Phoenix Aus der Agglo

Phoenix aus der Agglo
Architektur
Foto: Tim Soar
«Wir bauen Objekte, die sich mit Zufriedenheit nutzen lassen und die man gerne
anschaut.» So definieren Allford Hall
Monaghan Morris Architekten aus London ihre Arbeit. Vor weniger als einem
Jahr stellten sie ein Quartier endgültig
fertig, das diese Prämisse erneut unter
Beweis stellt: Sie belebten mit mehreren Grossneubauten das Ortszentrum der
Agglomerationsstadt Barking, knapp 15
Kilometer nordöstlich vom Zentrum Londons gelegen. Dieses Projekt war Thema
langjähriger politischer Querelen, die der
Londoner Architekturpublizist und Mitherausgeber des Fachmagazins «Blueprint», Tim Abrahams, in seinem hier veröffentlichten Aufsatz schildert.
Autor: Tim Abrahams
Fotos: Tim Soar, Killian O'Sullivan und
Allford Hall Monoghan Morris Architekten
Situation
20 | Architektur | Barking Central, GB-London
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Barking Central, GB-London | Architektur | 21
Die ehemalige Stadtbücherei wurde zum
«Lifelong Learning Centre» umgebaut
und dient nun ausserdem als Tragelement
für einen U-förmigen Wohnblock.
Foto: Tim Soar
Vom Wandelgang blickt man ins Arboretum und
hinüber zu den bunten Balkonen der Neubauten.
Foto: Tim Soar
für Architektur. Sie stellte sich damit gegen die
hauptsächlich immigrationsfeindlichen Themen
meint
der British National Party (BNP) für Barking –
Das Phänomen, dass Städte in der Agglome-
der stärksten rechtsradikalen Partei im Land –
ration wenig lebenswert erscheinen und nur
und ihres Parteiführers Nick Griffin.
als Schlafstätten benutzt werden, ist beileibe
kein exklusiv britisches Phänomen. Auch in
der Schweiz gibt es derlei Orte am Rand der
Grossstädte zuhauf, deren Lebensqualität nur
eine zweifelhafte ist: Verkommene Grosswohnsiedlungen, eine mangelhafte städtische
und vor allem kulturelle Infrastruktur sind
Hochwertig und fast wie ein Wandelgang in
Architektur als Möglichkeit
Im Zentrum dieses Schlachtfelds stand ein städtebaulicher Entwurf namens Barking Central.
Entworfen von den offiziellen Stirling-Preis-Nominierten Allford Hall Monaghan Morris (AHMM),
die Zutaten. Auch Barking litt – und leidet in
ist Barking Central ein Bauvorhaben, das im
Grundriss Bibliothek Erdgeschoss
einem historischen Kurbad wirkt der Durchgang
Der Liedermacher und Labour-Aktivist Billy
gewisser Hinsicht noch immer – unter all die-
wohl bekanntesten Wahlkreis Englands grosse
berühmten Bauprojekten wie die Westminster
Bildungszentrum mit Café, Galerie und Lese-
an der Bibliothek.
Bragg bezeichnete seine Heimatstadt Barking
sen Problemen. Dennoch haben sich die Dinge
öffentliche Beachtung fand. Kein städtebauli-
Academy oder das Kentish Town Health Cen-
saal entstehen kann.
Foto: Tim Soar
im Londoner Speckgürtel einmal als den Ort
durch die Arbeit von AHMM Architects bereits
cher Entwurf drückt das Leistungsvermögen der
tre. Das Projekt befand sich lange im Reifepro-
Aber wenden wir zuerst den Blick auf die Mög-
des «Kampfes für die englische Seele». Das
entscheidend verbessert. Es gibt jetzt Anlauf-
Architektur besser aus und macht gleichzeitig
zess und speziell das Gebiet vor der Town Hall
lichkeiten der Architektur: Barking Central ist
war 2005. Die Stadtstrukturen waren in Bar-
stellen wie die vergrösserte Stadtbücherei, ein
ihre Begrenzungen klar. Barking Central zeigt
wurde von den Behörden stets als Schlüssel-
das Beste im Bereich eines evolutionären Urba-
king seit einiger Zeit ein grosses Thema, vor
Arboretum und nicht zuletzt Wohnungen mit
deutlich, wie in den 13 Jahren unter der New
punkt bezeichnet. Der Stadtrat besass noch
nismus, das im letzten Jahrzehnt entstanden ist.
den Unterhauswahlen rückte es aber hinter die
einem guten Standard. Das lockt neue Bevöl-
Labour Regierung gebaut wurde – im Guten wie
ungewöhnlich viel Land im Stadtzentrum und war
AHMM hat die Durchsicht von der Town Hall bis
Immigrationsproblematik zurück – ganz beson-
kerungsschichten an, die von ihrem Lebens-
im Schlechten.
somit in der Lage, einem Bauunternehmer ein
zur Ripple Road erschlossen, von wo aus man
ders in Barking. Gegen diese Themenverschie-
umfeld einiges verlangen, dafür aber auch
Barking Central darf geradezu als Paradestück
Baugrundstück anzubieten – im Gegenzug ver-
schnell das Einkaufszentrum oder die Bahn-
einer urbanen Wiederbelebung gelten und ist
pflichtete man das Unternehmen, in den Umbau
station erreicht. (Von letzterer kann man mit
demnach weit mehr als nur eines von AHMMs
der Zentralbibliothek zu investieren, damit ein
einer direkten Zugverbindung in 15 Minuten zur
bung kämpfte die amtierende Labour-Abgeordnete Margaret Hodge, gleichzeitig Ministerin
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bereit sind, es aktiv mitzugestalten.
Barbara Hallmann
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First floor site plan of Barking Central
Barking Central, GB-London | Architektur | 23
Macht Lust auf Bücher, Zeitschriften, CDs und
DVDs: Die neue Stadtbücherei hat sich durch den
Umbau zu einem Ort entwickelt, an dem sich die
Bevölkerung gerne aufhält.
Foto: Killian O'Sullivan
Fenchurch Street im östlichen Zentrum Londons gelangen). Die Durchlässigkeit des Geländes wurde erhöht; es entstanden durchgängige
Zugänge sowohl zu den kommerziell geprägten
Zonen im Norden und Osten wie zu den städtischen Funktionen im Süden und Westen.
Die ortsansässige Bevölkerung ist begeistert.
Einer davon, Chetin Osman, meint dazu: «Wir
sind Ausländer und vor einigen Jahren hierher
gezogen, und wir empfinden es als einen guten
Ort, mit tollen Verbindungen nach London.» Ein
einem deutlich baufälligen Zustand befindet. Das
anderer Ortsansässiger, Olalekan Sarumi, sieht
Gascoigne Estate ist eine kommunale Wohnsied-
das Projekt als Symbol einer generellen Ver-
lung von ungefähr 2400 Wohnungen, alle renova-
besserung der Lebensbedingungen. «Es ist ein
tionsbedürftig. Selbst ohne die derzeitige Rezes-
grossartiger Ort um zu arbeiten und zu leben.
sion wäre das eine riesige Aufgabe.
Barking Central ist auf dem aktuellen Stand, der
Ort gewinnt an Bedeutung.»
Brachen im Hinterland
Stiller Sieg
Jeremy Grint, Bereichsleiter für Erneuerung
und wirtschaftliche Entwicklung beim Londoner
Die fünf neu entstandenen, frei stehenden
Bezirk Barking und Dagenham gibt zu, dass die
Häuserblocks darf man als architektonische
Wirtschaftskrise auch hier einen Einfluss hatte.
Sternstunden bezeichnen. Eine tischförmige
«Kurzfristig hat der Wertesturz auf die Woh-
Stahlkonstruktion, die über der bestehenden Bib-
nungsbauentwicklung eine negative Auswir-
liothek platziert wurde, hält zwei U-förmige Rei-
kung in dieser Gegend», sagt er. «Der Rückgang
henblöcke auf dem Bibliotheksdach zusammen.
der öffentlichen Ausgaben für Grossprojekte im
Die schräg gestellten Stahlbeine dieses Tisches
Wohnungsbau hat sich auch auf Orte wie die
schaffen einen Gang, der mit schwarz-weissen
Gascoigne Estate ausgewirkt. Unser Ansatz ist
Bodenplatten und mit Tom Dixon’s Leuchten ver-
nun, Änderungen auf einer Stück-für-Stück-Ba-
schönert wurde. Dieser Säulengang ist wirklich
sis vorzunehmen.» Die Situation hat sich infolge
ein charmanter Ort. Der Umgang mit der Biblio-
des Zusammenbruchs des Bankensystems und
thek steht für ein einfühlsames Umdenken der
der politisch schwierigen Situation in Barking
Stadtarchitektur der Siebzigerjahre. Auch das in
verschärft – auch weil die neue, 2010 gewählte
der Endphase des Projektes entstandene «Lemo-
Regierung sich weniger um den Wohnungsbau
nade Building» beeindruckt. Die gelben Balkone
kümmert als die alte.
harmonieren hübsch mit der Uhr an der Town
Die New Labour Partei trug bei den letzten Wah-
Hall und kontrastieren mit dem tiefen Braun der
len 2010 nur eine Art stillen Sieg davon, weil ihre
Backsteinfassade.
Politik ein lebenswertes Zuhause propagierte
Besucher des neu gestalteten Stadtzentrums
und weil sie Pläne forcieren wollte, bestehende
Mitarbeiter; 2008 und 2009 waren sie auf der
merken schnell, dass sich diese Gegend nicht
Wohnsiedlungen zu verbessern. Aber das reicht
Shortlist für den Stirling Prize des Royal Insti-
gerade sozial zerrissen anfühlt, dass es keine
nicht: es ist der Mangel an neuen Wohnungen,
tute of British Architects.
grösseren Schwierigkeiten gibt. Ernsthafte Pro-
der zu sozialen Unruhen führt, wie man sie auch
bleme prägen jedoch nach wie vor die etwas ent-
in Barking antrifft. Barking Central, mit all sei-
Jüngere Projekte:
fernt liegenden Wohnsiedlungen wie Gascoigne
nen Bemühungen – und deren gibt es viele –
2006 Barbican Arts Centre
Estate, The Lintons oder Thames View. The Lin-
zeigt systematische Probleme auf, genauso wie
2007 Westminster Academy
tons, entworfen in den frühen Sechzigern vom
es im Gegenzug Probleme löst. n
2008 Kentish Town Health Centre
Architekturbüro Borough und gebaut aus fabrikfertigen Betonfertigteilen, war ein grossartiges
Den Text übersetzten und redigierten Marianne
Projekt seiner Zeit, das sich aber mittlerweile in
Kürsteiner und Barbara Hallmann.
24 | Architektur | Barking Central, GB-London
Die Architekten
Gegründet in den späten 1980er Jahren von
Simon Allford, Jonathan Hall, Paul Monaghan
und Peter Morris gehört AHMM mittlerweile
zu den bekanntesten Büros in Grossbritannien. Mittlerweile hat AHMM mehrere Hundert
Alle hier aufgeführten Bauten befinden sich in
London.
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