Zu Martin Walsers Ein springender Brunnen
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Zu Martin Walsers Ein springender Brunnen
Arata Takeda Bildung des Ichbewusstseins: Zu Martin Walsers Ein springender Brunnen (Versuch, den Roman vom Kontext der Friedenspreisrede zu befreien) 1 Einleitung / Verteidigung des Romans Selten wurde in der Literaturgeschichte das Interpretationspotential eines Romans in solchem Ausmaß durch einen zweiten, generisch vollkommen distinkten Text beeinträchtigt wie dasjenige von Martin Walsers Ein springender Brunnen 2 durch seine wenige Monate nach der Romanpublikation gehaltene so genannte Friedenspreisrede. Seitdem Walser in der Frankfurter Paulskirche vor der medialen Öffentlichkeit gegen die ‘Dauerpräsentation’ und ‘Instrumentalisierung’ der deutschen Schande das Wort ergriff, scheint sein Roman über eine Kindheit im Dritten Reich fast nur noch durch dieses eine politisch-moralische Objektiv betrachtet worden zu sein – als wäre er von Anfang an schon immer nichts als eine öffentlich-apologetische Geste gewesen. Wenn uns in der neueren Forschungsliteratur ein Satz begegnet wie: “Der Schriftsteller Martin Walser [...] hatte sich schon vor dem Rede-Geständnis zum gleichen Komplex der ‘Verdrängung’ geäußert” 3 und im Anschluss daran eine Textstelle aus dem Roman angeführt wird, so müsste man vorerst hinterfragen, ob diese problemlose Annahme der Vergleichbarkeit zwischen einem öffentlich-essayistischen Text und einem literarischen Text in Bezug auf Motive und Intentionen überhaupt legitim ist. So z. B. im folgenden interdiskursiven Vergleich des realen Individuums Walser und der Beschreibung der Psyche seiner fiktiven Figur Johann: 1 Das vorliegende Manuskript entstand im Herbst 2000, als unter bitterem Nachklang der Walser-Bubis-Debatte eine erneut Skandal auslösende Roman-Neuerscheinung so schnell nicht vorstellbar war. Angesichts der aktuellen Polemiken gegen Walsers neuesten Roman Tod eines Kritikers (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002) aber möchte der Beiträger heute zusätzlich eine bescheidene Warnung vor einer ähnlichen Gefahr ausdrücken, mit welcher das umfangreiche Dossier über die neue Debatte die literarästhetische Rezeption jenes Romans bereits zu bedrohen im Begriff ist. 2 Einzelne Textstellen werden zitiert mit jeweils folgenden Seitenangaben nach der Ausgabe: Walser, Martin: Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. 3 Schütte, Wolfram: Nachlese. Annotate: ‘Ein springender Brunnen’ oder die Friedenspreis-Rede. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 41/42: Martin Walser. 3. Aufl. 2000. S. 118. Hervorhebung im Original. Germanistische Mitteilungen 56 / 2002 27 Arata Takeda Kontinuierlicher kann ein ressentimentalisiertes Verhalten nicht erkennbar sein, identischer der junge Johann mit dem alter Ego Martin Walsers nicht verschweißt werden [...]. Die Geschichts- & Verdrängungspolitik von ‘Ein springender Brunnen’ und der Friedenspreis-Rede kommt aus der gleichen Quelle. Die Friedenspreis-Rede ist die aktuelle Probe auf das Exempel, das ‘Ein springender Brunnen’ literarisch gegeben hatte. 4 Dabei hatte Walser in dem in der Zeit veröffentlichten Essay Über das Selbstgespräch sich dezidiert gegen die diskursive Kompatibilität zwischen seinen Romanen und seiner Essayistik ausgesprochen: Die Sätze, die mir unwillkürlich durch den Kopf gehen, sind in einer ganz anderen Sprache daheim als die Sätze, die mir von außen empfohlen oder befohlen werden. Ich glaube, dass Schriftsteller, wenn sie schreiben, ganz und gar dieser unwillkürlich in ihnen auftauchenden Sprache hörig sind. Es ist ihre Sprache. Die beherrschen sie nicht, aber wenn sie Glück haben, werden sie von ihr beherrscht. 5 Roman und Rede haben demnach jeweils mit von Grund auf verschiedenen Sprachen zu tun, dieser mit einer “unwillkürlichen” Innen-, jene mit einer außengesteuerten Auftrittssprache, gegenüber der er misstrauisch sein müsse. 6 Und auch wenn die Hoffnung – im Walserschen Vokabular das ‘Wunschdenken’ –, beim Reden vor anderen “den Unterschied zwischen den beiden Sprachen [...] zu verkleinern” 7 oder gar diese im reinen Selbstgespräch aufgehen zu lassen, in seiner Sonntagsrede stets präsent ist, ist er sich gleichzeitig der Unmöglichkeit dessen bewusst, wenn er schreibt: “Ideal wäre: vor anderen zu sprechen wie mit sich selbst. Das wird nie der Fall sein”. 8 Worauf der Essay abzielt, ist also weniger die Legitimation des auftrittssprachlichen Bekennergestus in der Paulskirchenrede 9 als die Unterstreichung des absolut innersprachlichen Charakters des Romans. Der Roman soll geschützt werden vor 4 Ebd., S. 119. 5 Walser, Martin: Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch. In: Die Zeit vom 13.1.2000. Das Denkmodell war allerdings schon in der Friedenspreisrede am Beispiel von Thomas Mann zum Ausdruck gekommen: “Wie er [d.i. Thomas Mann] wirklich dachte und empfand, seine Moralität also, teilt sich in seinen Romanen und Erzählungen unwillkürlich und vertrauenswürdiger mit als in den Texten, in denen er politisch-moralisch recht haben musste. Oder gar das Gefühl hatte, er müsse sich rechtfertigen.” (Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Mit der Laudatio von Frank Schirrmacher. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. S. 24f.) 6 Vgl. Walser: Über das Selbstgespräch. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. Bogdal, Klaus-Michael: “Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit”. Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Martin Walser, S. 39, Anm. 9. 28 Bildung des Ichbewusstseins jeglicher Einbeziehung in politisch-dialogische Diskurse, in denen es um öffentliches Rechthaben geht, so wie im Roman die persönliche Erinnerung gegen die nachträgliche Einwirkung des öffentlichen Gedenkens verteidigt wird. Solange in der Kritik an der Friedenspreisrede folgender Satz zu lesen ist: “Das alles hätte er lieber seinem Roman-Alter ego, Johann, in den Mund legen sollen; die im Roman mögliche ‘unschuldig schönste Zusammenarbeit [...] zwischen Autor und Leser’ hätte es wahrscheinlich vor politischer Missdeutung geschützt”, 10 ist und bleibt der Roman auf eine unglückliche Weise politisch missdeutet. Der Erzähler, der mit Hilfe narratorischer Techniken erzählt, und der Redner, der mit Hilfe rhetorischer Mittel redet, stellen zwei grundverschiedene Textproduktionsinstanzen dar, deren Produkte mangels diskursiver und intentionaler Kompatibilität unaustauschbar sind. Dem Roman widerfährt Unrecht, indem er gleich nach der Friedenspreisrede von dem dadurch ausgelösten gigantischen öffentlich-politischen Diskurs überschattet wurde und dadurch seine literarästhetische Rezeption einzubüßen drohte. Bevor man sich sein Roman-Verständnis vom Medienspektakel einengen lässt und die motivisch-sozialkritische Grundlage des Romans mit den nachträglich und situationsbedingt erfolgten öffentlichen Äußerungen identisch setzt, sollte man ihn zunächst unabhängig vom nachträglichen geschichts- und gewissenspolitischen Kontext betrachten. Erst dann könnte man intertextuell vorgehen und überprüfen, was von der Vergleichbarkeit zwischen Roman und Rede überhaupt noch übrig bleibt. Operation der Erinnerung / Probleme des Romans Zielstrebigkeit des Erzählverhaltens. – Der Roman ist in drei Hauptteile aufgegliedert, die jeweils mit einem Einleitungskapitel beginnen, mit der identischen Überschrift “Vergangenheit als Gegenwart”. Im Zentrum der philosophischontologischen Frage, der in diesen Kapiteln nachgegangen wird, steht die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen der gegenwärtigen, also zu gegenwärtigen Zwecken vergegenwärtigten Vergangenheit und der vergangenen, also einst als solche gewesenen Gegenwart, wie schon der Romananfang explizit darlegt: “Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird” (S. 9). Darüber hinaus wird das Erzählen der Vergangenheit als ein “Traumhausbau” definiert, bei dem es “keine Willensregung [gibt], die zu etwas Erwünschtem führt. Man nimmt entgegen. Bleibt bereit” (S. 10). 11 Mit dieser Erzählmethodik soll die Darstellung einer Vergangenheit ermöglicht werden, die in der Gegen10 Kopperschmidt, Josef: Martin Walser oder: Die unendliche Rede. In: Der Deutschunterricht 1999. Heft 3. S. 90. 11 Vgl. dazu auch: Walser, Martin: Sprache, sonst nichts. In: ders.: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. S. 156. 29 Arata Takeda wart derartig präsent ist, dass nicht der Erzähler sie, sondern sie ihn beherrscht. Sie soll ihm entgegenkommen durch das Medium der Sprache, indem er sich dieser Vermittlungsquelle überlässt, genauso wie der Protagonist Johann am Ende des Romans die passendste Methode des Traumprotokolls metaphorisch als eine blinde Vertrauensfahrt in der Meeresströmung mit einem ständig sich auflösenden und wieder zusammensetzenden Floß aus Sätzen beschreibt (vgl. S. 404). Dieses Roman-Projekt ist in der Tat ein narratologisch einzigartiges Unterfangen, bei dem der Erzähler so erzählen will, dass das, was sich da in vertrauensvoller Hingabe an die Sprache mitteilt, von ihm eigentlich nicht geschrieben, sondern, wie von selbst aufs Papier kommend, “von ihm nur noch gelesen” (S. 405) wird: ein erzählerloses Erzählen oder die Sprache selbst als Erzähler. Damit verschwände jeglicher Anspruch des Erzählten auf Gültigkeit als Meinung in einer narratorischen Subjektlosigkeit, was jedoch um so problematischer ist, als uns im erzählten Text dennoch immer wieder selbstreflektierende Subjekte wie wir (vgl. S. 9, 15, 281ff.) und ich (vgl. S. 282) begegnen. Dieses sich vollends der Sprache anvertrauende, sich von jeglicher Zielbewusstheit lossprechende Erzählen ist also eher als Wunschdenken des Erzählers denn als eine dem Roman innewohnende Funktion zu verstehen. Dies aber bedeutet eine – wenn auch versteckte – erzählerisch gezielte Haltung, genau so wie das vom Erzähler als Selbstpostulat aufgestellte, auf die Grenze des Unmöglichen weisende Oxymoron “interesseloses Interesse an der Vergangenheit” (S. 283), das als des “Wunschdenkens Ziel” (ebd.) bezeichnet wird. Angesichts solcher paradoxen Formulierungen sind Theorie und Praxis, d.h. wie der Erzähler erzählen will und wie der Erzähler tatsächlich erzählt, streng auseinander zu halten. Diskontinuität der erzählten Zeit. – Die drei Hauptteile des Romans umfassen jeweils einen begrenzten Zeitabschnitt aus Johanns Kindheit und Jugend. Diese Abschnitte folgen zwar chronologisch aufeinander, jedoch mit längeren zeitlichen Unterbrechungen. Im ersten Teil heißt es, Johann komme nächstes Jahr in die Schule (vgl. S. 32), also ist er 5- bzw. 6-jährig. Im zweiten Teil empfängt er seine Erstkommunion; er endet mit seinem vorletzten Tag in der Schule, also müsste er 10 bzw. 11 Jahre zählen. Der dritte Teil umfasst den Zeitraum vom Herbst 1944 bis zum Kriegsende; Johann, der im ersten Teil als 5- bzw. 6-Jähriger Hitlers Machtergreifung erlebt, wird hier also 17 bzw. 18 Jahre alt sein. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil besteht somit ein Zeitsprung von mindestens 5 Jahren, zwischen dem zweiten und dem dritten einer von mindestens 6 Jahren. Eben diese Fragmenthaftigkeit und Diskontinuität der erzählten Zeit, die uns eine gewisse Selektivität im Erzählprozess suggerieren, machen uns jedoch skeptisch gegenüber einem sich der Sprache anvertrauenden, passiv-rezeptiven Erzählverhalten, das zumindest vom Erzähler so gewollt ist. Oder wäre diese diskontinuierliche Strukturierung des Romans gerade so zu verstehen, dass die Vergangenheit eben in solch bruchstückartiger Form der Gegen- 30 Bildung des Ichbewusstseins wart des Erzählers entgegenkommt? Dann käme dieses spontane Entgegenkommen der Vergangenheit durch einen autogenen Selektionsprozess zustande, demgegenüber der Erzähler völlig machtlos wäre; demnach wäre er nicht nur nicht Herr über die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart (vgl. S. 283), sondern auch nicht über die unter den einzelnen Elementen der Vergangenheit stattfindende Selektion, deren Ergebnis bei ihrer Vergegenwärtigung deutlich in Erscheinung tritt. Ausschließung der Schmerzerlebnisse vom Projektrahmen der Vergegenwärtigung. – An dieser Stelle möchte man einwerfen, dass diese Selektion nicht willkürlich, sondern einem bestimmten inneren Gesetz folgend vor sich geht. Tatsächlich kann man bei genauerem Hinsehen nicht umhin, den dringenden Verdacht zu schöpfen, dass in diesem Vergegenwärtigungsapparat eine Art systematischer Memoirenzuchtwahl stattfindet. Problematisch ist hier nicht, dass in diesem individualgeschichtlichen Erinnerungsbuch das zeitgeschichtliche Stichwort ‘Auschwitz’ nicht vorkommt, sondern vielmehr, dass in diesen angeblich von selbst heraufkommenden, also ohne die bewusste Kontrolle des Empfänger-Erzähler-Subjekts in Erscheinung tretenden Erinnerungssequenzen die offenbar schmerzlichsten Begebenheiten nicht vorzukommen scheinen. Sie scheinen, von dem scheinbar anspruchslosen Erzählduktus dirigiert, geschickt übersprungen und in der erzählerischen Gegenwart konsequent gemieden zu werden und lassen sich, anstatt in narrativ vergegenwärtigter Form (Präteritum) zum Vorschein zu kommen, ausschließlich in rückblickender Form (Imperfekt/Plusquamperfekt) erkennen. Gemeint sind hier die Todesfälle, die sämtlich aus dem Erzählten ‘herausfallen’: der Krankheitstod von Johanns Vater, der Unfalltod eines Gerhard, der “Johanns Freund gewesen [war] wie keiner zuvor” (S. 288), und die Zwangserschießung seines teuren Hundes Tell. Der Tod des Vaters erfolgt im Intervall zwischen dem ersten und dem zweiten Teil, Gerhards Tod und Tells Erschießung im Intervall zwischen dem zweiten und dem dritten Teil – alle in den zeitlichen Zwischenräumen, die nicht unmittelbarer Gegenstand des vergegenwärtigenden Erzählens bilden. Mit anderen Worten: der im ersten Teil lebende Vater ist im zweiten Teil längst begraben, der im zweiten Teil jaulende und bellende Tell im dritten Teil schon erschossen und über Gerhard, von dem vorher noch nie die Rede war, erfährt man plötzlich, in welch einmaliger Freundschaftsbeziehung er zu Johann gestanden hat und wie er bei einem schrecklichen Zugunfall tödlich verunglückt ist (vgl. S. 287f.). Schon auf der zweiten Seite des zweiten Teils überrascht ein den Tod des Vaters voraussetzender Nebensatz den Leser, der noch am Ende des ersten Teils Vater und Sohn in gemeinsamer Hoffnung auf eine bessere Zukunft die Haustreppe hat hinaufgehen sehen (vgl. S. 122). Zwar erfährt man nach und nach, wie der Vater vor dem Tod allmählich schwächer wurde (vgl. S. 163, 181), wann er dann starb (vgl. S. 133, 169) und wie seine Beerdigung verlief (vgl. S. 299ff.), jedoch alles in Form einer gedanklichen Rückblende des Protagonisten. Vom Erzählstandort 31 Arata Takeda aus vergegenwärtigt werden diese Ereignisse nie unmittelbar, sondern nur jene Momente aus späteren Zeiten, in denen Johann sich an sie erinnerte. Ebenso kommt die Erschießung Tells, der noch in der letzten Szene des zweiten Teils von Johann mit einem kräftigen Halsschütteln beglückt wird (vgl. S. 277), im dritten Teil lediglich durch ein Sich-Erinnern zur Sprache. Johann hat sie nämlich nicht unmittelbar erlebt, sondern im Quartier seines Arbeitsdienstes per Post davon erfahren (vgl. S. 290ff.); nicht aber dieser Trauerfall und die folgenden Tage, an denen er nichts essen konnte und sich krank melden musste (vgl. S. 291), sind Gegenstand des erzählerischen Vergegenwärtigungsprojekts, sondern vergegenwärtigt wird der im Herbst 1944 barfuß auf der Leiter stehend Äpfel erntende Johann (vgl. S. 284), der sich an jene Zeit erinnert. Selektion der Erzählobjekte zur Vergegenwärtigung des Schönen. – Überspringt also die erzählerisch bewusste Zeiteinteilung systematisch die eindeutigen Schmerzerlebnisse und klammert sie aus dem Vergegenwärtigungsunternehmen aus? Oder, wenn wir den Erzählerwunsch respektieren, bewerkstelligt dies ein selbst selektierender und -komprimierender Überlebensautomatismus der sich vergegenwärtigenden Vergangenheit? Sicher ist auf jeden Fall, dass es hier nicht um eine pauschale Unterscheidung zwischen privater Erinnerung und öffentlichem Gedenken, sondern um eine weitere, nach Kriterien des ‘Schönen’ vorgehende, ziemlich problematische Selektion innerhalb der privaten Erinnerungen geht, wenn der Erzähler Johanns Umgang mit seinen Erinnerungen folgendermaßen beschreibt: [...] er [Johann] hatte in sich Raum, unendlich viel, aber nur für Helligkeit, eigentlich nur für Glanz, Goldglanz und höchste Töne. Gut, er war kein Tenor, aber aufschwingen konnte er sich. In ihm war jeder Ton möglich. Er mußte ihn nur drin lassen in sich. Sobald er ihn singen oder auch nur sagen wollte, stellte sich heraus, daß sein toller Ton nicht so toll war. Aber solange dieser Ton zu nichts anderem taugen mußte, als Johann auszufüllen, war es der vollste, schönste, höchste Ton der Welt. So gestimmt, konnte Johann von nichts Schrecklichem Kenntnis nehmen. Alles, was entsetzlich war, fiel ab an ihm, wie es hergekommen war. Er wollte nicht bestreiten, was rundum als entsetzlich sich auftat. Aber er wollte sich nicht verstellen. Und er hätte sich verstellen müssen, wenn er getan hätte, als erreiche ihn das Entsetzliche. Es erreichte ihn nicht. Er kam sich vor wie in einer Flut. In einem Element aus nichts als Gunst und Glanz. Jeder Tag, an den er sich erinnerte, war der schönste Tag in seinem Leben. Andere Tage ließ er gar nicht zu. (S. 388f.) Selbstredend ist hier mit dem ‘Schrecklichen’ und ‘Entsetzlichen’ das gemeint, was einem als historisches Faktum der Periode, auf die sich die erzählte Zeit des Romans bezieht, allgemein bekannt ist. Gewiss, diese Textpassage erinnert uns schon wegen des unverwechselbaren Sprachduktus unwillkürlich an eine Stelle aus Walsers Über Deutschland reden: Das Licht, in dem mir die Erinnerung Gegenstände und Menschen von damals präsentiert, ist ein festhaltendes Licht, eine Art Genauigkeitselement. Man hat 32 Bildung des Ichbewusstseins nicht gewußt, daß man sich das für immer so genau merken wird. Man hat vor allem nicht gewußt, daß man diesen Bildern nichts mehr hinzufügen können wird. [...] Das erworbene Wissen über die moderne Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes. Allerdings nur so lange, als ich diese Erinnerung für mich behalte. Sobald ich jemanden daran teilhaben lassen möchte, merke ich, daß ich die Unschuld der Erinnerung nicht vermitteln kann. 12 Doch dieses Beispiel soll nicht als Analogon dienen, sondern gerade das Problematische an Johanns Erinnerungsmethodik verdeutlichen. Es heißt, der “unendlich viel” in ihm vorhandene Raum sei “nur für Helligkeit, [...] Goldglanz und höchste Töne” da. Dies heißt aber gleichzeitig: für Dunkelheit, Glanzlosigkeit und tiefere Töne steht kein Raum zur Verfügung. Während in dem Licht als “Genauigkeitselement” auch glanzlose Gegenstände erscheinen, werden in Johanns Erinnerungskabinett nur noch solche wahrgenommen, die licht sind. Die Ausschließung, die in dieser Erinnerungsphilosophie praktiziert wird, ist demnach eine doppelte: einmal die des äußerlich-öffentlichen Gedenkens, des an ihm abfallenden Entsetzlichen, und einmal die eines dunkleren Teils der innerlich-privaten Erinnerung, des in ihm vernachlässigten Glanzlosen. Jeder Tag, an den Johann sich solcherart erinnern wollte, war natürlich “der schönste Tag in seinem Leben”. Ein siebartiger Mechanismus, der nach ‘Schönheit’ selegiert und in dem ein gewisser Gefälligkeitsanspruch mitschwingt, sondert bei der privaten Erinnerungsbildung nicht nur als schrecklich gebranntmarktes objektives Zeitgeschehen aus, sondern auch die subjektiv als dunkel und schmerzlich empfundenen Tage. Man kann dagegen auch nicht einwenden, dass im dritten Teil der Tod des Bruders Josef ja als durchaus vergegenwärtigter Moment eintrete (S. 338ff.) – wo übrigens der Vergegenwärtigungseffekt durch den abrupten Tempuswechsel zum Präsens auch noch verstärkt wird –, denn bei der subjektiven Klassifikation der Erinnerungen geht es nicht um die Tatsache, sondern um deren Wahrnehmung; Johann war in der Tat diesem Tod gegenüber unsensibel (vgl. S. 341; vgl. auch S. 401). Und wenn der Erzähler sich in den theoretischen Passagen um die Möglichkeit einer präzisen Vergegenwärtigung eigener Vergangenheit bemüht und in Erzählpassagen von Johanns Vergangenheit erzählt, so wohnen wir einer äußerst seltsamen Verschmelzung des Erzähler-Ich mit dem Protagonisten bei, ohne eine eindeutige IchErzählung vor uns zu haben. Es wäre daher auf keinen Fall verfehlt zu behaupten, dass diese Erinnerungsphilosophie des Protagonisten sich in der vom Erzähler vertretenen Erzählweise und somit hervorgebrachten Erzählstruktur widerspiegelt. Verdrängen und Vergessen. – Wie funktioniert aber dieser Ausschließungsmechanismus bei Johann? Der primäre Impuls versteckt sich hinter der Erzähl12 Walser, Martin: Über Deutschland reden. Ein Bericht. In: ders.: Über Deutschland reden. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1989. S. 77. 33 Arata Takeda stimme, die sich jedoch offensichtlich auf die Erfahrung des Protagonisten bezieht: “Woher hätte man wissen sollen, was das, was passierte, dem Gedächtnis wert ist?” (S. 124) Es ist ein eindeutiger Hinweis auf ein weiteres systematischselektives Eliminationsverfahren bestimmter Vergangenheitsbausteine nach Werturteilen; und es wird eingeleitet durch einen äußerst dubiosen Eingriff in den Erinnerungsapparat, nämlich das Vergessen. Mehrmals ist im Roman davon die Rede, und zwar von einem zweifachen, dem Vergessen und dem Vergessen des Vergessenhabens. Einmal bekommt Johann mit, wie seine Mutter und Battist an einem Sonntagmorgen über Dachau sprechen; und jedes Mal, wenn in der Reichweite seines Gehörs das Wort ‘Dachauer’ oder ‘Dachau’ fällt oder in seiner Nähe auch nur jene etwas vortäuschende Miene seiner Mutter zum Ausdruck kommt, die das Zwiegespräch mit Battist begleitete, fällt ihm ein, “was er vergessen gehabt hat und daß er es vergessen gehabt hat” (S. 123). Am Ende des Romans erfährt man weiterhin, dass Johann den jüdischen Jungen Wolfgang Landsmann, dem der Jungzugführer Edi Fürst das Fahrrad den Rain hinuntergeworfen hatte (vgl. S. 133f.), “vergessen und vergessen [hat], daß er ihn vergessen gehabt hatte” (S. 400). Bezeichnend für die Strukturierung des Romans ist, dass auch diese Szene bei der ersten Schilderung als eine bereits stattgefundene dem Protagonisten lediglich einfällt (vgl. ebd.), d.h. eine im Imperfekt und Plusquamperfekt wiedergegebene Rückerinnerung des in der erzählerisch vergegenwärtigten Zeit handelnden Protagonisten darstellt und eben keine Vergegenwärtigung par excellence. Dieses Vergessen ist also in Wirklichkeit ein intentionales, zielbewusstes Verdrängen entsetzlicher Momente des Lebens, eine zur schönfärbenden Erinnerungsmanipulation eingeleitete psychomotorische Maßnahme, die durch die vorsichtige Wortwahl des Erzählers eine Unschuld des Vorgangs nur simuliert. Wenn der Erzähler mit dem Anspruch auf möglichst vollkommene Vergegenwärtigung der Vergangenheit auftritt und dennoch seinen Verdrängungsinstinkt nicht aufgibt, der selbst mit dem Objekt der Vergegenwärtigung manipulativ zu operieren weiß, ist das Gelingen eines solchen Unternehmens überhaupt in Frage zu stellen. Bildung des Ichbewusstseins / Deutung des Romans Ich-Abstufung in das erlebende und das erlebte Ich. – Inhaltlich betrachtet erscheint die Dreiteilung des Romans als eine bewusste Wiederholung und Thematisierung eines leitmotivischen Geschehens, das wir als Modell des Zentralereignisses des jeweiligen Romanteils begreifen wollen. Denn dreimal macht Johann die ausschlaggebende Erfahrung, dass er zuerst persönlich etwas Entscheidendes erlebt und hinterher erfährt, wie dieses eben persönlich Erlebte in den Augen anderer verschiedenartig erscheint oder wie die Zeit, in der er dies erlebte, von anderen verschiedenartig erlebbar gewesen ist: einmal das PhotographiertWerden, einmal das ‘Wunder von Wasserburg’ und einmal die Wiederbegeg- 34 Bildung des Ichbewusstseins nung mit Wolfgang nach dem Kriegsende, der Johann nachträglich mit entsetzlichen Informationen überhäuft. Es ist aber nicht erst dieses nachträgliche Wissen, das durch unterschiedliche Fokussierung und Farbenkomposition eine mit der privaten Erinnerung unvereinbare Nebenvariante erzeugt, 13 sondern bereits die Erkenntnis, dass ein Ereignis eben durchlebt worden ist, zeitigt eine klare Ich-Abstufung in das erlebende und das erlebte Ich, wie sie im ersten Absatz des Romans etwas umständlicher formuliert war. Während das erlebende Ich mitten im Geschehen noch gegenüber dem Ganzen, was erst zukünftig als geschehen gelten wird, urteilsunfähig bleibt, wächst das erlebte Ich aus dem geschehenen Ganzen heraus und gewinnt eine epistemologische Distanz, aus der es den nunmehr abgeschlossenen Prozess des Ereignisses als Rückblickender mit Einsatz des gesamten bis dahin erworbenen Wissens zu bewerten vermag. Schon die individuelle Einsicht, einen ereignishaften Vorgang abgeschlossen zu haben, bildet den Beginn des nachträglichen Wissens und führt zur Entprivatisierung des Privaten, da der Akt des Einsehens ein dialogisches Moment darstellt, wo das Persönliche in ein Kollektivgebilde umschlägt. Dreierlei Haltungen sind dabei denkbar: entweder überlässt man sich widerstandslos dem sich allmählich verabsolutierenden nachträglichen Wissen und verzichtet auf jegliche Verteidigung und Bewahrung der einst durch Unschuld und Nichtwissen ganz und gar nur ihm eigen gewesenen Empfindung, oder man akzeptiert dieses nachträgliche Wissen nur formal als allgemeingültig und behält das persönlich Erlebte für sich allein unbeeinflussbar von öffentlich machender, geschichtsschreibender Wissensflut, oder aber man lehnt dieses Wissen zugunsten einer ‘getreulichen Selbsterhaltung’ ganz einfach ab. Interessanterweise durchläuft Johann alle drei Haltungsmöglichkeiten in der obigen Reihenfolge, in jedem Romanteil jeweils eine, so dass unter diesem Gesichtspunkt die Romanstruktur als eine dreistufige Bewusstseinsentwicklung erscheint, die um der Privatisierung der individuellen Erinnerung willen einer posterioren Kollektivierungsmaschinerie entgegenarbeitet. Die drei Stationen markieren jeweils einen für die Thematik des Romans äußerst relevanten Zeitabschnitt, in dem das Abschließen eines Erlebnisses den Protagonisten mit einer Ich-Abänderung bedroht. Wie bei Johann in diesem thematisch in den Vordergrund rückenden Dreistufenprozess ein eigenständiges und autonomes Gewissen sich herausbildet, soll nun im Folgenden einzeln nachgegangen werden. Die Photoaufnahme: Hingabe an das nachträgliche Wissen. – Als der 5- bzw. 6jährige Johann auf dem Heimweg von dem Friseursalon einem Fremden begegnet, der sich für einen Photographen ausgibt (vgl. S. 20), hat er nicht die geringste Ahnung, dass dieser später von seiner Mutter, die von dem Vorfall erfährt, verächtlich als Wanderphotograph (vgl. S. 23f.) bezeichnet werden wird. Und 13 Vgl. Walser, Martin: Hamlet als Autor. In: ders.: Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1965. S. 52f. 35 Arata Takeda als er sich von dem Fremden dorfaufwärts hinführen und in der Mitte des Weges zur Villa Hoppe-Seyler, zwei Mammutbäume aus dem Garten im Hintergrund, neben dem Fahrrad photographieren lässt (vgl. S. 20; 23), kann er auch nicht das allermindeste davon wissen, dass das, was er gerade tut, sich später als ein kostspieliger Leichtsinnsfehler herausstellen wird (vgl. S. 24; vgl. auch S. 72). Alles, was ihm inzwischen durch den Kopf geht, sind die grandiosen Mammutbäume und die Kohlenlieferung, die unter diesen Bäumen stattfand (vgl. S. 21). Nachdem Johann heimkehrt und der Mutter erzählt, was er eben erlebt hat, wird er unversehens mit einem höheren, allgemeineren Wissen konfrontiert, das trotz aller Lakonik der mütterlichen Kommentare in gewaltigem Maße sein Sensorium für die eigene Zurechnungsfähigkeit anspricht: “Mein Gott, Johann, ein Wanderphotograph!” (S. 23) / “Was das wieder kostet” (S. 24). Schon nach dem ersten Kommentar stellt sich bei Johann eine subtile Wahrnehmungsverschiebung ein: “Als sie [die Mutter] dieses Wort und wie sie es aussprach, wußte Johann, daß er sich hätte wehren müssen. Ausspucken und abhauen, das wär’s gewesen” (S. 23f.). Interessant ist dabei in den darauf folgenden Textpassagen zu verfolgen, wie Johanns Wahrnehmungsinhalte bezüglich des Ereignisses im Wissensaustausch mit der Mutter sich nach und nach – und zwar inkongruenterweise – modifizieren. Bevor er sich darüber Gedanken zu machen beginnt, dass er nun als Einziger aus der ganzen Familie, mit Ausnahme seines Vaters, von dem anlässlich der Ordenverleihung im Krieg zwei Bilder existieren (vgl. S. 22), ganz allein auf einer photographischen Aufnahme zu sehen sein wird, heißt es noch: “Johann hatte schon auf dem Heimweg gedacht, ob dieses Photographiert-Worden-Sein nicht irgendetwas Unangenehmes nach sich ziehen würde. Es war ihm nicht ganz wohl gewesen” (S. 24). Nachdem er die ganze Geschichte der photographischen Familienporträts gedanklich aufgearbeitet hat, die nur aus besonderen familiären Anlässen entstanden waren, heißt es aber in einer exklamatorischen Passage aus innerem Monolog und erlebter Rede: Und jetzt kommt Johann daher und läßt sich allein von einem Wanderphotographen photographieren! Ein Bild, auf dem nur er zu sehen sein wird! [...] einfach so, ohne Grund! Und auch noch von einem Wanderphotographen! Der konnte doch jetzt verlangen, grad was er wollte! Johann hatte es geahnt, gefürchtet, gewußt. Und trotzdem hatte er sich photographieren lassen! (S. 27) Nun behauptet der Erzähler, dass Johann der konkrete Inhalt und die praktische Konsequenz seines Fehlers, die eigentlich erst von der Mutter zum Ausdruck gebracht werden, schon von vornherein bewusst gewesen seien. Die geringfügige Bedeutungsverschiebung zwischen den drei hintereinander gestellten Partizipien geahnt – gefürchtet – gewusst, die das zentrale Aussagegewicht dieses Arguments tragen, markiert dabei eine eindeutige Steigerung der Intensität der behaupteten Konsequenzbewusstheit Ahnung – Furcht – Wissen, eine nachprüfende Erhöhung des in der Erinnerung registrierten Wissensgrades also, die hin- 36 Bildung des Ichbewusstseins sichtlich der bereits stattgefundenen Konfrontation mit dem nachträglichen Wissen eher als eine dadurch ausgelöste Reaktion der Anpassung begreifbar wird. Es ist in Wirklichkeit eine nachträglich-selbstmanipulierende Umschreibung der vergangenen Bewusstseinsinhalte eines erlebenden Ich durch das erzählende Ich, das sich vollauf von dem nachträglichen Wissen einnehmen lässt und dementsprechend die eigene Erinnerung après coup korrigiert, wie hier aus dem früher erwähnten nachkommenden Unannehmlichkeitsgefühl (vgl. S. 24), dessen tatsächliches Vorhandengewesensein ebenfalls in Anbetracht des Nachtragscharakters der Aussage keineswegs sicher ist, ein vorausahnendes Wissen (vgl. S. 27) gezaubert wird. Und wenn der Erzähler uns am Ende des Kapitels eröffnet: “Johann hatte es doch sofort gespürt, daß er sich nicht hätte photographieren lassen dürfen” (S. 31), 14 so müssen wir erst recht skeptisch mit dem Authentizitätsanspruch der Erzählerstimme vorgehen, weil diese Aussage den früheren Beschreibungen nur allzu wenig entspricht. An dieser Stelle kann man feststellen, dass die Erzählerfunktion des Romans die eines Reflektors ist, der sozusagen als verkappter Ich-Erzähler die Gedanken und die Bewusstseinsinhalte des Protagonisten spiegelartig wiedergibt. Die psychologische Auswirkung des durch die Mutterworte übermittelten Wissens wird demnach als revidierende und umprogrammierende Rückgriffe auf vergangene Wahrnehmungsinhalte unmittelbar auf der Textoberfläche erkennbar. Die Erzählstimme, die durch die Anhäufung verschiedenster Bewusstseinserklärungen sich dauernd widerspricht, verrät uns nämlich, wie der Protagonist selbst – aus einem gewissermaßen aufoktroyierten Blickwinkel erneut auf das Vergangene zurückblickend und seine damalige Bewusstseinslage nach diesem Bedarf rekonstruierend – sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit dem überlieferten Wissen schrittweise gerecht zu werden sucht. Ein vermutlich absolutes Nichtwissen wird zunächst in ein Unwissen mit einem hinterher entstehenden Vorgefühl von etwas Unangenehmem überführt; dem folgt jedoch eine das Erlebnis simultan begleitende Ahnung des tatsächlich Geschehenen, dann eine Furcht vor ihm, und am Ende eine Bewusstheit, die auch noch zu einer sofortigen, das heißt aber auch vorherigen Witterung der Fehlerhaftigkeit des Sich-Einlassens auf das Noch-zu-Geschehende intensiviert wird. An Stelle des Nicht-Wissens tritt somit am Ende eine Antizipation des Wissens. Es geschieht ironischerweise nicht nur in der erzählten Vergangenheit, sondern auch in der erzählenden Gegenwart das, was der Erzähler im Einleitungskapitel des dritten Teils kritisch darlegt, nämlich die Rollenzuweisung an die Vergangenheit: Es ist vorstellbar, daß die Vergangenheit überhaupt zum Verschwinden gebracht wird, daß sie nur noch dazu dient, auszudrücken, wie einem jetzt zumute ist beziehungsweise zumute sein soll. Die Vergangenheit als Fundus, aus 14 Hervorhebung A. T. 37 Arata Takeda dem man sich bedienen kann. Nach Bedarf. (S. 282) Die Vergangenheit wird hier zwar nicht günstiger umgestaltet, sondern vielmehr ungünstiger. Es lag aber eben in Johanns Interesse, sich eher ruchlos als unschuldig zu präsentieren, weil es ja längst sein sehnlichster Wunsch gewesen war, einmal ganz allein auf einem Bild zu sein. Nun will der kleine Johann den Vorfall so begreifen, dass ihm nicht einfach durch Unwissen und Zufall ein unverdientes Glück zugekommen, sondern durch Kalkül und Zielbewusstheit sein innigstes Verlangen in Erfüllung gegangen sei, damit der Erfolg seines Handelns, mag es ihm auch noch so gewissenlos erscheinen, desto handgreiflicher und gewinnreicher werde. Und das gelingt ihm auch: Johann spürte es: er war nicht mehr der, der er gewesen war, bevor der Photograph geknipst hatte. Und daß es ein Wanderphotograph war, machte ihm schon fast nichts mehr aus. So verrucht war er eben. Jetzt war er der, der photographiert worden war. Und der wird er sein von jetzt an. (S. 31) In dieser kleinen Episode im ersten Teil erlebt er also eine entscheidende IchÄnderung, indem er sich völlig dem nachträglichen Wissen hingibt, und für die spätere Romanschreibung gibt es dann natürlich nur den einen, endgültigen Johann, der jedoch den wahren, unwissentlich handelnden Johann überhaupt nicht mehr enthält: den, der zielbewusst und mit ruchlosem Kalkül einen Fehler begeht, den er selbstredend nicht bedauert (vgl. S. 31). Das Engelwunder: äußere Anpassung und innere Verteidigung. – Die zweite Erfahrung einer Ich-Änderung macht Johann gegen Ende des zweiten Teils, als er nach einem mehr als 24-stündigen unangekündigten Verschwinden wieder heimkehrt und nichtsdestotrotz feststellt, dass er für alle anderen die ganze Zeit anwesend gewesen ist. Alle Erlebnisse, die er während dieses Ausflugs, der von einem sehnsuchtsvollen Wiedersehenstrieb mit dem angebeteten Zirkusmädchen Anita gesteuert wird, durchläuft – das vorsichtige Sich-aus-dem-HausSchleichen (vgl. S. 225ff.), die frühmorgige Fahrradfahrt nach Langenargen, wo der Zirkus La Paloma sein nächstes Lager aufschlägt (vgl. S. 227-235), die Panne und die Begegnung mit dem Hutschief, der sie geschickt behebt (vgl. S. 231ff.), das ersehnte Wiedersehen mit Anita und der gemeinsame Spaziergang (vgl. S. 237f.), der Nasenspitzen aneinander reibende Eskimogruß und die QuasiUmarmung im Schneeschmelzwasser (vgl. S. 239f.), die darauf folgende lyrisch gestimmte Einsamkeit (vgl. S. 242), dann die Abendvorstellung, der endgültige Abschied, die Nacht in der Fischerhütte und die singende Heimkehr am nächsten Morgen (vgl. S. 243-247) –, werden in dem Augenblick mit Berichten von ganz anderen Begebenheiten konfrontiert, die gleichzeitig stattgefunden haben sollen und bei denen er konsequent zugegen gewesen sein soll. Zuerst erfährt er von Niklaus und Mina, die sich nicht wenig über Johanns gedächtnisschwach anmutende Unwissenheit wundern, dass Tell, der jetzt bellend und springend nach Essen verlangt, von ihm am vergangenen Tag überhaupt nichts angenommen habe (vgl. S. 247ff.); in seinem Schulheft findet er einen Aufsatz, 38 Bildung des Ichbewusstseins geschrieben in seiner Handschrift und mit dem Datum des vorigen Tages, ohne sich daran erinnern zu können, dass er ihn jemals geschrieben haben könnte (vgl. S. 249, 252); die Mutter teilt ihm ihr Fröhlichkeitsgefühl mit, dass ihr Herr Witzigmann und ein paar Bauern bereitet haben, indem sie Johann für seine Freundlichkeit, Genauigkeit und Flinkheit beim Wiegen am vergangenen Nachmittag “in den höchsten Tönen” (S. 249) lobten; von Josef erfährt er, dass Tell ihn gestern so heftig angebellt, dass er Angst gehabt habe vor seinem eigenen Hund (vgl. S. 250), und dass er gestern so gut Klavier gespielt habe, dass Herr Jutz seine Möglichkeit, Klavierspieler zu werden, wieder erwägenswert finde (vgl. S. 251); sein Schulkamerad Helmut erzählt ihm von der gestrigen Auseinandersetzung mit dem Lehrer, in welche Johann wegen seines oben erwähnten Aufsatzes geraten sei und die er “unbändig gut” (S. 255) gefunden habe; und Adolf macht ihn darauf aufmerksam, dass Johann ihm seit zwei Tagen unsympathisch gewesen sei, dass auch der Lehrer sich über ihn geärgert und dass er selbst Johanns Aufsatz nicht so toll gefunden habe (vgl. S. 260f.). Die Unvereinbarkeit zwischen unmittelbarem Erlebnis und späterem Bericht, die Walser bereits in den 60er Jahren in Bezug auf seine Kindheit im Nationalsozialismus beschäftigte, 15 manifestiert sich hier durch das Doppelgängerereignis in einer übernatürlichen Dimension. Das nachträgliche Wissen tritt als ein mit Johanns persönlichem Erlebnis konkurrierender Bericht auf, der einen räumlich, zeitlich und materiell völlig anderen Johann behauptet und nicht nur bei den Zeugen dieses nunmehr allgemein dominierenden Wissens, sondern von jetzt an auch noch bei ihm selbst Erlebnis sein will. Im Fortgang der Erzählung kann der Leser beobachten, wie Johann einerseits Acht gibt, den in den letzten paar Tagen von den anderen wahrgenommenen Johann möglichst getreu und reibungslos weiterzuspielen und in dieser ihm aufgezwungenen Wirklichkeit, die es nun fortzusetzen gilt, nicht verdächtig zu erscheinen. Überall holt er die ihm fehlenden Kenntnisse der vergangenen Wasserburger Tage ein, wobei er zwar anfangs gedächtnisschwach wirken muss (vgl. S. 248, 250), später jedoch lernt, sich so aufzuführen, als wisse er im Grunde alles und sei nur mangels Einsichtsvermögen nicht darauf gekommen (vgl. z. B. S. 255). Andererseits behält er aber sein persönliches Erlebnis nur für sich allein, indem er im Stillen zu der Überzeugung gelangt, dass während seiner Abwesenheit im Dorf sein Schutzengel ihn vertreten habe (vgl. S. 262). Keiner, auch nicht sein bester Freund Adolf – “der einzige, der verstanden hätte, was Johann passiert war, der einzige, der so etwas auch schon erlebt” (S. 270) und “es keinem außer Johann erzählt” (ebd.) hatte – durfte davon wissen (vgl. S. 271); allerdings mit der einzigen Ausnahme von Tell, der die Unechtheit des Stellvertreters selber zu wittern vermocht hatte. 15 Vgl. ebd. 39 Arata Takeda An dieser Stelle wäre der vom Autor behauptete Monologcharakter der Romanschreibung abermals zu unterstreichen, denn anderenfalls bekäme diese erzählerische Offenbarung des Geheimnisses, die eigentlich – wie Walser einmal das Eingestehen im Unterschied zum Gestehen definierte – “nicht für andere und vor anderen [...], sondern vor einem selbst und für einen selbst” 16 geschieht, die Funktion einer Aufklärung, die ebenfalls als nachträgliches Wissen auf die Vergangenheit anderer korrigierend einzuwirken vermag. Um so wichtiger ist der intrasubjektive Aspekt einer Ich-Verdopplung, die Johann in diesem krisenhaften Moment des Erkenntnisübergangs vom Persönlichen ins Gemeinsame widerfährt. Neben der diachronen Ich-Abstufung als Konsequenz einer radikalen Wahrnehmungskorrektur, die wir bereits in der Wanderphotographenepisode beobachten konnten und auch hier – im Gegensatz zur letzteren allerdings erscheinungsbezogen und inszenatorisch – als mechanische Anpassung an das dominierende Wissen realisiert wird, findet nämlich eine synchrone Ich-Spaltung statt, indem ein Ich als äußerliche Erscheinungsform sich in die Wissensgemeinschaft einfügt, ein anderes jedoch als ein sich jeglicher Teilhabe von der Außenwelt entziehendes Privatsensorium ins Persönlichste verinnerlicht wird. Von nun an existieren diese beiden Ichs unvereinbar nebeneinander, als Träger unvereinbar nebeneinander stehender Vergangenheitsbilder. 17 Das erwähnenswerte Ergebnis dieser epiphanischen Erfahrung ist auf jeden Fall, dass in dem Erstkommunikanten Johann zum ersten Mal ein solches tief nach innen gekehrtes und von Empfindungen der Außenwelt völlig abgeschiedenes Ichbewusstsein entsteht, das als uneinnehmbare Festung seinen innersten, unantastbarsten Wahrnehmungen den Rest seines Lebens Schutz gewähren wird. Interessant wäre noch zu erwähnen, dass der im Dorf zurückbleibende Johann, welcher der wirkliche – man könnte fast meinen, von sich selbst in dritter Person erzählende, als Erzähler und Erzählter zugleich fungierende – Johann nicht gewesen sein will, unübersehbare antifaschistische Züge aufweist: er fertigt eine Klassenarbeit an, die gegen Heimatraub und Rassendiskriminierung argumentiert und gerät darüber in eine Auseinandersetzung mit dem Hauptlehrer Heller, der am Kriegsende als ‘Nazi’ gebranntmarkt wird (vgl. S. 367). Wir erinnern uns an Walsers Bekenntnis der Unfähigkeit, über seine eigene NS-Vergangenheit zu erzählen: Ich habe nicht den Mut oder nicht die Fähigkeit, Arbeitsszenen aus Kohlenwaggons der Jahre 1940 bis 43 zu erzählen, weil sich hereindrängt, daß mit solchen Waggons auch Menschen in KZs transportiert worden sind. Ich müßte mich, um davon erzählen zu können, in ein antifaschistisches Kind verwandeln. 18 16 Walser, Martin: Auschwitz und kein Ende. In: ders.: Über Deutschland reden. S. 30. 17 Vgl. Walser: Hamlet als Autor, S. 52f. 18 Walser: Über Deutschland reden, S. 77. 40 Bildung des Ichbewusstseins Erst der Mauerfall, womit die ‘deutsche Wunde’ auf eine mögliche Heilung von diesem Verstellungszwang zusteuere, wird ihm allerdings den Mut zu einem literarisch-autobiographischen Versuch zu dem prekären Thema verschaffen. 19 Die erzählerische Wahrheit, die sich aus dieser dilemmatischen Situation heraus findet, möge man ernst nehmen und zu schätzen wissen: anstatt die Gelegenheit wahrzunehmen, der prädominierenden Erinnerung anderer folgend als antifaschistischer Held dazustehen, wählt sein verkappter Ich-Erzähler den aufrichtigen Weg und stellt sich als einen verträumten und verliebten, von Sehnsüchten und Wunschträumen erfüllten Jungen dar, dem das außerhalb seiner Erlebniswelt stattfindende Kriegsverbrechen eher egal ist. Denn so ist und bleibt seine Kindheit in der privaten Erinnerung: sie war eher eine, in der er leichtherzig und voller Sehnsucht einem Mädchen nachlief, als eine, in der er auf der Schulbank sich mit ernsten Themen wie Heimat oder Rassismus auseinandersetzte. Die Wiederkehr des Verdrängten: Auflehnung gegen das nachträgliche Wissen. – Als Johann nach dem Krieg auf dem Heimweg von der Oberschule dem halbjüdischen Jungen Wolfgang begegnet und von ihm “Neuigkeiten” (S. 398) erzählt bekommt, die seine gesamte Kindheitserinnerung während der Kriegszeit zu überschatten drohen, macht er zum dritten Mal die Erfahrung einer Konfrontation von unmittelbarem Erlebnis und nachträglich geliefertem Wissen. Diesmal geht es aber nicht um ein restringiertes Einzelgeschehen, sondern um einen riesigen Erinnerungsblock, der fast die ganze erzählte Zeit samt den unerzählten Zwischenräumen zwischen den einzelnen Romanteilen umfasst und auf den der nun langsam über die Schwelle zum Erwachsenenalter tretende Johann als des Lebens Schönstes (vgl. S. 389) und Bestes 20 überhaupt zurückblicken möchte; und er wehrt sich zum ersten Mal dezidiert gegen die manipulatorische Einwirkung dieses Absolutheit beanspruchenden Sachwissens. Noch ehe es aber zu dieser Wissensvermittlung kommt, erfüllt zunächst ein stummer, kalkulatorischer Kampf um die Gesprächsinitiative als positionsbestimmendes Vorspiel die Szene mit einer spannungsgeladenen Stimmung. Die zufällige Begegnung auf einem selten betretenen Feldweg dehnt sich aus zu einem längeren gemeinsamen Spaziergang, da Wolfgang, der gerade eine Reifenpanne hat und sie von Johann reparieren lässt, am Ende unumwunden die Gesprächsführung ergreift und sich dem unwissenden Johann gegenüber zur Auskunft verpflichtet. Ihre Ausführlichkeit bewegt die beiden, ihre Räder, anstatt auf sie zu steigen, zu schieben, bis sie Johanns Elternhaus erreichen (vgl. S. 397). Johann versucht natürlich, während er noch mit dem Reifenflicken beschäftigt ist, über die Fakten, die er aus dem Gedächtnis verdrängt hat und die sich in Wolfgangs 19 Vgl. dazu Georg Dörr: Tendenzen des deutschen Romans seit 1989. In: Studi germanici 37, 2 (1999). S. 318. 20 Vgl. Walser: Hamlet als Autor, S. 52f. 41 Arata Takeda Gegenwart plötzlich wieder aufdrängen, auf möglichst sicherem Wege taktvoll hinwegzugehen und seine Verwirrung vor Wolfgang absolut unbemerkbar zu machen. Dass er das Rad als das einmal von dem Jungzugführer über den Rain hinuntergeworfene Vollballonrad gleich erkannt (vgl. S. 396) und dass er auch gewusst hat, dass Wolfgang nicht wie er von der Lindauer Oberschule kam, weil er sonst sein Klassenkamerad hätte sein müssen (vgl. ebd.), will er Wolfgang auf keinen Fall eingestehen. Sonst nämlich würde Wolfgang Johanns nach dem Prinzip des ‘Schönen’ selektierte und subjektiv konstruierte Erinnerung gleich an den Pranger stellen und ihre die allgemeine Geschichtsentwicklung ignorierende, extrem selbstbezogene Beschaffenheit gnadenlos attackieren (vgl. S. 400). Also bleibt er stumm, auf keinerlei Angriff von Wolfgangs Seite gefasst: “alle Aufmerksamkeit aufs Fahrradflicken” (S. 396). Nachdem das Fahrrad repariert ist und die allgemeine Aufmerksamkeit sich aus dem Bann einer notwendigen Hilfeleistung loslöst, ergreift aber Wolfgang unverzüglich das Wort und lenkt das Gespräch geradewegs in die von Johann befürchtete Richtung: “Wolfgang war noch nicht fertig mit dem, was er Johann offenbar erzählen wollte” (S. 397). Wolfgang gewinnt auch mehr Zeit dafür, indem sie nun, die Räder schiebend, nebeneinander zu laufen beginnen (vgl. ebd.). Das Wissen, das hier übermittelt wird – Daten über Wolfgangs eigenes Familienschicksal und über die Juden- und Antifaschistenverfolgung in Wasserburg (vgl. S. 397f.) –, beweist jedoch eher den Charakter eines Faktenwissens, das ohne jede Emotionalität des Vermittlers an Johanns Gedächtnishorizont zu kommen droht. Emotional bedingt ist vielmehr Wolfgangs Erstaunen über das Nichtwissen seines Gesprächspartners, das auf dessen sofortiges WissenMüssen verweist, was sich auch spürbar mitteilt (vgl. S. 401). Johann, dem bei der Erfahrung des Engelwunders ein neues Ichbewusstsein gewachsen ist, vermag sich nun gegen dieses Wissen, das mit seiner persönlichen Erinnerung nichts zu tun, ja auf diese sogar eine suggestiv-zerstörerische Auswirkung hat, zu verwahren. Diesmal findet keine Ich-Verdopplung mehr statt. Das Ich als Subjekt der Wahrnehmung, Zentrum der Empfindung und Beschützer der Erinnerung setzt sich hier allein durch und lässt keinen freien Raum mehr für fremde Ich-Bildungen: “Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte” (S. 401). Damit ist Johanns bisher wackelige, von äußerem Wissen leicht beeinflussbare Kontrollinstanz der privaten Erinnerung endlich zu einer strengen und stabilen Zitadelle der persönlichen Empfindung herangereift, wo seine private Erinnerung als absolut persönlich Empfundenes gegen jeglichen äußerlichen Einfluss verteidigt wird. Allerdings unter einer Bedingung: der ganze Prozess von Entstehung, Erhaltung und Verteidigung der Empfindung findet ausschließlich vor ihm und für ihn selbst 21 21 Vgl. Walser: Auschwitz und kein Ende, S. 30. 42 Bildung des Ichbewusstseins statt. Verteidigung bedeutet hier also eine Abwehrmaßnahme nicht gegen einen konkret präsenten Gegner, sondern gegen das Herankommen eines anderen überhaupt. Nicht erst die von der Außenwelt her drohende Nötigung zur aktiven Teilhabe am Gedenken, sondern die pure Präsenz einer Figur, die ihm durch das übermittelte Wissen in einer besonderen Eigenschaft bekannt geworden ist und durch deren Erscheinung dieses Wissen – wenn auch bei totalem Für-Sich-Sein zurückgewiesen und verdrängt – wieder ins klare Bewusstsein zurückgerufen werden kann, wird somit zum Gegenstand einer kuriosen Angst vor der Angst: Angst davor, Angst zu haben, die nur unter der Akzeptanz jenes Wissens Gestalt gewinnt. Dass Johann von Wolfgang erfährt, in welch schrecklicher Angst vor der Abholung durch SS-Männer Wolfgangs Mutter gelebt hat, bringt es mit sich, dass eine mögliche Begegnung mit ihr für Johanns sich gerade vervollkommnendes Ichbewusstsein eine Katastrophe bedeuten würde: Er wollte leben, nicht Angst haben. Frau Landsmann würde ihn mit ihrer Angst anstecken, das spürte er. Er mußte wegdenken von ihr und ihrer Angst. [...] Er hatte Angst, Frau Landsmann zu begegnen. Seit er wußte, in welcher Angst sie gelebt hatte, wußte er nicht mehr, wie er ihr begegnen mußte. Wie grüßen, wie hin- oder wegschauen? Mehr ausdrücken, als er in dem Augenblick gerade empfand? Er wollte nicht gezwungen sein. Zu nichts und von niemandem. (ebd.) Das nachträgliche Wissen, das hier von einem durch Erinnerungsbewusstsein stabilisierten Ich dezidiert zurückgewiesen wird, hinterlässt also dennoch seine deutliche Konsequenz: die Angst vor einer öffentlichen Wiederkehr des Verdrängten, die das Ich zwänge, nunmehr als Wissender aufzutreten. Um der Selbsterhaltung willen müsste auch diese Angst verdrängt werden. Nur solange das Ich für sich allein ist, bleibt es auch unangreifbar. Schlusswort / Befreiung des Romans Nachdem wir die Dreiteilung des Romans als eine sinnvolle Strukturierung dreier Stationen im Reifeprozess von Johanns Ichbewusstsein interpretiert haben, dürfen wir wohl mit Recht behaupten, dass es im Roman und vor allem in der zuletzt behandelten Aufklärungsszene des dritten Teils zwar auch um einen gewissen “Komplex der ‘Verdrängung’” geht wie in der Friedenspreisrede, der Inhalt der Verdrängung jedoch mit völlig anderen Motiven geladen und das Szenarium des Vorgangs mit völlig anderen Figuren konstelliert ist. Der 70-jährige Walser sucht öffentlich unter bedingungsloser Annahme seiner Zugehörigkeit zur Seite der Beschuldigten seine Verdrängungspolitik zu rechtfertigen, indem er den auf der gleichen Seite befindlichen Leuten sinnentleerte ‘Ritualisierung’ und teils zu ehrenwerten Zwecken, teils aber auch zu vermeintlicher Selbstentlastung eingesetzte ‘Instrumentalisierung der Schande’ vor- 43 Arata Takeda wirft; 22 der 17-jährige Johann hingegen will um der Verteidigung seiner privaten Erinnerung willen seinen Anteil an der kollektiv-deutschen Schuld erst gar nicht anerkennen, indem er selbst das betreffende Wissen zurückweist, das Wolfgang ihm anbietet. Bei Wolfgangs Akt der Belehrung mit inhärentem Vorwurf des Nichtwissens kann von etwaiger Routinemäßigkeit oder Exkulpation überhaupt nicht die Rede sein, weil er als Wissensübermittlung einmaligen Charakters ist und der Übermittler, zweifelsfrei auf der Opferseite stehend, sich gar nicht zu entschuldigen braucht. Und Johann wehrt sich deshalb gegen diesen vermuteten Vorwurf, weil er das Übermittelte vorher auf keinerlei Weise hat wissen können, und nicht deshalb, weil der Vorwurf ihn an einem wunden Punkt getroffen hätte oder weil er Wolfgangs Handlung als Mittel zum Zweck verdächtigte. Das alles wird bei Johann in Zukunft noch kommen – allerdings erst nach systematischer Konstituierung einer Beschuldigungsdebatte und in einer völlig anderen Figurenkonstellation –, falls es nicht geradezu absurd ist, von der Zukunft einer Romanfigur zu sprechen. Um den äußerst naiven Vergleichsversuch zwischen Johanns Wissensverwiegerung und Walsers Öffentlichkeitskritik überhaupt anstellen zu können, muss man natürlich von all den oben genannten grundsätzlichen Unterschieden zwischen Johanns und Walsers jeweiligen Situationsbedingtheiten vollkommen absehen. So erscheint auch Schüttes Vergleich zwischen den Antagonismen Johann vs. Wolfgang und Walser vs. intellektuelle Gewissensheuchler in völliger Missachtung der motivischen Hintergründe und des Täter-Opfer-Aspekts nur erzwungen. 23 Um so erstaunlicher ist es, dass Ignatz Bubis bei der Paulskirchenrede nicht gleich einsehen konnte, dass Walsers Kritik an der ‘Instrumentalisierung der Schande’ ausschließlich an die auf der Täterseite stehenden, als ‘Gewissenswarte der Nation’ auftretenden Intellektuellen gerichtet war – die “dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern”. 24 Schon Bubis unterlag einer fatalen Verwechslung, als er Walser vorwarf, er “könne mit seiner Kritik an der ‘Instrumentalisierung’ von Auschwitz die Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter gemeint haben”. 25 Die noch junge Rezeptionsgeschichte des Romans hat jedenfalls gezeigt, dass die in selbstverständlicher Verknüpfung mit der Friedenspreisrede hervorgebrachte Lesart nicht nur perspektivisch stark einschränkt, sondern auch bei der kritischen Betrachtung der dargestellten Problematik irreführend sein kann. 22 Vgl. Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, S. 17-20. 23 Vgl. Schütte, S. 118f. 24 Ebd., S. 17. 25 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.12.1998. S. 51D. 44 Bildung des Ichbewusstseins In unserer Interpretation wurde die Ich-Werdung Johanns in ihrer szenischen Vielfältigkeit eingehend herausgearbeitet, die einen wesentlichen Teil der Gesamtthematik des Textes, der Sprachwerdung Johanns, ausmacht. Das Walsersche Ich ist bei Johann noch auf dem Weg zu seiner allseitigen Reifung; insofern stellt Walsers später verfasster Rede-Text ein nur entbehrliches, ja störendes nachträgliches Wissen dar für das allgemeine Verständnis des Romans. 45