchie
verfestigt
wird.
Wenn
die
technischorganisatorische Entwicklung als ein Prozess gesehen wird, der die Vergeschlechtlichung von Arbeit, Arbeitsformen und Berufen bewirkt und
das Geschlechterverhältnis gestaltet, - ob im Sinne der Veränderung oder
Stabilisierung, bleibt zunächst offen, - dann ist es eine geschlechterpolitische Aufgabe, den Prozess so zu beeinflussen, dass die traditionellen
Geschlechterrollen nicht verstärkt werden. Wenn es zutrifft, dass Arbeit
im Umbruch ist, dass die zukünftige Gesellschaft weniger Erwerbsarbeit
und nicht genug für alle haben wird, dann stellt sich die Frage, ob die
neuen Formen der Arbeit dazu beitragen, dass es insgesamt zu einer
geschlechtergerechten Arbeitsteilung kommen kann oder ob sie sich
vielmehr als Trendverstärker bestehender geschlechtsspezifischer Benachteiligungs- und Unterbewertungsprozesse erweisen werden.
Im folgenden wird am Beispiel der Tele(heim)arbeit untersucht, inwieweit sie zu einem Diskriminierungspfad für Frauen werden kann und
unter welchen Bedingungen sie zur Umverteilung von Arbeit und Geld
zwischen den Geschlechtern beitragen kann.
Vier Aspekte werden dabei diskutiert:
1. Telearbeit wird als ein Teil der Technikentwicklung analysiert,
der auf der Vergeschlechtlichung (gendering) aufbaut und sie beeinflusst.
2. Telearbeit wird als widersprüchliche Form des Ein- und Ausschlusses von Frauen in technisch unterstützter Erwerbsarbeit
untersucht.
3. Das Versprechen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und
Familie durch Telearbeit wird als eine Stabilisierung der Geschlechterhierarchie dargestellt.
4. Die Möglichkeiten der Veränderung der Geschlechterhierarchie
durch die Telearbeit werden geprüft.
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Heim zur Arbeit
2. Technikentwicklung als „Gendering-Prozess“
und Telearbeit als ihr Produkt
Die feministische Technikdebatte folgt der sozialwissenschaftlichen
Technikdiskussion an der Stelle, an der von der prinzipiellen Offenheit
der Entwicklung ausgegangen wird und der Technikdeterminismus abgelehnt wird. Diese prinzipielle Offenheit in den Entwicklungsbahnen
der Technik wird allerdings von den Frauen durch die Hypothese ergänzt, dass die Entwicklung auch durch die Geschlechterhierarchie beeinflusst wird und an den herrschenden Geschlechterbildern orientiert
ist. Jeder prinzipiell offene Pfad in der technischen Entwicklung gewinnt
seine Richtung auch durch die geschlechtsspezifischen, Männern zugeordneten Sichtweisen und Erfahrungen und schließt andere, Frauen
zugeordnete Sichtweisen und Erfahrungen aus. Wenn auch die Geschlechterbilder nicht immer und überall gleich und stabil sind, im Hinblick auf Epochen, Regionen, Klassen und Schichten variieren, so sind sie
doch immer durch eine binäre Konstruktion von Gegensätzen geprägt:
Als Männlich gilt, was nicht als Weiblich gelten kann und umgekehrt.
Die gesellschaftlichen Geschlechterbilder sind mächtig, in viele
Strukturen eingelassen und korrespondieren insbesondere mit der gesellschaftlichen Zuweisung von Arbeitsorten an die Geschlechter. Danach
ist für Frauen die private Arbeit im Haushalt, die hauswirtschaftliche,
erzieherische und pflegende Arbeiten umfasst, vorgesehen, für Männer
die als Erwerbsarbeit organisierte Arbeit. Die gesamte sozialstaatliche
Sicherung basiert auf dieser geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und
sieht die finanzielle Abgängigkeit derjenigen vor, die die private Arbeit
leisten. Frauen und Männer, Mädchen und Jungen müssen sich sowohl
mit den identitätsstiftenden Geschlechterbildern als auch mit den ihnen
entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzen, individuell verschieden, mehr oder weniger stark. Die sich aus diesen Auseinandersetzungen bildenden Reaktionsformen in Form von Lebensentwürfen und Lebensformen, Sicht- und Verhaltensweisen werden häufig
als Belege für die Differenz der Geschlechter interpretiert. Eine solche
Interpretation verkennt jedoch die Wandelbarkeit und interindividuelle
Varianz der Prozesse, die zu den scheinbar geschlechtstypischen Sichtweisen und Lebensformen geführt haben. Die Chancen, diesen Prozess
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der Vergeschlechtlichung rückgängig zu machen, liegen nicht etwa in der
Angleichung der den Frauen zugeschriebenen Sicht- und Verhaltensweisen an die den Männern zugeschriebenen, sondern vielmehr in der Aufwertung sogenannter weiblicher Werte sowie in der Auflösung der Dualität der Geschlechterbilder. Die Arbeitsteilung in der Gesellschaft, nach
der vornehmlich die Männer für die durch Erwerbsarbeit herzustellende
Sicherheit nach außen, die harten Geschäfte zuständig sind, die Frauen
aber für die sogenannten kleinen Dinge des Lebens, die Schwachen und
Bedürftigen sorgen, hat unter anderem den gravierenden Nachteil, dass
im Außen die Sichtweisen, die zu dem Innen gehören, fehlen und dem
Innen die Sichtweisen, die zum Außen gehören. Geschlechtsspezifische
Verkürzungen sind bei beiden Geschlechtern gegeben: Je mehr sich eine
Person mit der traditionellen Geschlechterrolle identifiziert, desto stärker muss sie alles, was zu der je anderen Geschlechterrolle gehört, von
sich abspalten, desto stärker ist auch ihre Bereitschaft, sich in die gegebenen, polaren geschlechtsspezifischen Muster und Strukturen einzupassen, womit diese ihre Stärkung erhalten. Mädchen und Frauen definieren sich in der Tat häufiger analog dem traditionellen Frauenbild und
stehen zu Werten wie Zuwendung, Gefühl und sensiblen Formen des
Umgangs, sie schaffen sich Lebenssituationen, in denen sie für andere zu
sorgen haben, wenn auch nicht immer und überall. Jungen und Männer
definieren sich in der Tat häufiger analog zum traditionellen Männerbild
an Durchsetzung, Härte, Rationalität, sie schaffen sich Lebenssituationen, in denen sie die Sorge für andere delegieren können, wenn auch
nicht immer und nicht überall.
Analog diesen polaren Geschlechterbildern interpretieren einige feministische Technikwissenschaftlerinnen auch die Entwicklung von
Technologien und Produkten (vgl. Wajcman 1994). Sie stellen fest, dass
die technische Entwicklung der Zielsetzung von (noch mehr) Stärke,
(noch mehr) Geschwindigkeit, (noch mehr) Beherrschung von Lebensprozessen folgt, während Werte wie Beharrlichkeit, Mitgefühl und Intuition
keine entscheidende Rolle spielen. Viele Beispiele für Technikpfade, die
nach den Männern zugeschriebenen Sichtweisen entwickelt wurden,
werden angeführt: so werde der massive Ausbau der Reproduktionstechnologie von dem Interesse an der Beherrschung der Reproduktion getragen. Demgegenüber werde die Erforschung der Ursachen von Unfruchtbarkeit und die Entwicklung von Techniken, die die Stärkung der Eigenverantwortung von Frauen in den Vordergrund stellen, vernachlässigt.
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Heim zur Arbeit
Ebenso präge das männliche Interesse an großräumlicher Mobilität die
Entwicklung neuer Verkehrsmittel sowie den Straßen- und Städtebau
und anstatt die eher kleinräumlichen Mobilitätsinteressen vor allem der Frauen
ernst zu nehmen.
Die Anwendungsgebiete der Technik liegen vornehmlich dort, wo
Erwerbsarbeit geleistet wird. Die Haus- und Familienarbeit zu erleichtern, ist bislang kein vorrangiges Ziel technischer Entwicklungen gewesen. Technik tritt in den den Frauen zugewiesenen Privatbereichen eher
als Fremdes auf, wird eher selten zum Instrument, das Leben besser,
lebenswerter und leichter zu machen. Die empirische Untersuchung der
Entwicklung der Haushaltstechnik belegt, dass zwar körperliche Anstrengungen im Laufe der Zeit vermindert wurden, dass aber die Anforderungen im Haushalt sich nur verlagert haben, sogar gewachsen sind
und neue hinzukamen, für die es wiederum bisher keine technischen
Lösungen gibt (Meyer, Schulze 1993). Wenn auch die Anzahl und Komplexität technischer Produkte für die Haushaltsführung zunehmend
steigt, so ist es in vielen Fällen eine Reaktion auf die Veränderung der
Lebensbedingungen, die auch durch die Technisierung in anderen Bereichen hervorgerufen worden sind. Wie Hellmann (1993) am Beispiel des
Kühlschranks erläutert, haben Veränderungen in den gesellschaftlichen
Versorgungsformen die Kühltechnik im Haushalt nötig gemacht: die
Kühllagerung im gewerblichen Bereich bereitete mit ihren leicht verderblichen Nahrungsmitteln die Grundlage für den Bedarf eigener
Kühllagerung in den Haushalten. Die Frauen, deren Hauptinteresse in
der Familienarbeit liegt, beeinflussen nicht die technischen Entwicklungen für diesen Bereich. Technische Entwicklungen von Frauen, wie das
sich selbst putzende Haus, konnten sich im Mainstream der Technik
nicht durchsetzen.
Ausgehend von der prinzipiellen Offenheit der Technikentwicklung
und ihrer Steuerung durch männliche Zielvorstellungen und den Ausschluss von Frauen und den ihnen zugeschriebenen Werten und Erfahrungen, entsteht die Option, der anderen Seite mehr Macht und Recht zu
geben. Dabei wird nicht das ganz andere Wesen der Frauen postuliert,
das endlich zum Zuge kommen sollte, sondern der Ausschluss der den
Frauen zugeschriebenen Arbeitsfelder und den darin zu machenden Erfahrungen kritisiert, und deren Relevanz für ein humanes Leben und für
ein Weiterleben der Generationen behauptet. Bislang sind es vor allem
die Frauen, die die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit leisten und
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dafür den Einfluss auf technische Entwicklungen einbüßen. Ihre Erfahrungen und ihre Wertungen in dem Entwicklungsprozess von Technik
zum Tragen kommen zu lassen, das ist die Vision feministischen Technikverständnisses. Wenn überwiegend Frauen die politische Gestaltungsmacht hätten, würden auch andere Technikentwicklungen gefördert als die bisherigen. Bereits heute zeigt sich, dass die umweltschonenden Technologien in den Händen von Frauen sind, die als Ingenieurinnen arbeiten. Die Erfahrungen von Frauen werden eher von Frauen
ernst genommen, und sie brauchen die Chancen, auch die Technikentwicklung zu beeinflussen. Es wäre spannend zu erproben, welche Techniken wie entwickelt würden, wenn sie Frauen mit ihren Erfahrungen
aus der privaten Arbeit beeinflussen könnten. Auch die privat organisierte Haus- und Sorgearbeit braucht eine technische Unterstützung, nicht
zuletzt mit der Option, ihre Organisationsform zu transformieren. Frauen werden diese Unterstützung aus ihrem berechtigten Interesse heraus,
sich zu entlasten, eher schaffen als Männer, die in der Regel wenig Berührung zu dieser Arbeit haben. Aus dieser Perspektive brauchen Frauen keine technischen Hilfen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
sondern die Macht, die technische Entwicklung so zu beeinflussen, dass
sie eine geschlechtergerechte Organisation der Haus- und Familienarbeit
unterstützt.
Telearbeit ist nun keine technische Entwicklung im engeren Sinne.
Telearbeit als kommunikationstechnische Anbindung von Betrieb und
Wohnung ist aber eine Folge der breiten Vernetzung, die auch den privaten Raum mit einbezieht. In den Haushalten werden die zukünftigen
Konsumenten der neuen Kommunikationselektronik gesucht, die Datennetze für alle sind die Voraussetzung für ihre breite Nutzung. Tele(heim)arbeit, ob alternierend oder nicht, ist eine Option für die Organisation der Erwerbsarbeit, die sich daraus ergibt. Frauen standen nicht
am Beginn der Entwicklung. In Management, Politik und Wissenschaft,
also den Stellen, in denen die Entscheidungen über Vernetzungen und
die Marktstrategien für die Telekommunikationsmittel fallen, sind sie
nur ganz selten vertreten. Telearbeit beruht auf einer technischen Strategie, bei deren Entwicklung die Erfahrungen von Frauen nicht implementiert und richtungsweisend sind und an der die Frauen von Beginn
an nicht beteiligt sind. Sie berührt jedoch einen für das Geschlechterverhältnis wesentlichen Bereich, nämlich den privaten Raum, der vor allem
für Frauen immer auch ein Arbeitsort ist. Tele(heim)arbeit bedeutet nun
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Heim zur Arbeit
die Übertragung von Erwerbsarbeit in diesen privaten Raum. Den Frauen zugeschriebene Sichtweisen und die Erfahrungen aus dem privaten
Raum haben nicht die Weichen für die Telearbeit gestellt. Die Vernetzung ist eine technische Strategie, die aus Männersicht entworfen und
umgesetzt wird und deren Ergebnisse dann den Erfahrungen von Frauen
aufgesetzt werden. Folgerichtig taucht ein geschlechtsspezifischer Bezug
erst bei der erwerbsarbeitsbezogenen Endnutzung auf (vgl. Kap.4).
Nicht die geschlechtergerechte Organisation der Haus- und Familienarbeit bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung und Nutzung der
Vernetzungstechnik, die private Arbeit wird zwar berührt, ihre Organisation und geschlechtsspezifische Verteilung aber für gegeben hingenommen.
3. Der Ein- und Ausschluss von Frauen durch
Telearbeit
3.1. Der quantitative Ausschluss weiblicher Personen
aus der Technik
Analysen aus den verschiedensten Perspektiven belegen die Tatsache:
Frauen sind an vielen Stellen quantitativ dort nicht präsent, wo Technik
Lerngegenstand, Entwicklungsgegenstand oder Machtmittel ist.
Frauen sind unterrepräsentiert in Bereichen, in denen technische
Kompetenz vermittelt wird: in Schule, Hochschule und Weiterbildung,
(Kursen, Studiengängen, Qualifizierungsmaßnahmen).
Als ein Ergebnis vieler Studien hat sich immer wieder bestätigt: viele
Mädchen und junge Frauen haben eine andere Interessenstruktur in
bezug auf Technik und Informatik, Mädchen sind in den Fächern und
Kursen unterrepräsentiert, die eine informatorische und technische
Grundbildung vermitteln, und der Anteil junger Frauen im Studium der
Technik und Informatik ist rapide gesunken. In beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen ist ihr Anteil gemäß der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes: Technikbezogene Weiterbildung im Bürobereich wird von Frauen genauso wie von Männern in Anspruch genommen, während Frauen in der technischen Weiterbildung kaum vertreten
sind.
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Diese Unterrepräsentanz von Mädchen und Frauen wird nun auf
verschiedene Arten erklärt.
1. Mädchen und jungen Frauen wird qua Geschlecht eine Technikferne
als Persönlichkeitsmerkmal unterstellt. Ihnen werden spezifische Fähigkeiten und Interessen im Gegensatz zu Jungen abgesprochen.
Frauen weisen danach ein Defizit im Vergleich zu Männern auf. Eine
solche Annahme wird durch Studien widerlegt, in denen Fähigkeiten
und Interessen von Jungen und Mädchen im Zeitverlauf untersucht
werden: Bis zu einem bestimmten Alter - etwa bis zur 6. Klasse - weisen Jungen und Mädchen keine wesentlichen Differenzen in den gemessenen Fähigkeiten und Interessen auf. Ebenso entwickeln Mädchen in reinen Mädchenschulen eine andere Interessenstruktur als
Mädchen in gemischten Schulen.
2. Die Technikferne der Frauen wird nicht als ihr Defizit sondern als
ihre besondere Qualität angesehen. Eine sogenannte weibliche Herangehensweise wird positivierend beschrieben, der andere, genuin
weibliche Blick dafür verantwortlich gemacht, dass Frauen der Zugang zu der männlichen Technik versperrt wird. Eine solche Hypothese basiert ebenso wie der erstgenannte auf der Geschlechterdualität,
nach der die Frauen sich wesentlich von den Männern unterscheiden,
eine Dualität, die auf der symbolischen Ebene fest verankert ist. Auch
die Positivierung von Geschlechtercharakteristika hält empirischer Überprüfung nicht stand, allerdings führt diese Sichtweise zumindest
zu einer kritischen Analyse der Technikstruktur, die nicht als gegeben
hingenommen wird.
3. In einem dritten Erklärungsansatz wird davon ausgegangen, dass
Frauen und Männer prinzipiell die gleichen Fähigkeiten und Interessen besitzen, dass aber die individuelle Entwicklung jedes Menschen
dadurch gekennzeichnet ist, dass ein sozialisatorischer Zwang besteht, sich einem Geschlecht zuzuordnen. Das, was ein Mann oder eine Frau an sich selber als weiblich oder männlich bezeichnet, ist jeweils ein Ergebnis ihrer oder seiner individuellen Auseinandersetzung mit den Geschlechtszumutungen. Geschlecht ist danach nicht
etwas, was jeder Mensch hat, sondern was jeder Mensch für sich definieren muss. Die Unterrepräsentanz von Frauen in der Technik wird
damit erklärt, dass Technikinteresse, Technikfaszination und Technikumgang in der symbolischen Geschlechterordnung männlich zugeordnet sind und als Teil der männlichen Identität konstruiert werden.
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Heim zur Arbeit
Umgang mit Technik bietet sich damit Jungen und Männern als geschlechtsidentitätsbildend an, Mädchen und jungen Frauen aber gerade nicht. Eine solche Erklärung kann die empirische Vielfalt zwischen Frauen einerseits und die empirische Ähnlichkeit zwischen
vielen Frauen und vielen Männern besser erklären als ein Defizit- oder Differenzansatz.
Frauen sind aber nicht nur im Bildungsbereich unterrepräsentiert, folgerichtig sind sie es auch in Bereichen, in denen technische Kompetenz
eingesetzt wird (Berufspositionen), und in den Bereichen, in denen über
technische Entwicklungen bestimmt wird (Management, Politik, Verbände und Wissenschaft).
3.2. Der Ausschluss von Frauen durch Verdrängung
Neben der Tatsache, dass nicht gleich viele Männer wie Frauen mit
Technik beschäftigt sind und sich mit Technik beschäftigen, gibt es das
Phänomen, dass der Teil der Arbeit, den Frauen an oder mit Technik
erbringen und erbracht haben, verleugnet und nicht registriert wird.
Auch das ist eine Form des Ausschlusses qua Geschlecht. Im Bereich der
Bürokommunikation und Textverarbeitung, in vielen Sachbearbeitungsbereichen sind überwiegend Frauen die Anwenderinnen von neuen Techniken. Untersuchungen an Arbeitsplätzen haben ergeben, dass tatsächlich heute mehr Frauen als Männer computerunterstützte Arbeit verrichten (IAT 1997). In den Verwaltungen waren die Frauen diejenigen,
die die Computer in den Arbeitsalltag implementiert haben, und das
häufig ohne eine ausreichende Schulung, in Kleinbetrieben sind Frauen
oft die einzigen Expertinnen (Holtgreve 1997). Diese Leistung der Frauen wird nicht gewertet, nicht als Leistung von Frauen diskutiert. Der
Ausschluss besteht nun darin, dass durch diese Verdrängung die herrschende Auffassung von der Technikferne der Frauen verstärkt wird und
die vorhandenen Gegenbeweise nicht zur Kenntnis genommen werden.
Eine ähnliche Blindheit zeichnet die herrschende Technikgeschichtsschreibung: Erst allmählich ist es Technikhistorikerinnen gelungen, die
Leistungen von Frauen in der Technikentwicklung ins Licht der Gegenwart zu rücken.
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3.3. Der Ausschluss durch Einschluss des Besonderen
von Frauen: Der Fall Tele(heim)arbeit
Im herrschenden Technikdiskurs findet sich immer wieder die Problematisierung von Frau und Technik. Es scheint, als hätten Männer kein Geschlecht und als wäre die Beziehung zwischen Mann und Technik nicht
diskussionswürdig. Wenn die Geschlechterproblematik überhaupt auftaucht, dann ist sie gekennzeichnet durch die Konzentration auf das Besondere, Andere von Frauen, das sich von dem Allgemeinen, dem Normalen der Männer absetzten lässt. Mann wird mit Mensch gleichgesetzt,
die Frau wird zum Objekt der neugierigen Fragen. Auch dies ist ein Ausschluss von Frauen, nämlich ein Ausschluss durch Bezugnahme auf das
Besondere.
Eine andere Variante dieser Ausschlussstrategie liegt in den gängigen Erwartungen an die wenigen Frauen, die speziell an höheren Positionen im technischen Bereich arbeiten. Von ihnen wird eine besonders
hervorragende Leistung verlangt, wenn sie mit Männern gleichgestellt
werden wollen, oder aber es wird postuliert, dass sie als Frauen die ganz
andere Technik machen. In beiden Fällen werden Personen aufgrund
ihres Geschlechtes mit spezifischen Erwartungen konfrontiert. Entsprechen sie diesen Erwartungen nicht, wird der Schluss gezogen, dass es
weder für das Betriebsergebnis noch für die gesellschaftliche Entwicklung lohnenswert ist, wenn Frauen in technischen Bereichen gefördert
werden. Die Betonung des Besonderen, Anderen an dem Verhältnis Frau
und Technik ist auch ein Instrument des Ausschlusses.
In der Debatte um die Informationsgesellschaft spielt die Geschlechterfrage eine geringe Rolle, und nur wenigen Frauen gelingt es, sie mitzubestimmen ( AG 9 Forum Info 2000, 1998 ). Um so erstaunlicher ist die
verbreitete Bezugnahme auf das Geschlecht in der Diskussion um die
Telearbeit. Untersucht man jedoch den Kontext, in dem Frauen in dieser
Debatte erwähnt werden, so zeigt sich, dass es sich wiederum um eine
Form des Ausschlusses handelt, weil auf das Besondere der Frauen qua
Geschlecht abgehoben wird: ihr Vereinbarkeitsproblem. Telearbeit wird
in der Diskussion nicht etwa als besonders geeignet für Mütter mit Kindern oder gar für Väter mit Kindern dargestellt, vielmehr wird pauschal
die ganze Geschlechtsgruppe „Frauen“ genannt. Offenbar spielt es keine
Rolle, ob die Personen die Dienstleistung nur für ihren Ehemann oder
auch zusätzlich für Kinder, kranke oder alte Menschen mit ihrer Er-
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Heim zur Arbeit
werbsarbeit zu vereinbaren haben. Die Nähe, in die Frauen zur Tele(heim)arbeit gerückt werden, verstärkt die Assoziation von Frau und
Heim (und Herd) und damit ein altbekanntes Muster, mit dem schon
immer die Verdrängung von Frauen aus existenzsichernder Erwerbsarbeit gelang. Der Versuch, statt Frauen Familien zu etikettieren, (vgl. Ausschreibung des Projektes „Familienfreundliche Telearbeit“ durch das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frühjahr
1998) ist solange unzureichend, wie nicht ausdrücklich eine geschlechterparitätische Besetzung der Arbeitsplätze vorgesehen ist. Die faktisch
stärkere Zuordnung von Frauen zur Familie wird ansonsten nur weiterhin hingenommen und die real herrschende geschlechtshierarchische
Arbeitsteilung in der Familienarbeit verstärkt. Die enorm hohe Teilzeitquote von Frauen(80%) und der verschwindend geringe Anteil der Väter
am Erziehungsurlaub belegen nur zu deutlich, wer das Vereinbarkeitsproblem zugeschoben bekommt und zu lösen hat bzw. zu lösen versucht.
Das schließt nicht aus, dass es immer wieder und vielleicht immer mehr
Väter gibt, die sich nicht den herrschenden Geschlechterbildern anpassen.
Gerade dann, wenn die Tele(heim)arbeit als Lösung des Vereinbarkeitsproblems angepriesen wird, Frauen also in ihrer besonderen Position im Geschlechterverhältnis angesprochen werden, müssen Frauen
dieses Lösungsmuster als eine Herausforderung annehmen und es zurückweisen. Nicht Frauen haben ein Vereinbarkeitsproblem als besondere Lebenslage, sondern Männer nehmen ihre Verantwortung für Kinder,
Alte und Kranke zu wenig ernst, arbeiten zu wenig in der Familie, und
dort liegt das Defizit, das für Frauen zum Problem wird. Der empirische
Normalfall, dass Frauen mit Computern arbeiten, dient nicht der Auflösung der androzentrischen Sichtweise, nach der das Verhältnis von
Frauen zur Technik ein ganz besonderes ist, sondern zu dem Versuch,
Frauen mit Hilfe der Technik dorthin zurückzudrängen, wohin sie nach
der herrschenden Geschlechterordnung gehören, in die Privatheit der
Familie. Die durch die technische Vernetzung verstärkte Grenzverschiebung von Öffentlichkeit und Privatheit wird genutzt, um wiederum neue
geschlechtsspezifische Grenzen zu etablieren und Ausgrenzungen vorzunehmen: Weil Frauen das Vereinbarkeitsproblem zugeschrieben wird,
wird ihnen ein Stück Flexibilität gewährt und der Arbeitsort zur Disposition gestellt: Der private Raum darf genutzt werden, für Frauen offenbar
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um so attraktiver, als dieser Raum immer schon ein Arbeitsort für sie ist,
allerdings für ihre private Arbeit.
Andere Formen des Ausschlusses könnten sich aus der Telearbeit ergeben. Zunächst scheint es, als ob Telearbeit nur äußere Rahmenbedingungen der Aufgabenerfüllung beträfe. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass diese äußeren Bedingungen sich sehr schnell mit anderen Veränderungen verknüpfen, die unter vor allen für Frauen typischen Verhältnissen zu gravierenden Verschlechterungen führen. So kann die erhebliche Verminderung und Veränderung des Kontaktes zu Kollegen und
Kolleginnen für viele Frauen zu einem motivationshemmenden Faktor
werden. Aus den Studien zur Wiedereingliederung von Frauen ist bekannt, dass es für diese Frauen oft gerade wichtig ist, die häusliche Umgebung zu verlassen und an einem anderen Ort und in einer anderen
Form sozial eingebettet zu sein. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass
diejenigen, die nicht mehr dauernd am Arbeitsort präsent sind, bei Aufstiegsmöglichkeiten und Weiterbildungschancen den Kürzeren ziehen. In
diesem Fall würde sich der Ausschluss von Frauen, der bereits bei Teilzeitbeschäftigung zu verzeichnen ist, weiter verschärfen.
Im Bereich der einfacheren Arbeit, die als Tele(heim)arbeit organisiert wird, bleibt ein altes Problem der Frauenarbeit nicht nur ungelöst,
sondern es verschärft sich: Die Arbeitsteilung, die bisher dazu geführt
hat, dass einzelne Schritte einer Gesamtarbeit verberuflicht wurden, wie
es bei Schreibarbeit und Datenerfassung geschah, wird bei der als modern deklarierten Tele(heim)arbeit noch gefestigt. Technisch vorgegeben
ist die Taylorisierung jetzt auch noch, weil als Tele(heim)arbeit nur Arbeit am PC und mit der vorhandenen Software in Frage kommt. Die
Chancen der Anreicherung durch nicht-PC-gebundene Arbeit und/oder
qualifiziertere PC-Arbeit werden nun geringer. Dieses Problem entsteht
nicht nur bei Tele(heim)arbeit sondern auch im ganzen Spektrum der
neuen Arbeitsformen durch Telekommunikationsmedien wie in CallCentern. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass noch ganzheitliche
Aufgabenzusammenhänge auseinander getrennt werden, und zwar in für
in Telearbeit geeignete und nicht geeignete und eine neue Form der
Taylorisierung favorisiert wird. Die computertechnische Bearbeitung von
Arbeitsaufgaben wird gefördert, die Aufgaben können nur so bearbeitet
werden, wie Hard - und Software es zulassen. Nicht technisierbare Prozesse müssen gesondert, zu anderen Zeiten und an anderen Orten erledigt werden, oder aber ihre Relevanz wird geleugnet und sie fallen fort.
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Die Chance, dass die bestehende Arbeitsteilung überwunden wird, ist
denkbar gering. Auch diese Tendenz kann eine geschlechtsspezifische
Wirkung zulasten der Frauen bekommen, weil Frauen überwiegend an
Arbeitsplätzen sitzen, an deren stark routinisierte Arbeit geleistet werden muss. Tele(heim)arbeit, die aus dem Betrieb nach Hause verlagert
wird, wird kaum dem Interesse von Frauen, Aufgaben anzureichern und
zu qualifizieren, dienen, eher gegenteilige Effekte haben. Call-Center,
eine nicht-häusliche Variante der Telearbeit, zeigen, wie eine neue Phase
der Taylorisierung von Arbeitsprozessen entsteht: Die Aufgaben, die dort
an Telekommunikationsgeräten erfüllt werden, sind hochgradig verengt,
müssen unter zeitlichem Druck ausgeführt werden und sind aus dem
betrieblichen Zusammenhang gerissen, womit die Chance, diesen Zusammenhang zu kennen, mit einzubeziehen oder gar die Stelle zu wechseln, sehr gering geworden ist. Bereits heute ist die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in Call-Centern zu beobachten: Einfache Auskünfte
und Bestellannahmen, die Durchführung einfacher kommunikativer
Operationen sind Aufgaben von Frauen, während Männer überwiegend
mit technischen Dienstleistungen, Kontroll- und Managementaufgaben
beschäftigt sind. Es gibt wenig Debatten über die Gestaltung der Arbeitsaufgaben, vielmehr konzentriert sich die Diskussion um die Abwehr
der neu entstandenen Gefahren. Nicht mehr die Gestaltung qualifizierter
Mischarbeit ist vorrangiges gewerkschaftliches Ziel, sondern die Absicherung der Tele(heim)arbeit und der Schutz vor den neuen Gefahren der
Ausgrenzung oder der Schadenshaftung (vgl. die Kritik in ÖTVFrau
1998).
Wenn Telearbeit im Bereich geringer qualifizierter Arbeit wie Sachbearbeitung, Buchhaltung, telefonischer Dienstleistungsarbeit, Schreibarbeit, einfacher Programmierarbeit, oder Datenerfassung organisiert
wird, trifft es überproportional Frauenarbeitsplätze und hier wird insbesondere der bereits teilzeitbeschäftigten Frau die Vereinbarkeit
schmackhaft gemacht. In diesen Bereichen ist die Gefahr des Outsourcing besonders hoch. Tele(heim)arbeit kann ein erster Schritt des Abschiebens in die sogenannte ScheinSelbstständigkeit sein: Sind erst einmal
die Raumkosten für einen Arbeitsplatz verringert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch noch andere Arbeitskosten verringert werden,
insbesondere die Sozialabgaben. Damit fallen die Frauen jedoch aus einer auch in Teilzeit sozial geschützten Beschäftigung in die prekären
Beschäftigungsverhältnisse, die ohne tarifliche Bindung und gesetzliche
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soziale Sicherung eine Verschlechterung ihres bisherigen Status bedeuten. Dass besonders Ehefrauen sich für eine solche Beschäftigung eignen,
belegen ihre bereits heute überproportional hohen Anteile an den ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen: in ScheinSelbstständigkeit sind
3,3% aller erwerbstätigen Frauen, aber nur 2,8% aller erwerbstätigen
Männer, wie das IAB 1996 feststellte. Die ehelichen Unterhaltsverpflichtungen bilden die Basis dieser Tendenz. Jede weitere Ausdehnung der
Selbstständigkeit in Bereichen gering qualifizierter Arbeit verstärkt den
Ausschluss von Frauen aus geschützter Beschäftigung. Dadurch wird
ihre Abhängigkeit vom Ernährer verstärkt oder sie werden in die Armut
getrieben.
Die Gefahr der Ausgrenzung aus geschützter Beschäftigung ist auch
im Bereich der Hochqualifizierten gegeben, wobei die neue Selbstständigkeit oftmals von diesen selbst angestrebt wird. Eine im Job erworbene
Spezialisierung wird dann auf dem Markt Selbstständig angeboten. Diese Form der Arbeit erfordert noch weitaus mehr Qualifikationen, da die
eigene Beschäftigung und soziale Sicherheit selbst organisiert werden
muss. Die neue Selbstständigkeit wird hier nicht aus Vereinbarkeitsgründen gewählt, sondern entweder aus Mangel an alternativer gesicherter Beschäftigung oder aus einem unternehmerischen Geist heraus,
der die Chancen zu Mehrverdienst sieht und die größere Unabhängigkeit
von Direktiven nutzen will. Da Frauen in den hierfür in Frage kommenden Außendienstpositionen und Spezialarbeitsplätzen weniger vertreten
sind, wird diese Folge der Tele(heim)arbeit, die neue Selbstständigkeit,
die geschlechtsspezifische Segmentierung von Aufgabenfeldern eher verstärken und ihr gerade nicht entgegenwirken.
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4. Die Unvereinbarkeit der Telearbeit mit dem
Vereinbarkeitsargument
4. 1. Das Vereinbarkeitsargument verschleiert und
individualisiert den geschlechterspezifischen
Arbeits- und Lebenszusammenhang
Im folgenden wird die Funktion des Vereinbarkeitsversprechens für das
Geschlechterverhältnis analysiert. Dabei ist es wichtig, zwei verschiedene Perspektiven zu unterscheiden: die subjektive, den Einzelfall betreffende und die politische, das Geschlechterverhältnis steuernde. Jede
Frau und jeder Mann lebt unter ganz bestimmten Bedingungen und auch
das je gelebte Modell der Geschlechterbeziehung ist nicht nur Ausdruck
persönlicher Vorstellungen und Wünsche, sondern oft auch ein Kompromiss und eine temporäre Form, mit der auf die jeweiligen Gegebenheiten
reagiert wird. Viele dieser Umstände sind nicht direkt individuell gestaltbar, sondern Ergebnis politischer Prozesse. Schon der Vergleich von
West- und Ostdeutschland zeigt deutlich, wie stark die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen das Geschlechterverhältnis und die subjektiven
Vorstellungen von Männern und Frauen über ihr Zusammenleben prägen: Selbst subjektiv ist für die meisten Frauen in Ostdeutschland das
Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht im Vordergrund,
ihr Erwerbsverhalten ist relativ unabhängig von der Kinderzahl (Zukunftskommission 1998). Offenbar basiert diese Einstellung und Lebenspraxis noch auf den über Jahrzehnte hinweg erfahrenen Umstand, dass
in der DDR die Tatsache, Kinder zu haben, nicht automatisch zu einer
Verkürzung der Erwerbsarbeit führte. Demgegenüber haben Frauen im
Westen eine andere Erfahrung. Hier müssen oder wollen sie sich auf die
angebotenen und gesellschaftlich favorisierten Modelle von Erziehungsurlaub und Teilzeitarbeit sowie die damit verbundene Abhängigkeit von
einem Ernährer oder staatlicher Unterstützung einlassen. Teilzeitarbeit
von Müttern gilt als Königsweg der Vereinbarung von Beruf und Familie
und eben nicht die Arbeitszeitreduktion von Vater und Mutter. Tele(heim)arbeit fügt sich als Muster der Arbeitsorganisation hier reibungslos ein, weil sie unter bestimmten Bedingungen eine relative Entlastung bringen kann.
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Eine zweite Perspektive ist nun genau die der gesellschaftspolitischen Steuerung, das politische Schaffen von Rahmenbedingungen für
die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses. Tele(heim)arbeit ist eine
arbeitspolitische Option, die Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis hat. Der Diskurs, der mit der Verbreitung der Telearbeit geführt wird
und in dem das Vereinbarkeitsargument eine nicht unwichtige Rolle
spielt, ist dabei ebenso bedeutend wie der gezielte Einsatz von Steuermitteln für Entwicklungen, welche die Einführung von Tele(heim)arbeit
unterstützen sollen.
Die politische Funktion des Vereinbarkeitsarguments muss also nicht
mit dem je individuellen Nutzen der Tele(heim)arbeit übereinstimmen.
Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass es eine geschlechterpolitische Funktion gar nicht gibt.
Wenn die Geschlechterhierarchie dadurch bedingt ist, dass Arbeit,
Macht und Geld zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind, dann
ist eine Umverteilung in diesen drei Dimensionen politisch zu erreichen.
Das Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kann dabei nicht einmal als Zwischenetappe angestrebt werden, weil es in die falsche Richtung führt. Am Beispiel der in das Vereinbarkeitsmodell passenden Teilzeitarbeit für Frauen kann man erkennen, dass angebotene Lösungen
eine Antwort auf falsch gestellte Fragen sein können. Wer nämlich die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Teilzeitarbeit ermöglicht,
mutet denjenigen, die Teilzeitarbeit leisten, vornehmlich also den Frauen, damit gleichzeitig zu, weniger zu verdienen, mehr unbezahlte Arbeit
zu leisten und an den Rand der mit mehr Entscheidungsmöglichkeiten
und damit Macht ausgestatteten Positionen in der Erwerbsarbeit gedrängt zu werden. Wer die Geschlechterhierarchie als politisches Problem sieht, das es zu lösen gilt, darf nicht die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie als Lösungsmuster ansehen. Auch die Erweiterung der Formel
auf die Männer, für die diese Vereinbarkeit ebenso wie für Frauen herzustellen ist, bleibt wirkungslos. Bei den herrschenden Verhältnissen
sowohl bezüglich der individuellen Vorstellungen als auch hinsichtlich
der gesellschaftlichen Gegebenheiten sind, wie die Realität zeigt, weder
der Erziehungsurlaub noch die Teilzeitarbeit für Väter attraktiv. Obschon für Väter der rechtliche Anspruch auf Erziehungsurlaub genauso
gilt wie für Mütter, nehmen sie ihn doch in einem kaum wahrnehmbaren
Umfang in Anspruch. Die Teilzeitarbeit hat als Arbeitsform eine solche
geschlechtsspezifische Aufladung, dass sogar andere Namen gefunden
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wurden, um sie überhaupt allgemein, also auch für Männer attraktiv zu
machen: Mobilzeit, Flexi-Zeit, alle diese Bezeichnungen bedeuten genau
wie Teilzeit auch eine unbezahlte Arbeitszeitverkürzung, werden aber
nicht geschlechtsspezifisch aufgeladen. So wie Teilzeitarbeit zunächst als
vormittägliche Erwerbsarbeit für Frauen, die nachmittags ihrer Familienarbeit nachgehen, gesehen wird, so deutet sich an, dass Tele(heim)arbeit wiederum eine spezifische Arbeitsform für Frauen werden könnte,
die ihnen die Familienarbeit ermöglichen soll, zumal sie häufig gerade
auch für Teilzeitarbeiterinnen als besonders geeignet erscheint. Genau
diese Verknüpfung steuert wiederum in die Richtung der Etablierung
der traditionellen Geschlechterhierarchie. Tele(heim)arbeit und Teilzeitarbeit als Vereinbarkeitslösung sind sicherlich unter anderem angesichts
der unzureichenden öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten eine
individuelle Lösung der Probleme, die sich aus der Geschlechterhierarchie und der durch sie erzeugten je individuellen Lebenslage ergeben, sie
sind aber kein Schritt zu ihrer Aufhebung.
4.2. Das Vereinbarkeitsargument basiert auf einer
männerspezifischen Sichtweise der
Familienarbeit
Wer die häusliche Erwerbsarbeit als Möglichkeit der Vereinbarkeit von
Berufs- und Familienarbeit ansieht, unterstellt, dass die bloße Anwesenheit zu Hause ausreicht, um Kinder zu betreuen oder alte und kranke
Menschen zu pflegen. Dabei wird die reale Arbeit, die aus Beziehungsarbeit, konkreter Betreuungsarbeit, aus materieller Versorgungsarbeit, und
qualifizierter Pflegearbeit besteht, auf die reine Präsenz einer Person reduziert. Das entspricht einem Blick auf die Haus- und Familienarbeit, nach
der die Haus- und Familienarbeit gar keine Arbeit ist, weder Zeit, noch
Qualifikation braucht, sondern nur durch die Präsenz einer weiblichen
Person erfüllt wird. Diese Sicht zeugt von der Unterbewertung der Familienarbeit, die als selbstverständliche Ausstülpung weiblichen Wesens
angesehen wird und die allenfalls in einer imaginären Überhöhung der
Frau und Mutter gewürdigt wird. So wie die gesellschaftlich zugestandene Zeit für die Betreuung von Kleinstkindern als Urlaub bezeichnet wird,
wird suggeriert, dass die Haus- und Familienarbeit „nebenbei“, also neben der Tele(heim)arbeit, erledigt werden kann.
Barbara Stiegler
103
Die ersten Erfahrungen von Müttern mit Tele(heim)arbeit widerlegen diese Annahmen. Mütter mit Kleinstkindern arbeiten, wenn das
Kind schläft, also tagsüber in nicht absehbaren Zeitrhythmen, meistens
abends und nachts, also unter Zwängen, die für die meisten Männer
nicht nachvollziehbar sind (Troltenier o.J.). Je älter die Kinder werden,
je weniger Schlafphasen sie tagsüber brauchen, je unmöglicher wird die
Vereinbarkeit durch parallele Arbeiten. Niemand kann Krabbelkinder
betreuen oder Kranke pflegen und gleichzeitig eine Computerarbeit verrichten, sei sie noch so routiniert. Es hängt entscheidend von dem Ausmaß der notwendigen Betreuungsarbeit ab, ob nur eine höhere Flexibilität oder eine direkte Zuwendungsarbeit erforderlich ist. Hinzu kommt,
dass viel Energie für die Abgrenzung von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit aufgewandt werden. Genesende, viele ältere Menschen und
erst recht Kleinkinder lassen sich nur schwer und nur unter ständig
neuer Anstrengung vertrösten, wenn die Telearbeit für die Person ansteht, die eigentlich zur Betreuung zu Hause ist. Die Anforderungen, sich
von den Ansprüchen aus dem häuslichen Bereich abzugrenzen, werden
bereits als neue Qualifikationsanforderungen formuliert ( Kühlwetter
1995). Abgrenzungsfähigkeit von häuslichen Störfaktoren wird neben
Belastbarkeit und der Fähigkeit zum Umgang mit Stress als soziale
Kompetenz mit zunehmender Bedeutung für die semiprofessionelle Nutzung von Multimedia genannt.
Die Annahme, dass Haus- und Familienarbeit parallel zur Arbeit am
Computer oder Telefon geleistet werden könnte, basiert auf einer völligen Unterschätzung dieser Arbeit und hat sich auch bereits real als unhaltbar erwiesen. Bei Tele(heim)arbeit bleiben also statt der versprochenen Vereinbarkeit gegenüber einer betriebsortgebundenen Arbeit eine
höhere zeitliche Flexibilität und eine Zeitersparnis durch den Wegfall der
täglichen Wegezeiten: höhere Flexibilität durch mehr Selbstbestimmung
bei der Festlegung von Beginn und Ende der Arbeitszeit und der Pausen.
Die Zeitersparnis durch Wegezeiten fallen allerdings auch nur dann ins
Gewicht, wenn der Wohnort vom Arbeitsort weit entfernt oder schlecht
zu erreichen ist. Die erhöhte Flexibilität ist nur dann gegeben, wenn die
Arbeitstätigkeit frei wählbare Pausen zulässt und nicht durch technische
Einbindung oder Kontrolle an bestimmte Zeiten gebunden ist.
104
Heim zur Arbeit
4.3. Das Vereinbarkeitsargument bezieht sich auf das
falsche Geschlecht
Meist wird es direkt formuliert, manchmal feiner verschleiert: Während
die einen platt die bessere Vereinbarkeit für Frauen anbieten, umgehen
die anderen vorsichtiger eine solche geschlechtsspezifische Zuweisung
und formulieren die bessere Vereinbarkeit für Familien: die familienorientierte Telearbeit (BFJMG). Wenn Telearbeit ein Versuch wäre, eine
wirkliche Entlastung von der Haus- und Familienarbeit zu schaffen, fehlt
bei den Adressaten eine wesentliche Zielgruppe: die Männer und Väter.
Sie sind es nämlich, die ein enormes Defizit an Arbeitsleistung im Haushalt, Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege aufzuweisen haben,
und die sich von diesem Defizit durch Delegation an Frauen befreien. Und diese Delegation wird noch unterstützt, wenn Tele(heim)arbeit als frauenspezifische Arbeitsform angeboten wird: Tele(heim)arbeit der Mütter ist
eine neue Garantie für die häusliche Versorgung des Mannes, seiner
Kinder und seiner alten und kranken Verwandten.
Wenn die Haus- und Familienarbeit in ihrer Bedeutung, in ihrem
Umfang und in ihrer Qualität wirklich ernst genommen wird, dann ist
eine Entlastung von Frauen, besonders von Müttern, angesagt. Diese
Entlastung kann durch öffentliche Institutionen geschaffen werden, sie
kann auch durch die Männer und Väter erfolgen. In diesem Fall wären
allerdings vorrangig Männer und Väter die Zielgruppe für Tele(heim)arbeit.
Die Frage, welchen Beitrag Tele(heim)arbeit zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch für Männer leisten kann, ist aber ebenso falsch gestellt wie sie es für Frauen ist. Nicht Männer oder Frauen
haben Vereinbarkeitsprobleme, sondern die Arbeitsbedingungen in der
Erwerbsarbeit und in der Familienarbeit sind problematisch. Individuelle Versuche, die getrennten und geschlechtsspezifisch zugeordneten
Arbeitsbereiche zu vereinbaren, müssen scheitern, und zwar so, dass
diejenigen, die es versuchen, meistens Frauen, aber auch Männer, wenn
sie es tun, immer mit einer Verschlechterung ihrer Erwerbsarbeitsbedingungen rechnen müssen. Bereits das Beispiel der Teilzeitarbeitenden hat
deutlich gemacht, dass Dequalifizierung, potentielle Ausgrenzung und
mangelhafte soziale Sicherheit sowie finanzielle Abhängigkeit von anderen Personen die Folge sind. Bei der Tele(heim)arbeit entstehen spezifische Gefahren der Ausgrenzung (vgl. Kap.3). Nur wenn es den Männern
Barbara Stiegler
105
und Vätern besser gelingt, diese Gefahren für sich zu umgehen, - und das
ist bei ihren besseren Ausgangspositionen im Erwerbsleben nicht ausgeschlossen, - und wenn sie die höhere Flexibilität und die gesparte Zeit
auch wirklich für die Haus- und Familienarbeit nutzen, ist Tele(heim)arbeit eine Chance, ihr geschlechtsspezifisches Defizit in dem privaten
Arbeitsbereich ein wenig auszugleichen.
4.4. Das Interesse der Arbeitgeberseite an der
Entlastung von Familienarbeit ist nicht so
ausgeprägt, wie es das Vereinbarkeitsargument
suggeriert
Haus- und Familienarbeit werden immer noch als Privatsache angesehen. Wer Kinder hat, muss sehr weitgehend selber dafür sorgen, dass sie
unter guten Bedingungen erwachsen werden können. In der Regel wird
die alltägliche Versorgung zur Aufgabe der Mütter. Ihnen werden, nachdem das Problem bei ihnen liegt, gesellschaftlich Lösungen angeboten,
die ihnen langfristige und nachhaltig Nachteile erbringen: Favoriten
betrieblicher Frauenförderpläne, dort wo es sie überhaupt gibt, sind
Verlängerungen des Erziehungsurlaubs, Beurlaubungen und Teilzeitarbeit. Weitaus seltener werden betriebliche Kindertagesstätten errichtet,
die für viele eine wirkliche Entlastung bieten könnten. Faktisch stützen
betriebliche Regelungen die Geschlechterhierarchie, das Ernährermodell
mit der Zuverdienerin. Dem entspricht auch die Argumentation bei Tele(heim)arbeit: Den hochqualifizierten Experten wird sie nicht angeboten, damit diese ihre Kinder besser betreuen oder gar für ihre Frau die
Bluse bügeln können. Ihnen wird sie aus Flexibilitätsgründen und
zwecks noch besserer Nutzung ihrer Arbeitskraft angeboten. Und die
wenigen Frauen in diesen Positionen sind zumeist unverheiratet oder
wenigstens ohne kleinere Kinder (Weißbach 1997). Gering qualifizierte
und bereits teilzeitarbeitende Frauen gelten als Zielgruppe für die Tele(heim)arbeit, also Frauen, deren betriebliche Stellung nicht gerade die
sicherste, deren betrieblicher Stellenwert eher gering und deren berufliche Perspektive aus betrieblicher Sicht wenig relevant ist. Wenn ihnen
eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Tele(heim)arbeit
versprochen wird, entspricht dies eher dem Interesse des Arbeitgebers an
Kostenentlastung, gerade weil langfristig kaum ausgeschlossen werden
106
Heim zur Arbeit
kann, dass dies der erste schritt zum Outsourcing der Arbeit ist.
Die Modelle der Tele(heim)arbeit während des Erziehungsurlaubes
sind angesichts der heute bestehenden Regelung des 3jährigen Ausscheidens aus dem Interesse des Arbeitgebers zu verstehen, eine qualifizierte
Fachkraft zu erhalten und weitere Kosten für Qualifizierung und Einarbeitung von Ersatzkräften zu sparen. Dieses Interesse trifft auf das der
Mütter im Erziehungsurlaub, am Ball zu bleiben. Eine gezielte sozialpolitische Maßnahme für das Wohl der Kinder ist es nicht. Maßnahmen, die
eine wirkliche Entlastung von der Haus- und Familienarbeit bringen
sollen, können nicht kostenneutral sein, denn die unbezahlte Leistung
von Müttern und teilweise von Vätern müsste dabei ans Tageslicht treten und durch einen angemessenen finanziellen Ausgleich kompensiert
werden. Wenn solche Kompensationen bisher aber noch nicht einmal im
Sozialstaat durchsetzbar waren, ist es nicht verwunderlich, dass die betriebliche Kostenkalkulation weit davon entfernt ist.
5. Tele(heim)arbeit als Mittel der Umverteilung
von Geld, Arbeit und Macht zwischen den
Geschlechtern?
Die indirekten Diskriminierungsmechanismen über das Geschlecht sind
tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert und wirken so, dass
sie ungerechte Verteilung von Geld, Arbeit und Macht zwischen den Geschlechtern stabilisieren. Moderne Entwicklungen, so auch die Tele(heim)arbeit, passen sich in diese indirekten Diskriminierungsmechanismen ein, es sei denn, diese ihre Funktion wird rechtzeitig erkannt und
bewusst verändert. Statt der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit unter den bestehenden Rahmenbedingungen steht vielmehr die Veränderung von Berufs- und Familienarbeit an, um die Hierarchie im Geschlechterverhältnis aufzuheben. Veränderungen müssen sich auf mehrere Ebenen beziehen. Die geschlechtsspezifischen Spaltungen des Erwerbsarbeitsmarktes in Segmente, aber auch in gesicherte und ungeschützte Arbeitsverhältnisse, sind aufzulösen, die geschlechtsspezifische
Hierarchie der Verteilung von Lohn, Arbeitszeitvolumen und Positionen
ist abzubauen und die geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung der
privaten Sorgearbeit ist aufzuheben. Letzteres kann durch entlastende
Barbara Stiegler
107
Infrastrukturangebote geschehen, aber auch durch sozialpolitische und
rechtspolitische Regelungen, die für gleiche Macht- und Arbeitsteilung
im Zusammenleben der Geschlechter sorgen. Ebenso muss eine angemessene und eigenständige Absicherung für die Zeiten, in denen Familienarbeit geleistet wird, eingeführt werden, für Eltern und Pflegende
müssen flexible Arbeitszeiten ermöglicht werden und ihre Sorgearbeit
muss als wichtige Kompetenz anerkannt werden. Alle Veränderungen
müssen daran gemessen werden, ob sie es ermöglichen, dass auch Männer zunächst für sich selber und zur Hälfte für ihre Kinder und pflegebedürftigen Angehörigen sorgen können, soweit es ihnen nicht durch infrastrukturelle Angebote in öffentlicher Regie abgenommen wird.
Wenn Tele(heim)arbeit als neue Form der Arbeitsorganisation in der
sogenannten Informationsgesellschaft als besonders geeignet empfohlen
wird, Familie und Beruf zu vereinbaren, bewirkt sie jedoch gemessen an
diesen Kriterien eher eine Verschärfung der geschlechtshierarchischen
Verhältnisse: Die bisherigen Erfahrungen belegen, dass hochqualifizierten Männern und Frauen Tele(heim)arbeit angeboten wird, damit sie
mehr individuelle Freiheit bei ihrer Arbeit bekommen und damit ihre
Konzentration und Effektivität gesteigert wird. In diesen Fällen geht es
nicht um die bessere Vereinbarkeit, weil diese Männer und Frauen sich
bereits von der Familienarbeit fernhalten, sei es, dass sie weder Kinder
noch Pflegebedürftige betreuen, sei es, dass sie diese Arbeit komplett
delegieren können. Tele(heim)arbeit verschärft hier im Vergleich zur
betriebsortgebundenen Arbeit dann die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, wenn der Vater Tele(heim)arbeit leistet und die Ehefrau nicht
erwerbstätig ist, sondern die Haus- und Familienarbeit leistet. Für diese
Frauen bedeutet die Tele(heim)arbeit der Väter, dass sie zusätzlich für
seine Ruhe zu Hause Sorge tragen müssen. Nun ist nicht nur die Ruhe
nach der Arbeit, sondern auch die Ruhe bei der Arbeit herzustellen, was
je nach räumlichen Gegebenheiten nicht so leicht zu bewerkstelligen ist.
Als weitere Belastung kommt die tägliche Versorgung mit Essen hinzu.
Eine nicht erwerbstätige Mutter wird kaum wieder eine Erwerbsarbeit
aufnehmen, weil ihr Ernährer Tele(heim)arbeit leistet. Es besteht sogar
die Gefahr, dass die Ehefrau unbezahlte Zuarbeit zu seiner Telearbeit
leistet, und so eine moderne Form mithelfender Familienangehöriger
ohne Entgelt und soziale Sicherung entsteht. Die Väter, die gerade wegen der Kinderbetreuung oder Altenpflege Tele(heim)arbeit machen, weil
sie diese Arbeit nicht delegieren wollen oder können, sind Protagonisten
108
Heim zur Arbeit
eines neuen Geschlechterverhältnisses, zahlenmäßig bilden sie eine extreme Minderheit.
Für hochqualifizierte Frauen ist Tele(heim)arbeit eine Falle, wenn sie
glauben, häusliche Verpflichtungen ließen sich nebenbei und besser mit
erfüllen. Darüber hinaus verfestigt sich die geschlechtshierarchische
Arbeitsteilung in den Paarbeziehungen, wenn die Frau Tele(heim)arbeit
leistet, um diesen Verpflichtungen besser nachkommen zu können.
Tele(heim)arbeit im Erziehungsurlaub ist ein, z. B. in einigen Versicherungsunternehmen verbreitetes Angebot des Arbeitgebers, während
des Erziehungsurlaubs teilzeitbeschäftigt zu bleiben. Unter dem Kriterium der Umverteilung von Geld und Arbeit zwischen den Geschlechtern
ist es die schlechtere Variante im Vergleich zu der, die dem anderen Elternteil geboten wird, nämlich die kontinuierliche Weiterbeschäftigung
am angestammten Arbeitsplatz bei voller Anbindung, vollem Verdienst
und umfangreicher sozialer Sicherheit. Die Kritik richtet sich allerdings
in diesem Falle nicht auf die Tele(heim)arbeit, sondern die Regelungen
zum Erziehungsurlaub, die für denjenigen oder diejenige, der oder die
ihn in Anspruch nimmt, generell eine zu lange Zeit des Ausscheidens
beschert. Erst eine gleiche Teilung des Erziehungsurlaubs zwischen Vätern und Müttern könnte die damit im Moment verbundenen negativen
Folgen mildern. Unter den herrschenden Bedingungen ist eine Tele(heim)arbeit während dieses sogenannten Urlaubs in bezug auf die
Verteilung von Geld und Macht zwischen den Geschlechtern besser für
die Position der Frauen als das sonst übliche völlige, wenn auch befristete Ausscheiden mit dem spärlichen Erziehungsgeld. Dennoch zeigen die
ersten Erfahrungen mit diesem Modell, dass die gleichzeitige Betreuung
des Säuglings und Kleinstkindes nicht möglich ist und allenfalls die höhere Flexibilität zwischen den beiden Arbeitsweisen eine Entlastung der
Mütter bringt (Troltenier,o.J.). Ein attraktives Angebot für Väter ist die
Tele(heim)arbeit im Erziehungsurlaub unter den herrschenden Bedingungen nicht.
Im Fall der teilzeitarbeitenden Tele(heim)arbeiterin und dem Mann
im Normalarbeitsverhältnis mit betrieblichem Arbeitsort ist die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zementiert: Welcher Mann sieht,
wenn er volltags außer Haus erwerbstätig ist, eine Notwendigkeit, Familienarbeit zu leisten, wenn die Frau nur Teilzeit arbeitet und noch dazu
nicht von zu Hause entfernt? Das Vereinbarkeitsproblem ist für den
Mann in der klassischen Weise durch Delegation gelöst.
Barbara Stiegler
109
Auch die eheliche Machtverteilung wird zu Lasten von Frauen verschoben. Wenn bereits die Teilzeitarbeit eine finanzielle Abhängigkeit
begründet, so wird die Tele(heim)arbeiterin auch noch ihrer potentiellen
sozialen Unterstützungen und der Stärkung des eigenen Bewusstseins
durch Kollegen und Kolleginnen beraubt. Ihr sozialer Nahraum wird zu
ihrem einzigen, und nicht von ungefähr beklagen die Frauen, die längere
Zeit zu Hause arbeiten, den Verlust des sozialen Netzes. Auch die hochgelobte alternierende Tele(heim)arbeit mit wöchentlich regelmäßigen
Besprechungen am Ort des Betriebes bietet dafür keine Kompensation:
Regelmäßige Pausen und Arbeitskontakte, die sich ergeben können, die
face-to-face-Kommunikation, die auch ungeplant möglich ist, schaffen ein
befriedigendes soziales Milieu. Selbst wenn in einzelnen Fällen Tele(heim)arbeit als „Erholung“ von sozialem Stress empfunden wird, ist
sie keine Lösung für soziale Spannungen am betrieblichen Arbeitsplatz.
Die Gefahr von Mobbing ist, wie erste Berichte zeigen, auch bei Tele(heim)arbeit nicht gebannt.
Die Nachfrage der Frauen nach Tele(heim)arbeit darf nicht als geschlechterpolitische Legitimation benutzt werden. Tele(heim)arbeit von
Ehefrauen und Müttern ist geschlechterpolitisch gesehen ein Schritt
nach hinten, weil sie die Geschlechterhierarchie stabilisiert und die Zuweisung der privaten Arbeit an Frauen noch einmal verstärkt. Wer die
Einführung von Tele(heim)arbeit mit dem Hinweis auf die starke Nachfrage von Frauen begründet, muss wissen, dass diese Nachfrage vollkommen anders aussähe, wenn Frauen nicht wie selbstverständlich ihren Männern die Haus- und Familienarbeit abnähmen, im extremsten
Fall als Alleinerziehende. Eine moralische Aufforderung an Arbeitgeber,
die Tele(heim)arbeit aus diesen Gründen nicht einzuführen oder nicht
auszubreiten, erscheint nicht erfolgreich. Allerdings können die angegebenen Begründungen genauer hinterfragt werden. Ob es wirklich ein Ziel
ist, Bedingungen für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu
schaffen, kann sich daran zeigen, ob auch andere Maßnahmen, die diesem Ziel wirklich dienen, gleichzeitig durchgeführt werden und ob Väter
vorrangig in die Tele(heim)arbeit einbezogen werden.
In den Gewerkschaften aber, in denen sich die Interessen der Beschäftigten organisieren, scheint eine Diskussion um diese Form der
Arbeit unter geschlechterpolitischen Vorzeichen fällig. Bislang fehlt ein
klares Nein zur geschlechterpolitischen Begründung der Tele(heim)arbeit. Auch die Debatte über Fragen der Technikentwicklung und –nut-
110
Heim zur Arbeit
zung für die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung ist
noch nicht sehr entwickelt. Diese Debatte ist aber notwendig, um eine
Nachfrage an anderer Stelle zu erzeugen und eine Marktmacht zu entwickeln. Dabei ginge es um Fragen
• wie die neuen Techniken zur Vereinfachung der Haus- und Familienarbeit eingesetzt oder zu bezahlbaren Dienstleistungen umgewandelt werden können
• wie die Software zu gestalten ist, deren Ziel es ist, ganzheitliche Arbeitsvorgänge zu erhalten, Arbeit zu qualifizieren und sinnvoll zu
machen
• wie die durch Technik eingesparte Erwerbsarbeitszeit für gesellschaftlich notwendige, unbezahlte Arbeit genutzt werden könnte und
wie die Verteilung dieser Arbeit zwischen den Geschlechtern erfolgen
soll.
Betriebs- und PersonalrätInnen, die sich in der aktuellen Situation zur
Tele(heim)arbeit verhalten müssen, können nicht ein generelles Nein
formulieren, weil sie es auch mit den konkreten Zwangslagen und Lebenslagen der Beschäftigten zu tun haben und sich nicht zynisch darüber
hinwegsetzen können. Sie können nur versuchen, die negativen Folgen
dieser neuen Arbeitsform zu verhindern und die Schäden für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu begrenzen. Dazu gibt es bereits eine
Reihe von strategischen Empfehlungen:
• alternierende Tele(heim)arbeit,
• den Erhalt des Arbeitnehmerstatus,
• Freiwilligkeit,
• Schadensersatzregelungen.
• Schwieriger wird es, gestaltend einzugreifen und
• qualifizierte Arbeitszuschnitte zu erhalten bzw. zu gestalten, was
z.B. konkret bedeutet, keine reine Schreibarbeit oder Datenerfassung
als Tele(heim)arbeit zu vergeben,
• Satellitenbüros oder Telecenter zu bevorzugen und einzurichten,
• statt mit dem Vereinbarkeitsargument Tele(heim)arbeitsplätzen
zuzustimmen betriebliche Regelungen zur Vereinbarkeit durchzusetzen wie z.B. flexible Arbeitszeitregelungen, die Erreichbarkeit von
Müttern und Vätern telekommunikativ zu sichern, das Recht auf Unterbrechungszeiten und Pausen bei plötzlichem Bedarf zu sichern,
das Recht auf Arbeitszeitreduktion mit dem Anspruch auf Rückkehr
Barbara Stiegler
•
111
zur alten Arbeitszeit, betriebliche Kinderbetreuungsplätze,
bei Vergabe von Arbeiten nach außen sicherstellen, dass die Anbieter
in gesicherten Arbeitsverhältnissen sind, also eher an Telehäuser
auslagern als an ScheinSelbstständige zu Hause.
6. Fazit
Wenn mit einem Interesse speziell von Frauen an Tele(heim)arbeit gerechnet und argumentiert wird, so wird mit dem Geschlecht Frau genannt, was Ausdruck des traditionellen Geschlechterverhältnisses ist:
dass nämlich Menschen aufgrund ihres Geschlechtes Haus- und Familienarbeit übernehmen und andere Menschen aufgrund ihres Geschlechtes
diese Arbeit vernachlässigen bzw. delegieren. Dieses oft als Privatsache
deklarierte Verhältnis zwischen Mann und Frau führt nun dazu, dass
Frauen als Geschlechtsgruppe diskriminiert werden und ihnen eine den
Männern gleiche Positionierung im Erwerbsleben vorenthalten wird. Die
feministische Technikdiskussion verweist darauf, dass Frauen und die
ihnen zugeschriebenen Sichtweisen, die aus der privaten Haus- und Familienarbeit herrühren, aus der Technikentwicklung und Gestaltung als
zweitrangig und unbedeutsam verdrängt werden. Frauen werden allenfalls zu einer Problemgruppe gemacht. Demgegenüber repräsentieren sie
aber in Wirklichkeit einen verdrängten Teil des gesellschaftlichen Ganzen, ohne den auch die Erwerbsarbeit nicht funktionieren könnte, bildet
dieser Teil doch die Basis gesellschaftlicher Reproduktion. Die Formel
von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist deshalb ideologisch, weil
sie vorgibt, etwas zu verbessern, was gar nicht zu verbessern ist: Die
Schieflage in der Bewertung von Erwerbsarbeit und Haus- und Familienarbeit kann nicht individuell ausgeglichen werden, vielmehr wird diese Schieflage durch jede individuelle Anpassung weiter verstärkt.
Geschlechterpolitik, die eine Umverteilung von Arbeit, Erwerbsarbeit
und Haus- und Familienarbeit, von Geld und Macht zugunsten der Frauen anstrebt, muss auf eine Veränderung von Berufs- und Familienarbeit
drängen, damit Mann und Frau beides können: Berufsarbeit muss sich in
Inhalt und Rahmenbedingungen verändern und stärker die Bedürfnisse
von Kindern und Pflegebedürftigen berücksichtigen. Haus- und Familienarbeit muss sich verändern, indem weitaus mehr und qualitativ bessere öffentliche Dienstleistungsangebote geschaffen werden, also Teile der
112
Heim zur Arbeit
heute noch privat und unbezahlt zu leistenden Arbeit gesellschaftlich
getan werden. Der verbleibende Rest an unbezahlter Arbeit ist von Männern und Frauen zu gleichen Teilen zu erbringen. Welche Unterstützung
die Multimediatechnik dazu liefern kann, ist eine spannende Frage, zu
deren Beantwortung ein breiter Diskurs notwendig wäre.
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Virtuelle Unordnung im
Geschlechterverhältnis
Umverteilung von Arbeit als Chance?14
Gabriele Winker
1. Einführung
Hinter dem etwas sybillinisch klingenden Titel verbirgt sich die Frage,
ob es Anzeichen dafür gibt, dass das bestehende Geschlechterverhältnis
in Unordnung gerät und sich Verschiebungen in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen abzeichnen. Haben die neuen flexiblen Arbeitsformen nur ‚scheinbar‘ Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis oder gibt es reale Veränderungen in der Informationsgesellschaft, an
die das Wort ‚virtuell‘ ebenfalls anknüpft? Ich frage in diesem Artikel
also nach den Veränderungsprozessen im Geschlechterverhältnis im
Rahmen der Informationsgesellschaft, an deren Anfängen wir stehen.
Dabei konzentriere ich mich auf den Aspekt der Arbeit, vor allem der
Erwerbsarbeit, der jedoch nur mit Bezug auf die Reproduktionsarbeit
sinnvoll zu behandeln ist.
Weitergehend stelle ich die Frage, inwieweit mit den sich abzeichnenden Veränderungen eine Unordnung im Geschlechterverhältnis einhergeht, die ‚virtuell‘ ist im Sinne von „der Kraft oder Möglichkeit nach
vorhanden“, wie das Duden Fremdwörterbuch ‚virtuell‘ definiert. Kann
diese ‚potentielle‘ Unordnung mit bewusstem frauenpolitischem Handeln
zur realen Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beitragen?
14
Erstveröffentlichung in: Oechtering, V., Winker, G. (Hrsg.), Computernetze Frauenplätze, Frauen in der Informationsgesellschaft, Leske + Budrich, Opladen 1998.
116
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
2. Informationsgesellschaft und
Normalarbeitsverhältnis
Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft beruht technisch auf der
einfachen Verfügbarkeit weltweiter Vernetzungsmöglichkeiten, auf multimedialen Softwareprodukten mit Medienintegration und Interaktivität
sowie auf der bereits vollzogenen Computerisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche. Es kann von einer globalen Digitalisierung gesprochen
werden in dem Sinne, dass alle Arbeits- und Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnik durchdrungen werden.
Geprägt wird die Informationsgesellschaft auf der Grundlage dieser neuen Technologien von starken Produktivitätsfortschritten im Erwerbsarbeitsbereich und einer raum-zeitlichen Entkoppelung von Erwerbsarbeitsprozessen im lokalen und globalen Sinne.
2.1. Produktivitätsfortschritte und Sinken des
Erwerbsarbeitsvolumens
Das Streben nach Produktivitätssteigerungen ist nicht neu, sondern der
kapitalistischen Gesellschaft immanent, wird aber auf der Grundlage der
Informations- und Kommunikationstechnologien durch die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs verstärkt. Radikale Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt zeichnen sich ab und werden noch
zunehmen (vgl. auch Tischer in diesem Band). Denn bisher ist das Produktivitätspotential noch lange nicht flächendeckend umgesetzt. Die
Rationalisierungswelle ist im Produktionssektor noch nicht abgeschlossen und fängt im Dienstleistungssektor gerade erst an. Neue Vernetzungsmöglichkeiten und multimedial gestaltete Software verstärken
Tendenzen, die bisher professionell angebotenen Dienstleistungen den
KundInnen über Selbstbedienung frei Haus zu liefern. So führt Telebanking zur Schließung von Filialen im Bankgewerbe, und durch Telereisebuchungen werden immer mehr Arbeitsplätze in der Tourismusbranche
gefährdet, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Nach einer Untersuchung des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik an der Universität Würzburg liegt das Einsparungspotential von Arbeitskräften durch Integration von Organisation und Informationsverarbeitung im Bereich Transport/Logistik bei 74%,
Gabriele Winker
117
bei den Banken und Versicherungen bei 61% bzw. 59%, im Bürobereich
bei 55% und im Handel bei 51%. Und selbst in scheinbar rationalisierungsresistenten Feldern belaufen sich die Einsparungsmöglichkeiten
durch konsequenten Einsatz der neuen Technologien auf ca. ein Drittel
des derzeitigen Personalbestandes: zum Beispiel im Bereich Planung
(33%), Beratung (35%) und Gesundheitswesen (35%) (Thome 1997,
S.124ff.).
Sicherlich wirkt die Offensive im Informations- und Kommunikationsbereich nicht nur arbeitssparend, sondern kann auch arbeitsschaffend sein. Beschäftigungszuwächse werden vorwiegend bei Unternehmen
erwartet, die Medien- und Kommunikationsgüter, Software, Dienstleistungen im Bereich der Datenverarbeitung oder Telekommunikationsdienste anbieten. Der Bericht der Bundesregierung sieht im günstigsten
Fall bis zum Jahr 2010 im Informationsbereich ein Potential von ca. 1,5
Mio. zusätzlicher Arbeitsplätze für Deutschland (Info 2000, S.41). Entschieden skeptischer schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in diesem Bereich den Beschäftigtenzuwachs ein. Obwohl die
inländische Nachfrage nach Medien- und Kommunikationsgütern im
Jahre 2010 etwa dreimal so hoch sein soll wie Anfang der 90er Jahre,
wächst nach dieser Prognose die Zahl der Beschäftigten nur um 10%, d.h.
um rund 180.000 Beschäftigte auf 2,1 Mio. (DIW 10/96).
Damit zeichnet sich deutlich ab, dass selbst bei optimistischen Schätzungen die entstehende Multimediabranche nicht mehr neue Arbeitsplätze schaffen kann, als durch die Produktivitätsfortschritte im Produktions- und Dienstleistungsbereich im Zusammenhang mit dem breiten
Einsatz der neuen Technologien verloren gehen. Die Schere zwischen
Produktivitäts- und Wachstumsraten öffnet sich weiter. So kommt es zur
weiteren Abnahme des Erwerbsarbeitsvolumens. In Westdeutschland hat
sich das Arbeitsvolumen, gemessen in effektiv geleisteten Arbeitsstunden
pro Kopf der Wohnbevölkerung, bereits von 1975 bis 1995 um reichlich
ein Zehntel vermindert (Kommission 1996, Teil I, S.1).
2.2. Raum-zeitliche Entkoppelung von
Erwerbsarbeitsprozessen
In der Informationsgesellschaft verliert bei vielen Erwerbsarbeitsprozessen die Zentralisierung der Beschäftigten in einer Betriebsstätte an Bedeutung. Durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnolo-
118
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
gien sind Kooperation und Zusammenarbeit auch über räumliche Entfernungen möglich. Die persönliche Kommunikation wird bei einzelnen
Arbeitsvorgängen durch technikunterstützten Austausch von Informationen ersetzt, und damit wird die räumliche Nähe der Beschäftigten untereinander unwichtiger. Verbunden mit einer räumlichen und damit
auch zeitlichen Flexibilisierung von Arbeitsabläufen ist eine Steigerung
der Verantwortung der Beschäftigten. In dem Maße, wie die zeitliche
Anwesenheit von Beschäftigten nicht mehr überprüft werden kann, gerät
die Erbringung einer Selbstständig erarbeiteten Leistung in den Vordergrund.
Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass sich die Verkleinerung und
Verschlankung der Unternehmen durch Konzentration auf die Kernkompetenzen und Auslagerung aller anderen Funktionen fortsetzt. Am
Ende steht das ‚virtuelle Unternehmen‘, das unter Einbeziehung der
Zulieferer elektronisch vernetzt ist. Vermittelt über die Informationsund Kommunikationstechnologien steigt gleichzeitig die Nähe zu potentiellen KundInnen. Die neuen Technologien unterstützen rasche Veränderungen der Produktionsabläufe, eine kosteneffektive Kleinserienproduktion und auf individuelle Kundenwünsche zugeschnittene Produkte.
Die raum-zeitliche Entkoppelung von Arbeitsprozessen macht an nationalen Grenzen nicht halt, sie wirkt global. Viele Firmen aus Industrienationen lagern schon heute die Erfassung großer Datenbestände aus
und siedeln ganze Verwaltungsabteilungen in Billiglohnländern an. Auch
Produktionsstätten lassen sich standortoptimal auswählen und dann von
der BRD aus leiten und überwachen. Mit einer weiter verbesserten
Kommunikationstechnologie und fallenden Netzkosten werden immer
mehr Tätigkeiten dorthin verlagert, wo es im internationalen Maßstab
betriebswirtschaftlich am effizientesten ist. Dies bedeutet, dass das Sinken des Erwerbsarbeitsvolumens in der BRD nicht allein durch technologisch bedingte Produktivitätssteigerungen, sondern auch durch die
räumliche Entkoppelung von Erwerbsarbeit verstärkt wird, da auch neu
entstehende Arbeitsplätze überallhin verlagert werden können. Dies
unterstreicht, dass wir es mit strukturellen Problemen zu tun haben, die
sich in Zukunft noch weiter zuspitzen werden.
Gabriele Winker
119
2.3. Konsequenzen in Deutschland
Das Sinken des Erwerbsarbeitsvolumens und die Dezentralisierung von
Arbeitsabläufen führt unter den Bedingungen weitgehender Deregulierung zur Flexibilisierung der Erwerbsarbeit in den Dimensionen der
Arbeitsmenge, der Arbeitszeit und des Arbeitsortes. Dies werde ich im
folgenden konkretisieren.
Flexibilisierung der Zuteilung der Erwerbsarbeitsmenge
Die Verminderung des Erwerbsarbeitsvolumens führt bei der derzeitigen
Politik zu Segregationsprozessen auf dem Arbeitsmarkt: Statt alle Erwerbspersonen gleich lang zu beschäftigen, bilden sich in den Unternehmen sogenannte ‚Olympiamannschaften‘ als Stammbelegschaften, die
unabkömmlich sind und mit abgesichertem Erwerbseinkommen bis zu 60
Stunden die Woche arbeiten. Neben diesem Bereich der Überbeschäftigung vergrößert sich auf der anderen Seite der Bereich der Unterbeschäftigung kontinuierlich. Neben der Massenarbeitslosigkeit fällt darunter minderbezahlte, unbeständige und ungesicherte Erwerbsarbeit in
Form von Teilzeitarbeit, zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen oder
geringfügiger Beschäftigung. Mit diesen Segregationsprozessen wird das
Erwerbsarbeitsvolumen aus Sicht der Unternehmen flexibel auf die einzelnen Beschäftigten verteilt. Ich bezeichne diese Entwicklung als Flexibilisierung der Zuteilung der Erwerbsarbeitsmenge. Während der Anteil
der Beschäftigten, die regelmäßig Überstunden leisten, ständig zunimmt
– allein von 1993 bis 1995 ist er in Westdeutschland um 6% auf 45% gestiegen (Schilling u.a. 1996, S.433) –, waren 1997 in Deutschland knapp
4,4 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, und weit über 3 Millionen
gehörten zur ‚stillen Reserve‘ (BA 1998a+b).
Doch mit der flexiblen Zuteilung einer unterschiedlichen Erwerbsarbeitsmenge auf die Beschäftigten sind nicht nur die beiden Pole – keine Erwerbsarbeit oder Überbeschäftigung – gemeint. Dazwischen liegen
eine Reihe weiterer Arbeitsformen, die an Bedeutung gewinnen. So stieg
die Teilzeitquote in Westdeutschland von ca. 11% im Jahre 1980 auf
knapp 19% im Jahre 1997 (Kohler/Spitznagel 1995, S.354 sowie Stat.
Bundesamt 1998, S.8) kontinuierlich an, da immer mehr Unternehmen
in der Teilzeitarbeit eine Möglichkeit sehen, Betriebsabläufe zu optimie-
120
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
ren durch höhere Leistung pro Arbeitsstunde, höhere Flexibilität des
Personaleinsatzes und Minderung der Krankheits- und sonstigen Fehlzeiten (Mc Kinsey 1994). Und auch die geringfügige, nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist deutlich angestiegen. Nach Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in
Köln kletterte in Gesamtdeutschland die Zahl der sozialversicherungsfreien Beschäftigten von 1992 rund 3,8 Mio. auf bereits 4,9 Mio. im Jahre
1997 (BA 1998a, S.109f.).
Insgesamt befand sich 1995 bereits ein gutes Drittel aller abhängig
Beschäftigten in Deutschland in Nicht-Normalarbeitsverhältnissen, zu
denen ausschließlich geringfügig und befristet Beschäftigte, Leih-, Kurzund HeimarbeiterInnen, Teilzeitbeschäftigte sowie sogenannte ScheinSelbstständige15 gezählt werden. Nur noch knapp zwei Drittel befanden
sich in Normalarbeitsverhältnissen, also in unbefristeten sowie arbeitsund sozialrechtlich abgesicherten Vollzeitbeschäftigungen. Bei Fortschreibung der dargestellten Entwicklung wird das Verhältnis von Normal- zu Nicht-Normalarbeitsverhältnissen in fünfzehn Jahren bei eins zu
eins liegen. Nur die Hälfte der abhängig Beschäftigten hätte dann noch
dauerhafte, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitarbeitsplätze (Kommission 1996, Teil I, S.60ff.).
Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit
Durch die verschärfte internationale Konkurrenz nimmt der Druck auf
die Verlängerung der Betriebsnutzungszeiten weiter zu. Allerdings wird
die Ausdehnung der Betriebszeiten heute nicht mehr primär durch eine
entsprechende Verlängerung der Arbeitszeiten erreicht, sondern im Zusammenhang mit den neuen Technologien und neuen Produktionskonzepten durch eine zunehmende Variabilisierung der Arbeitszeiten. Die
Arbeitszeiten der Beschäftigten werden flexibel an die betrieblichen Anforderungen angepasst. Ziel der Unternehmen ist es, die Schwankungen
auf den Beschaffungs- und Absatzmärkten abzufedern und die Betriebsnutzungszeiten auf das Wochenende und in die Nacht hinein auszudehnen. Dies ist vor allem für kapital- und energieintensive Betriebe be15
Als ScheinSelbstständige werden Erwerbstätige bezeichnet, die sich formal im Status
der Selbstständigkeit befinden, bei denen es sich aber tatsächlich um abhängig beschäftigte ArbeitnehmerInnen handelt, da sie ständig für denselben Auftraggeber tätig sind.
Gabriele Winker
121
triebswirtschaftlich interessant. Die Beschäftigten geraten damit in eine
stärkere zeitliche Abhängigkeit von nicht absehbaren und schon gar
nicht beeinflussbaren Marktrhythmen.
Nach einer Studie des Instituts zur Erforschung sozialer Chancen
(Schilling u.a. 1995, S.433) ist das Ausmaß der Arbeitszeitflexibilisierung
auch zwischen 1993 und 1995 noch einmal angestiegen. In dieser Untersuchung wird als Bezugsgröße ein Normalarbeitszeitstandard definiert.
Darunter wird eine der Vollzeitbeschäftigung entsprechende Arbeitszeit
zwischen 35 und 40 Stunden verstanden, die sich auf 5 Wochentage verteilt, in der Regel von montags bis freitags tagsüber ausgeübt wird und
in ihrer Lage nicht variiert. Arbeiteten 1993 in Westdeutschland 23% der
Beschäftigten unter den Bedingungen des so definierten Normalarbeitszeitstandards, so waren es 1995 nur noch 17% der Beschäftigten.
Flexibilisierung des Erwerbsarbeitsorts
Während die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitsmenge und der Erwerbsarbeitszeit in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, entwickelt sich die räumliche Flexibilisierung noch recht vorsichtig. Zwar haben die meisten Betriebe bereits erste
Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Telearbeit gemacht,
dennoch scheint die BRD gegenüber anderen europäischen Ländern wie
zum Beispiel Großbritannien und den USA zurückzustehen. So stellen
Jörg Becker und Daniel Salamanca in einem Beitrag zur EnqueteKommission fest: „In den USA sind bereits über 10 Mio. Telecommuter
verzeichnet, in Großbritannien arbeiten schon eine halbe Million Erwerbstätige an dezentralen Telearbeitsplätzen. In Deutschland gibt es
dagegen bislang lediglich 150.000 Telearbeiter.“ (Becker/Salamanca
1997, S.27)
Allerdings stimmen alle Prognosen darin überein, dass die räumliche
Entkoppelung von Arbeitsprozessen auf dem Hintergrund immer besserer und kostengünstiger Netzleistung in Kombination mit multimedial
gestalteter Software weiter zunehmen wird. Immer mehr Erwerbsarbeit
wird in Zukunft nicht mehr in räumlich abgegrenzten Betriebsstrukturen erfolgen, sondern ortsflexibel zu Hause, bei KundInnen, im Hotelzimmer oder im Telecenter abgewickelt werden.
Die ortsflexible Erwerbsarbeit findet zur Zeit noch weitgehend im
Arbeitsverhältnis statt. TelearbeiterInnen haben also mehrheitlich einen
122
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
ArbeitnehmerInnenstatus. Auch dies wird sich in Zukunft aller Voraussicht nach ändern. Es ist abzusehen, dass ohne Gegenwehr der Beschäftigten Telearbeit von Unternehmensseite als Erprobung für späteres
Outsourcing genutzt wird. So werden viele zukünftige Telearbeiter und
Telearbeiterinnen nicht mehr als Angestellte eines bestimmten Unternehmens tätig sein, sondern auf eigenes Risiko als Selbstständige, die
ihre Dienste ergebnisorientiert an mehrere Auftraggeber vermarkten
(vgl. Brandt/Winker in diesem Band).
2.4. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
Mit den drei genannten Flexibilisierungstendenzen der Erwerbsarbeit in
den Dimensionen der Menge, Zeit und des Orts setzt sich die Erosion des
Normalarbeitsverhältnisses beschleunigt fort. Die kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit in Büro oder Fabrik im Rahmen klar geregelter Arbeitszeiten wird somit für viele Beschäftigte bald der Vergangenheit angehören. Diese Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bedeutet für Arbeitssuchende, aber auch für viele Beschäftigte eine existentielle Verunsicherung und löst Ängste aus, da tradierte soziale Sicherheiten verloren
gehen. Als Abwehrreaktion halten vor allem die in der Regel männlichen
Familienernährer verstärkt am traditionellen Leitbild, am Wunsch nach
einer kontinuierlich ausgeübten und bezahlten Vollzeiterwerbstätigkeit
fest (Schnack/Gesterkamp 1996, S.41ff.). Allerdings kann dieser Verunsicherung weder durch individuelle oder gesamtgesellschaftliche Verdrängungsleistungen noch durch Autosuggestion als politischer Methode
sinnvoll begegnet werden. Denn die Chance, dass alle Arbeitssuchenden
tatsächlich eine vollzeitige, lebenslange und sichere Erwerbsmöglichkeit
erhalten, wird ohne grundsätzliches politisches Eingreifen immer geringer.
Gabriele Winker
123
3. Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der
Informationsgesellschaft
In diesem Abschnitt gehe ich der Frage nach, was die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses für die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung
bedeutet. Dazu muss zunächst der Stellenwert der Normalerwerbsarbeit
für das Geschlechterverhältnis bestimmt werden.
3.1. Normalarbeitsverhältnis und
Geschlechterhierarchie
Mit der Konstruktion des Normalarbeitsverhältnisses entsteht das gesellschaftliche Problem, dass sich zumindest für Menschen mit Kindern
die beiden Lebensbereiche der Erwerbsarbeit und der Reproduktionsaufgaben kaum vereinbaren lassen. Denn das Normalarbeitsverhältnis setzt
voraus, dass hinter jedem, der sich an ihm als Vollzeitbeschäftigter beteiligt, eine zweite Person steht, die den Rücken freihält für die Organisation des Alltagslebens, die Versorgung und Pflege der Kinder und älterer Angehöriger. Auf dieser Unvereinbarkeit beider Lebensbereiche beruht die klare Trennung und geschlechtsspezifische Zuweisung von bezahltem Produktions- und unbezahltem Reproduktionsbereich. Die Verantwortung der Frauen für die häusliche Arbeit verhindert eine gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsmarkt. So kommt es zu Abhängigkeitsverhältnissen und Machtgefällen zwischen den Geschlechtern; es
herrscht eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung.
Dass diese geschlechtshierarchische Arbeitsteilung nach wie vor Realität ist, zeigt sich daran, dass unbezahlte Arbeit auch heute noch Frauensache ist. 35 Stunden in der Woche sind Frauen in Deutschland durchschnittlich mit hauswirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten,
der Pflege und Betreuung von Kindern und Erwachsenen sowie ehrenamtlichen Tätigkeiten beschäftigt, Männer dagegen nur gut 19 Stunden.
Spiegelverkehrt ist das Bild bei der Erwerbsarbeit. Einschließlich Wegezeiten sind Männer im Durchschnitt 31 Stunden und Frauen 15 Stunden
wöchentlich erwerbstätig (Blanke u.a. 1996, S.6). Auch verdienen vollzeitbeschäftigte Arbeiterinnen und weibliche Angestellte in Deutschland
nach wie vor im Durchschnitt ein Viertel weniger als vollzeitbeschäftigte
Männer (Tischer/Doering 1998, S.519).
124
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
Dies ist das Ergebnis einer Arbeitspolitik, für die über Jahrzehnte
der männliche Alleinverdiener – verheiratet, zwei Kinder – als Bezugsperson fungierte. Und auch wenn das Normalarbeitsverhältnis der kontinuierlichen Vollzeitarbeit der Familienernährer im Zusammenhang mit
diskontinuierlicher und Teilzeitbeschäftigung der Mütter nie für alle
Schichten gültig war und ist, liegt das Modell der Versorgerehe bis heute
der bundesdeutschen Sozialpolitik einschließlich des Steuer- und Rentensystems zugrunde und untermauert damit die klare Trennung zwischen bezahltem Produktions- und unbezahltem Reproduktionsbereich.
Gleichzeitig löst sich das klassische geschlechtsspezifische Rollenmodell immer mehr auf. Denn Frauen wollen heute mehrheitlich unterschiedliche Lebensbereiche miteinander vereinbaren, bei gleichzeitig
eigenständiger sozialer Absicherung. Für sie ist Erwerbsarbeit ein zentraler Fixpunkt in ihren Biographien und Lebensläufen geworden. Das
zeigt deutlich die im Westen langsam, aber stetig zunehmende Erwerbsbereitschaft der Frauen und die im Osten anhaltend hohe Erwerbsbereitschaft der Frauen trotz hoher Frauen-Langzeitarbeitslosigkeit in den
neuen Ländern16. Auf der anderen Seite wollen Frauen auf das Tätigsein in der Familie, im sozialen, kulturellen und politischen Bereich
nicht verzichten.
Diese verschiedenen Ziele zu erreichen, ist jedoch gerade für Frauen
mit Kindern unter dem Primat des Normalarbeitsverhältnisses nach wie
vor schwierig. So variieren sie je nach Lebensabschnitt die Dauer, die
Lage und die Verteilung der Erwerbsarbeit. Aus diesen Suchprozessen
ergibt sich die Pluralität weiblicher Lebensstile, die in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Es entstehen komplexe weibliche
Lebensverläufe im Gegensatz zu einer im Vergleich dazu eindimensional
verlaufenden männlichen Normalbiographie, die in erster Linie an der
beruflichen Entwicklung orientiert ist. Die weiblichen ‚PatchworkBiographien‘ beinhalten in all den Schwierigkeiten ihrer heutigen Realisierung gegen die Normalerwerbsbiographie auch Momente eines humaneren Lebens, indem sie der Desintegration der Lebensbereiche entge16
So ist im Westen die Frauenerwerbsquote von 46,2% im Jahre 1970 auf 60,3% im
Jahre 1997 geklettert (die Erwerbsquote der Männer liegt 1997 bei 80,5%). Im Osten
liegt die Frauenerwerbsquote 1997 nach wie vor relativ hoch bei 73,6%, die der Männer bei 79,7% (Statistisches Bundesamt 1998). Die Arbeitslosenquote der Frauen ist in
den neuen Bundesländern 1997 mit 22,5% immer noch beträchtlich höher als die der
Männer (16,6%) (BA 1998b).
Gabriele Winker
125
genwirken.
3.2. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und
Wanken der Geschlechterhierarchie
Nun gerät mit der sich entwickelnden Informationsgesellschaft das gesamte Projekt des Normalarbeitsverhältnisses, das Frauen immer wieder
neu behindert, ins Wanken. Die kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit
in Büro oder Fabrik im Rahmen klar geregelter Arbeitszeiten, an der sich
die in der Regel männlichen Familienernährer orientieren, entspricht für
immer breitere Schichten nicht mehr der Realität, und diese Entwicklung wird weiter zunehmen. Damit wird auch die eingefahrene geschlechtshierarchische Arbeitsteilung brüchig. Diese Veränderungen im
Produktionsbereich mit direkten Auswirkungen auf den Reproduktionsbereich können allerdings unterschiedlichste Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis haben:
Ohne feministischen Gestaltungsansatz werden die Flexibilisierungstendenzen zu einer Modernisierung der Ungleichheit zwischen Männern
und Frauen auf einer neuen Ebene führen. Die Segregation auf dem Arbeitsmarkt wird ebenso zunehmen wie die raum-zeitliche Verfügbarkeit
der Beschäftigten für die Unternehmen. Damit wird die Realisierung
verschiedenartiger weiblicher Lebensentwürfe und die oft gewünschte
Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft schwieriger. Frauen
bleiben auf dem Arbeitsmarkt die ‚Defizitwesen‘, da sie – nicht vollständig zeitlich und räumlich flexibel – den Anforderungen der Unternehmen
nicht umfassend gerecht werden. Für die Frauenpolitik besteht auch
weiterhin die unbefriedigende Aufgabe darin, Frauen als Mitglieder einer Problemgruppe über gezielte Frauenförderung an eine an Männern
orientierte Normalerwerbsbiographie anzugleichen.
Doch auch für Männer werden die Nicht-Normalarbeitsverhältnisse
explodieren. Auch sie werden häufiger zu eigentlich ‚frauentypischen‘
Bedingungen arbeiten: unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und unabgesichert. Es kommt damit auch für einen Teil der männlichen Beschäftigten
zu einer ‚Feminisierung‘ der Erwerbsarbeit mit all den bekannten Folgen
wie u.a. keine eigenständige finanzielle Existenzsicherung und verringerte Aufstiegschancen. Das Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit
führt zu Problemen mit der männlichen Identität.
Die neuen Flexibilisierungserfordernisse im Erwerbsarbeitsbereich
126
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
können allerdings auch als Ansatzpunkt einer neuen feministischen Gestaltungsoffensive genutzt werden. Der weitere Zerfall des Normalarbeitsverhältnisses ist dann als Chance für Frauenemanzipation zu begreifen. Dazu muss die bisherige Argumentation der Angleichung von
Frauen an die männliche Normalerwerbsbiographie revidiert werden.
Statt dessen könnten die Vorteile der unterschiedlichen Formen von
Frauenarbeit, die flexibel an breite Lebensinteressen angepasst sind, als
Ausgangspunkt der Gestaltung genommen werden. Denn aus den vielfältigen weiblichen Erfahrungen entsteht ein veränderter Fokus auf Arbeit,
da in den ‚Patchwork-Biographien‘ neben der Erwerbsarbeit immer auch
familiäre Erziehungs- und Pflegeaufgaben sowie soziale Kontakte im
weiten Sinne ihren Platz haben. So lassen sich aus diesen mehrdimensionalen Lebensperspektiven von Frauen Visionen und Handlungsmöglichkeiten für ein integriertes und individualisierbares Leben ableiten.
Dies könnte auch für Männer interessant sein. Männlichkeit wird dann
nicht weiter mit Unentbehrlichkeit in der Erwerbsarbeit gleichgesetzt,
sondern enthält neben der Identität über die Erwerbsarbeit neue Aspekte aus dem Tätigsein in der Familie und im sozialen Umfeld.
Allerdings gehen die Wahlmöglichkeiten, auf die Frauen heute zurückgreifen können und müssen, einher mit einer hohen Verantwortlichkeit für die eigene Biographie. „Frauen müssen das Skript ihrer Biographie selbst entwerfen, zusammenbasteln, zusammenflicken, angesichts
höchst komplexer, oft widersprüchlicher Entscheidungsfaktoren“
(Beck/Beck-Gernsheim 1993, S.183). Diese Entscheidungszwänge können
Frauen unter den derzeitigen Arbeitsmarktbedingungen oft auch überfordern. Deswegen ist es wichtig, dass die an unterschiedliche Lebensstile angepasste Erwerbsarbeit mit existenzsichernden Maßnahmen verknüpft wird, wie es bisher nur für die männliche Normalerwerbsbiographie gewerkschaftlich durchgesetzt werden konnte.
Gabriele Winker
127
4. Chancen und Risiken der Flexibilisierung der
Erwerbsarbeit
Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass das Normalarbeitsverhältnis
aus feministischer Perspektive durchaus problematisch ist, da es zur
Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie beiträgt, und damit die
Erosion des Normalarbeitsverhältnisses auch Chancen für eine gleichberechtigtere Arbeitsverteilung beinhaltet. Im folgenden werde ich die im
zweiten Abschnitt dargestellten Flexibilisierungstendenzen aus der Sicht
weiblicher Lebensentwürfe bewerten und darauf aufbauend zu Gestaltungsvorschlägen kommen, die zum Abbau der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beitragen können.
4.1. Generelle Begrenzung der Erwerbsarbeitszeit
Zentraler Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Tatsache, dass es
zur Situation der Vollbeschäftigung bei einer 38-Stunden-Woche als lebenslange Normalerwerbsarbeitszeit nicht mehr kommen wird. Bisher
wird auf das knapper werdende Erwerbsarbeitsvolumen mit Segregationsprozessen reagiert, die zu einer Ausweitung der Mehrarbeit, hohen
Massenarbeitslosigkeit, Zunahme der Unterbeschäftigung und damit
auch Zunahme der geschlechtsspezifischen Ungleichheit führen. Denn
Teilzeitarbeit wird vor allem – im Westen zu 91% – von Frauen ausgeübt
(BA 1997, S.103). Männer wählen Teilzeit nur, wenn sie dazu gezwungen
sind, da kein Vollzeitjob zur Verfügung steht. Auch sind drei Viertel der
geringfügig Beschäftigten Frauen (BA 1998a, S.109). Und der Prozentsatz von Frauen, die unter die ScheinSelbstständigen fallen, ist doppelt
so hoch wie der der Männer.17 Insgesamt hat diese Entwicklung zur Konsequenz, dass ein weit höherer Anteil der männlichen als der weiblichen
Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis steht (Hoffmann/Walwei
1998, S.4).
Ausgehend von den Lebensentwürfen von Frauen lässt sich der ungleichen Verteilung von Erwerbsarbeit und der Zuordnung von Teilzeitarbeit zu Frauen eine drastische Verkürzung der Normalerwerbsarbeits17
Je nach Definition der ScheinSelbstständigkeit sind entweder 0,4% aller erwerbstätigen Männer und 0,8% aller erwerbstätigen Frauen als eindeutig abhängig Beschäftigte einzustufen oder 0,9% der Männer und 1,9% der Frauen (Dietrich 1996, S.11).
128
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
zeit für alle Erwerbspersonen entgegensetzen. Anzustreben ist eine allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung auf zunächst 30, mittelfristig 25
Wochenstunden, wie es u.a. Ingrid Kurz-Scherf (1990, S.3ff.) seit längerem vorschlägt. Eine solche Verkürzung kommt der von Frauen gewünschten Arbeitszeit nahe, die durchschnittlich bei 29 Stunden pro
Woche liegt, während die derzeitige tarifliche Arbeitszeit ziemlich exakt
den Arbeitszeitwünschen von Männern mit im Durchschnitt 38 Stunden
pro Woche entspricht (Kurz-Scherf 1995a, S.982).
Obwohl die effektive Jahresarbeitszeit kontinuierlich zurückgegangen ist, ist die verfügbare Nicht-Erwerbsarbeitszeit gerade für Eltern mit
Kindern immer noch zu knapp bemessen. Verlängerte Wegezeiten, gewachsener Zeitaufwand für Versorgungsaufgaben, erhöhte Regenerationszeiten, mehr private Zeit für Weiterbildung beanspruchen die durch
Arbeitszeitverkürzungen gewonnenen Zeitphasen. So klagen mehr als
zwei Drittel der Erwerbstätigen über Zeitdruck (Kurz-Scherf 1995b,
S.107).
Erst der Normalerwerbsarbeitstag von durchschnittlich sechs oder
besser fünf Stunden schafft neue Spielräume für die partnerschaftliche
Aufteilung von Familienpflichten. Gleichzeitig müssen Frauen mit ihren
erheblich verbesserten schulischen und beruflichen Qualifikationen bei
einer radikal verkürzten Normalerwerbsarbeitszeit nicht mehr auf eine
gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben verzichten. Sie können –
und müssen dann auch – eine eigenständige, vom Partner unabhängige
Existenzsicherung anstreben.
Mit der Strategie einer radikalen Begrenzung der Erwerbsarbeitszeit
und damit einer solidarischen Umverteilung von Erwerbsarbeit ist eine
Einkommensumverteilung verbunden, da wirksame Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich nicht durchgesetzt werden können.
Abstriche bei den Einkünften der bisher Vollzeitbeschäftigten gehen mit
einer relativen Besserstellung von bisher Teilzeitbeschäftigten, vor allem
Frauen, einher. Wenn damit in Zukunft alle Familienmitglieder im erwerbsfähigen Alter ein existenzsicherndes Einkommen beziehen, kann
eine Kürzung des bisher als Familieneinkommen legitimierten Gehalts
von Vollzeitbeschäftigten auch akzeptiert werden.
Bei der Realisierung einer solchen Arbeitszeitbegrenzung muss allerdings eine soziale Komponente einbezogen werden, da in den unteren
Lohn- und Gehaltsstufen eine finanzielle Einschränkung wegen Unterschreitung des Mindesteinkommens nicht realisierbar ist. Deswegen
Gabriele Winker
129
müssen die mit der Arbeitszeitverkürzung einhergehenden Produktivitätsforschritte zum Lohn- und Gehaltsausgleich für die finanziell
schwach gestellten Gruppen herangezogen werden. Dies trägt auch dazu
bei, die krassen Einkommensspannen zu verkleinern.
Auch müsste in einem solchen Modell der generellen Arbeitszeitverkürzung die Mehrarbeit über ein hartes Steuersystem, das Unternehmen
und Beschäftigte trifft, auf Ausnahmefälle begrenzt werden. Ein konkreter Vorschlag, wie bereits heute Verkürzung der Arbeitszeit und Abbau
von Überstunden durch indirekt wirkende Regelungen unterstützt werden können, wird von Marieluise Beck und der Fraktion ‚Bündnis 90/Die
Grünen‘ in die bundesdeutsche Diskussion gebracht. Die Grundidee ist
ein aufkommensneutrales ‚Bonus-Malus-System‘. Danach müssen Betriebe mit vielen Überstunden und überlangen Arbeitszeiten einen Zuschlag auf ihre Sozialabgaben zahlen (Malus), während Firmen, die ihr
betriebliches Arbeitszeitvolumen auf relativ mehr Beschäftigte verteilen,
bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet werden (Bonus). Damit
Betriebe nicht auf ungeschützte Kurzzeitjobs ausweichen, sollen bei der
Berechnung der betrieblichen Durchschnittsarbeitszeit nur Stellen ab 19
Wochenstunden mitgezählt werden (Beck u.a. 1997).
Aussicht auf Realisierung haben diese Vorschläge allerdings nur
dann, wenn sich unser Leitbild radikal verändert. Dazu bedarf es eines
breiten gesellschaftlichen Diskurses. Erwerbsarbeit darf nicht mehr im
alleinigen Mittelpunkt unseres Wertesystems stehen, Mehrarbeit muss
gesellschaftlich diskriminiert werden. Nicht mehr diejenigen, die viel
arbeiten, dürfen einen hohen gesellschaftlichen Status für sich in Anspruch nehmen, sondern diejenigen, die es mit wenig bezahlter Arbeit
schaffen, ein zufriedenstellendes Leben zu führen. Frauenleben, in denen
neben der Erwerbsarbeit bereits heute andere sinnvolle Tätigkeiten eine
zentrale Rolle spielen, können Vorbildcharakter haben.
130
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
4.2. Soziale Absicherung neuer Arbeitsformen
Zur sozialen Abfederung einer generellen Erwerbsarbeitszeitverkürzung,
aber auch zur Absicherung neuer Arbeitsformen, wie die der neuen
Selbstständigen, muss im Sozialsystem der Bezug auf die ununterbrochene Vollerwerbsbiographie und die Zentrierung auf die Ehe aufgebrochen werden.
Bisher beruhen die Sozialsysteme (Arbeitslosen- und Rentenversicherung) auf dem Prinzip der Lebensstandardsicherung, und es wird ‚leistungsgerecht‘ bezahlt, d.h. entsprechend des Einkommens und der Erwerbsarbeitsmenge, die im Laufe einer kontinuierlichen Erwerbsbiographie angehäuft werden. Diese Systeme sind damit vor allem auf männliche Lebensmuster ausgelegt und werden mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sowie dem Vordringen neuer Arbeitsformen zunehmend untergraben. So ist ein neues System der sozialen Absicherung
anzustreben, das auch den Einkommensschwachen oder außerhalb des
Erwerbsarbeitssystems Tätigen eine soziale Grundabsicherung ermöglicht und die Einkommensschere, die während der Berufszeit entsteht,
nicht fortsetzt, sondern abschwächt.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Einführung einer existenzsichernden Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb
der bestehenden Sozialversicherungssysteme, die unabhängig von der
Dauer der Erwerbstätigkeit und unabhängig vom erzielten Einkommen
und damit den Zahlungen in die Sozialversicherung jedem erwachsenen
Menschen zusteht.
Wichtig ist, dass alle Beschäftigten, also auch diejenigen in den bisher ungesicherten Beschäftigtenverhältnissen, in die Sozialversicherung
einbezogen werden (Ochs 1997, S.640ff.). Gabriele Rolf und Gert Wagner
dehnen in ihrem Modell eines „voll eigenständigen Systems der Altersvorsorge“ die Rentenversicherungspflicht auf alle Personen im erwerbsfähigen Alter aus, also nicht nur auf geringfügig beschäftigte, sondern
auch auf Selbstständig tätige und nicht-erwerbstätige Personen. Sie
schlagen eine Mindestbeitragspflicht für alle vor, die in der Höhe 75%
des Durchschnittbeitrages aller erwerbstätigen Versicherten entspricht.
Für erwerbsverhinderte und nicht-erwerbstätige Personen übernimmt
der Staat die Beitragszahlung zur Rentenversicherung (z.B. für drei Jahre pro Kind). Mit dem Mindestbeitrag erwirbt dann jede und jeder den
Anspruch auf eine Mindestrente von derzeit rund DM 1500 (Rolf/Wagner
Gabriele Winker
131
1996, S.29ff.; Rolf-Engler in ÖTV-Magazin 10/97, S.11). Dieses Modell
strebt eine ausreichende eigenständige Alterssicherung für Frauen wie
für Männer an und unterstützt unterschiedliche Lebensentwürfe anstatt
sie – wie das derzeitige Rentensystem – zu erschweren.
Um bereits heute individuelle Erwerbsarbeitszeitverkürzungen zu
forcieren, ist als weiterer Schritt denkbar, dass sich für alle Beschäftigten Rentenansprüche nur auf eine reduzierte Normalerwerbsarbeitsdauer von 30 bzw. 25 Wochenstunden beziehen. Erwerbsarbeit, die darüber
hinaus erbracht wird, erfordert zwar ebenfalls Abgaben in die Sozialversicherung, diese kommen jedoch nicht den Einzahlenden, sondern der
Gesamtheit der Versicherten zugute. Diese skizzierten Modelle würden
bereits heute Beschäftigten ermöglichen, eine verkürzte Dauer bzw. Verringerung der Erwerbsarbeit frei zu wählen, bei vollständiger sozialer
Absicherung.
Eine grundlegendere Umgestaltung des sozialen Sicherungssystems,
die neuen Arbeitsformen zwischen Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und
Hausarbeit gerecht werden kann, wird mit dem Konzept des Bürgergeldes diskutiert. Danach haben alle erwachsenen Bürger und Bürgerinnen
ein Anrecht auf ein solches Bürgergeld, das vom Finanzamt bezahlt wird
und deswegen auch „negative Einkommenssteuer“ heißt. Als Grundeinkommen von zur Zeit etwa 1200 DM ersetzt es bis auf einige wenige Leistungen für spezielle Notsituationen alle bisherigen Sozialleistungen
(Kessler 1996, S.113ff.). Ein solches Bürgergeld würde all diejenigen sozial absichern, die nicht in den Erwerbsarbeitsmarkt hinein wollen, sondern sich bewusst dazu entscheiden, im Bereich der Kindererziehung,
Pflege, Nachbarschaftshilfe oder auch politischen Initiativen tätig zu
sein. Dadurch würden Tätigkeiten aufgewertet, die heute größtenteils
von Frauen unentgeltlich geleistet werden. Das Bürgergeld erleichtert
gleichzeitig auch weitreichende Erwerbsarbeitszeitverkürzungen, da
Beschäftigte bei einer Verringerung ihrer Erwerbsarbeitszeit durch die
Verrechnung mit dem Bürgergeld nicht mehr so viel Nettoeinkommen
verlieren wie heute. Dadurch werden gleichzeitig individuelle Wechsel in
der Dauer der Erwerbsarbeit je nach Lebenssituationen finanziell unterstützt, was den verschiedenartigsten Biographien von Frauen entgegenkommt.
132
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
4.3. Individuelle Zeitsouveränität
Statt über Arbeitszeitverkürzung wird zur Zeit viel über Arbeitszeitflexibilisierung gesprochen. Unternehmen teilen ihren Beschäftigten Arbeitszeiten nach betrieblichen Notwendigkeiten zu. In welchen Lebensphasen
und Lebensformen sich die Beschäftigten gerade befinden, ob sie allein
erziehen, ob und wie viele Kinder sie haben, wird kaum zur Kenntnis
genommen. Häufig gelten familiäre Verpflichtungen, die die zeitliche
Flexibilität begrenzen, als Einschränkung des betrieblichen Leistungsvermögens. Gerade bei der Arbeitszeitflexibilisierung wird deutlich, dass
Erwerbsarbeit in der modernen Gesellschaft als eigenständiges System
getrennt von der Familienwelt organisiert ist und sich gegen die Anforderungen der Familienwelt strukturell rücksichtslos verhält. Die weitere
Flexibilisierung im Unternehmensinteresse führt so zu verschärften Abstimmungsproblemen zwischen Beruf und Familie. Soziale und zwischenmenschliche Beziehungen sind vom Problem einer permanenten
Terminabstimmung geprägt. Insgesamt dehnt sich die von der beruflichen Sphäre bestimmte Zeit aus. Frauen werden noch mehr zum Puffer
zwischen Betrieb und Familie.
Wieder ausgehend von weiblichen Lebensmodellen ist neben und in
Ergänzung der generellen Begrenzung der individuellen Erwerbsarbeit
die Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung wichtig. Unter Arbeitszeitautonomie oder individueller Zeitsouveränität werden die Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten auf die Dauer, Lage und Verteilung der persönlichen Arbeitszeit verstanden. In einer Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Lebensstile herausbilden, ist diese selbstbestimmte zeitliche
Flexibilität entscheidend für Handlungsmöglichkeiten bei der Realisierung der eigenen individuellen Lebensentwürfe. Dreh- und Angelpunkt
einer individuellen Zeitsouveränität ist allerdings deren Verbindung mit
der generellen Begrenzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit.
Auch wenn dadurch die Zeitautonomie in der Erwerbsarbeitsdauer nach
oben rigide begrenzt wird, führt nur in dieser Kombination individuelle
Arbeitszeitflexibilisierung zu mehr individueller Freiheit und nicht
mehr, wie beispielsweise heute bei der Teilzeitarbeit, zu Segregationsprozessen auf dem Arbeitsmarkt.
Für Frauen ist wichtig, dass persönliche Zeitpräferenzen von der
großen Mehrheit der Beschäftigten je nach persönlicher Lebenslage genutzt und in diesem Sinne ‚normal‘ werden. Dies ermöglicht, dass Frauen
Gabriele Winker
133
in Zukunft über die individuelle Wahl unterschiedlicher Erwerbsarbeitszeiten nicht weiter in ihren beruflichen Karrieren beschnitten werden.
Auf dem Hintergrund einer Höchstarbeitszeit von 25 Stunden pro Woche
gehören individuell gestaltbare, zeitlich flexible Beschäftigungsformen
auch nicht mehr nur ins Reich der Notwendigkeit zur Vereinbarkeit von
Berufs- und Familienarbeit, sondern auch ins Reich der neuen Optionen,
mit denen im eigenen Leben bewusst Schwerpunkte gesetzt werden können.
Durch individuelle Zeitsouveränität lassen sich zum Beispiel in Abhängigkeit von der familiären Situation bewusst gemeinsame bzw. bewusst versetzte Arbeitszeiten der LebenspartnerInnen planen. Je nach
Lebensphase ist auch eine vorübergehende Reduzierung oder Unterbrechung der Erwerbsarbeit realisierbar, die im größeren Maßstab vor- oder
nachgearbeitet wird. Das Sabbatjahr-Modell ist beispielsweise im neuen
Rahmen nicht mehr eine besondere Form der Teilzeit, sondern eine von
vielen zeitlichen Optionen, mit der die begrenzte Erwerbsarbeitsmenge
individuell, zeitlich souverän umgesetzt wird. Beschäftigte können über
sechs Jahre mehr als die festgesetzte Wochenobergrenze arbeiten, um im
siebten Jahr bei fortlaufendem Einkommen auszusetzen.
Zur schrittweisen Umsetzung einer individuellen Zeitsouveränität
bieten sich unterschiedliche Formen von Zeitkonten wie zum Beispiel
Jahresarbeitszeitkonten an. Je größer der mögliche Ausgleichszeitraum
ist, um so mehr wird die Regelarbeitszeit nur noch zu einer als Durchschnittswert definierten Größe. In einem solchen Fall besteht eine hohe
Zeitautonomie. Damit rückt auch das eigentliche Arbeitsergebnis in den
Vordergrund, und die konkrete Verteilung der hierfür aufgewendeten
Zeitdauer wird für die Unternehmen sekundär, solange der eingeplante
grobe Zeitrahmen eingehalten wird. Wichtig ist auch ein veränderter
Umgang mit diesen Zeitkonten. Während bisher eine möglichst lange
Anwesenheit mit Leistung gleichgesetzt wurde, gilt es in Zukunft, die
Überschreitungen des Arbeitszeitbudgets auch aus betrieblicher Sicht zu
sanktionieren und die Unterschreitungen als Zeichen produktiven Arbeitens positiv zu bewerten.
Auch wenn die Individualisierung von Arbeitszeitgestaltung über hohe Attraktivität verfügt, so darf nicht übersehen werden, dass sie ohne
kollektivrechtliche Flankierung zu einer Spielwiese für die Durchsetzung
der Arbeitszeitinteressen von Stärkeren gegenüber Schwächeren – zwischen Unternehmensleitung und Beschäftigten, aber auch unter den
134
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
Beschäftigten – wird. Denn es gibt eklatante Widersprüche zwischen
einerseits betrieblichen Flexibilitätsanforderungen und andererseits
individueller Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung (Seifert 1996,
S.442ff.). Die Mehrzahl der Beschäftigten in der Krankenpflege beispielsweise hat eine minimale Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung trotz
weitreichender Flexibilisierungsanforderungen. Deswegen bedarf es gemeinschaftlicher, kollektivrechtlich abgesicherter Regelungen, welche
die Zeitsouveränität im Interesse und nach den Bedürfnissen der Beschäftigten stärken. Denkbar sind Selbstbestimmungsrechte über Arbeitszeiteinteilungen in teilautonomen Gruppen, wobei auf Gruppenbasis
betriebliche Anforderungen wie zum Beispiel Öffnungszeiten abzudecken
sind. Auch lässt sich ein Mix zwischen individuell festlegbaren Arbeitszeiten und einem Arbeitszeit-Korridor vorstellen, über den das Unternehmen verfügen kann.
Zeitautonomie verlangt insofern nicht nach einer Deregulierung,
sondern nach einer Stärkung kollektiver, gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. Ein Beispiel ist das ÖTV-Projekt „Neue Zeitpraxis“ (ÖTV
Argumente Nr.4, November 1997) bei dem auch über Zeit-Faktorisierung
neu nachgedacht wird. So ist beispielsweise eine Nachtschicht wie anderthalb Tagschichten zu werten. Darüber hinaus könnten auch Zeitzuschläge für die Bereitschaft zur kurzfristigen Flexibilität vereinbart werden.
4.4. Individuelle Ortssouveränität
Die räumliche Entkoppelung von Arbeitsprozessen wird auf dem Hintergrund immer besserer und kostengünstiger Netzleistung weiter zunehmen. Auch wenn mit Telearbeit keine grundlegende Veränderung der
Organisation des Alltags und damit der Veränderung der Geschlechterrollen einhergeht, kann Ortsflexibilität Vorteile bringen (vgl.
Brandt/Winker in diesem Band). Gerade im Rahmen einer Begrenzung
der Normalerwerbsarbeitszeit und erhöhter Zeitsouveränität können
bestimmte Formen von Telearbeit die Reintegration von Beruf und Familienalltag erleichtern. Die Bewertung der unterschiedlichen Telearbeitsmodelle ist allerdings noch recht schwierig.
Ausgehend von weiblichen Lebensstilen lässt sich festhalten, dass eine umfassende Ortssouveränität von Interesse sein kann, in der auch
kurzfristig ortsflexibel gearbeitet werden kann. Denn gerade für Men-
Gabriele Winker
135
schen mit Familienpflichten ist es wichtig, je nach konkreter Lebenssituation zwischen der Telearbeit zu Hause und dem Tätigsein in der zentralen Betriebsstätte wechseln zu können. Ortssouveränität verbindet die
Vorteile des zentralisierten sozialen Zusammenarbeitens im Team mit
den Vorteilen der örtlichen Flexibilität für bestimmte Situationen und
Tage.
Individuelle Ortssouveränität ermöglicht zum Beispiel das Abarbeiten einzelner zeitlich drängender Tätigkeiten zu Hause im Krankheitsfall von Angehörigen. Da gerade Frauen ausreichend Erfahrungen mit
spontanen Umdisponierungen im Familienbereich wegen kranker Kinder
oder Angehöriger haben, wissen sie den Vorteil zu schätzen, bei Bedarf
zeitflexibel zu Hause arbeiten zu können. Gleichzeitig bewerten gerade
Frauen auch den kommunikativen Gewinn des Arbeitens im Team sehr
hoch und sehen darin oft auch einen der Hauptgründe für die Erwerbstätigkeit.
Gerade qualifizierte Aufgabenfelder wie Management, Programmierung, Forschung und Entwicklung, qualifizierte Sachbearbeitung usw.
mit hohem Anteil an Informationsarbeit und mit einem hohen Grad an
zeitlicher und inhaltlicher Autonomie, wie sie in der Informationsgesellschaft zunehmen werden, eignen sich für ortsungebundenes Tätigsein.
Wichtig ist, dass bei der Telearbeit die kollektivrechtlichen Regelungen
und damit der institutionell-rechtliche Rahmen des Arbeitsverhältnisses
möglichst weitgehend gültig bleiben und nur auf ausdrücklichen Wunsch
der Beschäftigten in Richtung Selbstständigkeit aufgelöst werden kann.
5. Verbesserung der Lebensqualität für Frauen
und Männer
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei dem hier vorgeschlagenen Vorgehen das Ziel nicht mehr heißt, Frauenarbeit an das männlich
orientierte Normalarbeitsverhältnis anzugleichen. Statt dessen werden
weibliche Arbeits- und Lebensstile als Ausgangspunkt für die Modernisierung der Arbeitsverhältnisse in der Informationsgesellschaft begriffen.
Sie lassen sich zwar bisher nur schwierig realisieren und sind mit großen
Nachteilen vor allem in der sozialen Absicherung und der beruflichen
136
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
Entwicklung verbunden, ermöglichen jedoch im Ansatz eine bessere Verbindung aller Lebensbereiche. Ausgehend von den weiblichen Arbeitsund Lebensbedingungen mit ihrer zunehmenden Pluralisierung konnten
folgende Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden:
•
•
•
generelle Begrenzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit auf
30, mittelfristig 25 Wochenstunden,
soziale Absicherung unabhängig von der Erwerbsarbeit,
möglichst weitgehende individuelle Zeit- und Ortssouveränität.
Mit einer generellen Erwerbsarbeitszeitverkürzung, einer erwerbsunabhängigen sozialen Absicherung, einer individuellen Zeit- und Ortssouveränität ist für Frauen und Männer eine deutlich bessere Verbindung von
unterschiedlichen Lebensbereichen möglich, als dies heute der Fall ist,
oder mit den Krücken der Teilzeit- und Teleheimarbeit erreicht werden
soll.
Unter diesen Voraussetzungen, bei denen Arbeit, Einkommen und
Zeit unter dem Gerechtigkeitsaspekt neu verteilt werden, haben Frauen
wie Männer nicht nur mehr Zeit für Reproduktionsarbeiten, sondern
auch für die breiter definierte Eigenarbeit. Dann muss ehrenamtliche
Arbeit auch nicht staatlich gefördert werden, wie bei der von Ulrich Beck
in die Diskussion gebrachten „Bürgerarbeit“ (Kommission 1997, Teil III,
S.146ff.). Ein tatsächlich freiwilliges soziales Engagement von BürgerInnen kann unter den dargestellten Bedingungen zur Bereicherung des
Lebens beitragen. Schon heute lässt sich feststellen, dass ehrenamtliche
Arbeit eben gerade nicht substitutiv, sondern eher komplementär zu
einer Erwerbstätigkeit ist (DIW 4/1998, S.82ff.).
Die Chancen zur Durchsetzung des dargestellten Modells stehen
heutzutage gar nicht so schlecht, da auch bereits Männer von der ‚Feminisierung‘ der Erwerbsarbeit betroffen sind. Sie werden arbeitslos oder
befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen, so dass sie ihrer traditionellen Ernährerrolle nicht mehr gerecht werden können, und auch für
sie eine gerechtere Verteilung von – bezahlter und unbezahlter – Arbeit
von Interesse sein könnte. Unter den Bedingungen einer rigide verkürzten Erwerbsarbeitszeit können Männer in die Reproduktionsarbeit
einsteigen und Verantwortung für die Lebensgrundlage der nächsten
Generationen übernehmen. Und dennoch wird das von mir skizzierte
Modell nicht von heute auf morgen erreichbar sein, da die gesellschaftli-
Gabriele Winker
137
che Redefinition des Stellenwerts der Erwerbsarbeit ein kultureller Prozess ist, der Zeit benötigt. Doch es kann ein zentraler Mosaikstein sein,
der zur notwendigen, breit zu führenden Diskussion um die Zukunft der
Arbeit einlädt.
Komme ich also zu meiner Fragestellung vom Beginn zurück, so lässt
sich festhalten, dass das Geschlechterverhältnis nicht virtuell, sondern
ganz konkret und greifbar in Bewegung und damit in Unordnung gerät
und diese Entwicklung weiter voranschreiten wird. Gleichzeitig enthält
diese Bewegung, diese Unordnung eine Chance für die Emanzipation von
Frauen. Und diese Emanzipation lässt sich als virtuell bezeichnen, da
einerseits die Emanzipationschancen im Rahmen der sich entwickelnden
Informationsgesellschaft zunehmen können. Andererseits, und viel wichtiger, verweise ich mit virtuell auf die potentielle Kraft, auf ein potentielles Vermögen, welches heute noch keine Gegenständlichkeit besitzt.
Die Chance einer veränderten und gleichberechtigteren Arbeitsteilung
zwischen den Geschlechtern ist aber „der Kraft oder Möglichkeit nach
vorhanden“. Sie muss und kann von einer neu aktiv werdenden Frauenbewegung genutzt werden.
Gefragt ist heute Phantasie, um auf dem Hintergrund neuer Flexibilisierungsanforderungen eine Informationsgesellschaft zu gestalten, in
der morgen tatsächlich der Wunsch nach einem ‚besseren‘ Leben für beide Geschlechter Realität wird. Individualisierte Biographien für Frauen
und Männer, in denen auf dem Hintergrund einer für alle Menschen
reduzierten und abgesicherten Erwerbsarbeitsmenge zeitliche und
räumliche Optionen realisiert werden, werden dann in der Zukunft zum
festen Bestandteil einer hohen Lebensqualität gehören. Damit kann sich
dann die virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis zukünftig in
eine gleichberechtigte Geschlechter-Ordnung verwandeln, die Frauen
wie Männern genügend Platz für eine individuelle Lebensführung ermöglicht.
138
Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis
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Gabriele Winker
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140
Frauen geben der Technik neue Impulse
Ellen Sessar-Karpp
1. Hintergrund
Der Strukturwandel unserer Gesellschaft ist in vollem Gange. Der Einsatz der neuen Medien, die Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) prägen ihn entscheidend, Ausbildungs-, Erwerbs- und Beschäftigungschancen verändern sich. Die Ausweitung des Dienstleistungssektors lässt sich beobachten, dabei werden neben den primären
(einfachen) Dienstleistungen die höher qualifizierten (z.B. Forschen, Planen, Beraten) mehr und mehr wichtig. Informations- und wissensbasierte Tätigkeiten nehmen zu. Wesentlich bei diesen Veränderungen ist, dass
die klassische Sektoreneinteilung (Landwirtschaft, Produktion, Dienstleistungen) sich auflöst und Dienstleistungstätigkeiten sich auch in den
anderen Sektoren ausweiten („produktionsnahe Dienstleistungen“). Information wird zum vierten Produktionsfaktor.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit (BA), Nürnberg, stellt fünf Megatrends fest, die den
Wandel der Arbeitswelt kennzeichnen:
• Tertiarisierung: Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft
• Qualifizierung: mehr Bedarf an höherqualifiziertem Personal (Fachhochschul-, Hochschulabsolventen)
• Informatisierung: Durchdringung aller Bereiche durch IuK; wobei
die technisch verfügbaren Potentiale bis jetzt bei weitem nicht ausgeschöpft sind
• Globalisierung
• Individualisierung: Ablösung des „Normalarbeitsverhältnisses“ und
Ausweitung differenzierter und flexibler Erwerbsarbeitsformen“ (Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdienste der BA - ibv
- , Nürnberg, Nr. 13/99).
142
Frauen geben der Technik neue Impulse
Bei dem Trend zu mehr Dienstleistungen sind Frauen nicht, wie sich
vielleicht erwarten ließe, automatisch die Gewinnerinnen. So haben in
den neuen Bundesländern – auf die ich mich bei den weiteren Ausführungen vorrangig beziehe - vor allem Frauen hier Arbeitsplätze verloren
(mit Ausnahme des Handels, des Gastgewerbes und der Öffentlichen
Verwaltung), während Männer gerade in den letzten Jahren (Statistik
bis 1997) im Dienstleistungsbereich Gewinne verzeichnen konnten.
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
1991
1995
Öffentliche und private
Dienstleistungen
Öffentliche Verwaltung
Kredit- und
Versicherungsgewerbe
Verkehr und
Nachrichtenübermittlung
Handel und
Gastgewerbe
1997
Dinestleistungen
darunter:
in Prozent
Abbildung 1: Anteil der weiblichen Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich in den neuen Bundesländern im April 1991,1995,1997 in %
2. Frauen und (neue) technische Berufe
Der Anteil technisch ausgebildeter Frauen in den neuen Bundesländern
ist bekanntermaßen überdurchschnittlich hoch. So gab es in der DDR im
Jahr 1989 531.000 Ingenieure, darunter 23 % Frauen (= 121.000 Personen). 40 % von ihnen hatten einen Hochschulabschluss, 60 % einen Fachschulabschluss. Trendmäßig stieg in der DDR der Anteil von Frauen mit
Hochschulabschluss an.
Ellen Sessar-Karpp
143
Ohne im weiteren auf den Verbleib der Ingenieurinnen nach der
Wende näher einzugehen (Verringerung ihrer Erwerbszahlen, Aufnahme
artfremder oder unterqualifizierter Tätigkeiten, Pendler in die alten
Bundesländer, Übergang in Fort- oder Umschulungsmaßnahmen oder
auch in Selbstständigkeit), lässt sich hier in jedem Fall ein qualifiziertes
Potential erkennen, das damit für die strukturellen Veränderungen gut
vorbereitet sein sollte.
Dieses Potential wird ganz allgemein Frauen zugeschrieben, verfügen sie doch über die wichtigen Fach-, Sozial- und Methodenkompetenzen, die bei den neuen Berufen, insbesondere auch den Mischberufen,
erforderlich sind.
Abbildung 2: Ausbildungsverträge Stand 31.12.1997
Neue Ausbildungsberufe in Kraft seit Mitte insgesamt Frauenanteil
1996 bzw. 1997
in Prozent
Werbe- und Medienvorlagehersteller/in
1.688
56
Film- und Videoeditor/in
36
56
Mediengestalter/in in Bild und Ton
500
28
Informations- und Telekommunikationselekt1.485
5
roniker/in
Fachinformatiker/in
1.783
12
Informationsund
Telekommunikations756
26
kaufmann/-kauffrau
Informatikkaufmann/-kauffrau
772
24
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, DIHT.
Die Zahlen von Frauen in technischen Bereichen sind allerdings gerade
in den sensiblen Zukunftsbereichen wie Informatik und Elektrotechnik
und (für die neuen Bundesländer) in den Ingenieurwissenschaften insgesamt rückläufig. Waren mit Aufnahme der Informatik als Studiengang
Frauen daran etwa mit 18 % beteiligt, so liegt ihr Anteil heute bei ca. 12
%. Unter den InformationselektronikerInnen sind 5 % Frauen, bei den
Informations- und Tele-Kommunikationskaufleuten sind rund 25 %
Frauen. Insgesamt nutzen Frauen die neuen Ausbildungsberufe (ITSystem-ElektronikerIn;
FachinformatikerIn;
IT-System-Kaufmann/
-Kauffrau; Informatikkaufmann/-frau) wie auch techniknahe Weiterbildungsangebote von erheblich weniger als (junge) Männer.
144
Frauen geben der Technik neue Impulse
Frauen arbeiten weniger in sogenannten Computer-Kernberufen und
setzen an ihren Arbeitsplätzen Computer eher als Werkzeuge denn zur
Technikgestaltung ein.
Abbildung 3: Erwerbstätige in Computer-Kernberufen in Deutschland
Berufe
Frauenanteil in
Prozent
Insgesamt (327.700)
23
Alte Bundesländer (297.000)
21
Neue Bundesländer (30.700)
41
Anwendungssoftwaretechniker/innen
40
Datenverarbeitungsfachleute
31
Rechenzentrums- und DV-Benutzerservicefachleute
24
Datenverarbeitungskaufleute
23
Sonstige Datenverarbeitungsfachleute
22
Softwareentwickler/innen
20
Softwareentwickler/innen, allgemein
19
Informatiker/innen o.n.A.
18
DV-Beratungs- und Vertriebsfachleute
17
DV-Organisatoren/Organisatorinnen
16
Systemsoftwareentwickler/innen
12
DV-Leiter/innen
11
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, Mikrozensus 1993, Dostal
MatAB, 2/1996.
Auch Telearbeit wird überwiegend von Männern ausgeübt, nur etwa ein
Drittel der telearbeitenden Personen sind Frauen. Dieser erwartungswidrig geringe Anteil wird in der Forschung mit dem hohen Anteil mobiler Telearbeit erklärt, der überwiegend von männlichen Außendienstlern wahrgenommen wird. Frauen sind eher in den Bereichen der alternierenden Telearbeit oder in Teleheimarbeit zu finden, beides Bereiche,
die insgesamt zahlenmäßig nicht sehr ins Gewicht fallen.
Und wo sind die Frauen im Netz? In den USA entwickelt sich gerade
das Internet zu einem von Frauen sehr angenommenen Medium. In
Deutschland gibt es auch steigende Zahlen; so handelt es sich um schätzungsweise 20 Prozent aller Frauen, die sich in unserem Land gegenwär-
Ellen Sessar-Karpp
145
tig mit dem Internet beschäftigen. Das Interesse von Frauen scheint
durchaus gegeben, wie die ersten Ergebnisse der Aktion „Frauen ans
Netz“ zeigen. Und es sind nicht nur Anwenderinnen, sondern es gibt
auch gestaltende Initiativen von Frauen als Webgirls oder Providerinnen. Aber eine befriedigende Situation ist es nicht und zukunftsorientiert
ist sie auch nur in Ansätzen.
3. Frauen geben Technik neue Impulse –
Initiativen und Strategien
Seit Jahren engagieren sich Frauen in vielfältiger Weise, um auf die
neuen Entwicklungen in der Arbeitswelt und Gesellschaft hinzuweisen
und junge Frauen zu motivieren, sich für technische Berufe zu entscheiden. Die FrauenTechnikZentren, von denen das erste in den neuen Bundesländern 1990 in Leipzig gegründet wurde, sind nur ein Beispiel für
solche Aktivitäten von Frauen.
Ein weiteres ist die bundesweite Initiative „Frauen geben Technik
neue Impulse“: hier soll kurz dargestellt werden, um was es geht und
welche konkreten Handlungsfelder bearbeitet werden.
Die Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ ist eine Gemeinschaftsaktion des Bundesministerium für Bildung und Forschung, der
Bundesanstalt für Arbeit und der Deutschen Telekom, die Anfang der
90er Jahre aufgrund der oben beschriebenen Situation ins Leben gerufen
wurde. Sie setzte die Bemühungen fort, die Ende der 70er Jahre in der
damaligen Bundesrepublik unter dem Motto „Mehr Mädchen in gewerblich-technische Berufe“ gestartet wurden.
Die Koordinierungsstelle der Initiative hat seit 1996 ihren Sitz an der
Fachhochschule Bielefeld.
Ziel der Initiative ist es, den Anteil von Frauen in technischen Berufen und Studiengängen zu erhöhen. Hierzu erledigt sie komplexe Aufgaben:
• Erfassung und Bündelung der Interessen der aktiven FrauenTechnik-Netzwerke, Projekte und Verbände
• Angebot der Koordinierungsstelle als Dienstleister
• Umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit (Broschüren, Schriftenreihen,
Fachveranstaltungen, Messepräsenz u.a.)
146
•
•
Frauen geben der Technik neue Impulse
Entwicklung neuer Ansätze, z.B. Anregungen für die Weiterentwicklung neuer technischer Studiengänge, die Frauen ansprechen
Präsenz im Internet und Bereitstellung einer Datenbank.
Abbildung 4: Am Arbeitsplatz genutzte Software – in Prozent der Befragten mit EDV
Softwarekategorie
Männer
Frauen
Textverarbeitung
55,8
63,2
Datenbank- Informationssysteme
58,3
46,1
Buchhaltungs- und Abrechnungssysteme
26,2
37,9
Tabellenkalkulations- und Statistiksysteme
41,7
35,2
Sonstige Softwaresysteme
27,1
22,1
Buchungs- und Bestellsysteme
19,9
20,8
Finanz- und Börsensysteme
12,3
13,6
Programmiersysteme
16,0
8,8
Fertigungsorientiere Systeme
20,9
7,9
DTP, Grafiksysteme
12,3
5,6
Bild- und Videobearbeitungssysteme
8,3
5,4
CAD-Systeme
11,6
3,4
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, Sonderauswertung aus der
IAT-Beschäftigtenbefragung 1995/1996, NRW 1997.
Durch das Bestehen der Koordinierungsstelle ist eine Vernetzung der am
Thema arbeitenden und interessierten Personen und Einrichtungen gelungen. In zahlreichen, in der Öffentlichkeit beachteten Veranstaltungen
wurden die brennenden Probleme vorgestellt und neue Themen aufgegriffen. So fand zum Beispiel hier in Leipzig im vergangenen Jahr das
dritte überregionale Expertinnengespräch mit dem Thema „Strategien
des beruflichen Auf- und Wiedereinstiegs von Frauen in Technik und
Wirtschaft“ (23.-24.11.1998) statt, wobei es wesentlich darum ging, dem
Verfall der vorhandenen technischen Qualifikationen von Frauen aus
den neuen Bundesländern entgegenzuwirken.
Gerade im Zusammenhang mit dem letzten Thema möchte ich als
weiteres Beispiel schließlich noch auf das Technologie- und Beratungszentrum für Frauen im Leipziger Landkreis hinweisen. Diese Einrichtung, die 1995 zunächst als europäisches Modellprojekt entstand, hat mit
Ellen Sessar-Karpp
147
dem Einzug in das Göselhaus in Dreiskau-Muckern, an der Tagebaukante südlich von Leipzig, einen längerfristigen Standort bezogen. Die im
Haus ansässigen Vereine und Unternehmen haben es sich zur Aufgabe
gemacht, Frauen - vorrangig aus technischen Berufen - bei ihren Bemühungen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, zu unterstützen.
Das Göselhaus verfügt über eine Infrastruktur, die mindestens der üblicher Technologiezentren vergleichbar ist (gut ausgestattete Büro- und
Veranstaltungsräume mit erforderlicher Technik, günstige Nutzungskonditionen, gastronomische Versorgung, Testlaborräume, ggfs. Kinderbetreuung). Darüber hinaus kann das Knowhow der Mitarbeiterinnen
genutzt werden, um Kontakte zu knüpfen, Zugang zu Netzwerken zu
erhalten und durch Synergien den eigenen Zielen näher zu kommen.
4. Ausblick
Die Wirtschaft braucht die Frauen und die Technik braucht die Frauen!
Damit Qualität im Sinne nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung
vorangebracht wird.
Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?
Ansätze und erfolgreiche Beispiele aus gelungener Förderung technischer Interessen von Mädchen und Frauen und hinsichtlich ihres Ausbildungswahlverhaltens sind auszuwerten und in flächendeckende Umsetzungsmodelle zu übertragen. Was nützen die bald zahllosen Berichte und
Empfehlungen, wenn ihre Erkenntnisse nicht in konkretem Handeln
münden?
In dem Zusammenhang möchte ich auf die Koedukationsforschung
hinweisen, die an vielen Beispielen gezeigt hat, was Mädchen hindert,
sich für Technik zu interessieren bzw. ihr (verborgenes) Interesse zu
aktivieren. Ich beziehe mich auf neue technische Studiengänge, die von
Frauen sehr angenommen werden, zum Beispiel an der FH Bielefeld die
neue Studienrichtung „Energieberatung und -marketing“. Diese steht im
Rahmen des Elektrotechnikstudiums für fünf Jahre erprobungsweise
ausschließlich Frauen zur Verfügung und wird sehr nachgefragt. Mit
dieser neuen Studienrichtung konnte der Anteil von Frauen an der ETechnik der FH Bielefeld bereits auf 25 % gesteigert werden. Im Durch-
148
Frauen geben der Technik neue Impulse
schnitt liegt ihr Anteil an allen Studienanfängern in diesem Fach allgemein nur bei ca. 5 %.
Fragen möchte ich nach den Lehren, die aus der Situation von Frauen in technischen Berufen der ehemaligen DDR gezogen werden können?
Diese scheinen mir bislang noch zu wenig ausgewertet zu sein. Sie könnten Hinweise darauf geben, mit welchen Mitteln Mädchen für technische
Richtungen interessiert wurden, welche Rolle dabei u.a. Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer spielten und inwieweit evtl. auch die beruflichen Aussichten motivierten.
Wichtig erscheinen mir weiter folgende Aktivitäten: ein verstärktes
Einsetzen weiblicher Vorbilder (Mentorinnenmodell) und eine noch intensivere Netzwerkbildung. Erforderlich sind auch noch mehr Flexibilität und Ideen bei den Bemühungen, vorhandene technische Qualifikationen und Kompetenzen von Frauen zu nutzen, zu fördern und die Wirtschaft darauf aufmerksam zu machen, dass das fehlende Arbeitskräftepotential in technischen Bereichen aufgrund der demographischen Situation nur von Frauen kommen kann.
Wirtschaftsnahe Wiedereinstiegsmodelle für arbeitslose Ingenieurinnen sollten auf den Weg gebracht, internationale Erfahrungen dabei
verwendet werden.
Technische Ausbildungen und die neuen Berufe sollten allen Mädchen frühzeitig nahegebracht und ihr Interesse daran geweckt werden.
Hierin liegt eine verantwortungsvolle Aufgabe für Eltern, Schulen, Berufsberatungspersonal, Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen.
Entscheidend sind meiner Meinung nach allerdings die Signale des Arbeitsmarktes. Welches Mädchen entscheidet sich für ein ingenieurwissenschaftliches Studium, wenn ihre Mutter arbeitslose Ingenieurin ist.
Es geht also darum, noch mehr Vertreter der Wirtschaft und Arbeitgeber
für das Thema zu interessieren. Es geht uns alle an, welche Zukunftsperspektiven jungen Frauen eröffnet werden. Neues Engagement ist gefragt
von allen Seiten.
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
Entwicklungschancen für Frauen in den neuen
Bundesländern. Selbstständigkeit in Freien Berufen als
erfolgversprechende Alternative
Karin Hildebrandt
1. Ausgangsbedingungen
Der Strukturwandel zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft
führt zu gravierenden Veränderungen im Zusammenleben und der Zusammenarbeit der Menschen. Insbesondere der im Verlauf des ostdeutschen Transformationsprozesses sich vollziehende gesellschaftliche und
wirtschaftliche Wandel wirkte und wirkt sich dramatisch auf die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation der ostdeutschen Bevölkerung
und hier besonders auf die Situation der Frauen aus. Hohe Arbeitslosigkeit und zunehmender Beschäftigungsabbau in den neuen Bundesländern gehen einher mit gravierenden beruflichen Veränderungen in den
unterschiedlichsten Berufs- und Tätigkeitsfeldern (Vgl. Bläsche/Gensior
1998: 78).
Vom Arbeitsplatzabbau Anfang der 90er Jahre war zunächst das produzierende Gewerbe mit seinem hohen Männeranteil in Ost- und Westdeutschland stärker betroffen als der Dienstleistungsbereich, indem der
überwiegende Teil der Frauen tätig war und ist. Während allerdings in
Westdeutschland vor allem Männer freigestellt wurden, kam es in Ostdeutschland insbesondere zwischen 1991 und 1995 bei Frauen zu größeren Arbeitsplatzverlusten als bei Männern. Anders als in Westdeutschland waren in Ostdeutschland auch im Dienstleistungsbereich Frauen
die Verliererinnen am Arbeitsmarkt (vgl. IAB-Kurzberichte 1997, Heft 9,
S.1). „Gerade im Rahmen des ostdeutschen Transformationsprozesses
laufen sozusagen im ‘Zeitraffer’ Umstrukturierungsprozesse ab„, die „so-
150
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
wohl Tendenzen der Reprofessionalisierung als auch der Deprofessionalisierung beinhalten können„ und sich besonders in professionellen Berufsfeldern zeigen. „Die durch die gesellschaftlichen Veränderungen zugleich
erzeugte Modernisierung der verschiedenen professionellen und sich
professionalisierenden Berufsfelder fördert nicht nur Entwicklungs- und
Innovationspotentiale, sondern kann auch zu vielfältigen ökonomischen
und sozialen Problemen führen, wenn z.B. die Wettbewerbssituation
ungünstig ist, die nachholende inhaltliche Neuorientierung und arbeitsorganisatorische Stabilisierung nur schwer gelingt und Konkurrenz und
Kooperation nicht ins richtige Lot geraten„ (Bläsche/Gensior 1998: 80).
Aus beschäftigungssoziologischer und Gender - Perspektive erscheinen in diesem Zusammenhang die Entwicklungen und Veränderungen
im Bereich der Einsatzfelder hochqualifizierter professioneller Berufe
von besonderem Interesse. Denn „in den neuen Bundesländern kann als
Voraussetzung und Folge des Transformationsprozesses von einer Restrukturierung der Arbeit in professionellen Berufsfeldern gesprochen
werden; ein zunehmender Aufschwung im Bereich der ‘Freien Berufen’
bestätigt dies„ (Bläsche/ Gensior 1998: 78).
Aufgrund des hohen Qualifikationsniveaus der Frauen in den neuen
Bundesländern, ihrer nicht abnehmenden Erwerbsorientierung und des
weiterhin vorhandenen hohen Stellenwertes der Erwerbstätigkeit können diese Berufsfelder zunehmend auch als Chance für Frauen angesehen werden. Hier setzt auch die Forschung an, die am Lehrstuhl für
Wirtschafts- und Industriesoziologie der BTU Cottbus mit dem Projekt
„Selbstständige in Dienstleistungsberufen„ begonnen wurde. Am Beispiel
von typischen Professionen - der Anwälte, Architekten, Steuerberater
und im DV- Dienstleistungsbereich - wird die Rekonstruktion hochqualifizierter Arbeits- und Berufsfelder in den neuen Bundesländern nachgezeichnet, die vor allem zum Bereich der Freien Berufe zählen. Diese Forschung knüpft damit an eine in der jüngeren Vergangenheit in der Bundesrepublik wenig weitergeführten Diskussion struktureller Bedingungen professioneller Berufe in modernen Gesellschaften an (vgl. Bläsche/Gensior: ebenda).
Mit dieser Untersuchung wollen wir auch der Frage nachgegangen,
wo Chancen und Risiken weiblicher Selbstständiger Erwerbsarbeit in
professions- und organisationsbezogener Perspektive sind? Wie sich die
Situation der Frauen in den Freien Berufen entwickelt und welche Entwicklungslinien weiblicher Erwerbstätigkeit sich dabei erkennen lassen?
Karin Hildebrandt
151
Betrachten wir die gesellschaftlichen Entwicklungen, so ist davon
auszugehen, dass Erwerbsarbeit weiterhin das Leitbild der Gesellschaft
prägen wird - insbesondere in den neuen Bundesländern, allerdings bei
einem radikalen strukturellen Wandel auf der sektoralen Ebene infolge
der Globalisierung. Der Wandel bringt einerseits eine Konzentration auf
hochwertige technologische Produkte und andererseits eine Konzentration im Dienstleistungssektor hervor. Insgesamt hohes subjektives Interesse an einer existenzsichernden Erwerbsarbeit ist bei Männern und
Frauen im Osten weiter stark ausgeprägt (vgl. Wagner, 1999: 14).
Aus allen Untersuchungen zum Transformationsprozess geht deutlich hervor, dass Frauen in den neuen Bundesländern ungebrochen an
der Erwerbsarbeit festhalten, dass hierbei weiterhin erhebliche Unterschiede in Ost- und Westdeutschland bestehen, aber auch, dass ein Verdrängungskampf (auch im Dienstleistungssektor) zu ungunsten der
Frauen begonnen hat - wie aus den Untersuchungen von Nickel zum
Finanzdienstleistungsbereich hervorgeht. „Gleichzeitig haben die Konkurrenzen unter den Frauen zugenommen und Prozesse sozialer Differenzierung zeigen bereits ihre Wirkung„ (Nickel/Völker/Hüning 1998: 6).
Wie sich aber diese hohe Erwerbsorientierung der Frauen auch in reale Chancen auf dem Arbeitsmarkt umsetzen kann, soll anhand der
möglicherweise erfolgversprechenden individuellen Handlungsstrategien
von Frauen, nämlich der Option der beruflichen Selbstständigkeit, näher
betrachtet werden. Ich formuliere dies bewusst so vorsichtig, weil dazu
wenig Untersuchungen vorliegen und diese dann häufig das Geschlecht
unbeachtet lassen bzw. meist nur die Erfolgreichen einbeziehen.
152
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
2. Entwicklung der Selbstständigkeit und der
Professionen in Freien Berufen in der DDR und
den neuen Bundesländern
2.1. Einordnung der Selbstständigen in Freien
Berufen und Definition
„Professionen im klassischen Sinne werden als ‘Freie Berufe’ bezeichnet
und sind dem Bereich der Selbstständigen Erwerbsarbeit zu zuordnen.
Im Zuge der Wandlungsprozesse in der sich modernisierenden Berufswelt wurde der Professionalisierungsbegriff auch auf hochqualifizierte
Tätigkeiten im abhängigen Erwerbsbereich angewandt„ (Bläsche/Gensior
1998: 79); wobei sich bei der statistischen Darstellung der Entwicklung
der Freien Berufe das Problem der Abgrenzung zeigt (Abb. 1).
„Freiberufler erbringen ihre Leistungen in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit von privaten und staatlichen Weisungen oder Anordnungen. Als wesentliches Merkmal werden persönliche individuelle
Leistungen erbracht, deren Ergebnisse ihrem Wesen nach Unikate sind.
Der Freiberufler handelt als Experte mit qualifizierter (gewöhnlich akademischer) Ausbildung und hoher fachlicher Kompetenz, der seine Fähigkeit einem Dritten zur Lösung von dessen Problemen zur Verfügung
stellt. Die Basis der Leistungserbringung bildet ein besonderes wechselseitiges Vertrauensverhältnis, dem angesichts nicht immer vorhersagbarer Ergebnisse der Leistung (z. B. ärztlicher Behandlung, juristischer
Beratung) eine besondere Bedeutung zu kommt„ (IAB-Kurzbericht 1997,
Heft 11, S.8). Für den Einzelfall gestaltet sich eine eindeutige Zuordnung
zum Kreis der Freien Berufe oft als komplexe (steuer-) rechtliche und
berufssoziologische Herausforderung, zu deren Bewältigung die jeweilige
Tatbestandsvielfalt beruflicher Wirklichkeit und deren stetiger Wandel
berücksichtigt werden muss.
Karin Hildebrandt
153
Abbildung 1: Einordnung der Selbstständigen in Freien Berufen in die
Gruppe der Erwerbstätigen
Erwerbstätige
Abhängige
Beschäftigte
Beamte
Αrbeiter
Angestellte (z.
B. auch in freien Berufen)
Selbstständige
Gewerbe/
Gewerbetreibende
Freiberufler
Mithelfende
Familienmitglieder
Selbstständige in der
Landwirtschaft
Heilkundliche Berufe
Rechts- und wirtschaftsberatende Berufe (Anwälte, Steuerberater)
Technische und naturwissenschaftliche Berufe (Architekten, DVDienstleistungsbereich)
Pädagogische und übersetzende Berufe
Publizistische und
künstlerische Berufe
Quelle: Eigene Zusammenstellung. In: Bläsche/Gensior/Hildebrandt
1999.
Den Kern der Freien Berufe bilden die sog. „Katalogberufe„ entsprechend
den Regelungen im Einkommenssteuergesetz (Anlage 1).
Daneben werden in individueller Rechtsprechung „den Katalogberufen ähnliche Berufe„, die teils auch gewerblich ausgeübt werden können,
als Freie Berufe klassifiziert (wie z. B. medizinische Bademeister,
Rechtsbeistand, Gartenarchitekt, Unternehmensberater). Die Berufsforschung unterscheidet darüber hinaus noch sog. „Schwellenberufe„ (wie
154
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
Infobroker, PR-Berater), die in wesentlichen Teilen sowohl in gewerblicher als auch freiberuflicher Form ausgeübt werden können und in „potentielle Freie Berufe„ (Umweltgutachter, Berufsbetreuer), die dem
Spektrum der Freien Berufe noch nicht explizit zugeordnet werden, jedoch aufgrund der Erfüllung aller entscheidenden Kriterien für die Bestimmung der Freiberuflichkeit diesen zugeordnet werden (vgl. dazu
Oberlander 1997), was in der Endkonsequenz die statistische Erfassung
erschwert.
Selbstständige in Freien Berufen sind Erwerbstätige, die sich durch
Arbeits- und Qualifikationsanforderungen auszeichnen. Sie sind geprägt
durch
• hohe Professionalität
• Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl/Standespflichten
• strenge Selbstkontrolle und
• Eigenverantwortlichkeit/Unabhängigkeit
• persönliche Beziehungen
2.2. Selbstständige in der DDR - ein Exkurs
Die Freien Berufen und die Selbstständigen spielten in der DDR, im
Vergleich zur alten Bundesrepublik, nur eine geringe Rolle. Freie Berufe
hat es, in der nach den in der Bundesrepublik existierenden Definitionen, noch in weit geringerem Maße gegeben als es die amtliche Statistik
auswies. Es wurde davon ausgegangen, dass nur ca. 2.000 der 16.000 in
der DDR registrierten Freiberufler den Anforderungen der in der BRD
geltenden Zugehörigkeitsbestimmungen entsprachen. Charakteristisch
war, dass sie einerseits in hohem Maße staatlich kontrolliert waren und
andererseits gleichzeitig in bestimmten Phasen in ihrer Entfaltung teilweise wieder begünstigt wurden.
In der Folge dieser Entwicklung war das Durchschnittsalter der
Freiberufler in der DDR meist hoch, was bei einem Fortbestand der DDR
dazu geführt hätte, dass die Zahl weiter gesunken wäre. Selbstständige
in Freien Berufen der DDR hatten einen relativ niedrigen sozialen Status; er korrespondierte mit einem geringen Einkommen. Die sogenannte
„freischaffende Intelligenz“ in den Freien Berufen wurde vor allem über
das Steuerrecht der DDR, in dem die Freien Berufe eine Sonderstellung18
18
§ 18 EstG (1): Einkünfte aus Selbstständiger Tätigkeit sind: 1. Einkünfte aus Freien
Karin Hildebrandt
155
einnahmen, definiert, in dem das ‘Schöpferische‘ und die ‚Konstruktivität‘ als Wesensmerkmale galten, während andere Elemente der Ausübung des Berufes (Eigenverantwortung, besonderes Vertrauensverhältnis) keine Erwähnung fanden.
Der Freie Beruf wurde in der DDR wie folgt definiert:
„Freiberuflich tätige Personen, die der Verordnung über die Besteuerung
der Berufsgruppen freiberuflich Tätiger unterliegen und diese Tätigkeit
hauptberuflich ausüben. Dazu gehören auf kulturellem, pädagogischem,
künstlerischem und schriftstellerischem Gebiet Tätige wie z.B. Musiker,
Lehrer, Schriftsteller, Übersetzer, aber auch im Gesundheitswesen und
in anderen Bereichen Praktizierende wie Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte,
Ingenieure, Architekten, Reiseleiter.
Nicht hierzu zählen: Im Arbeitsverhältnis stehende Berufstätige, die auf
den angeführten Gebieten nur nebenberuflich tätig sind, sowie alle sonstigen auf eigene Rechnung ein Gewerbe ausübenden Berufstätigen, deren Tätigkeiten Produktions-, Handels- oder Dienstleistungscharakter
trägt (Blumenverkäufer, Straßenhändler u.s.w.).“ (Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR 1975)
Zu verweisen ist darauf, dass es bei einer Reihe von Freien Berufen
trotz der grundlegenden Unterschiede im Gesellschaftssystem durchaus
weitreichende Kontinuität gibt, während andere in der veränderten Aufgabenstellung neu entstanden und einige zum Teil erhebliche fachliche
Gegensätze aufweisen, wie Rechtsanwälte und Notare. Aber auch bei
Berufen mit komplementären Berufsbezeichnungen waren die fachlichen
Anforderungen sehr unterschiedlich. Eine Reihe von Freien Berufen, die
in der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen, gab es in der DDR
nicht oder nur mit erheblich abweichenden Tätigkeitsprofilen, wie z.B.
Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Berufe wie Unternehmensberater
hatten beispielsweise in der Planwirtschaft keinen Platz. Andererseits
wurden in der DDR Berufe ausgebildet, die in der BRD in unmittelbarer
Form nicht ausgeübt wurden (z. B. Veterinäringenieur).
Die Zahl der Freien Berufe wird in der amtlichen Statistik der DDR
Berufen. Zu den Freien Berufen gehören insbesondere wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit, die Berufstätigkeit der Ärzte, Rechtsanwälte und Notare, der Ingenieure, der Handelschemiker, der
Dentisten, der Steuerberater, der Buchsachverständigen und ähnlicher Berufe.
156
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
seit dem Jahr 1952 ausgewiesen. Ihre Zahl betrug nicht mehr als 60.000.
Ab dem Jahr 1952 wurde die Auflösung der freiberuflichen Strukturen
zugunsten der staatlichen Einrichtungen konsequent vorangetrieben (so
durch die Zurückdrängung der privaten Architekten- und Ingenieurbüros, die Aufnahme der Juristen in die Anwaltskollegien). Bereits im Jahr
1953
wurden 14.000 Freiberufler weniger registriert. Nach dem ersten
Rückgang der Anzahl der
Freiberufler erfolgte bis zum Jahr 1955 wieder ein Anstieg, der im
Zusammenhang mit den Zugeständnissen an die Intelligenz infolge der
Ereignisse des 17. Juni 1953 sowie mit Steuervergünstigungen für einige
Freie Berufe zu sehen ist. Nach 1955 ging die Zahl der Freiberufler infolge der Verstaatlichung bis 1979 stetig zurück (Abbildung 2). Nach
1979 stieg die Zahl wieder leicht an. Im Jahr 1989 wurden im Vergleich
zum Vorjahr zusätzlich 3.000 Freiberufler mehr registriert, insbesondere
im Kulturbereich. Damit beschränkte sich die Rekonstruktion freiberuflicher Strukturen vor allem auf den kulturellen Bereich. Im Oktober
1990 gab es 16.000 Freiberufler, von denen die Mehrzahl künstlerischen
und publizistischen Berufsfeldern zuzuordnen ist. Differenzierungen
nach dem Geschlecht liegen nicht vor.
Die Selbstständigenquote in der DDR lag bei 1,4 % (Dietrich 1993:
202). Im Jahr 1991 wurde bei der Zahl der freiberuflich Tätigen das Niveau von 1952 erreicht.
Karin Hildebrandt
Abbildung 2: Zahlenmäßige Entwicklung der Freien Berufe in
der DDR bzw. in den neuen Bundesländern im Zeitraum 1952
bis 1993
Quellen: Statistische Jahrbücher der DDR (1952 bis 1989), Institut für Freie Berufe Nürnberg (1990 bis 1993).
157
158
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
2.3. Entwicklung der Freien Berufe in den neuen
Bundesländern
Abbildung 3: Entwicklung der Existenzgründungen von 1991 bis 1995
„Die in der ostdeutschen Gründungsforschung19 festgestellte sprunghafte
19
Untersuchungen über das ostdeutsche betriebliche Gründungsgeschehen nach der
politischen Wende 1989 sind u.a. in folgenden Forschungsarbeiten thematisiert:
Claus, T. u.a. 1996; Hinz, T. u.a. 1992 u. 1994; Klandt, H./ Brüning, E. 1996; Valerius,
Karin Hildebrandt
159
Zunahme von Existenzgründungen und ‘Freien Berufen’ nach dem Jahre
1989 in den neuen Bundesländern impliziert einen enormen Entwicklungsprozess von der abhängigen zur Selbstständigen Erwerbsarbeit.
...Insbesondere innerhalb professioneller Tätigkeitsfelder bleibt dieser
Prozess nicht ohne Folgen, es entstehen neuartige Formen von Arbeitsorganisationen“ (Bläsche/Gensior 1998: 79/80). Im Vergleich zur Gründungsforschung sind die Untersuchungen zu den Freien Berufen selten.
Tabelle 1: Entwicklung der Selbstständigen in Freien Berufen im Zeitraum 1991 – 1998
Jahr
BRD
1991
458. 429
Alte Bundesländer
437. 496
Neue Bundes- Anteil NBL
länder
20. 933
4,6 %
1992
513. 561
453. 806
59. 755
11,6 %
1993
532. 894
467. 620
65. 274
12,3 %
1994
553. 000
481. 900
70. 900
12,9 %
1995
564. 000
492. 600
71. 400
12,7 %
1996
576. 500
502. 700
73. 800
12,8 %
1997*
637. 000
515. 000
76. 000
12,9 %
1998
646. 000
561.000
85. 000
13,2 %
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben des Instituts für Freie Berufe
Nürnberg (1998)
* Aufgrund von veränderter statistischen Ausweisungen mussten 2000
Freiberufler aus den neuen auf die alten Bundesländer übertragen werden.
Die Zahl der Selbstständigen in Freien Berufen in den neuen Bundesländern ist seit dem Jahr 1990 von ca. 16.000 auf 85.000 im Jahr 1998
angestiegen (Tabelle 1). Sie weisen ein stärkeres Wachstum auf als die
übrigen Selbstständigen, denn insbesondere aufgrund der Marktlage
waren Existenzgründungen in Freien Berufen erfolgreicher als im geG./ Wolf-Valerius, P. 1993.
160
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
werblichen Bereich. Dies entspricht dem Trend, der sich für die gesamte
Bundesrepublik zeigt (Abbildung 4).
Da die Selbstständigen in den Freien Berufen der DDR kaum eine
Rolle spielten, verdeutlichen die Zahlen, dass ein beachtlicher Nachholund Aufholprozess vonstatten ging (Tabelle 1), der auf die Deckung eines
vorhandenen Bedarfs an qualifizierten freiberuflichen Dienstleistungen
verweist.
Besonders deutlich zeigt sich diese enorme Zunahme freiberuflicher
Tätigkeiten von 1991 - 98 bei Ärzten (6000 auf 17600), Apothekern (600
auf 3150), Rechtsanwälten (2000 auf 6000), Architekten (600 auf 5100)
und in den Kulturberufen (6000 auf 17600). (vgl. Tabelle 2 )
Die Zahlen belegen, dass es im Prozess der Integration der neuen
Bundesländer gelungen ist, freiberufliche Berufs- und Tätigkeitsstrukturen aufzubauen, auch wenn die Aufgabenrealisierungen in einzelnen
Berufen durch Berufsträger aus den alten Bundesländern wahrgenommen wurden und werden (ihr Anteil in den einzelnen Berufen ist unterschiedlich; statistische Angaben sind dazu nicht vorhanden). So sind
doch insgesamt von den Existenzgründungen in den Freien Berufen gute
Beschäftigungschancen zu erwarten.
Freiberufliche Strukturen entstanden in den neuen Bundesländern
zum einen aus der Auflösung staatlich organisierter und regulierter Aufgabenfelder (ambulante medizinische Versorgung, Apothekenwesen,
Tierärzte – die Niederlassung war oft die einzige Möglichkeit der Berufsausübung); zum anderen aus neuen oder wesentlich erweiterten
Handlungsfeldern (bei rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufen). Rechtsanwälte und Notare waren nicht nur mit veränderten, sondern auch erheblich erweiterten Aufgabengebieten konfrontiert. Steuerberater und Wirtschaftsprüfer mussten in kurzer Zeit Schlüsselfunktionen zur Gewährleistung der Wirtschaft und des Steuerwesens erfüllen.
Da hier die Qualität der Leistungserfüllung entscheidend war, mussten
die Versorgungslücken von qualifizierten Fachkräften aus den alten
Bundesländern geschlossen werden.
Hinzu kommt, dass Existenzgründung durch spezielle Förderprogramme für geeignete und interessierte Arbeitslose - durch zur Verfügungsstellung von sogenanntem Überbrückungsgeld - unterstützt wurde.
Jeder 7. mit Überbrückungsgeld Geförderte machte sich 1997 in der
Bundesrepublik in einem Freien Beruf Selbstständig. Schätzungsweise
zwei Fünftel aller Existenzgründungen in den Freien Berufen nutzten
Karin Hildebrandt
161
diese Möglichkeit, die das Arbeitsamt bot (vgl. IAB-Kurzbericht 1997,
Heft 7).
Ein Blick auf die Altersstruktur der geförderten ostdeutschen Freiberufler zeigt, dass sie im Durchschnitt fast um 2 Jahre älter sind als die
Westkollegen und das der Anteil, der über 50Jährigen mit über 20% doppelt so hoch liegt wie in den alten Bundesländern. Dies verweist mit auf
den Existenzdruck, der auf den Arbeitslosen Gründern lastet (vgl. IABKurzbericht, ebenda).
3. Frauen in Freien Berufen
Bei der Betrachtung der Frauen in Freien Berufen zeigt sich eine ähnliche Problematik wie sie aus anderen Bereichen bekannt ist, geschlechtsdifferenzierte Aussagen sind eine Seltenheit. Es gibt für die Gesamtheit
der Freien Berufe keine statistischen Angaben über die Geschlechterverteilung. Aussagen können deshalb nur für einzelne Freie Berufe getroffen werden (vgl. Oberlander 1995: 239).
Insgesamt ist aber zu konstatieren, dass Selbstständigkeit und Freiberuflichkeit für Frauen an zunehmender Attraktivität gewinnt. Die
Frauen in der unabhängigen Erwerbstätigkeit eine Chance zur Integration in den Arbeitsmarkt sehen.
Während in den alten Bundesländern die Anteile der Frauen vor allem an den Selbstständigen in Freien Berufen in der Regel kontinuierlich
wachsen, haben Freiberuflerinnen in den neuen Bundesländern noch in
erheblich höherem Maße Teilhabe an der Gestaltung freiberuflicher
Dienstleistungen.
In den alten Bundesländern betrug der Anteil der Frauen unter den
Selbstständigen 24,3%, in den neuen Bundesländern waren es 33,3%
(Berechnungen auf der Grundlage der Daten des Statistischen Jahrbuches 1992, S. 116 und von 1993, S. 118).
In einer Studie zur Entwicklung, Situation und Stellung der Freien
Berufe in den neuen Bundesländern wird festgestellt, dass in einzelnen
Berufsgruppen ein sehr viel höherer Anteil „weiblicher Berufsträger„ in
den neuen Bundesländern als in den alten Bundesländern besteht (Oberlander 1995: 239ff.). Als Ärztinnen20 in Selbstständigen Praxen arbei20
bezogen auf das Jahr 1993
162
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
ten beispielsweise 58% in den neuen Bundesländern hingegen 25% in
den alten Bundesländern. Bei der Gruppe der Zahnärzte sieht das Verhältnis in bezug auf männliche und weibliche freiberufliche Tätigkeit
57% zu 25% aus; bei den Selbstständigen Apothekern fallen die Differenzen nicht so stark aus: in den neuen Bundesländern gibt es 59% und
in den alten Bundesländern 37% freiberufliche Apothekerinnen (Abbildung 4).
Abbildung 4: Frauenanteil der Selbstständigen in Freien Berufen in den
alten und neuen Bundesländern 1993
Quelle: IfFB Nürnberg auf der Grundlage von Angaben der Berufsorganisation, z.T. geschätzt.
Die Frauenanteile bei den Rechtsanwälten liegen in den neuen Bundesländern bei 25%, bei den Patentanwälten bei 10% und besonders hervorstechend sind sie bei den Nur-Notaren mit 49%. Im Gegensatz dazu geht
nur 3% der Frauen in den alten Bundesländern dem Beruf Nur-Notar
nach, 18% sind freiberufliche Rechtsanwältinnen und 6% Patentanwältinnen. Juristische aber auch steuerberatende Berufe stellen neben me-
Karin Hildebrandt
163
dizinischen und dem Beruf der Apothekerin ein wichtiges Berufsfeld für
Frauen in den neuen Bundesländern dar (Anlage 2). Dagegen stellen die
freiberuflichen Architektinnen nur 11% in den neuen; im Vergleich zu
7% in den alten Bundesländern dar. Weitere technische Berufe und DVDienstleistungsberufe werden nicht untersucht (vgl. Oberlander 1995:
140; keine Untersuchung bekannt21).
Analog stellt sich die Situation für Sachsen dar. 1992 gab es in Sachsen 23.500 Selbstständige in Freien Berufen (vgl. Anlage 3). Ihre Zahl
stieg bis 1995 auf 26.600. Der Frauenanteil lag bei ca. 32%. .
Frauen bringen insgesamt günstige Voraussetzungen für freiberufliche Tätigkeiten mit, wie Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeit.
Als Gründe für die Entwicklung der hohen Frauenanteile bei Freien
Berufen in den neuen Bundesländern können zum einen die schwierige
Arbeitsmarktsituation, die Frauen verstärkt dazu zwingt, sich Selbstständig zu machen und zum anderen insbesondere ihr vorhandenes hohes Qualifikationsniveau angesehen werden. Frauen in den neuen Bundesländern besitzen einerseits eine den Männern ähnliche - wie es heißt Humankapitalausstattung, wenn sie in die berufliche Selbstständigkeit
eintreten (Begriff z. T. weitgefasst: Gesundheit, Bildung, Berufserfahrung, innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung - Frauen gute Ausgangsbedingungen - was fehlt spezifisches unternehmerisches Humankapital eigene Erfahrungen mit Selbstständigkeit, Führungserfahrungen, Vorbilder durch z. B. die Eltern; vorherige Branchenerfahrung). Hinzu
kommt, dass die Berufstätigkeit der Frauen in den neuen Bundesländern
weiterhin zur Selbstverständlichkeit zählt; zum anderen ist die Situation in den Freien Berufen anders, als im Vergleich zum Bereich der gewerblichen Selbstständigkeit zu sehen. Hier gründen Frauen teilweise
Betriebe, die eher als randständige Selbstständigkeitsexistenzen betrachtet werden können (der Grund dafür ist auch, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sie eher auf die marginalen beruflichen Positionen
verwiesen werden; eher kleine Betriebe gründen, da sie über weniger
Startkapital verfügen - vgl. Jungbauer-Gans/Priesendörfer 1992). Die
Folge ist dann, dass die „Frauenbetriebe„ im Vergleich zu „Männerbe21
Quelle: Institut für Freie Berufe 1993: Freie Berufe in den neuen Bundesländern
1993. S. 2-11. Die Zahlen für die alten Bundesländer beziehen sich auf das Jahr 1988,
die Zahlen für die neuen Bundesländer auf das Jahr 1992.
164
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
trieben„ geringere Überlebenschancen haben und auch weniger expansiv
sind. Gründen jedoch Frauen aufgrund ihrer selben Humankapitalressourcen in die gleiche Art von Betrieben, sind kaum geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Bestands- und Überlebenschancen vorhanden
und dies wird bei der Entwicklung der Freien Berufe deutlich (vgl. ebenda).
Auch wenn Frauen unter den Selbstständigen und bei den Selbstständigen in Freien Berufen nicht paritätische Anteile bei allen Berufsfeldern erreichen, zeigt sich eine zunehmende Tendenz, dass Frauen
erfolgreich sich in der Selbstständigen Rolle behaupten können.
Die zunehmende Attraktivität der Freien Berufe für Frauen mit qualifizierter Ausbildung liegt des weiteren mit daran, dass die Selbstständigkeit nicht nur aus der „Ökonomie der Not„ (Bögenhold 1987), sondern
auch aus dem Wunsch nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit sowie
Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten gewählt wurde.
Mit dem Wegfall des Arbeitgebers und des betrieblichen Kontextes
entfallen gleichzeitig eine Reihe von Mechanismus, über die Frauen in
der Regel auf schlechter bezahlte Positionen, auf Positionen mit geringeren Aufstiegschancen sowie Entscheidungsbefugnissen verwiesen werden. Es entfallen damit für Frauen einige Hürden, die ihre Chancen auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschränken. Inwieweit neue oder andere
entstehen, dazu gibt es bisher kaum Forschungen.
Insgesamt werden nach Untersuchungen von Oberlander in der Selbstständigkeit der Berufsausübung (vgl. Oberlander 1995: 240):
•
•
•
•
geringere Hemmnisse für eine erfolgreiche Gestaltung des beruflichen Weges vermutet als in von Männern dominierten Organisationen.
Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit, die familiäre Bindungen besser mit Erwerbsarbeit vereinbaren kann und Belastungen durch Flexibilität gemildert werden können, gesehen.
Möglichkeiten, im Vergleich zu männlichen Berufskollegen entsprechende Einkünfte zu erzielen, werden oft besser als in anderen Bereichen (Gebührenordnungen – Garantiefunktion ) betrachtet sowie
ein vergleichsweise hohes Ansehen gesehen.
Allerdings sind generelle Aussagen über geschlechtsspezifische Gründe
für eine Niederlassung von Frauen und Männern aus den wenigen Un-
Karin Hildebrandt
165
tersuchungen nicht entnehmbar.
Frauen in Freien Berufen sehen aber auch eine Reihe von Benachteiligungen gegenüber männlichen Kollegen. Sie ergeben sich durch eine im
Vergleich höhere Arbeitsbelastung für Frauen. Sie müssen, so konstatiert Oberlander, mehr Arbeit aufwenden (12-13 Stunden), um das gleiche Einkommen wie Männer zu erzielen. Vorurteile bei männlichen Kollegen und Leistungsnehmern insbesondere in die Leistungsbereitschaft
und -fähigkeit von Frauen erschweren ihnen die Arbeit noch zusätzlich.
Verschlechterte Möglichkeiten hinsichtlich der Kinderbetreuung und
familienbezogene Rollenerwartungen führen auch zu hohen Belastungen
außerhalb der Berufstätigkeit (vgl. Oberlander 1995: 247).
Als weitere Begründungen für Benachteiligungen von Frauen in
Freien Berufen gegenüber männlichen Kollegen wurden genannt:
•
•
•
Benachteiligungen von Frauen bei den Banken und Ämtern,
Vorurteile bei den männlichen Kollegen - vor allem aus den alten
Bundesländern sowie
geringe Repräsentanz der Frauen in den Gremien der Berufsorganisationen, die dazu führt, da werden Probleme und Interessen von
weiblichen Berufsträgern wenig beachtet werden.
Frauen in den Freien Berufen sehen sich mit Stereotypen konfrontiert,
die weit über berufsspezifische Einflüsse hinausreichen: Traditionen, die
bestimmte Rollenerwartungen bewahren und weitergeben, sind ohne
Zweifel als generelle Hemmnisse auf dem Weg zur Schaffung gleicher
Voraussetzungen für die Berufsausübung von Frauen und Männern zu
sehen sowie Vorurteile gegenüber der Leistungsfähigkeit der Frauen.
Allerdings äußert sich die überwiegende Mehrheit der Frauen (80%),
dass sie - trotz der Belastungen und Probleme, die mit der Ausübung der
freiberuflichen Tätigkeit verbunden sind - keine Benachteiligungen gegenüber männlichen Berufskollegen empfinden. Nur knapp 19% (nach
Oberlander 1995: 244) der Frauen benannten Benachteiligungen in der
Berufsausübung - insbesondere die Zahnärztinnen. Dies verweist einerseits auf wenig im Bewusstsein der Frauen in den neuen Bundesländern
registrierende Formen von Benachteiligungen und andererseits auch auf
Forschungsdefizite, die diese Benachteiligungen durch undifferenzierte
geschlechtsspezifische Betrachtungen zu wenig ins Blickfeld der Öffent-
166
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
lichkeit rücken.
Forschungsbedarf besteht dabei insbesondere hinsichtlich der längerfristigen Integration von Frauen in Freie Berufe, insbesondere in
technischen Berufen und DV-Dienstleistungsberufe vor dem Hintergrund einer anhaltenden, überproportional hohen Arbeitslosigkeit von
Frauen in den neuen Bundesländern.
Abschließend zu diesem Punkt soll nicht unerwähnt bleiben, dass die
Freien Berufe auch wichtige Träger von Aus- und Arbeitsplätzen für
Frauen im Angestelltenverhältnis darstellen. So wurden in Sachsen z. B.
1995 1452 Ausbildungsplätze bei Zahnärzten bereitgestellt, 734 bei
Rechtsanwälten (727 Frauen) und 1055 bei Steuerberatern (884 Frauen).
4. Förderungsmöglichkeiten und Vorstellungen
der Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer
Situation
Zahlreiche Programme zur Förderung der Existenzgründung wurden neben den Starthilfen des Arbeitsamtes - insbesondere von der EU im
Zusammenhang mit den Initiativen zu „Aufschwung Ost„ bereitgestellt,
die den Aufbau von freiberuflichen Strukturen in den neuen Bundesländern unterstützen halfen22. So
• EPR - Kredit für Existenzgründungen und Investitionen
• Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung der Selbstständiger Existenzen
• Investitionskreditprogramm
• Investitionskredite der Deutschen Ausgleichsbank
• Bürgerschaftsprogramm
• Förderung von Unternehmensberatungen für kleinere und mittlere
Unternehmen.
Hinzu kommen Förderprogramme der Länder so z. B.
• das Mittelstandsförderprogramm Sachsen
• Begleitende Maßnahmen zur Förderung von Freiberuflern in Sachsen
22
Hier stellt sich allerdings die Frage nach der Höhe der Fördersumme der einzelnen
Programme.
Karin Hildebrandt
167
das Sächsische Programm zur Förderung der Existenzgründung in
freien Heilberufen (aufgrund der Herauslösung der Heilberufe aus
der EPR-Förderung)23.
Neben dieser finanziellen Unterstützung gehört auch Mut, Risikobereitschaft und Stehvermögen dazu, um sich als Freiberuflerin zu behaupten
und zu bestehen.
Insbesondere folgende Maßnahmen werden von den Frauen zur Verbesserung der Situation als notwendig angesehen (vgl. Oberlander 1995:
283):
• stärkere Förderung und Unterstützung von Existenzgründungen von
Frauen,
• gesellschaftliche Akzeptanz arbeitender Frauen (Umdenken in einer
von Männern dominierten Gesellschaft),
• gezielte Frauenförderung; Werbung für weibliche Freiberufler und
Öffentlichkeitsarbeit,
• Entwicklung neuer Arbeitszeitmodelle; fließende Arbeitszeiten,
• entsprechende Arbeitsgestaltung im Rahmen der Praxisgemeinschaften als Möglichkeit zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie,
• Förderung der Kooperationsbereitschaft vor allem seitens der männlichen Kollegen,
• verstärkter Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen,
• Abbau bürokratischen Elemente der freiberuflichen Tätigkeit,
• vermehrte, finanzierte oder bezuschusste Fortbildungsmaßnahmen,
die vor allem Informationen im wirtschaftlichen Bereich aufweisen
und deren Termine in Ferienzeiten wahrgenommen werden können;
verbunden mit Ortsnähe,
• Beteiligung an Entscheidungen in den Berufsorganisationen sowie
• anteilmäßig gleiche Verteilung von öffentlichen Aufträgen an Frauen
und Männern sowie
• Eigeninitiative und
• kostenlose persönliche Vertretung.
Zusammenfassend ist einzuschätzen, dass sich die Situation der Freiberuflerinnen in dem Maße entscheidend verbessert, wenn insgesamt ein
frauenfreundlicheres Klima in der Gesellschaft geschaffen wird. Not•
23
Nähere Ausführungen dazu in Institut für Freie Berufe Nürnberg „Freie Berufe im
Land Brandenburg, Nürnberg 1993.
168
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
wendige Schritte dazu sind: weiteres Vorantreiben der Frauen- und Geschlechterforschung, Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit und Ausbau
der Netzwerkaktivitäten.
Literatur
Bläsche, Alexandra /Gensior, Sabine 1998: Anwälte und Architekten in
den neuen Bundesländern: Strukturelle und arbeitsorganisatorische
Wandlungsprozesse in professionellen Arbeits- und Berufsfeldern. In
Forum der Forschung 6.
Bläsche, Alexandra/Gensior, Sabine/Hildebrandt, Karin 1999: Arbeitsund Qualifikationsanalyse in neuen Arbeits- und Berufsfeldern – am
Beispiel des Anwaltes, Architekten und des Finanz- und Dienstleistungsbereiches„. Zwischenbericht zur Expertise der Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen Berlin, unveröffentlicht.
Bögenhold, Dieter 1987: Der Gründerboom, Realität und Mythos der
neuen Selbstständigkeit. Frankfurt.
Dietrich, H. 1993: Selbstständige in den neuen Bundesländern. Strukturen und Mobilitätsprozesse. In: Geißler, R. (Hg.) Sozialer Umbruch in
Ostdeutschland. Opladen. S. 197-220
Jungbauer-Gans, Monika/Priesendörfer, Peter 1992:Frauen in der beruflichen Selbstständigkeit. Eine erfolgversprechende Alternative zur
abhängigen Beschäftigung. In: Zeitschrift für Soziologie. S.61-77
Nickel, Hildegard Maria/Völker, Susanne/Hüning, Hasko 1999: Chancenstrukturen weiblicher Erwerbsarbeit. In: Bulletin 16. ZiF der Humboldt-Universität zu Berlin.
Oberlander, Willi 1995: Freie Berufe in den neuen Bundesländern. Empirische Untersuchung über Entwicklung, Struktur und wirtschaftliche Situation. Nürnberg.
Oberlander, Willi 1995 a: Frauen in Freien Berufen in Sachsen. Institut
für Freie Berufe Nürnberg.
Oberlander, Willi 1997: Neue freiberufliche Dienstleistungen - Potentiale
und Marktchancen. Köln.
Wagner, Alexandra 1999: Die Zukunft der Erwerbsarbeit und der Beruflichen Bildung im Strukturwandel. In Expertisen für ein Berliner
Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung. Schriftenreihe der Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und
Frauen. 38.
Karin Hildebrandt
169
Anlage 1: Katalogberufe
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Arzt
Zahnarzt
Tierarzt
Rechtsanwalt
Notar
Patentanwalt
Vermessungsingenieur
Ingenieur
Architekt
Handelschemiker
Wirtschaftsprüfer
Steuerberater
Beratender Volks- oder Betriebswirt
Vereidigter Buchprüfer
Steuerbevollmächtigter
Heilpraktiker
Dentist
Krankengymnast
Journalist
Bildberichterstatter
Dolmetscher
Übersetzer
Lotse
Im Einzelnen sind nach der Berichterstattung der Bundesregierung die
Freien Berufe in folgende Gruppen zu fassen, die die Katalogberufe
beinhalten und ergänzen werden:24
Freie heilkundliche Berufe
• Ärzte
• Zahnärzte
• Tierärzte
24
vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode: Unterrichtung durch die Bundesregierung – Fortschreibung des Berichtes über die Lage der Freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 12/21 vom 3.1.1991 (Sachgebiet 70), S.6 ff.
170
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
Apotheker
Psychotherapeuten
Hebammen
Heilpraktiker
Krankengymnasten
Masseure/medizinische Bademeister
Krankenschwestern/Krankenpfleger
Logopäden
Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten
Freie technische/naturwissenschaftliche Berufe
• Architekten
• Vermessungsingenieure
• Beratende Ingenieure
• Sachverständige
• Chemiker
• Lotsen
• Restauratoren
Freie rechts- und wirtschaftsberatende Berufe
• Rechtsanwälte/Rechtsbeistände
• Patentanwälte
• Notare
• Wirtschaftsprüfer
• Steuerberater/Steuerbevollmächtigte
• Unternehmensberater/Wirtschaftsberater
• Werbe- und Public-Relations-Berater
Freie Kulturberufe
• Schriftsteller
• Musiker
• Darstellende Künstler
• Bildende Künstler/Designer
• Journalisten
• Pädagogen (Tanzlehrer, Musiklehrer, u.a.)
• Dolmetscher/Übersetzer
Karin Hildebrandt
171
Anlage 2: Frauenanteile an den Selbstständigen
in Freien Berufen in den alten und neuen
Bundesländern (1992 und 1998 bzw. 1995/1997)
Beruf
Alte Bundeslän- Neue
Bundes- Sachsen
der
länder
1992
1998
1992
1998
1995
1998
Ärzte
27%
56%
57%
Zahnärzte
23%
57%
58%
Tierärzte
23%
17%
13%
Apotheker
56%
60%
57%
Rechtsanwälte
15%
21%
25%
27%
25%
26%
Patentanwälte
6%
9%
13%
Nur-Notare
1%
51%
42%
42%
Steuerberater
k.A.
22%
k.A.
39%
40%
43%
Architekten
7%
10%
11%
19%
17%
25%
Quelle: Zusammenstellung aus verschiedenen Angaben des Instituts für
Freie Berufe Nürnberg; Oberlander 1995: Freie Berufe in den neuen
Bundesländern, S. 245 und eigene Erhebungen.
Anlage 3: Freie Berufe in Sachsen 1995 und 1997
Beruf
1995
1997
Ärzte
5327
5648
Zahnärzte
3188
3198
Tierärzte
492
503
Apotheker
750
851
Rechtsanwälte
1700
1930
Notare
186
185
Steuerberater
746
1180
Architekten
1733
1949
Beratende Ingeneure
1500
2000
Quelle: Zusammenstellung aus Angaben des Instituts für Freie Berufe
Nürnberg
172
Professionelle Arbeits- und Berufsfelder
Tabelle 3: Selbstständige in Freien Berufen in den neuen Bundesländern
im Zeitraum 1991 – 199825
Freie Berufe
Ärzte
Zahnärzte
Tierärzte
Apotheker
Andere Heilberufe
Rechtsanwälte
Patentanwälte
Nur-Notare
Steuerberater/Bevollmächtigte
Wirtschaftsprüfer
Unternehmensberater
Andere
wirt.
Und Steuerberatende Berufe
Architekten
Beratende
Ingenieure
Andere technische und naturwissenschaftliche
Berufe
Kulturberufe
Gesamt
1991
6.000
4.000
k.A.
600
k.A.
1992
14.370
7.800
2.150
2.000
5.500
1993
15.800
8.700
2.035
2.100
6.350
1994
18.532
9.137
2.025
2.403
6.300
1995
16.790
9.626
2.054
2.450
6.380
1996
17.111
9.766
2.082
2.614
6.500
1997
17.389
9.761
2.104
2.746
6.800
1998
17.659
9.878
2.148
3.148
6.900
2.000
161
500
2.500
2.900
227
458
2.800
3.050
212
527
2.600
3.400
217
556
2.500
3.700
146
563
2.800
4.400
151
574
2.850
5.200
148
570
3.200
6.000
148
561
2.630
72
150
150
150
150
159
190
293
k.A.
500
500
500
550
550
560
600
k.A.
3.500
3.650
3.700
3.800
3.900
4.000
4.700
600
2.000
2.100
3.300
2.500
3.650
3.853
4.400
4.458
4.600
4.890
4.650
5.065
4.700
5.128
4.800
k.A.
2.500
2.650
2.750
2.850
2.950
1.700
4.000
2.500 9.500 10.800 10.500 10.500 10.800 10.900 14.500
20.933 59.755 65.274 70.900 71.400 73.800 76.000 85.000
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben des Instituts für Freie
Berufe Nürnberg (1998)
25
Teilweise mit Ostberlin
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
Astrid Franzke
Als am 11.03. 189126 erstmalig ein Antrag zum Thema "Frauenstudium",
zunächst für die Zulassung zum ärztlichen Studium, im Deutschen
Reichstag (1893 2. Debatte, 1898 3. Debatte)27 verhandelt wurde, löste
dieser bei den Abgeordneten noch Erheiterung und Unverständnis aus.28
Dies geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Ländern Europas
(z.B. Russland 1860, Frankreich 1863, Schweiz 1864, England 1870, Niederlande 1875, Italien 1876, Österreich 1897) und den USA 186029, Frauen nicht nur bereits studiert, sondern auch promoviert hatten. Deutschland, dem „klassischen Land der Bildung“, dessen Wissenschaft vor der
Jahrhundertwende weltweit außerordentlich geschätzt wurde30, drohte
nun die Gefahr der Abseitsposition und mit dieser der Verlust internationaler Reputation. Es war eines der letzten europäischen Länder, das die
Zulassung der Frauen zum Studium aussprach.31
Anfang des 20. Jahrhunderts konnte das Wilhelminische Kaiserreich
dem Zeitgeist nicht länger entgegenstehen. Nahezu 1000 Semester mussten vergehen, ehe das weibliche Geschlecht an der 1409 gegründeten
Alma Mater Lipsiensis, der zweitältesten deutschen Universität mit ununterbrochenem Lehr- und Wissenschaftsbetrieb, die Chance erhielt, die
Höhen der Wissenschaft zu erklimmen und einen akademischen Berufsabschluss zu erwerben. Frauen wurde nun der Zugang zu regulärer universitärer Ausbildung (volle Immatrikulation) gestattet. In den einzelnen
deutschen Ländern erfolgte dies auf Grund der föderalen Zuständigkei-
26
27
28
29
30
31
Vgl. Boedeker 1939, XXIX
Vgl. Boedeker 1939, XXXI, XXXVI; von Soden/Zipfel 1979, 16
Vgl. Lange/Bäumer 1911, 90/91
Vgl. Boedeker 1939, LII; LIII
Vgl. Jarausch 1991, 313/314
Vgl. Schmidt-Harzbach 1977, 41
174
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
ten allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten, zuerst in Baden 1900.
In Sachsen wurde dieser Weg den Frauen im Jahre 1906 eröffnet.
Das Frauenstudium wurde im Prozess gravierender Veränderungen
in der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich auch in Deutschland Realität. Dafür waren eine Reihe
von Gründen ausschlaggebend:
• Die reale Lebensgestaltung bürgerlicher Frauen wurde, bedingt
durch die Industrialisierung und die mit dieser einhergehenden
technischen Neuerungen in der Hauswirtschaft insofern schwieriger,
als nun Frauen nicht mehr in so großer Zahl gebraucht wurden und
auf diese Weise immer weniger zu ihrem Lebensunterhalt beitragen
konnten.32 Auch mit Blick auf den „Frauenüberschuss“ im Gefolge
der Kriegsverluste war die Versorgung unverheirateter Töchter und
die der zahlreichen Witwen, die über keinen „Ernährer“ verfügten,
und die Ehe nicht als bloße Versorgungsgemeinschaft akzeptieren
konnten, auf traditionelle Weise nicht mehr gesichert.33 Die Frage
nach weiblicher, existenzsichernder Arbeit auf Basis qualifizierter
Berufsarbeit tat sich immer stärker auf.
• Die zunächst privaten Initiativen zur Reform des Mädchenschulwesens, die die bildungsmäßigen Voraussetzungen für eine universitäre
Ausbildung beförderten, zeigten erste Ergebnisse. Gesuche einzelner,
nun nicht mehr nur ausländischer Frauen um eine Studienzulassung
an deutschen Universitäten nahmen zu.34 Lehrerinnen, die in Volksschulen tätig waren, gab es bereits. Angesichts dieser Tatsache war
real nicht zu begründen, wieso das wissenschaftliche Lehramt für
Frauen zumindest an Höheren Mädchenschulen nicht möglich sein
sollte.
• Angesichts des ethisch-moralischen Grundkonsenses der bürgerlichen Gesellschaft konnte auch die wachsende Nachfrage nach weiblichen Ärzten insbesondere für Frauenheilkunde nicht länger ignoriert
werden.35
Der Beginn des Frauenstudiums an der Leipziger Universität und die
erste Akademikerinnengeneration sind ohne das Wirken der bürgerli32
33
34
35
Vgl. Wehler 1995, 1218
Vgl. Franzke/Notz 1997, 129
Vgl. Mertens 1988, 203
Vgl. Wehler 1995, 1218
Astrid Franzke
175
chen Frauenbewegung und insbesondere ihrer Verdienste um die Frauen- und Mädchenbildung in Leipzig nicht zu erklären.
Ziel dieses Beitrages ist es, auf diese regionalhistorischen Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge von Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenstudium in Leipzig aufmerksam zu machen und
sie in Ansätzen aufzuzeigen. Es ist zu untersuchen, wie das Frauenstudium an der Leipziger Universität als Schnittstelle von weiblicher Schulbildung, dem Beginn weiblicher Professionalisierung und Berufsintegration mit Biographiemustern und Karriereverläufen der ersten Studentinnen- und Wissenschaftlerinnengeneration verknüpft war.
1. Der Beitrag des Allgemeinen deutschen
Frauenvereins (AdF) für die Etablierung des
Frauenstudiums
Mit der Gründung des in der Tradition des Bildungsbürgertums stehenden AdF im Oktober 1865 in der Deutschen Buchhändlerbörse zu Leipzig, Ritterstraße 12 (heute: Gästehaus der Universität Leipzig), war ein
bedeutender Schritt auf dem Weg der Organisierung der bürgerlichen
Frauenbewegung in Deutschland erreicht. Das jahrzehntelange, aufopferungsvolle Wirken der Frauen mündete in die erste gesamtnationale
deutsche Frauenorganisation, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation gestaltet war36. Zu den wichtigsten Initiatorinnen gehörten die Leipziger Frauenrechtlerinnen Louise Otto-Peters37 (1819-1895), Auguste
Schmidt38 (1833-1902), Ottilie von Steyber39 (1804-1870) und Henriette
36
37
38
39
Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 42; Nur Frauen war es gestattet, die Mitgliederrechte wahrzunehmen.
Vgl. Herve‘/Nödinger 1996, 192f.; Vgl. Boetcher Joeres 1983; Ludwig/Jorek 1995
Auguste Schmidt wirkte seit 1862 zunächst als Lehrerin an der von Ottilie von Steyber gegründeten Höheren Mädchenschule und nach deren Tod übernahm sie für fast
30 Jahre die Leitung des Steyberschen Instituts. Als im Jahre 1894 der Bund deutscher Frauenvereine (BdF) gegründet wurde, wurde sie dessen 1. Vorsitzende. Der
BdF engagierte sich u.a. für die Zulassung der Frauen zu allen wissenschaftlichen,
technischen und künstlerischen Hochschulen. Vgl. Boedeker 1939, XXXIV
Zum Wirken der Ottilie von Steyber als Gründungsmitglied des AdF und vor allem als
Gründerin einer privaten Schule für Höhere Töchter in Leipzig (1847/48), die zum Abschluss der 10. Klasse führte, ist bislang nur wenig gearbeitet worden. Hierzu ist ein
biographischer Aufsatz von mir in „Leipziger Lerchen“. Hrsg. Louise Otto-PetersGesellschaft e.V. erschienen.
176
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
Goldschmidt40 (1825-1920).
Der AdF setzte einen seiner Hauptschwerpunkte bis Anfang des 20.
Jahrhunderts auf den Erwerb des Zugangs der Frauen zu den Hochschulen. Sah er doch gerade in ihren geringen Bildungs- und Berufsausbildungschancen eines der Haupthindernisse für die Frauenerwerbstätigkeit.41
1888/89 ging es erstmals in einer Petition des AdF darum, "den Frauen den Zutritt zu den ärztlichen Berufen und dem wissenschaftlichen
Lehrberufe durch Freigebung und Beförderung der dahin eingeschlagenen Studien zu ermöglichen.” Zu dem Zweck wurde ferner gebeten: "daß
den Frauen das Studium an den Landesuniversitäten freigegeben werde,
respektive, daß sie zu den dazu erforderlichen Eintritts- und Abgangsprüfungen zugelassen werden." - sowie "…, daß auch diejenigen, Studien
und Prüfungen, durch welche die Männer die Befähigung zum wissenschaftlichen Lehramt erhielten, den Frauen freigegeben werden."42
In der am 09.03.1889 daraufhin eingehenden Antwort aus dem Sächsischen Ministerium des Kultus und des öffentlichen Unterrichts erklärte
dieses sich für die Entscheidung der Zulassung von Frauen zu medizinischen Prüfungen für nicht zuständig, da dies Reichsangelegenheit sei.
Das zweite Anliegen wurde für bereits realisiert erklärt, da sofern die
entsprechenden Prüfungen absolviert seien, obere Lehrerstellen an Töchterschulen schon jetzt für Frauen offen seien.43
Der AdF konzentrierte und begrenzte sich in den Forderungen das
Frauenstudium betreffend, auf die Zulassung der Frauen zur Befähigung
zum höheren Lehrerinnen- und Ärztinnenberuf und beschränkte sich
40
41
42
43
Henriette Goldschmidt gründete 1911 die Hochschule für Frauen in Leipzig (heute:
Goldschmidt-Str. 20) als höhere pädagogisch-soziale Bildungsstätte für Frauen (vgl.
Goldschmidt 1911; vgl. Kemp 1994; Sahle 1999, 41 f.). 1921 ging sie als „Sozialpädagogisches Frauenseminar“ in den Besitz der Stadt Leipzig über und schied damit aus
der akademischen Berufsausbildung für Frauen aus. (Vgl. Boedeker 1939, XLIII)
Im Unterschied zum AdF konzentrierte sich der 1888 von Johanna (Hedwig) Kettler
in Weimar (vgl. Boedeker 1939, XXVII) gegründete „Frauen-Reformverein“ (auch
„Frauenverein-Reform“, „Deutscher Frauenreformverein“) in seinen Petitionen (18881913) a) ausschließlich auf die Eroberung des Hochschulzugangs für Frauen, b) auf die
dazu erforderlichen Bildungsvoraussetzungen (Erwerb der Matura) und forderte c)
ohne Einschränkung den gleichberechtigten Zugang der Frauen nicht nur zu allen
Studiengebieten, sondern darauf aufbauend d) schließlich auch zu allen wissenschaftlichen Berufen. (Vgl. Schmidt-Harzbach 1977)
Vgl. Plothow 1907, 211; vgl. Lange/Bäumer 1901, 89; Otto-Peters 1890, 80-82
Vgl. Otto-Peters 1890, 83
Astrid Franzke
177
dabei auf die sogenannten Frauenberufe. Die Gründe dafür scheinen
eher im Festhalten am tradierten Ehe-, Frauen- und Familienbild und
dem Konzept der "geistigen Mütterlichkeit"44 zu liegen, denn taktischer
Art zu sein. Das Infragestellen der überkommenen Geschlechterrollenstereotype, wonach die bürgerliche Frau für die Familie und das Haus
zuständig war, vollzog sich behutsam und setzte zunächst dort an, wo der
Bruch mit den bislang als weiblich gepriesenen helfenden und erziehenden Fähigkeiten am ehesten möglich erschien. Es war dies nicht die radikale Forderung nach Zulassung der Frauen zu allen Studienrichtungen
und damit auch zu allen akademischen Berufen.
Der AdF beschränkte sich aber nicht auf das unermüdliche Formulieren von Petitionen und Forderungen, sondern er gab praktische Unterstützung für das Frauenstudium. Bereits 187945 wurde die Einrichtung
eines Stipendienfonds für Universitätsfrauenstudien beschlossen, der
durch mehrere bedeutende Schenkungen im Verlaufe der Jahre eine
beachtliche Entwicklung nahm. Erstmals konnte 1886 ein Aufruf in den
“Neuen Bahnen”46 zur Bewerbung für ein Stipendium an Frauen und
Mädchen aus Deutschland gerichtet werden, die sich auf die Maturität
(Abitur) vorbereiteten.47
2. Die "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF
Das inhaltliche Hauptargument gegen das Frauenstudium waren die
fehlenden bildungsmäßigen Voraussetzungen, denn die staatliche Mädchenschulausbildung sah das Abitur nicht vor. Als die Aussichten auf
Zulassung von Frauen zum Studium in den 80er Jahren größer wurden,
arbeitete die bürgerliche Frauenbewegung intensiv an der Bewältigung
dieser Aufgabe und setzte dabei vor allem auf private Initiativen.
Die bahnbrechenden 1894 ins Leben gerufenen Leipziger "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF waren nach dem Realgymnasium in
44
45
46
47
Diesen Begriff führte 1865 Henriette Schrader-Breymann ein. Durch ihn werden die
den Frauen polar zugeordneten Eigenschaften beschrieben. (Vgl. Nave-Herz 1997, 24)
Vgl. Boedecker 1939, XXVI; vgl. Otto-Peters 1890, 50
Die “Neuen Bahnen” waren das Organ (Zweiwochenzeitschrift) des AdF. Sie wurden
von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt redigiert. Die erste Nummer erschien
bereits 1866.
Vgl. Otto-Peters 1890, 70-72; Neue Bahnen, Nr. 6/1886, 56
178
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
Karlsruhe 189348 und den Berliner Realgymnasialkursen49 1893 die dritte Einrichtung in Deutschland, die zum Erwerb der Universitätsreife für
Mädchen führte.
Das Ziel dieser "Realgymnasialkurse für Mädchen" war die Vorbereitung der studierwilligen Mädchen auf das Abitur in 4 bis 4 1/2-jährigen
Kursen. Der Lehrplan entsprach auch in den naturwissenschaftlichen
Fächern und dem Lateinunterricht dem der Knabenschulen. Der Besuch
dieser Kurse war nur im Anschluss an die 10klassige höhere Mädchenschule gestattet. Die Mädchen mussten mindestens 16 Jahre alt sein und
hatten jährlich 260 Mark Schulgeld zu entrichten.50
Seit ihrer Gründung im Jahre 1894 wurden die „Gymnasialkurse für
Mädchen“ insgesamt 20 Jahre von Dr. phil. Käthe Windscheid (18591943) geleitet, die nicht nur dadurch an der Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland mitgeschrieben hat.
Käthe (Katharina) Windscheid hatte die Höhere Töchterschule in
München besucht, 1882 das Sprachlehrerinnenexamen in Berlin und
1890 das Lehrerinnenexamen in Dresden absolviert. Sie promovierte
bereits 1894 zum Dr. phil. Sie war nicht nur eine der ersten Promovendinnen der Heidelberger Universität, sondern auch die erste deutsche
Frau, die an einer deutschen Universität nach regulärer Ausbildung den
philosophischen Doktorgrad erwarb.51 Da für Frauen vor der Jahrhundertwende Promotionen regulär nicht möglich waren, bedurfte es auch in
ihrem Falle einer Ausnahmeregelung. Auf Grund der Freundschaft ihres
Vaters, des renommierten Leipziger Professor der Rechtswissenschaften,
Bernhard Windscheid, mit dem Großherzog von Baden, wurde ihr diese
Ausnahmeregelung zuteil.52
Käthe Windscheid begann die „Gymnasialkurse für Mädchen“ 1894
mit einer Klasse von 10 Schülerinnen, die sie anfangs im Studierzimmer
ihres Vaters unterrichtete (Parkstr. 11, heute: Richard–Wagner-Str. ).
48
49
50
51
52
Vgl. Reichenberger 1918
Ab 1892 wurden Mädchen in Preußen (bald im ganzen Deutschen Reich) zu den Reifeprüfungen an den öffentlichen Jungengymnasien zugelassen und eine Neuordnung
des höheren Mädchenschulwesens durchgeführt, wodurch es Helene Lange gelang, ihre Realkurse in Realgymnasialkurse umzuwandeln. (Vgl. Nave-Herz 1997, 25
Vgl. Stadtarchiv Leipzig (StAL), Acta, den AdF betr. Cap. 35, Blatt 33-41
Vgl. Mertens 1991, 20
Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 35/36; Bernhard Windscheid leitete die erste
Kommission zur Erarbeitung des BGB im Jahre 1874 und war damit federführend an
dessen Abfassung beteiligt. Die Leipziger Windscheidstraße erinnert an sein Wirken.
Astrid Franzke
179
Fünf von ihnen konnten bereits 1898 das Examen ablegen.53 Die Absolventinnen wurden allerdings vom sächsischen Kultusministerium nicht
direkt zum Universitätsstudium zugelassen. Sie mussten ihre Abiturprüfungen zunächst an einem Knabengymnasium ablegen. Das einzige, das
1898 in Sachsen dazu befugte, war das Königliche Gymnasium zu Dresden-Neustadt.54 Vier Jahre später, 1898, waren es bereits vier Klassen.55
Diese nachfolgenden Jahrgänge konnten dann als Externe am städtischen Realgymnasium geprüft werden.56
Von 1898-1914 wurden insgesamt durch diese Gymnasialkurse des
AdF 187 junge Frauen auf das Abitur vorbereitet.
Um die eigene schwierige Erfahrung der akademischen Bildung und
Berufsausübung von Frauen wissend, wurde Dr. Käthe Windscheid zu
einer der wichtigsten Wegbereiterinnen des Frauenstudiums, der Etablierung und Profilierung der Frauengymnasialbildung in Leipzig. Forschungen dazu und vor allem zu dem von ihr in der Praxis so überaus
erfolgreich vertretenen Konzept der Mädchenbildung57 stehen noch aus.
Im Jahre 1914 erfolgte die Selbstauflösung der „Gymnasialkurse für
Mädchen“, da nach sächsischem Mädchenschulgesetz aus dem Jahre
1910 die Kurse in das öffentliche Schulwesen überführt werden sollten.
Der AdF lehnte 1911 das diesbezügliche Angebot der Stadt Leipzig ab, da
die Kurse dann unter männlicher Leitung gestanden hätten, was aber
seinen Grundprinzipien der Selbstorganisation und der Selbsthilfe von
und für Frauen widersprach.58
Eben zu dieser Zeit, 1897, hielten sich die Vorbehalte gegen das
Frauenstudium in Deutschland unter der Professorenschaft noch überaus hartnäckig, die stärksten Gegner waren die Mediziner. Befürworter,
Förderer und Gegner des Frauenstudiums repräsentiert eine Umfrage
aus dem Jahre 189759 unter 122 deutschen Universitätsprofessoren.
Dennoch aber sah etwa die Hälfte der Befragten keinerlei stichhaltige
Gründe für den Ausschluss der Frauen vom Studium.60 Dieser Umstand
53
54
55
56
57
58
59
60
Vgl. Lange/Bäumer 1901, 97; Leipziger Frauengeschichten 1995, 36
Vgl. Brentjes/Schlote 1993/94, 72
Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174
Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 130
Vgl. Windscheid 1897, 401 ff.; Windscheid 1901, 149
Käthe Windscheid selbst, nun bereits 55-jährig, wurde als Lehrerin an die Städtische
I. Höhere Mädchenschule (Schletterplatz) übernommen.
Vgl. Kirchhoff 1897, 66
Vgl. Boedeker 1939, XXXVI
180
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
repräsentierte sich auch im Meinungsspektrum der befragten Leipziger
Professoren. Es sprachen sich für das Studium der Frauen im Einzelfall
und bei einer den Männern gleichen Vorbildung die Leipziger Professoren der Medizin Wilhelm His (Anatomie), Friedrich Trendelenburg (Chirurgie), Victor Birch-Hirschfeld (Pathologie), der Chemieprofessor Friedrich Strohmann, der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und am entschiedensten der Professor der experimentellen Psychologie Wilhelm
Wundt (1832-1920) aus. Letzterer formulierte: "Ich meine: die Frau, die
nach bestimmten Richtungen hin die gleichen Fähigkeiten hat wie der
Mann, ist genau ebenso wie dieser an und für sich berechtigt, diese Fähigkeiten auszubilden und anzuwenden. Das so oft gehörte Argument: es
seien schon in allen Gebieten die Angebote männlicher Bewerber zahlreich genug, es bestehe daher kein Bedürfnis auch nach weiblicher Konkurrenz und dergleichen, - dieses Argument erscheint mir lediglich als
der Ausdruck eines brutalen Geschlechtsegoismus, der nicht besser ist
als irgend ein Klassenegoismus der Vorrechte für sich in Anspruch
nimmt." 61
Die im Vergleich zu anderen Ländern (z.B. Schweiz, USA, Italien) besonders ausgeprägte Verbeamtung, die in der Regel mit Vollbeschäftigung verbunden war, scheinen die Hartnäckigkeit der Widerstände zu
begründen und erklären die späte Zulassung der Frauen zum Studium in
Deutschland.62
3. Die ersten Studentinnen
3.1. Gasthörerschaft für Frauen
Die Gasthörerschaft für Frauen war ein erster Schritt auf dem Wege des
Frauenstudiums. Allerdings war es den Gasthörerinnen nicht möglich,
einen wissenschaftlichen Grad zu erlangen. Die Universität Leipzig, an
der ab 187063 bzw. 187164 die Gasthörerschaft möglich war, nahm neben
der Universität Heidelberg, die 1869 einzelne Hörerinnen zuließ, eine
Pionierrolle unter den deutschen Universitäten ein. Da erstmals nun
61
62
63
64
Zit. Nach Brentjes/Schlote 1993/94, 66
Vgl. Siegrist 1988, 30
Drucker 1956, 280
Nauck 1953, 12
Astrid Franzke
181
auch an deutschen Universitäten Frauen als Hörerinnen Aufnahme fanden, wird dieser Umstand als einschneidender Präzedenzfall bezeichnet.
Das Gasthörerverzeichnis der Universität Leipzig ist erst ab 1873/74
erhalten geblieben. Die ersten beiden Hörerinnen, die sich im WS
1873/74 einschrieben, waren Ausländerinnen. Es waren die Russinnen
Elisabetha von Boguslawsky und Lydia von Karganoff65, die zuvor bereits in der Schweiz studiert hatten.
Die Zahl der Gasthörerinnen wuchs im Laufe der Jahre auf eine beträchtliche Größenordnung an. Darunter waren immer mehr Frauen
deutscher Nationalität. So nimmt es nicht Wunder, dass die Bestrebungen der Frauen verstärkt wurden, eine reguläre Immatrikulation zu sich
erreichen.
Als eine der ersten Frauen wandte sich die Leipziger Professorentochter Marie Lie (später, verheiratete Leskien) mit der Bitte um ordnungsgemäße Immatrikulation an das sächsische Ministerium des Kultus und des öffentlichen Unterrichts. Sie gehörte zu den ersten 5 Examinandinnen, die 1899 die Realgymnasialkurse des AdF bei Käthe Windscheid beendeten und das Abitur bestanden.66 Obwohl 1899 über die
Studienzugangsberechtigung, das Abitur, verfügend, blieb ihr die Immatrikulation noch bis SS 1906 versagt. Sie musste sich ab WS
1899/1900 bis WS 1905/06 für insgesamt 12 Semester mit der Gasthörerschaft an der Leipziger Universität begnügen. Viele Jahre später erwarb
sie sich nach Absolvierung des Pädagogikstudiums, in der Frauenbildung
durch die Leitung von Abiturkursen der 10klassigen Mädchenschulen in
Leipzig Verdienste.
Noch 1900, in den Verhandlungen im Sächsischen Landtag zum
Thema „Frauenstudium“ sprach sich der Staatsminister von Seydewitz
dafür aus, dass Frauen von den Universitäten auszuschließen sind, aber
als Hörerinnen und zu den Prüfungen (Medizin, höheres Lehramt) zugelassen werden können.67 In diesem Kontext unterbreitete er den Vorschlag, eine Frauenuniversität zu gründen, allerdings nur mit einer medizinischen und einer philosophischen Fakultät, für deren Finanzierung
seitens des Landes er keine Veranlassung sah.
65
66
67
Vgl. Drucker 1956, 279
Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35 Nr. 174, Blatt 33-41
Vgl. Boedeker 1939, XXXIII
182
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
3.2. Erste Studentinnen ab Sommersemester 1906
Als in Sachsen im SS 1906 die ersten Studentinnen regulär zum Studium
zugelassen waren, hatte Marie Curie (1867-1934) bereits ihre ordentliche
Professur an der Pariser Sorbonne-Universität inne. Dennoch stand
Leipzig in der Reihe der 8 deutschen Universitäten, die 1906 Studentinnen immatrikulierten, gegenüber den 13, die keine Frauen zum Studium
aufnahmen.68
Im Sommersemester 1906 schrieben sich die ersten 27 Studentinnen
an der Leipziger Universität ein. Unter diesen waren eine ganze Reihe
von Absolventinnen der Realgymnasialkurse für Mädchen des AdF.
Sie verteilten sich allerdings nur auf zwei der vier Fakultäten, auf die
philosophische (15) und die medizinische (12).
Die Motivstruktur für diese Studienwahl scheint keineswegs ausschließlich von den spezifischen Interessenlagen der Frauen und einer
quasi "angeborenen” besonderen Neigung für diese Fachdisziplinen zu
liegen, sondern vor allem durch folgende Gründe bedingt zu sein:
• die geschlechterspezifischen bildungsmäßigen Voraussetzungen. Viele
Frauen hatten den Hochschulzugang über Studienanstalten, Lehrerinnenseminare erworben, die eben nur den Zugang zum Pädagogikstudium eröffneten und keineswegs die Voraussetzungen für das
Studium aller Fachrichtungen69,
• das weibliche Rollenverständnis. Der Bruch mit dem traditionellen
Mutter-, Ehe- und Hausfrauenbild schien im Falle der Berufsausübung als Lehrerin oder Ärztin nicht so radikal, verband man doch
gerade mit diesen Berufszweigen eine Qualifizierung, die noch sehr
stark an die pädagogisch-erzieherischen Fähigkeiten (Kindererziehung, Mutterrolle) und im Falle des ärztlichen Berufs mit der helfenden Tätigkeit der Frau verbunden war.
• die beruflichen Verwertbarkeit des Wissens. Die Chancen für eine
spätere Berufsausübung der Frauen als Lehrerinnen und als Ärztinnen, waren am ehestes realistisch.
• die gesetzlichen Regelungen. Die Normativverordnungen des sächsischen Kultusministeriums schlossen explizit aus, "den Frauen auch
zu den Berufen als Geistliche, Richter, Rechtsanwälte oder juristi68
69
Vgl. Kästner 1994, unveröff. Manuskript, 3
Vgl. Mitteilungen für Studierende 1913/14 , 22; vgl. Huerkamp 1988, 209
Astrid Franzke
183
sche Verwaltungsbeamte Zutritt zu gewähren"70
Die erste Studentin der Leipziger Universität, die sich am 19.04.1906
immatrikulieren ließ, war die 1886 in Dresden geborene 20-jährige
Kaufmannstochter Martha Beerholdt (Matrikel 440), Absolventin der
Realgymnasialkurse des AdF in Leipzig.71 Sie studierte an der medizinischen Fakultät. Nach fünfjährigem Medizinstudium und Dissertation im
Jahre 1912 an der Universität Leipzig erhielt sie ihre Approbation als
Ärztin. Sie betrieb in Leipzig eine Praxis für Frauen, Kinder und Geburtshilfe.72
Die erste Studentin der philologischen Fakultät schrieb sich am
21.04.1906 ein. Es war Lily Engelsmann, 23-jährig, Kaufmannstochter
aus Leipzig, Matrikel 662. Auch sie war Absolventin der Realgymnasialkurse des AdF.73
Mit deutlichem zeitlichen Abstand wurde erst 1908 die erste Studentin der juristischen Fakultät, Rose Stolte, Verlagsbuchhändlertochter aus
Potsdam, Matrikel 1698, bereits 26-jährig immatrikuliert.
Nochmals weitere zwei Jahre später, 1910, war die erste Studentin
der theologischen Fakultät, Margarete Ridding, 24-jährige Lehrertochter
aus Preußen, Matrikel 1919, auszumachen.
Die Ursachen für den späten Eintritt der ersten Frauen in die juristische und in die theologische Fakultät lagen keineswegs am fachlichen
Desinteresse an diesen Wissenschaftsgebieten. Sie korrespondierten
vielmehr mit den herrschenden Weiblichkeitsbildern und den gesetzlichen Regelungen, die einen Berufseinstieg für Frauen außerordentlich
schwierig bzw. gar unmöglich machten.74
Die oben genannte Normativverordnungen des sächsischen Kultusministeriums, implizieren die überaus hartnäckigen, Vorbehalte gegen
das uneingeschränkte Frauenstudium. Sie sollten sich noch viele Jahre
später an dem sehr langsamen Anwachsen des Frauenanteils unter den
Studierenden nachweisen lassen:
70
71
72
73
74
Erlaß 175 A, 16.2.1900, in Universitätsarchiv Leipzig (UAL), Rep. II/IV/35, 57 a b;
Brentjes/Schlote 1993/94, 67/68
Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174, Blatt 48/49 f.
Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 36; Schwendler/Katsch 1990, 26; vgl. Kästner
1994, A.a.O. 14
Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174, Blatt 61
Vgl. Mertens 1991, 61
184
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
(Theologische Fakultät Zeitraum: WS 1911/12 - WS 1918/19 Höchststand SS 1914 4 Studentinnen, 0,7%, Juristische Fakultät Zeitraum: WS
1911/12 - WS 1918/19 Höchststand WS 1918/19 12 Studentinnen, 0,9 %,
eine Tendenz, die für Gesamtdeutschland konstatierbar war.
Formal gleiche Studienzugangsberechtigung von Frauen und Männern bedeutete zu diesem Zeitpunkt keineswegs gleiche Chancen zur
Berufsausübung und zum beruflichen Aufstieg.
Die soziale Herkunft der ersten Studentinnengeneration rekrutiert
sich aus dem gehobenen Bildungsbürgertum, dem Besitzbürgertum und
dem Adel. Vor allem drei Berufsgruppen der Väter sind es, deren Töchter
als erstes die Chance universitärer Ausbildung erhielten: 1. Kaufmann (9
x), 2. Professoren (4x), 3. Lehrer (4x), 4. Fabrik- und Rittergutsbesitzer
(3x), 5. Pastoren und Rechtsanwälte (3x).
Der Hochschulzugang war zunächst ausschließlich ein Privileg der
Frauen der höheren Stände und noch keine gleichberechtigte Teilhabe
aller Frauen.
Die Studentinnengeneration von 1906 zeigte nach der Altersstruktur
betrachtet, das hohe Immatrikulationsalter der Frauen von durchschnittlich 26,2 Jahren. Damit lag es deutlich über dem der gesamten
Matrikel. Die Ursachen dafür lagen in der späten Chance für das Frauenstudium in Deutschland und in Sachsen im besonderen sowie im längeren Bildungsweg für Mädchen.
Der größte Teil der ersten Studentinnen kam seiner regionalen Herkunft nach aus Sachsen (15), 9 Frauen aus Nichtsachsen, davon die meisten aus Preußen (7) und drei Frauen aus dem Ausland (Österreich, Rumänien, Russland).
Das entsprach in etwa den Proportionen des Verhältnisses von Sachsen und Nichtsachsen an der Gesamtzahl der Studierenden des Jahrgangs.
Die Integration der Frauen in die Universität vollzog sich in den ersten Semestern nach Zulassung zum Studium ab SS 1906 bis WS 1914/15
mit langsam steigender Tendenz:
Astrid Franzke
Semester
SS 1906
SS 1908
WS 1910/11
WS 1914/15
185
Studentinnen insgesamt
27
35
80
200
Studentinnenanteil an
den Studierenden
0,65 %
0,85 %
1,63 %
4,85 %
4. Die erste Akademikerinnengeneration
4.1. Die ersten Promotionen von Frauen
Als per ministeriellem Erlass vom 16.06.1900 (843 A) Promotionen für
Frauen regulär möglich wurden, wenn sie an deutschen Hochschulen 6
Semester immatrikuliert waren, nutzten dies die ersten Frauen auch an
der Leipziger Universität. Ausnahmen hatte es vereinzelt auch bereits
früher gegeben.75
Der größte Teil der ersten Doktorpromotionen76 von Frauen wurde an
der medizinischen Fakultät ab 1902 und an der philosophischen ab 1908
verteidigt, was mit dem Studienwahlverhalten der ersten Studentinnengeneration korrespondierte.
Die erste Promotion an der medizinischen Fakultät war die von Ethel
Blume im Jahre 1902 zum Thema "Zur Kenntnis der tuberculösen Blutgefässerkrankungen". Drei weitere Promotionen folgten noch bis 1907.
Darunter befanden sich 1903 Elisabeth Friederike Fällingen und 1904
Elli Meyer. Beide zählten zu den ersten 5 Examinandinnen der Realgymnasialkurse des AdF.77
Die erste Promovendin aus dem nichtmedizinischen Bereich, die
nach regulärer Studienzeit ihre Promotionsschrift im Jahre 1908 an der
philosophischen Fakultät zu dem wirtschaftswissenschaftlichen Thema
"Theorie und Praxis der Versteigerungen, besonders der Grosshandelsversteigerungen" verteidigte, war die 28-jährige Marie Kröhne. Die 1880
75
76
77
Vgl. Drucker 1956, 280, 285
Doktorpromotionen von Frauen sind regulär in Deutschland ab 1900 verteidigt worden, wobei es Unterschiede unter den Ländern gab, insbesondere verstärkt an der
Berliner Universität. Ausnahmen gab es selbstverständlich auch schon früher.
Vgl. StAL, Acta, den AdF betr., Cap. 35, Nr. 174; vgl. Kästner 1994 a.a.O.
186
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
in Dresden geborene Tochter eines Schriftsetzers absolvierte 7 Semester
als Gasthörerin an der Leipziger Universität und gehörte im SS 1906
(Matrikel 959) zu den ersten Studentinnen (Nationalökonomie, Geschichte, Geographie). Bis 1896 war sie Schülerin am von Auguste Schmidt (ab
1892 Vorsitzende des AdF) geleiteten Steyberschen Institut78. Ab Ostern
1897 besuchte sie die "Realgymnasialkurse für Mädchen" des AdF und
schloss diese nach 4 1/2 Jahren mit dem Abiturexamen am königlichen
Gymnasium in Dresden-Neustadt im Herbst 1901 ab.
Nach jetzigem Recherchestand promovierte die erste Frau auf regulärem Wege erst 1913 an der Leipziger Universität zum Dr. jur., es war
dies Margot Schoepke mit einer Arbeit zu dem geschlechterspezifischen
Thema "Die Unterhaltspflicht der Ehegatten während der Ehe und nach
der Scheidung der Ehe". Erst ab 1922 wurden Frauen zu den Ämtern
und Berufen der Rechtspflege zugelassen. Bis 1925 gab es in ganz
Deutschland noch keinen weiblichen Richter und keine Staatsanwältin,
jedoch bereits 55 Rechtsanwältinnen und weiblichen Notare.79 Auf
Grund dieser über einen langen Zeitraum hinweg kaum vorhandenen
Berufschancen war der geringe Studentinnenanteil an der juristischen
Fakultät nicht verwunderlich.
Weitere zwei Jahre mussten vergehen, ehe auch die letzte der vier
Fakultäten ihre erste Doktorin kürte. 1915 verteidigte Olga Tugemann
eine theologische Dissertation zu "Ludwig Feuerbachs Religionstheorie".
Dieser Umstand korrespondiert mit dem außerordentlich geringen Studentinnenanteil an der Theologischen Fakultät (SS 1915/WS 1915/16
jeweils nur 1 Frau/0,23 %). Deutschlandweit gab es noch 1925 lediglich
16 Theologinnen, die als Akademikerinnen berufstätig waren.80
Der Beginn des Frauenstudiums und erst Recht die ersten Promotionen von Frauen mussten als Eindringen in die Professionen der Männer
betrachtet werden, die ihnen jahrhundertelang allein vorbehalten waren.
Die auf besondere Art von Berufstätigkeiten orientierten Professionen
bedeuteten immer potentiell Zugang zu Macht- und Entscheidungszusammenhängen und sicherten einen damit verbundenen exklusiven sozialen Status. Eine massive Gefährdung gerade dieser Positionen bedeutete die Zulassung des Frauenstudiums und insbesondere zu den juristi78
79
80
Vgl. Anmerkung 14
Vgl. Boedeker 1939, XLV, LI
Vgl. Boedeker 1939, XLV, LI
Astrid Franzke
187
schen und theologischen Fakultäten, waren doch gerade die damit perspektivischen Berufspositionen dieser Fachrichtungen an die Ausübung
unmittelbarer Herrschaftsfunktionen81und damit besonderer Professionen gebunden.
Widerstände in diesen Bereichen hielten sich daher besonders hartnäckig. Mit dem Zugang der Frauen zum Wissen der Professionen war
damit keineswegs der Zugang zur Ausübung der entsprechenden bereits
gegeben.82
4.2. Die ersten promovierten Wissenschaftlerinnen im
Anstellungsverhältnis (ab 1913)
Die ersten Anstellungsverhältnisse von Akademikerinnen fallen in die
Zeit unmittelbar vor den 1. Weltkrieg. Frauen in zuarbeitenden Frauenberufen, „Semiprofessionen“, gab es bereits wesentlich früher im Anstellungsverhältnis, so etwa als Hebammen, Schwestern (Oberin), Aufwärterinnen und Wäscherinnen in den Klinika, als Wirtschafterinnen, Buchführerinnen, Garderobiere etc.
Die ersten promovierten Frauen im Anstellungsverhältnis waren
Medizinerinnen.
Die Augenärztin Dr. med. Constanze Siegfried arbeitete von SS 1913
bis SS 1918 an der Heilanstalt für Augenkranke (Stiftung bei der Universität), zu der 3 Professoren und 10 Assistenzärzte zählten, darunter 3
Hilfsärzte. Constanze Siegfried war die einzige Frau unter den Hilfsärzten.
Die aus Sachsen Anhalt (Dessau) stammende damals 26-jährige
Constanze Siegfried, Tochter eines Geh. Oberjustizrats zählte zu den
ersten Studentinnen (Matrikel 1974), die sich im WS 1906 an der medizinischen Fakultät der Leipziger Universität einschrieben. Sie promovierte 1913 an der Leipziger Universität zum Thema "Ueber den Einfluß
einiger gebräuchlicher Schlafmittel auf die Blutzirkulation".83
Ab WS 1914/15 sind im Personalverzeichnis der Universität Leipzig
zwei weitere Ärztinnen als Angestellte verzeichnet: Dr. med. Lucie Hörhammer, Assistenzärztin an der Chirurgischen Klinik und Poliklinik,
81
82
83
Vgl. Soden/Zipfel 1979, 21
Vgl. Rabe-Kleberg 1990
Vgl. Kästner 1994
188
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
1914-1918 und Dr. med. Anna Moestra bis WS 1919/1920 als Angestellte
Ärztin bei der Kommission für die Allgemeine studentische Krankenkasse und hier zuständig für weibliche Studierende. Diese Struktureinheit
gab es bereits früher, nicht aber die spezielle Zuständigkeit für weibliche
Studierende, die nach dem Ausscheiden von Anna Moestra auch nicht
weiterexistierte. Letzteres könnte belegen, dass der Geschlechterbezug
für die Auswahl der Arbeitsbereiche, in denen die ersten Wissenschaftlerinnen tätig waren, sehr wohl relevant war. Auffallend ist, dass sowohl
Dr. Constanze Siegfried (Hilfsärztin an der Stiftung bei der Universität)
als auch Dr. Anna Moestra (Kommission für die allgemeine Krankenkasse) eher in peripheren Bereichen der Universität eine Anstellung gefunden hatten und daher kaum über Aufstiegschancen verfügt haben dürften. Auch scheint in allen drei Fällen naheliegend, dass diese Ärztinnen
bezüglich einer Anstellung im akademischen Bereich vom Mangel an
Wissenschaftlern bedingt durch die Kriegsjahre profitierten. Diese These
stützt sich auf den Fakt, dass alle drei Anstellungsverhältnisse 1918 bzw.
1920 beendet waren und sich das Einstellungsverhalten nach Kriegsende offensichtlich wieder zu Gunsten der Männer änderte.
Die ersten promovierten Wissenschaftlerinnen, die an der Universität im nichtmedizinischen Bereich eine Anstellung erhielten, fanden sich
erst mit einem zeitlichen Verzug von immerhin 5 Jahren an der philosophischen Fakultät.
Seit SS 1918 war dies Dr. phil. Elisabeth Jastrow, stellvertretende Assistentin am Archäologischen Institut, die bereits ab WS 1917/18, damals
noch unpromoviert, als cand. phil. im Personalverzeichnis der Universität Leipzig aufgeführt wurde.
Ebenfalls seit SS 1918 hatte Dr. phil. Marie Dietsch eine Anstellung
am Geographischen Institut erhalten, nach ihrer Promotion zum Thema
"Untersuchungen über die Aenderung des Windes mit der Höhe in Zyklonen"84, die sie im April desselben Jahres an der Universität verteidigte.
Die Gutachter bezeichneten ihre Arbeit als gründlich, bewerten sie mit
der Gesamtnote II.85 Die am 1890 in Frankfurt a.M. geborene Kaufmannstochter hatte Ostern 1910 die Reifeprüfung am königlichen Lehrerinnenseminar in Dresden abgelegt und ein Jahr später das Abitur an
der Oberrealschule. Danach studierte sie Mathematik, Physik und Che84
85
UAL, Personalakte (PA), Phil. Fak., Blatt 4
Vgl. UAL, PA, Phil. Fak., Blatt 4
Astrid Franzke
189
mie in Dresden, Heidelberg und seit 1913 wieder in Leipzig mit Ausnahme des WS 1914/1915 "wegen Kriegsvertretung an einer Schule in Dresden". 86
Immerhin, zwei der ersten Promovendinnen der Universität Constanze Siegfried 1913 und Marie Dietsch 1918, fanden unmittelbar nach
der Promotion auch eine Anstellung an dieser, allerdings nur für relativ
kurze Zeit (Beschäftigungsdauer 1 bzw. 5 Jahre).
Die ersten promovierten Frauen der Leipziger Universität, waren
trotz nachgewiesener Professionen im universitären Bereich auf hierarchisch untergeordneten Ebenen angesiedelt, in denen sie keine wissenschafts- und lehrprofilentscheidenden Dienststellungen einnahmen.
Keine der ersten Promovendinnen erreichte eine dauerhafte Integration
in die Universität Leipzig und keine die nächst höhere Stufe der wissenschaftlichen Qualifikation, die Habilitation. Die Habilitation für Frauen
wurde in Deutschland im Jahre 1920 im Wege eines Erlasses des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung möglich.87
Die erste Habilitandin der Leipziger Universität war die Indologin
Dr. phil. Charlotte Krause im Jahre 1923. Sie hatte bereits 1920 an der
Leipziger Universität auch promoviert und wurde 1924 auch deren erste
Privatdozentin.88 Ihr folgte im Jahre 1925 die Habilitation der Ärztin Dr.
med. Martha Schmidtmann.89
86
87
88
89
Vgl. UAL, PA, Phil. Fak., Blatt 4
Vgl. Zentralblatt für die gesamte Universitätsverwaltung in Preußen. Jg. 1920, 240.
Aus Anlass der Eingabe von Dr. Edith Stein, aus Breslau vom 12.12.1919, trat der
Minister der von ihr vertretenen Auffassung zu, „dass in der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht kein Hindernis gegen die Habilitierung erblickt werden darf...“ bei.
Vgl. UAL, PA 654
Vgl. UAL, PA 1590
190
Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig
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Velsen, Dorothee von: Die erste Stipendienstiftung für Studentinnen. In:
Die Frau. 45. 1937/38. S. 32-44.
Wehler, Hans-Jürgen: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. III. München 1995.
Windscheid, Käthe: Das Gymnasialwesen für Mädchen. In: Wychgram, I.
(Hrsg.): Handbuch des höheren Mädchenschulwesens. Leipzig 1897.
Windscheid, Käthe: Das philologische Studium der Frauen. In: Hochschulnachrichten. XI. Jahrg. Nr. 7/1901.
Zentralblatt für die gesamte Universitätsverwaltung in Preußen. Jahrg.
1920.
Mädchen in naturwissenschaftlichen und
technischen Studienrichtungen
Ergebnisse der Sommeruniversität für SchülerInnen an der
TU Dresden
Karin Reiche
In diesem Vortrag werden weniger neue Formen der Arbeitsorganisationen thematisiert als die zukünftig stärkere Besetzung von Männerberufen durch Frauen. Wir erwarten davon natürlich Änderungen in der Arbeitsorganisation, weil Frauendenken und -anforderungen, -motivation
und -erfahrungen ein Berufsbild und den Arbeitsalltag verändern können. Bei der “Sommeruniversität für SchülerInnen”, die eine spezielle
Form der Studienberatung darstellt, wird auf monoedukatives Vorgehen
wertgelegt.
Jeweils in den Sommermonaten der Jahre 1998 und 1999 veranstaltete die TU Dresden unter dem Motto "erst ausprobieren - dann studieren" ihre “Sommeruniversität für SchülerInnen”, wobei ausgewählte
Studienrichtungen vorgestellt wurden. Wegen des großen technischen
Fächerspektrums ist die TU für ein solches monoedukatives Projekt sehr
geeignet. Besonders in den technischen Fachrichtungen können sehr
viele differenzierte Studienwünsche erfüllt werden. Dazu gehören auch
solche Studienrichtungen, bei denen der Gedanke des Umweltschutzes
schon in ihrer Bezeichnung hervorgehoben wird, und solche mit fächerübergreifenden Anwendungsbereichen. Diese Studienrichtungen werden
von den Mädchen zunehmend ausgewählt. Die TU Dresden bietet in der
Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften weiterhin die klassischen Studienrichtungen Biologie, Chemie, Mathematik und Physik sowie die Psychologie und die Lebensmittelchemie an.
Es wurde unter den Mitgliedern der TU Dresden aber auch unter den
SchülerInnen selbst die Sinnhaftigkeit einer solchen Veranstaltung nur
für SchülerInnen verhalten diskutiert und teilweise bestritten. Mitunter
194
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen
versuchten sich auch Schüler für die Sommeruniversität anzumelden.
Diese Meinungsäußerungen hörten auf, als in einer TU-eigenen Zeitschrift der Artikel “Im Ausgang mal zur Uni - die Bundeswehr stellt frei”
zur Studienberatung (2-Wochen-Kurse) für Wehrdienstleistende erschien. Für Mädchen und Frauen sind monoedukative Veranstaltungen
eine neue Organisationsform, deren Notwendigkeit bewiesen werden
muss.
Mit den Bildern 1 und 2 (siehe Anhang) gelang das. Sie belegen die
Entwicklung des StudentInnenanteils in den Studienjahren 1993/94 bis
1998/99 an der TU Dresden. Sie zeigen die Geschlechtsspezifik des Studienwahlverhaltens und damit die Notwendigkeit einer speziellen Studienberatung für SchülerInnen besonders in den sogenannten Männerberufen. In der Fakultät A (Architektur) liegt der StudentInnenanteil bei
50 %. Die Frauenanteile in den Fakultäten M/N (Mathematik und Naturwissenschaften, siehe auch Bild 2), FGH (Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften) und VW (Verkehrswissenschaften) steigen stark an, wobei
in den Fakultäten FGH und VW sowohl der Umweltaspekt als auch das
breite Spektum attraktiv wirken. In der Fakultät WW (Wirtschaftswissenschaften) fällt der StudentInnenanteil seit sechs Jahren stetig. In den
Fakultäten BIW (Bauingenieurwesen), INF (Informatik), MW (Maschinenwesen) und ET (Elektrotechnik) liegt der Frauenanteil unter 30 %.
Im Bild 2 ist der StudentInnenanteil in der Fakultät Mathematik und
Naturwissenschaften studienrichtungsspezifisch zusammengestellt. Die
Fächer Psychologie, Biologie und Lebensmittelchemie haben einen sehr
hohen Frauenanteil, der mit dem in den Erziehungswissenschaften und
in den Sprach- und Literaturwissenschaften vergleichbar ist. In der
Chemie und Mathematik ist der Frauenanteil deutlich kleiner, und in
der Physik ist er sehr klein. Im Studienjahr 1998/99 sind 24.093 Studierende an der TU immatrikuliert.
Die folgende Tabelle wurde nach dem Programm des Jahres 1999 erstellt. Sie zeigt, wie aktiv sich besonders die WissenschaftlerInnen der
TU Dresden für diese zusätzliche Arbeit engagierten. Die Veranstaltungen fanden schließlich während der Prüfungsperiode und in der vorlesungsfreien Zeit statt. Dazu muss man wissen, dass der Frauenanteil bei
den HochschullehrerInnen an der TU Dresden 6,7% beträgt (Frauenanteil im unbefristeten wissenschaftlichen Personal: 32% und im befristeten wissenschaftlichen Personal: 29%). Die folgende Tabelle zeigt die
geschlechtsspezifische Auswertung dazu, wieviel Veranstaltungen der
Karin Reiche
195
“Sommeruniversität für SchülerInnen” von HochschullehrerInnen, akademischen MitarbeiterInnen bzw. von außeruniversitären ReferentInnen
durchgeführt worden sind.
Tabelle 1: Geschlechtsspezifik zur Durchführung der Veranstaltungen
Anzahl der Veranstal- davon von Frauen
tungen
durchgeführt
HochschullehrerInnen
42
33%
akademischen Mitarbei116
66%
terInnen
außeruniversitären Refe12
100%
rentInnen
Summe
170
60%
Die Resonanz auf die vom Referat Gleichstellung für Frau und Mann
organisierte “Sommeruniversität für SchülerInnen” war größer als erwartet. Insgesamt nahmen in diesen zwei Jahren 286 Mädchen, vorwiegend aus Sachsen, an unserer Sommeruniversität teil. Es gab aber auch
TeilnehmerInnen (etwa jede fünfte) aus den alten und den übrigen neuen
Bundesländern. Der überwiegende Teil der SchülerInnen besuchte zum
Zeitpunkt der Anmeldung die 11. oder 12. Klasse. Der Anteil der SchülerInnen aus den Klassen 10 und 13 war demgegenüber gering.
Im Jahre 1998 wurden drei und im Jahre 1999 vier Projektwochen
angeboten. In jeweils einer von diesen sieben Projektwochen hatten die
GymnasiastInnen fünf Tage lang Gelegenheit, verschiedene Fachrichtungen in Einführungsvorträgen, Vorlesungen, Praktika und Übungen
hautnah zu erleben. Der gebotene Mix an verschiedenen Formen der
Studienorientierung kam gut an. Besonderen Anklang fanden praxisnahe Veranstaltungen, wie Labor- und Betriebsbesichtigungen, aber auch
individuelle Gespräche mit HochschullehrerInnen und StudentInnen
sowie Gruppengespräche.
Die folgenden zwei Tabellen charakterisieren die TeilnehmerInnen
an der “Sommeruniversität für SchülerInnen” in den Jahren 1998 und
1999 hinsichtlich ihres Wohnorts und ihres Alters.
196
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen
Tabelle 2: Nach Herkunft
TeilnehmerInnen, neue Bundesländer
(davon aus Sachsen)
(davon aus Dresden)
TeilnehmerInnen, alte Bundesländer
TeilnehmerInnen, gesamt
1998
125
(108)
(28)
8
133
1999
148
(131)
(34)
5
153
1998
9
83
32
7
2
133
1999
8
78
54
7
6
153
Tabelle 3: Nach Klassenstufen
10. Klasse
11. Klasse
12. Klasse
13. Klasse
berufst./prakt. Jahr/AZUBI/Au pair
Summe
In einer Fragebogenaktion haben wir die SchülerInnen nach ihrer individuellen Ausgangssituation vor der Teilnahme an der Sommeruniversität befragt. Wir wollten erfahren, wer unsere Universität kennen lernen
will, wer die zukünftigen MathematikerInnen, NaturwissenschaftlerInnen oder IngenieurInnen sind. In einer Nachbefragung interessierten wir
uns für den Erfolg der Sommeruniversität und für deren Einordnung in
die Vielfalt der Angebote zur Studienberatung.
Von 100 befragten SchülerInnen waren 40 Einzelkinder, die übrigen
hatten ein (43), zwei (14) bzw. drei (3) Geschwister, die sich überwiegend
noch in schulischer bzw. beruflicher Ausbildung befanden. Bei mehr als
der Hälfte dieser SchülerInnen hatte mindestens ein Elternteil einen
Hochschulabschluss, bei jeder vierten Schülerin sogar beide Elternteile.
Jede dritte Schülerin hatte von ihrem zukünftigen Beruf schon mehr
oder weniger konkrete Vorstellungen. Beim überwiegenden Teil der
SchülerInnen entwickelte sich der Studien- und Berufswunsch im Alter
zwischen 15 und 17 Jahren, d. h. in den Klassenstufen 9 bis 11. Deshalb
Karin Reiche
197
ist das Praktikum interessant, das die meisten SchülerInnen im Rahmen
ihrer schulischen Ausbildung absolvierten. Wir fragten danach und
mussten feststellen, dass diese Praktika sehr selten auf naturwissenschaftlichen und technischen Gebieten angesiedelt waren. Als Tätigkeitsfelder wurden Arztpraxen, Apotheken, Kindergärten/Krankenhäuser/
Altersheime, Kanzleien und Steuerbüros, Werbeagenturen und der Handel häufig genannt. Hier versäumen die Hochschulen im Freistaat Sachsen eine Chance der Einflussnahme auf die Studienwünsche der SchülerInnen.
In der Schule interessierten sich die Mädchen besonders für die Fächerkombinationen Mathematik und Naturwissenschaften oder Sprachen und Naturwissenschaften. In diesen Fächern wurden meist auch
Bestleistungen erzielt. Bei den Freizeitbeschäftigungen rangierte an
erster Stelle der Sport, gefolgt von Literatur und Musik. Alle anderen
möglichen Tätigkeiten waren unterrepräsentiert, auch die Arbeit am
Computer. Das wäre bei Jungen sicher nicht passiert.
Besonders großes Interesse und damit auch großen Informationsbedarf zeigten die SchülerInnen, befragt am Anfang der Projektwoche, an
den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachrichtungen, wobei Biologie, Mathematik, Psychologie und Chemie bevorzugt wurden. Die Tabelle 3 zeigt die Zusammenstellung.
Wesentliche Einflussfaktoren auf die Berufsentwicklung sind persönliches Interesse, der Unterricht und die Familie. Hieraus lässt sich
schlussfolgern, dass dem Unterricht, in dem ja oft durch die Gestaltung
persönliches Interesse geweckt wird, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, wenn es um die Gewinnung von SchülerInnen für
mathematisch-naturwissenschaftliche und technische Studienrichtungen
geht. Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch der Einfluss der Familie
mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung, in die insbesondere allgemein
verbreitete Ansichten und die gesellschaftliche Anerkennung von Frauen
in bestimmten Berufen eingehen (z. B. frauentypische Berufe wie Lehrerin usw. oder untypische Berufe wie Diplomingenieurin).
Die meisten SchülerInnen (74 %) konnten ihre Eltern bei deren Arbeitstätigkeiten beobachten. Gespräche zum Berufs- bzw. Studienwunsch
fanden in allen Familien der befragten TeilnehmerInnen statt. Über die
Hälfte (57 %) sprach mit den Eltern (davon wiederum etwa jede zweite
zusätzlich mit Geschwistern oder Großeltern), fast die Hälfte (43 %)
sprach mit allen im Fragebogen aufgeführten Familienangehörigen. Fast
198
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen
alle SchülerInnen (94) unterhielten sich darüber hinaus mit ihren
FreundInnen über ihren Berufs- oder Studienwunsch.
Tabelle 4: Informationsbedarf der SchülerInnen laut vorgetragenem
Wunsch
Fakultät/Fachrichtung
Architektur (A)
Bauingenieurwesen (BIW)
Elektrotechnik
Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften
(FGH)
Forstwissenschaften
Geographie, Kartographie, Geodäsie
Wasserwesen
Informatik (INF)
Maschinenwesen (MW)
Maschinenbau
Verarbeitungs- und Verfahrenstechnik
Werkstoffwissenschaft
Mathematik/Naturwissenschaften (M/N)
Biologie
Chemie/Lebensmittelchemie
Mathematik/Technomathematik/
Wirtschaftsmathematik
Physik
Psychologie
Verkehrsingenieurwesen/ Verkehrswirtschaft (VW)
Wirtschaftsingenieurwesen (WW)
1998
9,0 %
5,2 %
3,5 %
18 %
2,9 %
9,3 %
5,5 %
1999
10,7 %
3,8%
4,4 %
14,7%
2,7 %
5,2 %
6,9 %
3,5 %
9,6 %
3,5 %
4,1 %
2,0 %
42 %
12 %
6,4 %
8,1 %
6,7 %
8,2 %
3,6 %
3,3 %
1,3 %
40,3 %
11,1 %
7,8 %
6,1 %
3,8 %
12 %
5,2 %
4,4 %
10,9 %
4,0 %
4,1 %
7,1 %
23 SchülerInnen schätzten sich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich als sehr talentiert ein, 61 als talentiert, 14 als mittelmäßig
und 2 als wenig talentiert. Etwas ungünstiger fällt die Einschätzung der
Begabung im technischen Bereich aus. Hier hielt sich nur eine Schülerin
für sehr talentiert, 24 fanden, dass sie talentiert sind, 49 schätzten sich
Karin Reiche
199
als mittelmäßig talentiert ein, 22 als wenig talentiert und 2 als gar nicht
talentiert. Sicher wirkt sich in dieser Bewertung das fehlende Angebot
an technischen Fächern in der Schule aus, so dass es den SchülerInnen
schwerfällt, ihre Begabung in diesem Bereich einzuschätzen.
Für den wirtschaftlichen Bereich hielten sich etwa ein Fünftel der
SchülerInnen für sehr talentiert (4) oder talentiert (17), etwa die Hälfte
(47) schätzten sich als mittelmäßig talentiert ein und etwa ein Drittel als
wenig (29) oder gar nicht (3) talentiert.
Die reichliche Hälfte der SchülerInnen ist im künstlerisch-musischen
Bereich sehr begabt (20) oder begabt (35), etwa ein Viertel (24) hält sich
für mittelmäßig begabt und etwa ein Fünftel für wenig (16) oder gar
nicht begabt (5).
Ihre Begabung für den sozialpflegerischen Bereich schätzten die
SchülerInnen folgendermaßen ein: Jede zehnte hält sich für sehr talentiert, ein Viertel (26) findet sich talentiert, zwei Fünftel (39) meinen, dass
sie mittelmäßig talentiert sind, ein Fünftel (21) hält sich für wenig talentiert und 4 SchülerInnen glauben, dass sie gar kein Talent für diesen
Bereich besitzen.
Interessant waren für uns auch die Vorstellungen der TeilnehmerInnen von der Arbeit einer Ingenieurin, da dies kein frauentypischer Beruf
ist. Etwa jede 5. Schülerin (21%) meinte, dass bei der Arbeit einer Ingenieurin Arbeit im Team, am Computer und Reißbrett o. ä., Leitung und
Organisation sowie Forschung und Entwicklung eine Rolle spielen, ein
knappes weiteres Fünftel (18%) entschied sich für die eben genannte
Kombination ohne Leitung und Organisation bzw. 16% ohne Team und
10% ohne Computer. Bei nur einer Schülerin tauchte die Kategorie körperlich schwere Arbeit an der Maschine auf (in Kombination mit Arbeit
im Team und Computertätigkeit).
Die Fragen zur Lebensplanung zu beantworten war für die SchülerInnen nicht leicht. Der überwiegende Teil der SchülerInnen (84%)
schätzt für sich persönlich ein, dass es schwierig ist, während des Studiums ein Kind großzuziehen. Etwa jede zehnte (12%) hält dies für nicht
möglich, eine Schülerin möchte überhaupt keine Kinder. Nur 3 SchülerInnen können sich vorstellen, Studium und Kindererziehung gleichzeitig ohne Probleme zu meistern. Auch während der Berufstätigkeit halten
es immer noch 59 Mädchen für schwierig, ein Kind großzuziehen, 2
schätzen dies für sich als unmöglich ein. 38 SchülerInnen können sich
jedoch nun vorstellen, Berufstätigkeit und Mutterschaft problemlos zu
200
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen
vereinbaren.
In der Nachbefragung wollten wir wissen, welche Resonanz die
Sommeruniversität bei den SchülerInnen hatte.
Wir konnten feststellen, dass die Sommeruniversität die Erwartungen und Wünsche der meisten SchülerInnen gut bzw. sehr gut erfüllt hat
und auch für eine Reihe von technischen Studiengängen besonderes und
größeres Interesse weckte. 95 Mädchen besuchten demnach Veranstaltungen
naturwissenschaftlicher Studiengänge (was mit den Studienwünschen gut übereinstimmt), 84 die technischer, 67 die mathematischer und 46 die wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge.
Die Veranstaltungen mit der größten Resonanz zu nennen fiel den
SchülerInnen nicht leicht. Überproportional viele entschieden sich dann
für die Experimentalvorträge der Fachrichtung Elektrotechnik "Akustik Wohlklang-Lärm-Information", "Der sprechende Computer", "Alternative
Energiegewinnung - Solarenergie" sowie für die Betriebsbesichtigung bei
SIMEC.
Ein besonderes Lob erhielten auch die Veranstaltungen:
• "Exkursion in die Forststadt Tharandt"
• "Lebensmitteltechnik - interessante Verbindung von Naturwissenschaft und Ingenieurtechnik"
• "Von der Gartenkunst zum Nationalpark"
• "So lügt man mit Statistik"
• "Warum fliegt ein Flugzeug?"
• "Experimentieren mit AHA-Effekt"
• "Pflanzenvielfalt aus aller Welt"
Aus dieser Bewertung geht hervor, dass die Sommeruniversität im
Vergleich mit anderen Formen der Studienberatung sehr gut abschneidet
(alle SchülerInnen hielten sie für sehr sinnvoll oder sinnvoll). Etwa
gleich gut liegt die individuelle Beratung (96% sehr sinnvoll oder sinnvoll). Gut kommen auch der Tag der offenen Tür an der TU Dresden
(85% sehr sinnvoll oder sinnvoll) und die Informationsbroschüren (80%
sehr sinnvoll oder sinnvoll) an. Die Beratung beim Arbeitsamt wird dagegen nur von knapp einem Drittel der SchülerInnen für sinnvoll oder
sehr sinnvoll gehalten.
Karin Reiche
201
EZW
SLW
PhF
JF
MED
A
M/N
FGH
VW
WW
BIW
INF
MW
ET
1993
76,0
75,7
57,1
49,4
48,1
53,0
44,1
24,0
24,9
46,4
18,0
15,7
14,2
6,5
1994
75,7
77,3
55,8
49,4
49,4
49,0
43,7
37,5
25,9
42,6
17,5
14,5
11,2
5,6
1995
75,1
75,1
56,7
53,0
49,9
48,7
46,9
38,8
29,9
39,4
19,4
12,1
10,9
5,5
1996
74,6
75,9
56,7
54,6
50,1
49,6
49,1
42,1
34,2
37,5
20,8
11,1
12,9
5,0
1997
78,9
77,0
57,9
55,0
53,0
50,3
49,9
43,3
36,2
36,0
20,8
12,7
12,4
5,5
1998
77,7
78,5
59,8
55,6
54,6
51,9
53,5
44,7
38,4
35,6
21,8
12,8
12,7
6,5
A
M/N
FGH
VW
WW
BIW
INF
MW
ET
1993
53,0
44,1
24,0
24,9
46,4
18,0
15,7
14,2
6,5
1994
49,0
43,7
37,5
25,9
42,6
17,5
14,5
11,2
5,6
1995
48,7
46,9
38,8
29,9
39,4
19,4
12,1
10,9
5,5
1996
49,6
49,1
42,1
34,2
37,5
20,8
11,1
12,9
5,0
1997
50,3
49,9
43,3
36,2
36,0
20,8
12,7
12,4
5,5
1998
51,9
53,5
44,7
38,4
35,6
21,8
12,8
12,7
6,5
202
Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen
Psychologie
Biologie
Lebensmittelchemie
Chemie
Mathematik
Physik
1993
62,0
1994
70,2
72,2
63,6
40,5
30,2
7,7
54,3
66,6
35
15,2
1995
71,3
72,4
60,8
37,0
32,7
7,3
1996
72,6
73,8
64,7
35,8
35,6
7,3
1997
77,1
72,5
66,2
30,9
25,2
6,8
1998
77,8
72,4
65
39,2
37,1
7,7
Abbildung 1: Studentinnenanteil in ausgewählten Fakultäten
60
50
1993
1994
1995
1996
1997
1998
in Prozent
40
30
20
10
0
A
M/N
FGH
VW
WW
BIW
INF
MW
ET
Karin Reiche
Abkürzungen:
A
BIW
ET
EZW
FGH
INF
JF
M/N
MED
MW
PhF
SLW
VW
WW
Architektur
Bauingenieurwesen
Elektrotechnik
Erziehungswissenschaften
Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften
Informatik
Juristische Fakultät
Mathematik/Naturwissenschaften
Medizinische Fakultät
Maschinenwesen
Philosophische Fakultät
Sprach- und Literaturwissenschaften
Verkehrswissenschaften
Wirtschaftswissenschaften
203
204
Die AbsolventInnengeneration des Jahres
1998 der HTWK Leipzig
Integrationschancen in den Erwerbsarbeitsmarkt
Inga Kirst
Zusammenfassung
Die Absolventinnen des Jahres 1998 der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH) haben durchschnittlich bessere Abschlussnoten als ihre männlichen Kollegen. Auf dem Arbeitsmarkt können sie diesen Vorsprung jedoch nicht umsetzen. Nicht allein, dass sie
länger auf der Suche nach Arbeit sind. Sie landen auch eher bei Teilzeitund/oder befristeten Tätigkeiten. Den Frauen bringt ihr Diplom zudem
bedeutend weniger Geld ein als den Männern. Neben der "normalen"
Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt scheinen die Gründe
allerdings auch bei den Hochschulabsolventinnen selbst zu liegen: Die
meisten der technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge finden
weitestgehend ohne weibliche Beteiligung statt, während die Frauen ihre
Domänen in der Betriebswirtschaft, im Verlags- und Bibliothekswesen
sowie in der Sozialarbeit haben. Erfreulich für beide Geschlechter ist,
dass ein Diplom der HTWK Leipzig ein gutes Argument für die Arbeitsplatzsuche ist - nur wenige der AbsolventInnen des vergangenen Jahres
sind noch ohne Anstellung.
Das sind in Kürze einige der Resultate einer Erhebung durch die
HTWK Leipzig im Frühjahr 1999. Von den 523 AbsolventInnen des
Jahrgangs 1998 haben 179, d.h. 34,2% den umfangreichen Fragenkatalog
der quantitativen Erhebung beantwortet, 6 Frauen beteiligten sich an
der anschließenden qualitativen Erhebung.
Zu einigen Resultaten dieser Befragung im Detail:
206
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Quantitative Erhebung
Berufserfahrung vor dem Studium
Die erste Überraschung: Frauen und Männer starten mit deutlich unterschiedlichem Erfahrungshintergrund ins Studium und in den Beruf.
Während nämlich 26 der befragten Frauen (38,8%) bereits zuvor eine
Ausbildung begonnen hatten und 41 nicht (61,2%), ist das Verhältnis bei
den Männern genau umgekehrt: 69 hatten schon eine Ausbildung zumindest angefangen (61,6%), hingegen 43 nicht (38,4%). Sowohl Männer
als Frauen hatten begonnene Ausbildungen bis auf jeweils eine Ausnahme auch abgeschlossen. Der Trend setzt sich fort, geht es um die vorhandene Berufserfahrung: nur 18 der Absolventinnen dieses Jahrganges
haben in einem zuvor erlernten Beruf bereits gearbeitet (26,9%) gegenüber 41 der männlichen Absolventen (36,6%).
Wahl des Studienfachs
Die offizielle AbsolventInnenstatistik der HTWK Leipzig, die an dieser
Stelle zitiert wird, sagt aus, dass 328 Männer und 195 Frauen 1998 das
Diplom erworben haben. Sie zeigt zugleich, dass sich die Wege der Geschlechter bei der Auswahl des Studienfachs bereits getrennt haben: Von
den männlichen Absolventen hatten sich 255, also 77,7%, für einen der
technischen Studiengänge entschieden (der vielschichtigen Studiengang
Verlagsherstellung wurde hierbei ganz den technischen Fächern zugeordnet). Spitzenreiter war dabei das Bauingenieurwesen mit 96 Diplomanden (29,3% der Männer).
Hingegen zogen die technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge
nur 62 Frauen an, d.h. 31,8%. Die Fachbereiche Informatik, Maschinenbau und Automatisierungstechnik hatte zu Beginn des Studiums 1994
keine einzige Studentin gewählt. Unter den 37 Elektrotechnikern gab es
nur eine Frau. In die Männerbastion Bauingenieur brachen lediglich
5,6% der Studentinnen, also 11 Frauen ein. In der Architektur herrschte
fast Gleichstand: 24 Männer, aber auch 23 Frauen studierten dieses
Fach, das damit bei letzteren mit 11,8% bereits an vierter Stelle in der
Beliebtheitsskala lag. Die Studentinnen dominierten hingegen die Verpackungstechnik mit 5 Absolventinnen gegenüber lediglich einem Mann.
Inga Kirst
207
Mit 44 Studentinnen wählte mehr als jede 5. Frau die Betriebswirtschaftslehre, hingegen mit 39 nur etwa jeder 8. Mann. Das Bibliothekswesen bildete mit 15,4% Platz 2 der Studienfachwahl bei den Studentinnen (30 der Frauen). Zählt man die Buchhandels- und Verlagswirtschaft,
die Drucktechnik sowie die Verlagsherstellung hinzu, wollte sich mehr
als jede 3. Studentin mit gedruckten Büchern beschäftigen (73 gleich
37,4%), jedoch mit 32 Männern weniger als ein Zehntel der Kommilitonen. Ein deutliches Übergewicht der Frauen zeigte sich im Sozialwesen,
für 20 Frauen (10,3%) das gewählte Studienfach, während nur 6 Männer
(1,8%) dieses Fach belegten.
Diese allgemeine Statistik findet sich übrigens treffgenau in der befragten Gruppe von 179 AbsolventInnen wieder: 22 dieser 67 Studentinnen (32,8%) hatten ein technisches Fach gewählt gegenüber 87 von 112
Studenten (77,7%).
Abbildung 1: Geschlechtsverteilung bei der Studienfachwahl, Matrikel
1994
100%
80%
60%
40%
20%
El
ek
tr
ot
ec
hn
ik
In
fo
rm
at
M
A
ik
as
ut
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th
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sw
es
en
0%
Frauen
Männer
Quelle: Amt für Studienangelegenheiten. HTWK Leipzig
208
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Technische Vorbildung
Die Wahl des Studienfaches steht in einem Zusammenhang zur Berufsausbildung vor dem Studium. Wie bereits erwähnt, hatten 69 der
befragten Männer bereits eine Ausbildung begonnen bzw. abgeschlossen.
Von diesen wiederum nannten 67 ihre früheren Berufe. Dabei standen 50
"technische" Berufsbilder 17 "nicht-technischen" gegenüber. Von den 26
Frauen mit einer Ausbildung nannten 25 diese Berufe: 7 mal handelte es
sich um "technische", hingegen 18 mal um "nicht-technische" Tätigkeiten. Die Abgrenzung der Berufsfelder richtete sich dabei im Zweifelsfall
nach der Beschäftigung mit Mechanik, Mathematik und Elektronik. So
wurde beispielsweise eine Bauzeichnerin den technischen Berufen zugeschlagen, der Baufacharbeiter hingegen den nicht-technischen. Die Abgrenzungen schönen sogar das Bild leicht zu Gunsten der Frauen.
Abschlussnoten und Regelstudienzeit
Bei den Abschlussnoten erzielen die Frauen einen deutlichen Vorsprung.
Lediglich einer der befragten 112 Männer erlangte ein Diplom mit Auszeichnung (0,9%), hingegen 4 ihrer 67 Kommilitoninnen (6%). 19 der
Frauen (28,4%) gelangten lediglich mit "befriedigend" ans Studienziel,
doch 41 Männer (36,6%) trugen diese relativ schwache Note nach Hause.
Bei der Studiendauer gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen
den Geschlechtern: 41 der befragten Studentinnen und 64 der Studenten
(61,2% bzw. 57,1%) mussten die Regelstudienzeit um ein Semester überziehen. 39 der 41 Studentinnen nannten auch die (Haupt)Gründe für die
Verzögerung: 18 erklärten, für die Diplomarbeit länger als geplant gebraucht zu haben, 6 hatten ein Vertiefungs-, Praktikums- oder Auslandssemester eingeschoben, 5 weitere (12,8%) gaben familiäre Gründe wie
Kindererziehung oder Schwangerschaft an. Von den 60 Studenten, die
hierzu Angaben machten, nannten 32 die Diplomarbeit als Hindernis, ein
freiwilliges Zusatzsemester hatten sich nur 2 geleistet. Familiäre Ursachen oder die Kindererziehung gab kein einziger der jungen Männer als
Grund für die Verzögerung an. Während also die Diplomarbeit bei beiden
Geschlechter für jeweils rund der Hälfte der Überschreitungen der Regelstudienzeit verantwortlich war - auch hinter dieser Angabe verstecken
sich gewiss weitere Gründe - ist eindeutig jede 8. Studentin gezwungen,
aus familiären Gründen länger als geplant zu studieren. Allerdings leis-
Inga Kirst
209
teten 3 der befragten Männer während des Studiums den Zivil- oder Militärdienst ab.
Praxisorientierung im Studium
Praktisch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es bei der
Beantwortung der Frage, wie gut man/frau sich durch das Studium auf
den Beruf vorbereitet glaubt. 41,8%, das waren 28 von 67 Studentinnen,
bzw. 47 von 112 Studenten (42%) antworteten hier mit "gut" bzw. "sehr
gut". 49,8% (33 Frauen) bzw. 47,3% (53 Männer) meinten "teils-teils",
während 9% der weiblichen Absolventen (6 Frauen) und 10,7% ihrer
Kommilitonen (12 Männer) sich wenig oder gar nicht auf das Berufsleben
präpariert vorkamen. Hohe Zufriedenheit bestand hinsichtlich der theoretischen Ausbildung an der HTWK Leipzig. Hingegen wurde die Praxisorientierung teilweise als nicht ausreichend bezeichnet.
Bewerbungsstrategien
Die Untersuchung wollte auch klären, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede in den Bewerbungsstrategien gibt. 65 Frauen und 107 Männer
gaben dazu Auskunft. Mit 51 bzw. 29 Nennungen stehen das Studium
des Stellenanzeigenteils der Zeitungen bzw. der Fachzeitschriften bei den
Frauen im Mittelpunkt. Die Männer, die diese Fragen beantworteten,
verließen sich mit 68 (Zeitung) bzw. 32 (Fachzeitschrift) Nennungen
zwar immer noch stark auf die traditionellen Medien, jedoch deutlich
erkennbar nicht so sehr wie ihre Kommilitoninnen. Statt dessen wurde
von den Studenten bereits 50 mal die Stellensuche im Internet genannt
gegenüber 24 Nennungen bei den Frauen. 29 von 65 Absolventinnen
ließen sich beim Arbeitsamt beraten, hingegen nur 26 ihrer Kommilitonen. 42 von 107 Männern schickten Blindbewerbungen los, 22 der Absolventinnen taten es ihnen gleich.
Die meisten Befragten machten auch Angaben, zu wie vielen Bewerbungsgesprächen sie eingeladen wurden. Danach führten 69,1% der
Frauen und 60% der Männer maximal drei Gespräche, bis sie sich mit
einem Arbeitgeber einig waren.
210
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Berufsstart
Wenn es galt, das frisch erworbene Wissen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt
einzusetzen, hatten die Männer den weitaus besseren Start: 33% von
ihnen (30 von 91 Antworten) gegenüber nur 13,7% (7 von 51 Frauen)
erhielten sofort einen Arbeitsplatz. 55% der Absolventinnen benötigten 1
bis 3 Monate für die Suche wie auch 50,5% der männlichen Kommilitonen. Dieses Bild spiegelt sich in der Zahl der Bewerbungen, die eingereicht wurden. 13,1% der Männer (13 von 99 Angaben) machten sich die
Mühe überhaupt nicht - in der Regel, weil sie den Job auch ohne Bewerbung schon in der Tasche hatten. Keine einzige ihrer weiblichen Konkurrenten legte einen solchen Schnellstart hin. 6,1% der Männer und 6,8%
der Frauen (6 von 99 Studenten; 4 von 59 Studentinnen) gaben an, mehr
als 50 - zum Teil sogar mehr als 100 - Bewerbungen geschrieben zu haben.
Abbildung 2: Dauer der Arbeitsplatzsuche, Matrikel 1994
30
25
20
15
10
5
0
Sofort
1 Monat
2 Monate
3 Monate
4 Monate
5 Monate
6 Monate
Über 6
Monate
Frauen
7
11
9
8
3
4
7
2
Männer
30
19
13
14
5
4
2
4
Inga Kirst
211
Befristung von Arbeitsverhältnissen
Schließlich werden die Frauen sowohl hinsichtlich des Verdienstes als
auch in der Sicherheit des Arbeitsplatzes deutlich von den Männern "abgehängt". Von den berufstätigen Frauen haben nur 63% (34 von 54 Antworten) eine unbefristete Vollzeittätigkeit angetreten, während es bei
den Männern 79,4% (77 von 97 Befragten) waren. Mit befristeter Vollzeitarbeit mussten sich 22,2% (12) der Studienabgängerinnen zufrieden
geben, aber nur 9,3% (9) ihrer Kommilitonen. Eine unbefristete Teilzeittätigkeit nahmen 4 von 54 der Frauen auf (7,4%), aber lediglich 2 der 97
antwortenden Männer (2,1%). Während kein einziger Mann auf einem
befristeten Teilzeitjob "hängen blieb", mussten 2 Frauen damit vorlieb
nehmen (3,7%). Im Gegenzug machte sich mit 9,3% fast jeder 10. männliche Student Selbstständig, ihre weiblichen Kolleginnen nur zu 3,7%.
Wirft man einen Blick zurück auf die Studienfachwahl, so wird erkennbar, dass die von den Frauen bevorzugten Berufe auch nicht unbedingt
zur Selbstständigkeit geeignet sind.
Verdienstmöglichkeiten
Am Monatsende ist bei den Frauen deutlich weniger auf dem Gehaltskonto als bei den Männern. Von den Befragten machten 53 Frauen
und 96 Männer zu diesem Punkt Angaben. 20,8% der Frauen - das sind
11 Diplomandinnen - müssen sich mit einem Bruttoeinkommen unter
2.500 DM begnügen. Bei den Männern sind es ganze 3 (3,1%). Auch in
der nächsten Verdienststufe bis 3.500 DM sind die Frauen häufiger zu
finden: 28,3% gegenüber 13,5% (15 Frauen, 13 Männer). Zwischen 3.500
DM und 4.500 DM treten die Männer erst richtig an: hier sind 39 von
ihnen zu finden (40,6%) und 16 der Frauen (30,2%). Eine Gruppe höher,
bis 5.500 DM, sind die ehemaligen Studenten schon weit in Führung: mit
28 Nennungen gleich 29,6% verdient fast jeder dritte Berufsanfänger so
gut, aber nur noch 7 der Diplomandinnen - das sind 13,2%. In der Welt
jenseits der 6.500 DM monatlich als Startgehalt sind die Männer fast
unter sich: jeder 20. (5 Nennungen gleich 5,2%) gehört zu den Spitzenverdienern, aber lediglich eine einzige der Frauen (1,9%).
An der unterschiedlichen Wahl der Studiengänge allein liegt es nicht,
wenn Männer und Frauen nach dem Studium sogleich Gehaltsunterschiede aufweisen. Das wird deutlich, wenn wir die Bezahlung in den
212
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Männerdomänen der technischen Berufe untersuchen. Brechen Frauen
hier in die Vormachtstellung ihrer Kommilitonen ein, werden sie deutlich schlechter bezahlt als diese und finden sich vor allem in den unteren
Hierarchie- und Lohnebenen wieder, während andererseits ein nicht
unerheblicher Teil der männlichen Berufsanfänger gleich Spitzengehälter erzielt.
Abbildung 3: Bruttoeinkommen der HTWK-AbsolventInnen, Matrikel
1994
60
50
40
in % 30
20
10
0
bis 2.500 DM
bis 3.500 DM
bis 4.500 DM
bis 5.500 DM
bis 6.500 DM
über 6.500 DM
Männer (n=96)
3
13
39
28
8
5
Frauen (n=53)
11
15
16
7
3
1
Inga Kirst
213
Abbildung 4: Einkommensverteilung in den technischen Studiengängen,
Matrikel 1994
50
45
in % des jeweiligen Geschlechts
40
35
30
Männer (n=78)
25
Frauen (n=27)
20
15
10
5
0
bis 2.500 DM
bis 3.500 DM
bis 4.500 DM
bis 5.500 DM
bis 6.500 DM
über 6.500 DM
Männer (n=78)
3
11
33
22
4
5
Frauen (n=27)
5
6
10
3
2
1
Arbeitsplatzzufriedenheit und Motivation
Künftigen Befragungen von HTWK-Absolventinnen bleibt vorbehalten zu
klären, ob Frauen neben den schlechter bezahlten auch noch die weniger
attraktiven Jobs angeboten und angenommen haben. Bemerkenswert ist,
dass jede 4. Frau (13 von 53 oder 24,5%) angibt, bei ihrer jetzigen Tätigkeit handele es sich nur um eine "Durchgangsstation", bis die "richtige"
Stelle gefunden ist. Bei den Männern sahen das 14,4% (14 von 97) so.
Etwa gleich viele Ex-Studentinnen und Ex-Studenten (33 gleich 62,3%
bzw. 64 gleich 66%) erklärten hingegen, die jetzige Berufstätigkeit entspreche ihren Interessen und sei auf Dauer angelegt.
Auf den Zusammenhang zwischen gewähltem nicht-technischem
Studienfach und Verdienst weisen die Mittelwerte der Netto-Einkommen
in einzelnen, ausgewählten Berufsgruppen hin. So liegen z. B. die Elektrotechniker mit 3.500 DM im Schnitt deutlich über den AbsolventInnen
des Fachbereiches Sozialwesen mit nur 2.100 DM. Zugleich wird dabei
ein Zusammenhang zwischen Verdienst und Bewerbungsintensität deut-
214
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
lich. Die gut verdienenden Elektrotechniker reichten im Schnitt 22 Bewerbungen ein, die schlecht bezahlten Sozialarbeiter/Sozialpädagogen
lediglich 5. Es ist also vergleichsweise einfach, im Sozialbereich einen
Arbeitsplatz zu finden, das dort zu erzielende Einkommen ist jedoch eher
niedrig.
Wenn es um die Motive geht, die zur Annahme des derzeitigen Arbeitsplatzes geführt haben, steht bei den Männern mit 27,8% das Argument des interessanten Arbeitsgebietes an der Spitze aller 277 Nennungen. Mit Abstand (13,7%) folgen der gute Verdienst, die Wohnortnähe
mit 10,8%, die Sicherheit des Jobs und die flexible Arbeitszeit mit jeweils
8,7% und die Aufstiegschancen mit 7,9%.
Bei den Frauen führt ebenfalls das interessante Aufgabengebiet mit
29,9% der 134 Nennungen. Dahinter kommen Wohnortnähe (11,2%),
gute Bezahlung und Aufstiegschancen mit je 10,4% sowie die Sicherheit
des Jobs.
Allerdings entfielen auf partnerschaftliche bzw. familiäre Gründe bei
den Frauen 6,0% der Nennungen, bei den Männern hingegen nur 3,2%.
Das könnte ein Indiz dafür sein, dass Frauen bei der Arbeitsplatzsuche
mehr Rücksicht auf den Partner und/oder die Kinder nehmen als die
Männer.
Stärker bei den Frauen ist die Angst vor Arbeitslosigkeit: 7,5% der
Nennungen bei den Gründen für die Aufnahme der jetzigen Tätigkeit
hoben diese Angst hervor. Bei den Männern waren es 5%.
Geschlechtszugehörigkeit und Arbeitsplatzchancen
Aufschlussreich sind erwartungsgemäß die Antworten auf die Frage ausgefallen, ob die jeweilige Geschlechtszugehörigkeit bei der Suche nach
einem Arbeitsplatz hinderlich oder förderlich war. 65 Frauen und 108
Männer beantworteten diese Frage. "Weder noch" meinten 60 Männer
(55,6%) und 35 Frauen (53,8%). 24,1% der Männer (26) gaben an, durch
ihr Geschlecht begünstigt worden zu sein - eine Zahl, die vor allem durch
den hohen Anteil von Bauingenieuren entsteht: hier ist offensichtlich
immer noch der "rauhbeinige Bauleiter" gefragt. 7 Frauen (10,8%) gaben
an, sie seien im Vorteil gewesen. Immerhin 9 der Frauen (13,8%) fühlten
sich bei ihrer Suche diskriminiert (hingegen keiner der Männer).
Inga Kirst
215
Abbildung 5: Empfundene Benachteiligung durch die Geschlechtszugehörigkeit, Matrikel 1994
100%
90%
80%
Weiß nicht
70%
Benachteiligt
60%
Weder noch
50%
Begünstigt
40%
30%
20%
10%
0%
Männer
Frauen
Ein großer Teil der Befragten erläuterte ihre Aussagen kurz. Auffällig ist
dabei, dass von 20 ihr "Weder noch" begründenden Frauen nur 12 mit
ihrer Einschätzung ausdrücklich die berufliche Chancengleichheit in
dem Sinne meinten, dass die Qualifikation und nicht das Geschlecht entscheidet. In den 8 anderen Bemerkungen kommt zum Ausdruck, dass mit
der Einstellung der Absolventin z.B. ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis am Arbeitsplatz hergestellt werden sollte, die Frau lediglich keine negative Erfahrung gemacht hatte oder sogar kein männlicher Konkurrent vorhanden war. Die 27 Männer, die ihre "Weder noch"-Wertung
kommentierten, blieben hingegen auch in ihren Kommentaren zu 100%
der Ansicht, das Geschlecht spiele überhaupt keine Rolle.
19 der 26 Männer, die ihre Arbeitsplatzsuche durch ihr Geschlecht
begünstigt fanden, erläuterten diese Auffassung auch. 9 von ihnen gaben
ihre Tätigkeit auf dem Bau (meist als Bauleiter) als Grund an. Dass sie
Vorteile daraus ziehen, nicht schwanger werden zu können, meinten 2
216
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
der Männer. Ganz anders die Frauen: Von den 8 Absolventinnen, die ihre
erlebte Benachteiligung kommentierten, gaben 4 konkret an, dass schon
die Möglichkeit einer Schwangerschaft, ihre Chancen auf den umworbenen Arbeitsplatz zunichte machte.
Wie oben erwähnt, hatten 7 Frauen erklärt, ihre Geschlechtszugehörigkeit habe die Stellensuche begünstigt. Alle erläuterten ihre Wertung,
wobei sich herausstellte, dass diese Antworten so durchgängig positiv
dann doch nicht waren. Eine der Frauen berichtete, dass ihr Chef gerne
die "Waffen einer Frau" im Konkurrenzkampf einsetzen möchte. Eine
weitere schilderte, dass sie auf einem schlechter bezahlten Arbeitsplatz
gelandet ist, der ohnehin nicht für Männer vorgesehen war. Ob hinter
den 5 weiteren Kommentaren, die sämtlich auf die Frauendominanz im
gewählten Beruf oder die ausschließliche Besetzung der Stelle mit einer
Frau hinweisen, nicht ebenso Unterbezahlung und Unterforderung stehen, konnte im Rahmen der durchgeführten Untersuchung nicht geklärt
werden.
Frauenförderung
Von den befragten Studentinnen gab keine an, ihr Arbeitsplatz sei im
Rahmen des Sächsischen Frauenförderungsgesetzes geschaffen worden.
Und lediglich in einem einzigen Fall gab es Unterstützung aus einem
anderen Frauenförderungsprogramm. Was die Frage aufwirft: Greifen
die Frauenprogramme nicht oder sind die Absolventinnen der HTWK
Leipzig so gut, dass sie diese Unterstützung nicht nötig haben? Auch dies
konnte in der Erhebung bei den Absolventinnen nicht geklärt werden.
Qualitative Erhebung
Die im Anschluss an die Auswertung der Fragebögen durchgeführte
qualitative Erhebung gestaltete sich noch weit schwieriger als dies zu
vermuten war. Es war vorgesehen, aus allen Studienrichtungen, die 1998
Studentinnen entließen, jeweils eine Absolventin zu befragen. Hatten,
wie eingangs zu sehen ist, an der Fragebogenaktion immerhin noch 67
der 195 Absolventinnen teilgenommen, so wurde die Suche nach auskunftsbereiten ehemaligen Studentinnen ebenso langwierig wie meist
fruchtlos. Geschuldet war dies einer Reihe von meist objektiven Umstän-
Inga Kirst
217
den, angefangen vom Datenschutz bis hin zum Adressenwechsel nach
Verlassen der HTWK Leipzig. Die Tatsache, dass die überwiegende Zahl
der Absolventinnen inzwischen im Berufsleben steht, kam noch hinzu.
Es war vorauszusehen, dass der niedrige Prozentsatz an Frauen, die
sich bei ihrer Arbeitsplatzsuche diskriminiert fühlten (13,8%), eine geringe Bereitschaft zur Folge haben würde, speziell zu diesem Thema
vertiefende Fragen zu beantworten. So wurde denn die Bitte um ein
qualitatives Interview von den angesprochenen Absolventinnen meist
negativ beschieden. Insgesamt konnten daher nur 6 Interviews geführt
werden, d. h. weniger als 9% der Teilnehmerinnen an der grundlegenden
Untersuchung ließen sich noch einmal befragen. Von diesen wiederum
gaben 4 an, sich bei der Arbeitssuche benachteiligt gefühlt zu haben, 2
hingegen verneinten dies. 3 von diesen 6 Befragten hatten zum Zeitpunkt der Interviews im Oktober/November 1999 noch keinen Arbeitsplatz; ein deutlicher Unterschied zu der schriftlichen Befragung. Von den
3 berufstätigen Absolventinnen ging eine einer völlig ausbildungsfremden Beschäftigung nach, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, eine weitere war bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt.
Konflikte bei der Lebensplanung
Trotz der geringen Zahl der Interviews ließ sich ein zentraler Konflikt
bei der Lebensplanung von Frauen aufdecken. Die Aussagen zeigen, dass
beruflicher Erfolg und Kinderwunsch unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen kaum vereinbar sind. Das bezieht sich nicht allein
auf die tatsächliche oder vermutete Haltung von Arbeitgebern, sondern
zum Teil auch auf das Selbstverständnis der Frauen.
Wie bereits erwähnt, hielten sich 4 der 6 Frauen in der Kurzantwort
für benachteiligt bei ihrer Arbeitsplatzsuche, zwei verneinten dies. Das
Hinterfragen im Interview ergab allerdings ein differenzierteres Bild. So
berichteten sowohl die beiden "nicht benachteiligten" Frauen ebenso wie
die 4 anderen übereinstimmend, dass man sie nicht gefragt hatte, ob sie
perspektivisch eine Führungsposition anstreben. Die 2 "nicht Benachteiligten" hatten übrigens beide Arbeit und bezogen ihre Wertung auch
ausdrücklich nur auf den erlangten Arbeitsplatz. Grundsätzlich waren
sie hingegen ebenso wie ihre 4 Kommilitoninnen mit Diskriminierungserfahrung der Auffassung, Männer seien in Bezug auf Arbeitsplatzqualität und Bezahlung bevorteilt.
218
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Lediglich eine der Frauen war im Vorstellungsgespräch nicht zu Familienplanung und Kinderwunsch befragt worden. Allerdings handelt es
sich in diesem Fall auch nicht um eine Tätigkeit, die einen weiten Karrierespielraum bietet.
Alle 6 Interviewten wollen eine Familie gründen und Kinder haben,
eine Frau hat bereits ein Kind. 5 der Frauen gaben an, berufliche Karriere und die Familie seien ihnen gleich wichtig, eine Absolventin gab der
Familie den Vorrang und wünscht sich für später nur noch eine TeilzeitBerufstätigkeit.
Dass ein Kinderwunsch die Karriereplanung beeinflusst, ist nicht nur
aus den in den Interviews immer wieder erwähnten besorgten Fragen
der (Personal-)Chefs nach Familie und Nachwuchs zu erkennen. Die
Frauen spüren ebenso den Konflikt in sich. Eine von ihnen drückte das
so aus: "Wenn eine Frau sagt: ich möchte nur Karriere machen, dann hat
sie sicherlich genau die gleichen Chancen wie ein Mann. Ich habe da im
Hinterkopf immer noch etwas anderes." Eine andere sagte: "Die [Personalchefs, I.K.] wollten halt hören, dass man ein paar Jahre kein Kind
kriegt. Aber ich meine, das kann man nicht versprechen..., dann wird
man 30, und dann muss man irgendwann doch anfangen."
Eine der Befragten berichtete: "Ich habe mehr als 30 Bewerbungsgespräche gemacht, und in jedem wurde ich nach meiner persönlichen Lebensplanung gefragt." Aus Gesprächen mit Kommilitonen wusste sie
zugleich, dass den Männern solche Fragen nicht gestellt werden.
Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung
Alle interviewten Frauen - d. h. auch jene, die sich nicht benachteiligt
fühlten - signalisierten gesellschaftlichen Veränderungsbedarf, um eine
Chancengleichheit der Geschlechter herzustellen. Beklagt wurde, dass
die politischen Parteien die Gleichberechtigung nur auf dem Papier und
im Wahlkampf vertreten, die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
Entscheidungen hingegen weiterhin überwiegend von Männern getroffen
werden. Unter anderem wurde verlangt, es müssten mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden. Frauen sollten in ihren akademischen
Laufbahnen - insbesondere im naturwissenschaftlichen Bereich - stärker
gefördert werden. Diese Vorstellungen gehen bis zu einer Aufhebung der
Koedukation in naturwissenschaftlichen Schulfächern oder etwa zur
Einführung einer Frauen-Quotenregelung für die Leitungsebenen von
Inga Kirst
219
Unternehmen.
Allerdings erhob sich auch eine Stimme, die Frauenförderung als geradezu diskriminierend betrachtet, wenn beispielsweise "Frauen und
Schwerbehinderte im gleichen Atemzug" in Stellenanzeigen bevorzugt
angesprochen werden.
Überwiegend weisen die Interviewten darauf hin, dass sie sich eine völlige Chancengleichheit aufgrund der biologischen Unterschiede gar nicht
vorstellen können.
Erwartungen an die HTWK Leipzig
Was die Rolle der HTWK Leipzig bei der Arbeitsplatzsuche angeht, so
wird einer deutliche Erwartungshaltung formuliert. Alle befragten Frauen vermissen Informationen zu Frauenförderprogrammen im Rahmen
ihres Studiums. Auch eine Praktikums- und Jobvermittlung für Studentinnen unter Ausnutzung der HTWK-Kontakte zu Arbeitgebern wird
wiederholt gewünscht. Eine Mehrheit sieht in einem gezielten Bewerbungstraining für Frauen eine Verbesserung der Chancen zur Integration in den Arbeitsmarkt.
Aufgaben künftiger Erhebungen
Wie bereits erwähnt, konnten einige Fragen im Rahmen der Erhebung
nicht geklärt werden. Außerdem wurden durch die Befragung Erkenntnisse gewonnen, die es wert wären, sie in einer weitergehenden Erhebung näher zu betrachten. In erster Linie wäre die Frage zu nennen, aus
welchen Gründen die Studentinnen die technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge in diesem Ausmaß meiden. Dabei sollten sowohl die
schulischen Erfahrungen der Studentinnen in diesen Fächern erfragt als
auch beispielsweise Zusammenhänge zwischen Studienfachwahl und
persönlicher Karriereplanung erforscht werden. Grundsätzlich ist die
Betrachtung aller Barrieren von Interesse, die Frauen von technischen
Fachbereichen fernhalten. Zu untersuchen wäre auch, ob die gegenüber
den Männern geringere Berufserfahrung der Studentinnen diese auch
noch nach Abschluss des Studiums behindert - zum Beispiel in der
Kommunikation mit Arbeitgebern.
Hinsichtlich der deutlichen Auswirkungen familiärer Gegebenheiten
auf das Studium der Frauen gilt es zu erfragen, inwieweit besondere
220
Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig
Angebote der Hochschule solche Belastungen erleichtern können. Wenn
an der HTWK Leipzig jede 8. Studentin ihr Diplom aufgrund familiärer
Probleme - etwa durch Doppelbelastung als Studentin und Mutter - nur
mit Verzögerung erreicht, sollte das Anlass zu genauerem Hinsehen sein.
Die geschlechtsabhängigen Unterschiede in den Bewerbungsstrategien und ihre Auswirkungen sowohl auf die angenommene Arbeit als
auch auf die Bezahlung bieten sich als ein weiteres Untersuchungsgebiet
an. Hier gilt es vor allem, die signifikanten Gehaltsunterschiede näher
zu betrachten und etwa der Frage nachzugehen, ob beispielsweise die
bevorzugten Fachbereiche der Männer durch eine größere Praxisnähe
auch bessere Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern bieten. Daran
schließt sich sogleich die Frage an, ob die Chancen der Studentinnen
durch Bewerbungstraining bzw. durch ein besonderes Engagement der
HTWK Leipzig als Mittler zwischen Absolventinnen und Arbeitsmarkt
verbessert werden können. Nicht zuletzt harrt die Vermutung, die Frauen erhielten nicht nur die schlechter bezahlten, sondern zugleich die
weniger qualifizierten Arbeitsplätze, der Aufklärung. Dies könnte vor
allem dort untersucht werden, wo Studentinnen und Studenten direkt
um einen Arbeitsplatz konkurrieren.
Eine Ausweitung der Erhebung in zwei weitere Richtungen erscheint
sinnvoll. Zum einen wäre es vermutlich aufschlussreich, als Gegenpol die
Arbeitgeber zu befragen, wie sie zu beruflichen Karrieren von Frauen
und zu deren Lebensentwürfen stehen. Zum anderen wäre es reizvoll, die
Erhebung der HTWK Leipzig mit Befragungen in anderen Städten des
In- und Auslandes zu vergleichen. Vielleicht ist die vorliegende Erhebung ja Anstoß zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen und Universitäten auf diesem Gebiet.