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CHANCEN 83 D I E Z E I T No 5 0 »Das Niveau scheint höher« »Ein deutscher Abschluss« Ich habe keinen Platz mehr im Programm der Uni Hamburg bekommen. Aber eine wissenschaftliche Mitarbeiterin hat dem Informatik-Fachbereich geschrieben und gefragt, ob ich mich dort in Kurse setzen darf. 15 Leute haben darauf geantwortet. Zwei Studenten haben mir erklärt, welche Veranstaltungen es gibt, und mir die Uni gezeigt. Jetzt setze ich mich ab und zu in Kurse, um mich auf ein reguläres Studium vorzubereiten. Das Niveau kommt mir hier höher vor als im Iran. Ich kann hier also nicht nur Deutsch lernen. Die deutschen Arbeitgeber scheinen dem pakistanischen Abschluss nicht zu vertrauen. 50 Bewerbungen für mein Fachgebiet habe ich geschrieben und nur Absagen bekommen. Ich möchte deswegen so schnell wie möglich einen deutschen Abschluss. Das Programm der Uni Hamburg ist für mich eine Übergangslösung, bis ich mir ein richtiges Studium finanzieren kann. Nun habe ich ein Angebot als Lagerist bei Lidl. Damit könnte ich mich im Studium über Wasser halten. Da muss aber noch die Ausländerbehörde zustimmen. Fariborz Sirouszar, 24, Iran. Wurde als Christ verfolgt, brach sein IT-Studium ab und lebt seit drei Monaten in Deutschland Adil Masih, 29, Pakistan. Bachelor in Business Administration. Erster Asylantrag abgelehnt, der Widerspruch läuft – seit anderthalb Jahren Verstehen studieren In Dortmund kümmern sich Migranten um Flüchtlinge. Was sie dafür können müssen, erfahren sie in einem Studium an der Fachhochschule VON JUTTA HOFFRITZ V or dem Tor zum Spielplatz am Dortmunder Nordmarkt steht eine Bierflasche. Seit einiger Zeit gilt hier ein Alkohol verbot. Deshalb ist es für die Streetworkerinnen Eva Jekel und Voichita Seydel ein ziemlicher Erfolg, dass sie nur eine Bierflasche finden und diese jenseits des Zaunes steht. Die Frauen klatschen sich ab und befördern das Leergut mit Schwung in den nächsten Müll eimer. Dann plaudern sie mit den Ein-EuroJobbern, die Kippen, Papier und gebrauchte Windeln aus den Sträuchern sammeln. Und begeben sich auf die Suche nach weiteren Menschen, die Hilfe brauchen. Fast jeder dritte Einwohner der Stadt hat einen Migrationshintergrund. In dem Stadtteil hinterm Hauptbahnhof liegt der Ausländeranteil sogar bei über 40 Prozent und die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent. Seit im Jahr 2014 die EU-Schranken fielen, zog es viele Rumänen und Bulgaren in die Stadt. Rund 8000 Zuzügler aus dieser Region sind offiziell gemeldet. Dazu kamen noch rund 7900 Flüchtlinge. In Dortmund erkannte man früh, dass zusätzliche Helfer gebraucht würden: Muttersprachler! Die Sozialpolitiker der Stadt beschlossen, Migranten für die Arbeit mit Migranten auszubilden. Direkt vor Ort. An der Fachhochschule, im dualen Studiengang »Soziale Arbeit/Schwerpunkt Armut und (Flüchtlings-)Migration«. Voichita Seydel ist Teil dieses Pilotprojekts. Zu Hause in Rumänien war sie Lehrerin, seit einem Jahr nun hört die 33-Jährige zweieinhalb Tage die Woche Vorlesungen zu Sozialarbeit, Migrationsrecht und Interkultureller Kommunikation. Den Rest der Woche arbeitet sie für die Dortmunder Diakonie in der Nordstadt. Ihr Fünf-Quadratmeter-Büro ist nur durch eine dünne Wand von dem ihrer Kollegin Eva Jekel getrennt. Was nicht weiter stört, denn wenn Seydel draußen Kontakt zu Neuankömmlingen knüpft und diese dann in die Beratung kommen, arbeiten die beiden Frauen sowieso zusammen: Die eine spricht die Sprache, die andere kennt die Vorschriften. An diesem Dienstag sitzt Gianina Gherta aus Rumänien am Tisch und breitet einen Stapel Behördenpost vor ihnen aus. Eigentlich war die Familie in Deutschland schon gut angekommen. Die beiden Töchter in der Kita, der Sohn in der Grundschule; aber dann verlor ihr Mann nach sechs Monaten seine Anstellung als Elektriker. Nun muss die Familie um Unterstützung bitten. Heute geht es um die Befreiung von Kindergarten- und Rundfunkgebühren. Voichita Seydel nimmt sich Blatt für Blatt vor: »Für die Kita wird ein Einkommensnachweis verlangt«, übersetzt sie. »Sie müssen nicht zahlen«, beruhigt Eva Jekel. Das Amt wolle nur sehen, dass der Ehemann kein Einkommen habe. »Danke«, sagt Gianina Gherta bei jedem Brief aufs Neue. Gut möglich, dass sich Voichita Seydel in solchen Momenten an ihre erste Zeit in Deutschland erinnert. 2002 kam sie hier an, von der Bundesagentur für Arbeit angeworben für ein Jahr, als Küchenhilfe bei einem Wirt in Pirmasens. Als Grundschullehrerin hatte sie in ihrer rumänischen Heimatstadt Deva keine Stelle gefunden. Seydel aber wollte immer noch lieber mit Menschen als in einer Küche arbeiten. Sie begann Vokabeln zu büffeln, unternahm zahllose Versuche, ihre Zeugnisse anerkannt zu bekommen, und bewarb sich blind bei potenziellen Arbeitgebern. Irgendwann gab ihr die Dortmunder Diakonie einen Job. Zwar in Teilzeit und befristet, aber immerhin. Sie half erst anderen Zuzüglern beim Einstieg und begleitete dann Kinder beim Schulstart, darunter Roma-Kinder, zum Teil auch RomaJugendliche, die vorher nie eine Schule von innen gesehen hatten. Sie besuchte Eltern, um sie von den Vorzügen der Bildung zu überzeugen – wie auch vom guten Willen der deutschen Helfer. Die Ängste saßen tief. Im Rumänien unter Nicolae Ceauşescu gab es zwar staatliche Kinder heime, aber kaum öffentliche Fürsorge. Sozial arbeit wie hier, sagt Voichita Seydel, kenne man dort selbst 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur nicht. »Müssten sich nicht die anpassen, die kommen?«, fragen die Studenten Auch bei den Deutschen gab es Berührungsängste. Zwar erwarb Dortmund früh Integra tionserfahrung dank polnischer Bergleute und türkischer Stahlarbeiter. Doch seit dem Niedergang der alten Industrien steht die Toleranz wieder auf der Probe. Inzwischen gilt Dortmund, die »heimliche Hauptstadt der Sozialdemokratie« (Willy Brandt), laut Verfassungsschutz als westdeutsche Hochburg der Rechtsextremen. Entsprechend fiel auch die Reaktion auf den neuen Studiengang aus: »FH Dortmund – bald kann Überfremdung studiert werden«, kommentierte das rechte Internetportal Dortmund Echo die Ankündigung. Und das ähnlich ausgerichtete Blog politically incorrect titelte: FH Dortmund mit Studienfach »Zigeuner«. Voichita Seydel blendet solche Anfeindungen aus. »Ich persönlich habe noch nie Probleme gehabt«, sagt sie. Und dass sie gar keine Zeit habe, sich Sorgen zu machen. Es sei einfach zu viel zu tun. Gerade auf den Grünflächen, das erzählen auch andere Sozialarbeiter, gibt es oft Stress. Etwa am Spielplatz in der Düppelstraße. Die Verschmutzung sei dort im vergangenen Jahr so stark gewesen, dass die Gärtner Not hatten, den Rasen zu schneiden, weil ihr Mäher immerzu Fäkalien aufwirbelte. Inzwischen patrouillieren in fast allen Dortmunder Parks Ein-Euro-Kräfte. Und um die öffentlichen Toiletten am Nordmarkt, deren hygienischer Zustand ebenfalls schon oft für Ärger sorgte, kümmern sich sogar mehrere Neues aus den Hochschulen Was tut sich in der Hochschulpolitik? Worüber spricht die Scientific Community? Antworten, Zahlen und Kommentare zu aktuellen Themen aus Wissenschaft und Forschung finden Sie immer montags und donnerstags im CHANCEN-Brief, dem neuen E-MailNewsletter der ZEIT. Kostenlose Anmeldung unter www.zeit.de/chancen-brief. von ihnen. Wenn die Stadtreinigung dann die Abfälle des Wochenmarkts wegfegt, wirkt das Gründerzeit-Karree ärmlich, aber reinlich – das perfekte Proletarier-Idyll. Im Seminar an der Fachhochschule wird der Nordmarkt deshalb zum Vorbild erklärt. Es geht um »Lebensweltorientierung«, darum, dass Sozialarbeit »sich an den Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren« muss, um »auf fruchtbaren Boden« zu fallen, wie Dozentin Esther Klees erklärt. Was läge da näher als der Park, in dem die Streetworker Dienst tun. Wo die Diakonie eine Trinkhalle betreibt (die wohl einzige im Ruhrgebiet, die nur Kaffee und keinen Alkohol ausschenkt). Und wo donnerstags ein Arzt Sprechstunde hält, kostenlos und ohne nach der Krankenkasse zu fragen. Die 35 Studenten diskutieren weitere Beispiele aus ihrem Arbeitsalltag in der Schulbehörde, bei der AWO oder Caritas, als sich plötzlich ein Finger hebt. Ob es denn richtig sei, die Bedürfnisse der Neuen zum Maßstab zu machen, fragt ein osteuropäischer Student. »Müssten sich nicht die anpassen, die kommen?« Das alles sei doch sehr aufwendig, sagt ein anderer. »Wo bleibt dann Deutschland?« Die Dozentin schmunzelt. Eigentlich wollte sie ihren Studenten in dieser Doppelstunde erst mal den Idealzustand nahebringen. Und nun sind sie unversehens in der Realität gelandet. Mitten in den Interessenskonflikten, mitten in den Budgetzwängen einer Stadt, die immer wieder knapp am Nothaushalt vorbeischrammt. Fast acht Millionen Euro gab Dortmund 2014 für die Integration der EU-Zuwanderer aus. Für die Unterbringung von Flüchtlingen waren es sogar knapp 14 Millionen Euro. Und natürlich gibt es hier viele, die meinen, dass die Stadt sich das nicht leisten kann. Auch Dortmunds Sozialdezernentin Birgit Zoerner meint das, was aber keineswegs bedeutet, dass sie diese Diskussion auf dem Rücken der Zuwanderer austragen will. »Zur Integration gibt es keine Alternative«, sagt die SPD-Frau, die auch im Städtetag aktiv ist. Man müsse die Neuankömmlinge eben in die Lage versetzen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und den Kommunen »unbürokratische Hilfe« zukommen lassen – womit sie wohl vor allem finanzielle Hilfe meint. Für den neuen Studiengang hat sie Mittel vom Europäischen Sozialfonds bekommen. Von den knapp 1000 Euro, die jeder Student monatlich für seine Arbeit erhält, zahlen Diakonie, Caritas, AWO und die beteiligten Ämter der Stadt nur ein Fünftel – den Rest übernimmt die EU. Inzwischen hat Voichita Seydel aus der Straßensozialarbeit in eine andere Beratungsstelle gewechselt, wo sie Neuankömmlinge beim Kontakt mit Arbeitgebern unterstützt. Vermutlich wird sie dabei viele Bekannte vom Nordmarkt wiedertreffen. Familie Gherta immerhin braucht Seydels Hilfe vorerst nicht mehr. Gianina Gherta hat nach dem Deutschkurs der Diakonie einen Halbtagsjob in einem Hotel gefunden. Und ihr Mann, der Elektriker, arbeitet jetzt in einer Recycling-Fabrik. Gestalten Sie mit uns die Faszination Audi. Vorsprung durch Technik beginnt in den Köpfen der Audi Mitarbeiter. Mit dem Mut, neue Wege zu gehen, verzahnen sie die komplexe Produktentstehung mit einer unternehmensweiten Teamleistung und gestalten so die Modelle von morgen. Für die herausfordernden Aufgaben in diesem Umfeld verstärken wir jetzt unser Team. 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