ANDREA DORIA

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ANDREA DORIA
Aufgrund historischer Parallelen in Bezug auf Kollisionsart und –winkel wurden nachfolgend
die Namen „ANDREA DORIA“ und „STOCKHOLM“ gewählt.
Am 29.08.2009 verließ das 134 Meter lange Mehrzweck-Frachtschiff „STOCKHOLM“ unter
dem Kommando seines Kapitäns den niederländischen Hafen von Moerdijk mit Zielhafen
Bilbao (Spanien). Um 23.00 h Ortszeit wurde der örtliche Lotse bei der Lotsenstation Maas
Approach abgegeben und um Mitternacht übernahm der philippinische Dritte Nautische
Offizier die Brückenwache. Der Kapitän verließ die Brücke und begab sich auf seine
Kammer.
Der ebenfalls zur Wachablösung erschienene Ausguck der 0-4-Wache wurde vom Dritten
Offizier temporär entlassen, um sich frisch zu machen, da er den ganzen Abend an Deck
gearbeitet hatte. Ab diesem Zeitpunkt befand sich der Offizier alleine auf der Brücke. Die
„STOCKHOLM“ fuhr mit 267° Kurs über Grund und 13,6 kn Geschwindigkeit auf den
nächsten Wegpunkt vor der niederländischen Küste zu, um dort nach Süden in Richtung
Englischer Kanal abzubiegen. Der Wind wehte mit 3-4 Bft aus Süd-West, die Sicht war gut.
Unter Deck schliefen 15 Mann Besatzung, die sich auf die nautischen Fähigkeiten des Dritten
Offiziers verließen. An Bord befand sich gemischte Ladung aus Containern und Stückgut,
einige der Container auf den vorderen Stellplätzen enthielten Gefahrgut.
Die folgenden Ereignisse wurden nach Auswertung der bordseitigen BlackBox (VDR) der
„STOCKHOLM“ rekonstruiert:
Am 30.08.2009 um 00:20 h faßte der Dritte Offizier im Radar ein Ziel an Steuerbord eben
vorlicher als querab auf, in einer Entfernung von ca 2 Meilen. Er begab sich auf die
Steuerbordseite der Brücke und konnte von dem Schiff ohne Fernglas das rote Seitenlicht und
die beiden Topplichter erkennen. Er erkannte, daß sich das Schiff auf kreuzendem Kurs zu der
„STOCKHOLM“ befand.
Um 00:23 h wurde die „STOCKHOLM“ über UKW-Funk von der örtlichen
Verkehrsleitzentrale angerufen und darüber informiert, daß sich das Motorschiff „ANDREA
DORIA“ von Steuerbord nähere und die „STOCKHOLM“ ausweichpflichtig sei. Das CPA
(closest point of approach = Punkt der dichtesten Annäherung) sei ein Kabel (=185,2 Meter).
Der Offizier der „STOCKHOLM“ bestätigte den Erhalt des Funkspruches und antwortete,
daß er die „ANDREA DORIA“ ebenfalls sehe.
Innerhalb dieses Zeitraumes hatte sich der Abstand der beiden Schiffe auf 1 Meile verringert.
Bei der „ANDREA DORIA“ handelte es sich um ein 257 Meter langes Containerschiff mit 25
Mann Besatzung und einer Ladefähigkeit von 2.800 Standard-20‘-Containern (TEU), die zu
diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 15,5 kn einen Kurs über Grund von 202°
steuerte.
Um 00:24 h wurde die „STOCKHOLM“ von der „ANDREA DORIA“ über UKW angerufen
und darauf aufmerksam gemacht, daß sich die „ANDREA DORIA“ an der Steuerbordseite
der „STOCKHOLM“ befände. Weiterhin wurde nach der Absicht der „STOCKHOLM“
gefragt.
Diese Frage wurde vom Offizier auf der „STOCKHOLM“ mit der Gegenfrage beantwortet,
ob die „ANDREA DORIA“ vor dem Bug der „STOCKHOLM“ passieren wolle.
Der Abstand der beiden Schiffe war inzwischen auf eine dreiviertel Seemeile geschrumpft
und keines der beiden Schiffe hatte bis jetzt ein Manöver zur Vermeidung einer Kollision
eingeleitet.
Die „ANDREA DORIA“ antwortete, die „STOCKHOLM“ möge ihren Kurs sofort hinter das
Heck der „ANDREA DORIA“ ändern.
Der Offizier auf der „STOCKHOLM“ bestätigte hierauf, daß er sehe daß es eng werde und ob
es ok sei, daß er den Kurs der „STOCKHOLM“ nunmehr nach Steuerbord ändere. Die
“ANDREA DORIA“ bestätigte dies mit „ok“.
Um 00:25 h – der Abstand der beiden Schiffe betrug nunmehr unter einer halben Seemeile –
fragte der Offizier auf der „STOCKHOLM“ erneut per UKW ob es ok sei, daß er seinen Kurs
nach Steuerbord ändere und das Heck der „ANDREA DORIA“ passiere.
Die „ANDREA DORIA“ funkte zurück, daß sie ihren Kurs jetzt auch nach Steuerbord ändern
werde.
Von BEIDEN Schiffen wurde bis zu diesem Zeitpunkt keine Änderung des Kurses oder der
Geschwindigkeit vorgenommen.
Anstatt jetzt das Ruder von Hand auf hart Steuerbord zu legen versuchte der Offizier auf der
„STOCKHOLM“ zunächst, seinen Kurs mit dem Autopilot nach Steuerbord zu ändern.
Bedingt durch die im Autopilot einprogrammierten Ruderlagengrenzen zeigte dies wenig
Wirkung. Als er dessen gewahr wurde legte er das Ruder von Hand auf hart Steuerbord.
Es war jedoch zu spät, um dieses Manöver noch wirksam werden zu lassen und um 00:27 h
bohrte sich die „STOCKHOLM“ mit unverminderter Geschwindigkeit von 13,5 kn beinahe
rechtwinklig in die Backbordseite der „ANDREA DORIA“, kurz hinter den schlafenden
Seeleuten im Decksaufbau.
Bildschirmaufnahme vom VDR, kurz vor der Kollision
Durch die Kollision wurden die vorderen 7 Meter des Vorschiffs der „STOCKHOLM“
zusammengestaucht. Die im Vorschiff befindliche Farbenlast fing sofort Feuer, welches durch
die Besatzung der „STOCKHOLM“ und mit Unterstützung von herbeigerufenen Schleppern
später gelöscht werden konnte, kurz bevor die Flammen die Gefahrgutcontainer erreichten.
Der an den Löscharbeiten beteiligte Erste Offizier der „STOCKHOLM“ erlitt hierbei eine
Rauchvergiftung.
Das Schiff kehrte mit eigener Kraft nach Moerdijk zurück. Der entstandene Schaden an der
„STOCKHOLM“ betrug ca. 3,3 Mio. USD.
Die „STOCKHOLM“ mit zerstörter Bugsektion
Die „ANDREA DORIA“ war weniger „glimpflich“ davongekommen. Hier war der
Maschinenraum und der Laderaum hinter dem Decksaufbau durch den Aufprall der
„STOCKHOLM“ aufgerissen worden. Beide Räume liefen augenblicklich voll Wasser und
die „ANDREA DORIA“ sackte mit ihrem Heck tief in die See. Glücklicherweise war der
Maschinenraum zum Unfallzeitpunkt unbemannt. Durch offen stehende Türen in den
längsschiffs auf der „ANDREA DORIA“ gelegenen Betriebsgängen unter dem Hauptdeck
begann sich der Wassereinbruch allmählich auch auf die vorderen Laderäume auszudehnen.
Eilig herbeigerufene Bergungsschlepper konnten mit ihren Pumpen das drohende Sinken der
„ANDREA DORIA“ verhindern und schleppten das Schiff stark hecklastig nach Rotterdam
ein.
Die „ANDREA DORIA“ wird nach Rotterdam eingeschleppt
Durch glückliche Umstände gab es auf der „ANDREA DORIA“ durch den Unfall keine
Personenschäden.
Der Reparaturaufwand an der „ANDREA DORIA“ wurde mit ca. 15 Mio. USD kalkuliert. Da
das 1980 gebaute Schiff nur noch einen Marktwert von ca. 4 Mio. USD hatte wurde es zum
Totalverlust erklärt und abgewrackt.
Hauptunfallursächlich für den Unfall war die Fehleinschätzung des Offiziers auf der
„STOCKHOLM“ bezüglich der Begegnungssituation mit der „ANDREA DORIA“. Selbst als
er von der Verkehrsleitzentrale über UKW auf die Situation aufmerksam gemacht wurde
unternahm er nichts zur Unfallvermeidung. Ein einfaches Steuerbord-Manöver wäre das
Mittel der Wahl gewesen. Warum er dieses nicht einleitete bleibt ungeklärt.
Die Abwesenheit des Ausguckes wird ebenfalls als mitursächlich angesehen. Ein ordentlicher
Ausguck hätte den wachhabenden Offizier auf der „STOCKHOLM“ rechtzeitig auf die sich
„in stehender Peilung“ nähernde „ANDREA DORIA“ aufmerksam machen können, so daß
dieser etwas mehr Zeit zum Reagieren gehabt hätte.
Die Brückenbesatzung der „ANDREA DORIA“ trifft sicherlich ebenfalls eine Teilschuld.
Selbst als Kurshalter nach Kollisionsverhütungsvorschriften darf man nicht sehenden Auges
in sein Unglück fahren. Wenn erkennbar ist, daß ein alleiniges Manöver des
ausweichpflichtigen Schiffes einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern kann ist auch der
Kurshalter zu einem Manöver verpflichtet. Dieses Manöver des letzten Augenblickes wurde
durch die „ANDREA DORIA“ ebenfalls viel zu spät eingeleitet.
Die Reederei der „STOCKHOLM“ entließ den zum Unfallzeitpunkt wachhabenden Offizier.
Weitere „corrective actions“ sind dem VHT nicht bekannt.