Überwintern mit Senioren und Aussteigern im warmen Süden der USA

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Überwintern mit Senioren und Aussteigern im warmen Süden der USA
Überwintern mit Senioren und Aussteigern im warmen Süden der USA
Text und Fotos: Heidy und Bruce Alexander Herbst für Herbst wiederholt sich in Nordamerika dasselbe Spektakel. Sobald
sich die Blätter verfärben und die Zugvögel Richtung Süden losfliegen, folgt ihnen ein Massenexodus von «Snowbirds». Es
handelt sich hier nicht etwa um exotische Schneegänse, sondern um winterscheue, meist ältere Menschen, die sich lieber
Margarita trinkend in der südlichen Sonne räkeln, als im heimischen Kanada oder den nördlichen USA die Hauseinfahrt freizuschaufeln. Mit Wohnmobilen machen sie sich auf den Weg in den Süden, um an der Wärme die Schneeschmelze abzuwarten.
D
er Weg ins Paradies ist
weit und will verdient
sein. Für die meisten
führt er über Tausende
von Kilometern quer
durch die Vereinigten
Staaten – eine Reise von
mehreren Tagen oder Wochen. Die Sommertouristen haben sich längst verzogen, die Campingplätze sind geschlossen und haben bereits
Spinnweben angesetzt. Gestoppt wird höchstens mal an der Zapfsäule oder bei McDonalds.
Das Highlight eines monotonen Reisetages ist
ein längerer Halt bei der Supermarktkette Walmart, wo die Vagabunden der Strasse gratis auf
dem hinteren Teil des Parkplatzes übernachten
dürfen. «Boondocking», kostenloses Campieren, ist das Ah und Oh eines jeden Snowbirds.
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Die Rechnung geht auf für Gast und Gastgeber.
Die meisten Walmart-Läden sind rund um die
Uhr geöffnet und wohlig warm beheizt, während es draussen im Wohnmobil zu allen Löchern reinzieht. Der mehrstündige Shoppingbummel resultiert meistens in einer Ansammlung unglaublicher Schnäppchen. Ware, die
man eigentlich gar nicht bräuchte, aber dennoch gekauft hat. Die ultimativsten
«Boondocking»-Adressen sind aber unbestritten diejenigen von motorhomefreundlichen
Casinos. Billige Verpflegung, ein paar warme
Stunden Entertainment und eine erleichterte
Brieftasche inklusive.
Die meisten der Kanadier und Nordstaatler, die es sich zeitlich leisten können, drei bis
sechs Monate in den Süden zu fahren, sind
Rentner oder Aussteiger. Die Pensionierung
gilt jedoch nicht etwa als Abstellgleis, sondern
als Hauptbahnhof mit Zügen, die in alle Himmelsrichtungen fahren. Aufspringen kann jeder, es braucht nur etwas Mut und Abenteuergeist. Wer bereit ist, seinen Gürtel enger zu
schnallen und näher an der Natur zu leben,
scheidet bereits Mitte 50 aus dem Berufsleben
aus, um zum vollberuflichen Nomaden zu werden. Das Eigenheim wird gegen ein Haus auf
Rädern eingetauscht und das Tüpfchen auf dem
i ist eine Mitgliedschaft im «S.K.I.-Club». Letzterer hat nicht etwa mit Wintersport zu tun –
man will sich ja für immer vom Schnee verabschieden –, sondern steht als Abkürzung für
«Spending Kids Inheritance», auf gut Deutsch:
«Wir verprassen die Erbschaft unserer Kinder.»
Die Zahl der Mitglieder steigt jährlich, zum
Jammer der jüngeren Generation.
nordamerika
wohnerin feiert gerade bei bester Gesundheit
ihren 100. Geburtstag. Ein «Vier-für-dreiNächte-Deal» lässt alle Zweifel schwinden, wir
tauchen ein in den Jungbrunnen der Snowbirds.
Ferienlager für reife Kinder. Wie auch bei den
Als Snowbirds unterwegs. Während unserer
Reisen durch Nordamerika haben auch mein
Mann Bruce und ich drei Winter wie Snowbirds gelebt. Wohlverstanden: Wir sind weder
Millionäre noch Pensionäre, sondern ganz einfach Selbstverwirklicher. Obwohl man es eigentlich gar nicht glauben will, kann man in
den USA immer noch fast gratis überwintern,
vorausgesetzt, man hat die nötige Infrastruktur:
ein Wohnmobil zum Preis eines europäischen
PW, einen Führerausweis, die nötigen Insiderkenntnisse und viel Zeit. Viele interessante Reisebekanntschaften gibt es automatisch dazu.
Wer im Winter die USA mit einem Wohnmobil bereist, wird stets nach dem wärmsten
Plätzchen suchen. Das ist in unserem Fall Südkalifornien, unweit der mexikanischen Grenze.
Es ist Anfang Januar, und wir haben die letzten
paar Wochen wandernd und radelnd in der
einsamen Wüste verbracht. Zuerst hat uns das
Geheul der Kojoten fasziniert, aber nachdem
uns die Viecher nachts die Wanderstöcke und
Schuhe zerkaut haben, ist die Romantik zu
Ende.
Wir sind bereit für ein wenig Zivilisation
und Luxus und machen uns auf zu einem riesigen RV-Park (Recreational Vehicle Camping)
mit dem verlockenden Namen «Fountain of
Youth». Der «Jungbrunnen» ist vermutlich eines dieser berühmt-berüchtigten Senioren-
An die Wärme. Im Winter zieht es viele Senioren
aus dem Norden mit dem Wohnmobil an die
Sonne Südkaliforniens (links).
Mobil. Auch im Alter noch spritzig unterwegs (oben).
Heruntergekommen. Unterkunft der einfachen
Sorte in Slab City (unten).
Riesig. Der «Fountain of Youth»-Camping ist wie
eine kleine Stadt mit vielen Aktivitäten (ganz unten).
camps. Und tatsächlich: Der Park verfügt über
eine nicht zu überbietende Infrastruktur mit
Thermalbädern und einer Riesenvielfalt an Aktivitäten – von anonymen Alkoholiker-Meetings bis zu Wasservolleyball ist von morgens
bis abends für Unterhaltung gesorgt. Im Übernachtungspreis ist jeglicher Zeitvertreib inbegriffen, denn alles wird von kreativen Gästen
selbst organisiert. Wir sind gespannt, als «Mittelalterliche» jedoch auch etwas gehemmt, in
die Welt der Snowbirds einzutauchen. Das
Durchschnittsalter liegt bei 70, die älteste Be-
meisten andern Snowbird-Tummelplätzen
herrscht im «Fountain of Youth» die 55+-Regel. Jüngere Besucher sind zwar willkommen,
aber der Besitz von Grundeigentum ist ausschliesslich über 55-Jährigen vorbehalten. Damit werden Grundstückspekulation und Kindergeschrei praktisch ausgeschlossen. Die Einfahrt der Siedlung, die im Winter auf rund 2000
Seelen anwächst, ist pompös und mit Palmen
bestückt. Zwei Flaggen deuten darauf hin, dass
hier amerikanische, wie auch kanadische Wintermuffel hausen. Beide Fahnen sind gleich
gross, aber die amerikanische hängt ein kleines
bisschen höher.
Die Tagestemperaturen sind herrlich, aber
nachts wird es unangenehm kühl. Also nichts
wie ab ins Thermalbad, wo wir den Sternenhimmel wohlig warm und ohne Kojotengeheul
geniessen können. Die friedvolle Stille dauert
gerade zwei Minuten an, bis wir als Newcomer
entdeckt werden. Nordamerikaner sind ja bekanntlich sehr gesprächig, und in kürzester
Zeit lernen wir spärlich bekleidete Toms, Dicks
und Harrys von Alaska bis Wyoming kennen.
Wir erhalten spontane Einladungen zum Hufeisenwerfen, Squaredancing, Wüstengolf, Tennis und Boccia und erfahren, dass es in Whitehorse minus 40 Grad kalt ist und «der grosse
weisse Norden» unter einer Schneedecke von
mehreren Metern liegt. Bei all der Aufregung
vergessen wir, dass wir uns in einem Thermalbad befinden und verlassen den Pool erst nach
über einer Stunde mit einem halben Kreislaufkollaps.
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Am nächsten Morgen machen wir uns auf
zum luxuriösen Tennisplatz. Ken, ein 67-jähriger, gut aussehender Tennislehrer, gibt zweimal pro Woche kostenlose Lektionen, was uns
gerade gelegen kommt. In der übrigen Zeit bereitet er sich auf einen Triathlon vor, den er für
seinen 70. Geburtstag geplant hat. Er ist stets
für etwas Neues zu haben, was auch seine Berufsbiografie beweist: Primarschullehrer,
Milchfarmer und Restaurantbesitzer waren
seine Stationen.
Unsere humorvollen Spielpartner sind
Max, ein 74-jähriger Exingenieur aus Österreich, und Buddy, ein 73-jähriger Exbriefträger
aus Moosejaw im kanadischen Saskatchewan.
Beide haben hier im Alter von 72 Jahren Tennis spielen gelernt, Buddy nach mehreren
Herzinfarkten und mit beidseitiger Knieprothese. Technisch haben uns die beiden etwas
voraus, aber konditionell sind wir ihnen klar
überlegen. Im Nu sind drei Stunden vorbei.
Buddy hat noch nicht genug, er will noch zwei
Stunden lang Tischtennis spielen, gefolgt vom
nachmittäglichen Billard, um dann am Abend
zum Shuffleboard überzugehen. Schliesslich
hat er neue Knie und deshalb wieder den Drive
eines Teenagers.
Beim Apéro unterhalten wir uns mit Max.
Der europäische Snowbird fliegt jeden Winter
sechs Monate ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo er zusammen mit seiner Frau in
einem Wohnmobil herumkurvt. Die ersten
paar Wochen wird jeweils gefischt, was das
Zeug hält, für den Reiseproviant. Max liebt es,
sich «vom Land» zu ernähren, und das kann
man nirgendwo besser als in Amerika. Mit
Frischfleisch ist er jeweils auf der Reise gut versorgt, denn das liegt buchstäblich auf der Strasse. Mal ist es ein Reh, dann wieder ein Hase
oder was auch immer die Jagd nach «Roadkill»
so ergibt. Auf meine Frage, ob er sich denn dabei noch nie eine Lebensmittelvergiftung zugezogen habe, meint er gelassen: «Ach nein,
wenn man die Tiere frühmorgens findet, ist das
absolut unbedenklich. Bei den Temperaturen,
die im Winter über Nacht herrschen, sind sie
meistens noch gefroren.»
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Während sich Max dem Tennisspiel hingibt, grast seine Frau die abgeernteten Gemüsefelder ab. «Gleaning» nennt man diesen ganz
legalen Zeitvertreib. Die mexikanischen Feldarbeiter ernten nur gerade Ware erster Klasse,
den Rest lässt man einfach verrotten.
Wenn man sich gut mit dem jeweiligen Plantagenbesitzer versteht, kann
man sich ohne Weiteres dieses Grünzeug selbst pflücken.
Wir entscheiden uns, einen ganzen Monat hierzubleiben, denn die
Raten für Langzeiturlauber sind unschlagbar. Pro Tag bezahlen wir alles
inklusive knappe 10 Dollar für zwei
Personen. Mit einem Elektrizitäts-,
Wasser- und Abwasseranschluss wäre
es fast doppelt so teuer. Aber da wir
sowieso Tag und Nacht beschäftigt
sind, brauchen wir all den Schnickschnack gar nicht. Unser Plätzchen an
der Sonne ist günstiger als die horrenden Heizkosten im kalten Norden.
Durchs Sperrgebiet. Jetzt wo wir länger hierbleiben, müssen wir uns nach weiteren Betätigungen umsehen. Eigentlich möchten wir das
Wandern in der Wüste wieder aufnehmen, aber
wir getrauen uns nicht an die ChocolateMountains heran. Diese Bergkette, die bei jedem Sonnenuntergang in eine schokoladebraune Farbe getaucht wird, ist Sperrgebiet der
US-Army. Jammerschade, denn dieses herrlich
wilde Gebiet aus Bergen und Canyons lässt jedes Wanderherz höher schlagen. Obwohl wir
nicht die Volksmarschtypen sind, entscheiden
wir uns zu einem Ausflug mit der Wandergruppe des Camps. Diese wird vom Endsechziger Duncan McLennan, einem etwas schrägen, pensionierten Hochschulrektor aus Nova
Scotia, Kanada, geleitet. Die übrigen Teilnehmer sind zwischen 55 und 75 Jahre alt und sehen ziemlich harmlos aus. Zu unserem Erstaunen führt die Wanderung genau ins verbotene
Snowbird-Tummelplatz. Hier wird es niemandem langweilig. Aktivitäten bis zum Abwinken,
z.B. im Schwimmbad, auf dem Tennisplatz oder
in der tollen Natur (diese Seite).
Armeeterritorium. Duncan zuckt lässig die
Schulter und ignoriert das Warnschild, das jegliches Betreten streng verbietet. «Was solls, die
Luftwaffe bombardiert die Gegend nur gerade
alle paar Monate, und das wird sicher nicht gerade heute sein. Kontrollen gibt es nur ab und
zu, bis jetzt ist es bei verbalen Verwarnungen
geblieben.»
Unsere Hightech-Nordic-Walking-Stöcke
sind Duncan überhaupt nicht geheuer. Er besteht auf einen stabilen Wanderstock für uns,
mit dem man die Geröllhalden hinunter «surfen» kann. Ohne zu zögern, steuert er eine Ansammlung von riesigen Ocotillo-Kakteen an
und packt ein Taschenmesser mit Säge und dicke Gartenhandschuhe aus seinem Rucksack.
Dann beginnt er wie wild an einem langen,
schlanken Kaktusarm herumzusäbeln. Abgetrennt wird das Stück Kaktus entrindet und
voilà, unser Wüstenwanderstock ist fertig.
An diesem Tag lehrt uns Duncan buchstäblich das Fürchten. Als weit jüngere und bergerprobte Schweizer haben wir einen Altersspa-
nordamerika
ziergang erwartet, der nun aber eher an eine
Kamikaze-Aktion erinnert. Auf allen Vieren
klettern wir an schiefrigen Berghängen hoch
und folgen bröckelnden Graten, die rechts und
links im tiefen Abgrund enden. Tapfer beissen
wir die Zähne zusammen und beschliessen,
beim nächsten Mal auch Gartenhandschuhe
mitzubringen. Die Finger sind aufgeschürft,
aber wir bestehen die Feuerprobe, und finden
in Duncan einen Freund fürs Leben.
Das Grüppchen der waghalsigen Wanderer
wächst im Laufe der kommenden Wochen stetig an, und da wir noch viele Berge erklimmen
und Canyons entdecken wollen, entschliessen
wir uns, zwei weitere Monate im «Fountain of
Youth» zu verbringen.
Späte Jugend. Bei einem unserer abendlichen
Sonnenuntergangsbäder treffen wir Dennis
Sullivan aus Oregon, der sich nach unseren
sportlichen Aktivitäten des Tages erkundigt.
Nun ja, wir haben nicht viel zu berichten, ganz
im Gegensatz zu unserem Gesprächspartner,
der nach sechs Stunden Training auch jetzt
noch im Pool Wasserjogging betreibt und munter vor sich hin strampelt. Dennis ist Zehnkämpfer und bereitet sich auf einen Halbmarathon vor. In ein paar Monaten soll er die USA
Durchs Sperrgebiet. Duncan präpariert einen
stabilen Wanderstock, bevor es auf die nicht ganz
harmlose Wanderung geht (diese Seite).
Patriotisch. Auch die Autoren Heidy und Bruce
zeigen Flagge: Switzerland! (unten).
sogar an einer internationalen Altersolympiade
vertreten und zwar in den Disziplinen 100-Meter-Sprint, Weitsprung, Kugelstossen, Hochsprung, 400 Meter, 110 Meter Hürden, Diskuswerfen, Stabhochsprung, Speerwerfen,
1500-Meter-Lauf. Dennis gestählter Körper hat
die Behändigkeit eines Teenagers, und wir fragen verwirrt nach seinem Alter. Mit stolzem
Lächeln verkündet der immer noch strampelnde Athlet: «80! It’s never too late to get
young.» Dennis hat erst vor 15 Jahren mit
Sprint- und Hürdenrennen begonnen. Mit 79
fand er, man könne doch auch mal was Neues
anfangen, und nun ist er Zehnkämpfer. Den
ersten Wettkampf in der Klasse der über
80-Jährigen hat er bereits mit grossem Abstand
gewonnen. Aufhören will er erst, wenn er die
Hürden nicht mehr überwinden kann. Mit 80
lässt die Konzentration etwas nach, und so
muss er doppelt aufpassen. Wir sind beeindruckt.
Wir entschliessen uns, nebst Wandern und
Tennis, noch mit Golfspielen anzufangen. In
der 2000-Seelen-Siedlung führt jeden Tag irgendeiner einen Flohmarkt durch, und so ergattern wir in Kürze zwei alte Golfschläger und
einen Putter zum Schnäppchenpreis von 3 Dollar. Der erfreute Verkäufer gibt uns noch ein
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paar Golfbälle obendrauf. Bruce ist bereits
halbprofessioneller Golfspieler, allerdings nur
auf maniküriertem Rasen. Ich bin ein Greenhorn, im wahrsten Sinne des Wortes. Enthusiastisch machen wir uns auf zum unweit gelegenen 9-Loch-Desert-Golfcourse, wo kein
Stückchen Grün zu sehen ist. Er erinnert eher
an eine Mondlandschaft. Die Löcher sind
mit Palmen gekennzeichnet, und das Green
besteht aus feinem braunem Sand, schön gerecht. In weiser Voraussicht hat Bruce zwei
abgesägte Colaflaschenköpfe mitgebracht,
die als Tee dienen sollen. Es wäre unmöglich, ein normales Tee in den sonnengebackenen Lehmboden zu rammen. Schon
nach den ersten paar Schlägen, die natürlich total daneben gehen, wird mir klar,
dass ich nie mit Tiger Woods Seniorengolf
spielen werde. Es bleibt bei einer Runde,
denn wir müssen bereits wieder zurück in
die Mehrzweckhalle, wo ein Vortrag über
das weltbekannte Iditarod-Schlittenhunderennen stattfindet. Diesen wollen wir
uns nicht entgehen lassen, denn er wird von
Jeff King, einem mehrmaligen Champion,
der gerade auf Besuch bei seinen Eltern
weilt, gehalten.
Legendäres Slab City. Was ist dieser Ort?
Eine mit Kultur angereicherte Wüstenkommune? Das letzte Stück Freiheit in den USA?
Oder doch eher eine Pennersiedlung? Wir wollen es wissen und radeln nach Slab City. Jedes
Jahr verbringen hier Tausende von Snowbirds
den Winter und zwar gratis und franko. Es handelt sich um ein von der Regierung freigegebenes Landstück, eine Art wilder Campingplatz
ohne öffentliche Infrastruktur. Die meisten erzeugen ihren Strom mit Sonnenkollektoren
oder benzinbetriebenen Generatoren. Gas und
Frischwasser gibts im fünf Kilometer entfernten Niland, wo auch Abwasser entsorgt werden
kann. Während es jetzt von Winterbesuchern
wimmelt, sollen nur gerade 150 wüstentaugli64
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Seniorenparade. US-Amerikaner und Kanadier
können es nicht lassen (oben).
Slab City. Kreativ und verrückt (Mitte).
Gemeinschaft. Im Winter wohnen über 2000
ältere Menschen hier (unten).
Salvation Mountain. Kunstwerk oder Spinnerei?
(rechte Seite)
che «Slabbers» das ganze Jahr hier wohnen.
Aussteiger, Obdachlose und Spinner, die den
höllisch heissen Sommertemperaturen trotzen.
Im geselligen Teil von Slab City findet man
nebst völlig heruntergekommenen Trailers
auch teure Luxusriesenbusse hinter sauber an-
gestrichenen Gartenzäunen und andere Luxuskarrossen. Wer eine heruntergekommende
Stadt vermutet, liegt völlig falsch. Die «Slabbers», ob arm oder reich, lieben ihren freien
Wohnort und zeigen mit Stolz, was es hier alles
gibt:
Zum Beispiel den Oasis-Club, der für Morning-Coffee, Meals, Mail, Happy Hour, Library
and Movies wirbt.
Man braucht kein Bücherwurm zu sein, um
die «Lizard-Tree-Library» interessant zu finden. Die Openair-Bibliothek ist eine Oase der
Ruhe mit einer Riesensammlung von gespendeten Büchern und Zeitschriften. Schon der
Gartenzaun ist äusserst kreativ und besteht aus
leeren Weinflaschen. Wer es gerne im Hintergrund etwas plätschern hört, kann Wasser aus
einem Krug in den «man-powered-fountain»
giessen. Auch das Internetcafé darf nicht fehlen, aber das heisst hier «Internut Café». Eine
E-Mail kann man allerdings nicht abschicken,
denn die Tastatur ist eine mechanische
Schreibmaschine, der Bildschirm ein ausgedienter Röhrenfernsehapparat und die
Maus eine Plastikratte.
Ein Schild vor der «Slab City Christian
Church» lädt Leute aller Konfessionen
zum sonntäglichen Gottesdienst ein.
Nicht in der Kirche sitzen werden jene, die
am Vorabend im Range Nightclub abgestürzt sind. Hier treffen sich jeden Samstagabend Musiker und Entertainer aus der
ganzen Gegend zu einer Jam Session. Es
wird sogar gemunkelt, dass in Slab City einige bekannte Musiker ihr Debüt gaben.
Natürlich darf auch der Junk Yard nicht
fehlen, denn was wäre Amerika ohne verrostete Autowracks? Ein Bewohner hat sich
die Müllhalde zum Heim gemacht und trennt
Verkäufliches vom Müll. Ein Paradies für exzentrische Schnäppchenjäger.
Die einzige sanitäre Einrichtung, die es
hier gibt, ist die öffentliche Dusche, und die
ist im wahrsten Sinne des Wortes heiss. Eine
zisternenartige, mit Zement verkleidete Vertiefung in der Erde, in die Wasser aus einer
nahe liegenden heissen Quelle geleitet wird.
Eine Attraktion unter den Snowbirds, die
aber nach genauem Hinsehen wohl doch
lieber die enge Dusche im eigenen Wohnmobil vorziehen.
Unbestreitbar der bekannteste Slab-CityVogel ist Leonard Knight, der schon seit einer
halben Ewigkeit hier wohnt. Im Jahre 1984 soll
der religiöse Spinner hier angekommen sein.
Im Reisegepäck ein riesiger Heissluftballon,
den er sich in jahrelanger Knochenarbeit und
mit einer handbetriebenen Nähmaschine selbst
geschneidert hatte. Mit der Aufschrift «God is
Love» plante er, über Amerika zu fliegen und
das Evangelium zu verbreiten. Das handgemachte Luftfahrzeug wollte aber nicht abheben,
denn es war zu schwer. So beschloss er, den
Ballon zu vergessen und stattdessen den «Berg
der Erleuchtung» zu bauen. Aus Lehm, Stroh
und Autoreifen, die er in der Wüste zusammen-
nordamerika
sucht, bastelt er seither an seinem riesigen Gotteskunstwerk herum. Es wird vermutet, dass
Leonard bisher über 400 000 Liter Farbe, gespendet von Leuten aus aller Welt, verarbeitet
hat. Für die einen ist es ein toxischer Albtraum,
für die andern ein Adobe-Kunstwerk vom
Feinsten. Das sah auch eine kalifornische Senatorin so und setzte sich dafür ein, dass Leonards Salvation-Mountain im Jahre 2002 zu
einem nationalen Kunstdenkmal ernannt
wurde. Knight baut immer weiter, wohl bis an
sein Lebensende.
Nach einem denkwürdigen Tag in der kreativ-verrückten Slab City setzen wir uns wieder
auf die Fahrräder und fahren zurück in unsere
Jungbrunnenoase.
in Südkalifornien ist bereits einige Zeit vergangen, aber die Eindrücke und einige Bekanntschaften werden wohl für immer bleiben. Duncan, der Wandervogel, hat uns nach Nova Scotia in Kanada «verschleppt», wo wir uns
schliesslich definitiv niedergelassen haben. Wir
haben unser Haus auf Rädern gegen ein permanentes Heim eingetauscht und geniessen
den kanadischen Winter. Nun sind wir diejenigen, die Duncan wöchentlich das Wetter aus
dem Norden melden, und er versorgt uns mit
Neuigkeiten aus dem Snowbirdreich. Er musste
ein neues Wanderterritorium finden, denn das
Armeegebiet vor der Haustüre ist nun endgültig tabu. Nachdem mehrere mündliche Verwarnungen auf taube Ohren gestossen sind,
wird jetzt mit scharfer Munition über die Köpfe
von Eindringlingen geschossen!
Dennis hat einige Weltrekorde aufgestellt
und überspringt vermutlich immer noch Hürden. Nachdem Buddy ein weiteres Mal das
Knie operiert wurde, reist er nun per Kreuzfahrtenschiff über die Weltmeere und schickt
regelmässig E-Mails aus Australien, Südafrika
und der Antarktis. Von Max haben wir nichts
mehr gehört, aber wir denken jedes Mal an ihn,
wenn wir «Frischfleisch» am Strassenrand liegen sehen.
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