Richard Lepsius
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Richard Lepsius
Inhalt Kapitel 1 Europäer in Ägypten – Ägypten in Europa . . . . . . . . . 9 Kapitel 2 Kindheit – Jugend – Frühe Prägung . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 3 Pariser Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Kapitel 4 Studien in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Kapitel 5 London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Kapitel 6 Berlin – Vorbereitung der Expedition . . . . . . . . . . . . . 71 Kapitel 7 Paris – London. Aufbruch nach Alexandria . . . . . . . . . 90 Kapitel 8 Ägypten – Beginn der Ausgrabungen . . . . . . . . . . . . . . 97 Kapitel 9 Pyramiden – Nekropolen – Labyrinthe . . . . . . . . . . . . 111 Farbabbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Kapitel 10 Die »Aethiopische Reise« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kapitel 11 Letztes Expeditionsjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kapitel 12 Kairo – Rückreise nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Kapitel 13 Lepsius als Ägyptologe in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Kapitel 14 Familiengründung und Freundeskreis . . . . . . . . . . . . . 186 Kapitel 15 Das Neue Ägyptische Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Kapitel 16 Veröffentlichung der Expeditionsergebnisse . . . . . . . . . 220 Kapitel 17 Casa Lepsia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Kapitel 18 Lepsius’ Standard Alphabet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Kapitel 19 Wissenschaftspolitische Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 258 Kapitel 20 Zwei Reisen zum Suezkanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Kapitel 21 Lepsius als Leiter der Königlichen Bibliothek . . . . . . . 287 Kapitel 22 Politik und Königshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Kapitel 23 Das letzte Jahrzehnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Kapitel 24 Ein Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 327 Nachwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 8 Richard Lepsius – Anhang: Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Übersichtskarte von Ägypten und dem Sudan mit der Expeditionsroute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Chronologische Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Kapitel 1 Europäer in Ägypten – Ägypten in Europa Auf der Spitze der Cheopspyramide – in schwindelnder Höhe von 140 Metern – spielte sich am 15. Oktober des Jahres 1842 eine außergewöhnliche Szene ab. In der gleißenden Mittagssonne Ägyptens wurde – begleitet von den Hochrufen einer kleinen Schar von Europäern – eine weiße, mit schwarzem gekrönten Adler geschmückte Flagge gehißt (Farbabb. I). Doch erhoben die auf der Pyramidenplattform versammelten Männer keinerlei koloniale Machtansprüche. Sie waren in friedlicher Absicht gekommen. Im Auftrag König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen und der Akademie der Wissenschaften zu Berlin planten sie, die Relikte Altägyptens zu erforschen, zu vermessen und für die Nachwelt festzuhalten. Nun feierten die Expeditionsteilnehmer mit ihrem Leiter Richard Lepsius und einigen Freunden den Geburtstag ihres königlichen Mäzens, aber auch den Beginn der Forschungsreise. Auf dieses Unternehmen hatte sich Lepsius fast zehn Jahre lang in Paris, Rom, London und Berlin mit unglaublicher Akribie vorbereitet. Mit seinen 31 Jahren kannte er die wichtigsten ägyptischen Sammlungen Europas wie kein anderer. Er hatte mit den bedeutendsten Ägyptologen seiner Zeit zusammengearbeitet und bei seinen Studien sogar zahlreiche antike Quellen benutzt. Denn Europas Interesse an Ägypten reichte weit zurück. Schon im Altertum hatten die Berichte griechischer Reisender – vor allem Herodots – über Götter, Pharaonen und gewaltige Bauten ungläubiges Staunen hervorgerufen. Den Spuren der Griechen waren – nach der Eingliederung Ägyptens in das römische Reich – zahlreiche frühe Bildungs‑ und Vergnügungsreisende, meist wohlhabende Bürger des Imperiums, gefolgt. Selbst ihre Kaiser – von Augustus über Hadrian bis Septimius Severus – hatten das Land besucht. In den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten waren die römischen Herrscher – nach dem Vorbild Alexanders des Großen – noch als vergötterte Pharaonen in Ägypten aufgetreten. Als das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, erloschen die Tempelkulte nach und nach. Die gewaltigen Monumente begannen zu verfallen, Zeugnisse einer 4 000jährigen Geschichte versanken im Wüstensand. Altägyptens große Kultur, die Geheimnisse seiner Schrift gerieten zunehmend in Vergessenheit. 10 Richard Lepsius – Kapitel 1 Erst in der Neuzeit begannen die Europäer, das Land der Pharaonen wiederzuentdecken. Als früher Pionier bereiste Pietro della Valle im Jahre 1614 Ägypten, von wo er etliche koptische Manuskripte mitbrachte. Im 18. Jahrhundert unternahmen einzelne europäische Reisende Expeditionen ins Landesinnere. 1798 versuchten napoleonische Truppen das Nilland zu erobern; mit ungeahnten nicht-militärischen Folgen: Französische Künstler und Gelehrte, die Napoleon als wissenschaftliche Begleiter verpflichtet hatte, verfaßten nach ihrer Rückkehr ein grandioses Werk über Ägypten, eine erste systematische Erfassung des Landes und seiner Schätze. Diese »Description de l’Égypte«1 löste mit ihren zahlreichen faszinierenden Abbildungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wahre Ägyptomanie in Europa aus. Altägyptisches Dekor fand sich bald an Kaminuhren, Leuchtern, Möbeln oder Porzellan. Pylone, Sphinxe, Pyramiden zierten öffentliche Bauten, von Brücken bis zu Wasserreservoiren. Als die französische Armee nach der Vernichtung ihrer Flotte durch die Briten im Jahre 1801 kapitulieren mußte, forderten die Sieger die Auslieferung des später so berühmten und für die weitere Entwicklung der Ägyptologie entscheidenden Steins von Rosette für das Britische Museum. Glücklicherweise hatten die Franzosen einige Abdrücke zurückbehalten. An Hand der Kopien gelang es Champollion2 schließlich, das Rätsel der Hieroglyphen zu lösen. Kurz nach dem Abzug der Franzosen begannen einige mutige Pioniere, Ägypten gründlich zu erforschen. Besonders erfolgreich war der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt3, der die berühmten Tempel Ramses II. in Abu Simbel wiederentdeckte und im Auftrag der Londoner »African Association« (Vorhut des britischen Kolonialsystems) tief in den Sudan vorstieß. Als Scheich Ibrahim verkleidet besuchte er dann sogar Mekka und Medina. Das Land zog aber auch dubiose Persönlichkeiten an, denen es im Gegensatz zu seriösen Forschern vor allem darum ging, Fundstätten zu plündern und die Beute nach Europa zu verkaufen. 1 »Description de l’Ègypte, ou Recueil des observations et de recherches qui ont été faites en Égypte pendant l’expedition de l’armée française«. Erste Ausgabe (L’édition impériale) Paris 1809−22. Das gesamte Werk besteht aus 10 Folianten und 2 Sammelbänden mit 837 Kupferstichen; es ist unterteilt in »Antiquitées«, »Etat Moderne« und »Histoire Naturelle«. 2 Jean-François Champollion (1790−1832), Begründer der Ägyptologie. Es war ihm in jahrelanger Arbeit gelungen, mit Hilfe der dreisprachigen Inschrift (hieroglyphisch, demotisch, griechisch) des Steins von Rosette die Hieroglyphen zu entziffern. Den Stein hatte ein französischer Ingenieursoffizier 1799 im Nildelta entdeckt. 3 Johann Ludwig Burckhardt (1784−1817). Orient‑ und Afrikaforscher aus Basel. Entdeckte 1812 Petra, die alte Hauptstadt der Nabatäer im heutigen Jordanien, und die Tempel von Abu Simbel. Erforschte den Nil bis zum 6. Katarakt. Europäer in Ägypten – Ägypten in Europa 11 An erster Stelle ist hier der Italiener Giovanni Battista Belzoni zu nennen,4 ein Artist, der früher als »starker Mann« im Londoner Sadlers Wells Theater aufgetreten war. Nach dem vergeblichen Versuch, eine von ihm entwickelte Wasserpumpe in Ägypten einzuführen, verlegte er sich darauf, Altertümer aufzuspüren. Sein Auftraggeber war der britische Generalkonsul in Alexandria, Henry Salt. Es gelang Belzoni, den sieben Tonnen schweren »Memnonskopf«, Teil einer Kolossalstatue Ramses II., aus Theben fortzuschaffen. Salt ließ das überdimensionale Fragment nach London bringen, wo es noch heute zu den Spitzenstücken des Britischen Museums zählt. Belzoni, bei dem sich Intelligenz und Skrupellosigkeit mit einem phänomenalen Spürsinn paarten, glückten auch einige wichtige wissenschaftliche Entdeckungen. So fand er die reich geschmückte Grabkammer und den Alabastersarkophag des Königs Sethos I., sowie weitere Pharaonengräber im Tal der Könige. Einer seiner größten Konkurrenten war Bernardino Drovetti,5 der als Oberst im französischen Heer nach Ägypten gekommen war, wo er nun die diplomatischen Interessen Frankreichs vertrat. Von der französischen Regierung gefördert, beschaffte er zahlreiche Altertümer für den Louvre. Die rege Grabungstätigkeit in Ägypten, die Vorbilder des Britischen Museums und des Louvre ließen manchen europäischen Herrscher an den Aufbau einer eigenen ägyptischen Sammlung denken. So erwarben der piemontesische wie der niederländische König ganze Kollektionen en bloc. Ohne zu zögern nutzte man auch die Dienste dubioser Vermittler. Ab 1820 begannen auch Privatleute vermehrt, das Land zu bereisen. Es scheint, daß die »Grand Tour« des europäischen Adels – anfangs vorwiegend Briten und Franzosen –, die nach dem Besuch verschiedener europäischer Länder mit der Reise durch Italien gekrönt wurde, sich infolge der Wiederentdeckung Ägyptens um den Besuch des Nillandes zu erweitern begann. Dem Adel folgten zunehmend reiche Bürgersöhne. So war der junge Privatgelehrte Gustav Parthey, ein Enkel des Verlegers Nicolai, um 1823 nach seiner Italientour über Malta durch Ägypten und den nubischen Süden bis nach Meroe gereist. 1837 hatte der berühmte Fürst Pückler eine noch ausgedehntere zweijährige Exkursion unternommen, auf der er sogar weit in tropische Regionen bis zum 15. Breitengrad vorgestoßen war. 4 Giovanni Battista Belzoni (1778−1823). Belzoni, halb Abenteurer, halb Forscher, wurde nach dem Studium der Hydraulik und einer Tätigkeit als Artist zu einem der größten frühen Raubgräber Ägyptens. Er machte dabei erstaunliche Entdeckungen (Öffnung des großen Tempels von Abu Simbel sowie der Chephren-Pyramide), die er oft in Zeichnungen dokumentieren ließ. Belzoni verfaßte ein Buch über seine Grabungen und Erlebnisse in Ägypten. 5 Bernhardino Drovetti (1776−1852). Französischer Generalkonsul in Alexandria. Seine umfangreichen Sammlungen bildeten u. a. den Grundstock des Turiner Ägyptischen Museums. Einige Stücke gelangten auch in die Berliner Sammlung. 12 Richard Lepsius – Kapitel 1 Viele Reisende folgten dem Vorbild der diplomatischen Vertreter und der Kaufleute vor Ort und trugen zum Teil umfangreiche Sammlungen ägyptischer Altertümer zusammen. Dabei wurden zum einen Stücke aus fremder Hand aufgekauft, zum anderen jedoch in zunehmenden Maße Monumente mehr oder weniger systematisch ausgegraben. Oft ließ man die aufgefundenen Malereien, Skulpturen und Reliefs ebenso wie die Fundstätten von mitreisenden Künstlern in Zeichnungen und Plänen möglichst genau festhalten. Obwohl es sich meist »nur« um gebildete Dilettanten handelte, führten sie beachtliche Explorationen durch (wenn auch nicht im Sinne der modernen Archäologie). Auf diese Weise schufen sie die ersten Grundlagen für einen neuen Zweig der Orientalistik, die Ägyptologie. Getragen von der in ganz Europa wachsenden Begeisterung begann man sich auch in Berlin früh für das alte Ägypten und seine Reichtümer zu interessieren. Hier sandte der sonst so sparsame König Friedrich Wilhelm III. den Erzieher des Prinzen Carl, den Freiherrn von Minutoli6, im Jahr 1820 auf eine Forschungs‑ und Sammelreise in das Nilland. Leider verlief das Unternehmen recht unglücklich. Die meisten Teilnehmer kamen während der Expedition ums Leben. Obendrein ging ein Großteil der zahlreichen Altertümer durch die Havarie des Transportschiffes verloren. Die auf dem Landweg beförderten Kisten kamen jedoch glücklich in Berlin an und bildeten den Grundstock der künftigen Ägyptischen Sammlung. Sie konnte bald durch zusätzliche Ankäufe wesentlich erweitert werden. 1839 war eine zweite preußische Ägyptenexpedition im Gespräch, die der König jedoch nicht genehmigte. Zwei Jahre danach griff sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. den Plan enthusiastisch auf, da er sich schon seit Jugendtagen lebhaft für Ägypten interessiert hatte. Die vom König bereitgestellte gewaltige Summe von 33 000 Talern erlaubte es Lepsius und seinen Begleitern, eine höchst erfolgreiche dreijährige Forschungsreise durch Ägypten und Nubien bis in den Sudan zu unternehmen. Die zahlreichen »antiquarischen Erwerbungen«, welche die Expedition am Ende nach Berlin brachte, sollten ganze Säle des Neuen Museums füllen. Die wissenschaftliche Ausbeute war so umfangreich, daß Lepsius den deutschen Zweig der Ägyptologie begründen konnte. 6 Johann Heinrich Carl Menu, Freiherr von Minutoli (1772−1846). Seit 1810 Erzieher des preuß. Prinzen Carl. 1820 Ägyptenreise. Öffnete als erster die Stufenpyramide König Djosers. Brachte trotz großer Verluste zahlreiche Ägyptiaca, darunter wertvolle Papyri, nach Berlin. Kapitel 2 Kindheit – Jugend – Frühe Prägung Der so erfolgreiche Expeditionsleiter Richard Lepsius stammte aus einer Juristenfamilie, die seit drei Generationen in Naumburg an der Saale ansässig war. Sein Urgroßvater war dort bereits 1738 als Advokat tätig gewesen. Der Großvater, Johann August Lepsius, hatte die Ämter eines Stadtrichters und Oberkämmerers bekleidet und war schließlich zum Oberbürgermeister gewählt worden. Richards Vater, der 1775 geborene Carl Peter Lepsius, hatte in Leipzig und Jena nicht nur Jura studiert, sondern auch Fichtes Vorlesungen gehört und sich mit der Kantschen Philosophie auseinandergesetzt. Nachdem er in seiner Heimatstadt als Advokat und Verwalter von Patrimonialgerichten tätig gewesen war, hatte man ihn 1810 zum Stadtrichter ernannt. Als 1813, nach der Schlacht von Leipzig, erst die fliehenden französischen Soldaten, dann die siegreichen russischen Truppen Naumburg noch einmal gründlich geplündert hatten, standen viele Einwohner vor dem Ruin. Rettung brachte ein Central-Hilfs-Ausschuß, in dem Carl Peter Lepsius eine führende Rolle übernahm. Er leitete höchst effektiv die Unterstützung der Ärmsten und kümmerte sich dabei besonders um die zahlreichen Kriegswaisen. Seine untadlige Amtsführung, sein außerordentliches Organisationstalent und seine Erfahrung in öffentlichen Ämtern veranlaßten die Regierung in Berlin – der Naumburger Kreis war inzwischen dem neugeschaffenen Preußisch-Sachsen zugeschlagen worden –, ihn 1815 zum Landrat des Bezirks zu ernennen. Damit gehörte er zum Kreis der etwa 300 Beamten, denen die Landkreise Preußens unterstanden, in dem jedoch Bürgerliche eher selten vertreten waren, da ein Großteil der Landräte zum Adel gehörte. Auf diesem Posten sollte er über vierundzwanzig Jahre – selbstkritisch, gerecht sowie ständig um Ausgleich bemüht – im besten Sinne preußisch-pflichtbewußt tätig werden. Neben seinen zahlreichen Amtspflichten förderte er die Gründung eines regionalen Wochenblattes und war aktives Mitglied der Naumburger Literarischen Gesellschaft. Einen außerordentlichen Platz in seinem Leben nahm der Thüringisch-Sächsische Geschichtsverein ein. Ihm gehörten vorwiegend Gymnasiallehrer, Juristen und Pfarrer an, also klassische Vertreter einer bildungsbürgerlich geprägten Schicht. Ihr Interesse galt der »Erforschung 14 Richard Lepsius – Kapitel 2 Abb. 3: Anna Lepsius, Geburtshaus von Carl Richard Lepsius in Naumburg, Zeichnung. des Vaterländischen Alterthums«, also archäologisch-historischen Studien und der Erhaltung von Kunstdenkmälern. Auch Carl Peter Lepsius, der den Verein 1819 mitbegründet hatte und leitete, beschäftigte sich mit romanischer sowie gotischer Kunst und Architektur.1 Er war ein typischer Repräsentant des aktiven Bildungsbürgertums, dem vorwiegend beamtete Akademiker angehörten. Dieser Gruppe gelang es im 19. Jahrhundert – vor allem in Preußen – wachsendes gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluß zu gewinnen, obwohl ihre ökonomische Basis meist schmal war. Doch war für sie »Bildung nicht nur ein Instrument zur Sicherung der sozialen Position. Bildung wurde verinnerlicht zu einem Wert an sich.«2 In diesem bürgerlichen Milieu erblickte Carl Richard Lepsius am 23. Dezember 1810 das Licht der Welt. Es waren harte Zeiten. Die Bevölkerung litt seit mehreren Jahren unter den Lasten der französischen Besatzung. Wirtschaft und Handel lagen danieder. Carl Peter Lepsius, der 1801 Friederike Gläser, die Tochter des früh verstorbenen Musikdirektors am Weißenfelsschen Lehrerseminar, Carl Gläser3, geheiratet hatte, war in Richards 1 Siehe hierzu: M. Rainer Lepsius, »Richard Lepsius und seine Familie – Bildungsbürgertum und Wissenschaft«, S. 32 f. u. FN 8. in: Freier / Reineke (Hg.), Lepsius. 2 Zit. n. M. Rainer Lepsius. »Richard Lepsius und seine Familie« (siehe vorstehende FN), S. 30. 3 Carl Ludwig Traugott Gläser (1747−1797), neben der Lehrerausbildung auch als Komponist tätig. Schüler der Thomas Schule in Leipzig, Chormitglied. Nach dem Theologiestudium Kantor und Musiklehrer in Weißenfels. Seit 1794 Magister am dortigen neugegründeten Lehrerseminar. Friederike Gläser wurde als zweites Kind des Ehepaars Carl und Amalia Mariana Gläser (geb. Kindheit – Jugend – Frühe Prägung 15 Geburtsjahr zum Stadtrichter ernannt worden. Die Kinder des Ehepaares, von denen sechs überlebten, wuchsen in dem vom Großvater hinterlassenen, zwar geräumigen doch eher schlichten zweistöckigen Bürgerhaus in der Großen Wenzelstraße auf (Abb. 3). Dessen sonst unauffällige Fassade schmückte eine antikisierende Skulptur: Hermes als fliegender Götterbote mit Flügelschuhen, Reisehut und Heroldsstab. An diesem Ort sicher ein unerwarteter Vertreter der antiken Götterwelt, mit der sich Richard – in ägyptischem, griechischem oder römischen Gewande – ein Leben lang beschäftigen sollte.4 Die Familie Lepsius: Der ursprüngliche Name einer Familie von Weißgerbern lautete Leps. Er wurde von Richards Urgroßvater, Peter Christoph (1712−99), einem Naumburger Advokaten, latinisiert. Ihm folgten zwei weitere Generationen von Naumburger Juristen: Der Großvater Johann August Lepsius (1745−97) und Richards Vater, Carl Peter Lepsius (1775−1853). Alle drei heirateten im gehobenen städtischen Milieu (u. a. Töchter von Pfarrern oder Beamten). Von Richards fünf Geschwistern (drei weitere waren früh verstorben) wurde der Älteste, Carl Edmund (1805−73), Appellationsgerichtsrat in Naumburg, der Bruder Carl Reinhold (1807−36) als einziger Nichtakademiker Kaufmann in Livorno. Richards Lieblingsschwester Clara (1812−62) heiratete den Geheimen Regierungsrat Albert Schulz und die Schwester Alwine (1814−92) den Kreisgerichtsrat Carl Jacob in Halle. Der Jüngste, Carl Gustav (1817−79) wurde Regierungsrat. Von Richards Kindheit ist wenig überliefert. Prägenden Einfluß hatte die Persönlichkeit des Vaters (Abb. 4). Dessen Erziehung war streng, die Haushaltsführung sparsam. Carl Peters historische Forschungen, sein »zweiter Beruf«,5 dürften Richard bei seinen späteren Arbeiten als Vorbild gedient haben. Außerdem sammelte der Vater leidenschaftlich Abdrücke alter Siegel sowie Stiche, insbesondere Darstellungen romanischer und gotischer Bauten (zur Ergänzung beider Sammlungen sollte der Sohn in späteren Jahren regelmäßig beitragen). Für den neunjährigen Richard dürfte der frühe Tod der Mutter im Jahre 1819 (sie starb im Alter von 41 Jahren) das einschneidendste Kindheitserlebnis gewesen sein, nur dadurch gemildert, daß deren jüngere Schwester Julie, die Carl Peter bald geheiratet hatte, sich nun liebevoll um die Familie kümmerte. Mit zwölf Jahren verließ Richard Ziesche) am 11. Jan. 1778 in Weißenfels geboren. Von ihren zahlreichen Geschwistern stand neben der Schwester Julie (1794−1875) (nach Friederikes Tod die 2. Frau von C. P. Lepsius) der in Berlin tätige Kaufmann Carl Heinrich Gläser (1786−1849) Richard Lepsius am nächsten. 4 Das Haus steht noch heute. Es ist mit einer Gedenktafel für Richard Lepsius versehen. 5 Carl Peter Lepsius publizierte neben vielen anderen Arbeiten 1822 eine Schrift über den Dom zu Naumburg (»Über das Alterthum und die Stifter des Domes zu Naumburg und deren Statuen im westlichen Chor«). Ausführliche Angaben über C. Peter Lepsius’ Arbeiten finden sich in den Beitrag von Peter Findeisen »Carl Peter Lepsius (1775−1853) und die Erkundung der vaterländischen Altertümer«, in: Ingelore Hafemann (Hg.), Preußen in Ägypten – Ägypten in Preußen. Er war Mitglied der preußischen Kommission zur Fertigstellung des Kölner Domes, der dann 1842 unter Friedrich Wilhelm IV. vollendet wurde. 16 Richard Lepsius – Kapitel 2 Abb. 4: Gustav Schultze-Naumburg, Carl Peter Lepsius, Ölgemälde. Kindheit – Jugend – Frühe Prägung 17 das Haus. Bisher von Privatlehrern unter Aufsicht des Vaters unterrichtet, wurde er jetzt in die Landesschule Pforta eingeschult, die von Freunden seines Vaters, dem Rektor Ilgen und dessen späterem Nachfolger Lange, geleitet wurde. Das Internat lag so nahe bei Naumburg, daß Richard sein Elternhaus leicht zu Fuß erreichen konnte. Schulpforta: 1543 durch Moritz von Sachsen begründetes Internat. Seit 1815 (preußisch) wichtige Reformen (neuhumanistische »Hinwendung zur Antike« Wilhelm von Humboldts). Unterricht auch in lebenden Sprachen; Naturwissenschaften dagegen nur ansatzweise. Auf Drängen W. v. Humboldts sogar Turnunterricht (durch die politischen Aktivitäten »Turnvater« Jahns bald politisch höchst verdächtig und nach 1820 für einige Jahre verboten), Tanz‑ und Musikstunden, Schwimmen, Schlittschuhlaufen. Moderne Tageseinteilung mit Frei‑ und Bewegungsstunden. Der Rektor Carl David Ilgen (1763−1834), Theologe und Philologe, fürchtete nach Einführung des Turnens sogar den »Untergang der Anstalt«. (Brief W. v. Humboldts an seine Frau Caroline. 1817). Schulpforta, eine ehrwürdige Anstalt, in der seit wenigen Jahren dank preußischer Schulreformen und des Engagements einiger junger Pädagogen ein neuer Wind wehte, eine Entwicklung, die Carl Peter Lepsius – als Regierungskommissar für die Abiturientenprüfungen zuständig – nachhaltig gefördert hatte. Der Lehrplan war erweitert, der Tagesablauf aufgelockert, Turn‑ und Schwimmunterricht eingeführt worden. Zu den Reformern gehörte der Germanist und spätere Literaturhistoriker August Koberstein.6 Er weckte als erster Lepsius’ Interesse für Sprachen und die Linguistik. Neben den Hauptfächern Griechisch und Latein sowie Geschichte studierte Richard das Altdeutsche und lernte – für einen Altsprachler höchst ungewöhnlich – neben dem Französischen auch Italienisch. Die jahrelange Beschäftigung mit lebenden und toten Sprachen führte dazu, daß Lepsius auf Kobersteins Rat eine linguistische Schulabschlußarbeit verfaßte.7 1829 verließ er die Schule mit glänzenden Noten. Zeit seines Lebens blieb er Pforta eng verbunden. Jeder spätere Besuch seiner Heimatstadt führte ihn auch in sein altes Gymnasium. Immer wieder beriet er sich in linguistischen Fragen mit seinen früheren Lehrern, vor allem mit August Koberstein. Einige Mitschüler gehörten ein Leben lang zu seinem engsten Freundeskreis. 6 August Koberstein (1797−1870). Von 1820−1870 Lehrer in Pforta. Seit 1824 Prof. für Französisch und Deutsch. Literaturwissenschaftler. Hauptwerk: »Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur«. 1827. C. D. Ilgen gewidmet. Weiteres zu Koberstein siehe ADB Bd. 16, S. 360 ff. 7 Die Valediktionsarbeit trug den (Unter‑)Titel: »Über den Einfluß, welchen die Behandlung der deutschen Grammatik in den neuesten Zeiten und die aus ihr und der größeren Bekanntschaft mit dem Sanskrit hervorgegangenen allgemeinen Sprachvergleichung auf die Richtung der Philologie überhaupt und namentlich der klassischen haben müsse«. 18 Richard Lepsius – Kapitel 2 Bis heute zählt Lepsius neben Klopstock, Fichte, Ehrenberg, Ranke und Nietzsche zu den herausragenden Alumnen der Schule. Sie alle erfüllten den Leitspruch Moritz von Sachsens, der Pforta einst gegründet hatte, »damit es an gelahrten Leuten in unsern Landen nicht Mangel gewinne«. Schulpforta hatte Lepsius’ weiteren Studiengang, ja seinen gesamten Lebenslauf entscheidend beeinflußt. Dort wurde die nie nachlassende Begeisterung für tote Sprachen, vor allem aber für die vergleichende Sprachwissenschaft geweckt. Seine lebenslangen Forschungen sollten schließlich von den Anfängen der Schrift, den Hieroglyphen, über das Altgriechische und Etruskische bis hin zu den modernen Afrikanischen Sprachen reichen. Seine sprachwissenschaftlichen und historischen Neigungen führten ihn fast zwangsläufig zur Philologie.8 Seine Wunschuniversität: Leipzig, der Familientradition entsprechend. Der dort herausragende Professor: Gottfried Hermann,9 ein ausgewiesener Kenner des Altgriechischen und seiner Grammatik. Bald hospitierte Lepsius in Hermanns Griechischer Gesellschaft. Dort wurde jede Diskussion in lateinischer oder griechischer Sprache geführt. Richards Begeisterung für alte Sprachen wuchs. Künftig sollten Linguistik und Altertumswissenschaften unübertroffen an erster Stelle stehen. Koryphäen dieser Fächer waren es auch, die ihn zwei Semester später von Leipzig nach Göttingen zogen: Männer wie Jacob und Wilhelm Grimm, die führenden Germanisten, der Orientalist und Sanskritforscher Heinrich Ewald und Carl Otfried Müller10, der Mitbegründer der modernen Archäologie. 8 Darüber schrieb er an den Vater: »Was nun meine rein wissenschaftliche Ausbildung betrifft, so bieten sich hier zuerst zwei Hauptwege dar […], nämlich eigentliche Sprachforschung und Alterthumswissenschaft. Natürlich hängen beide so genau zusammen, daß das eine nie ganz von dem anderen getrennt werden kann, aber dennoch giebt sich jeder dem einen mehr als dem anderen hin, weil wirklich jedes von beiden Feldern an sich schon ausgedehnt genug ist, um alle Kräfte des Einzelnen für sich allein in Anspruch zu nehmen.« »Richard Lepsius. Ein Lebensbild« von Georg Ebers (Künftig: Ebers, Lepsius), S. 15. Richard an C. Peter Lepsius. Br. vom 7. 8. 1829. Sämtliche im Text kursiv wiedergegebene Zitate stammen von Richard Lepsius. 9 Gottfried Hermann (1772−1848). Klass. Philologe; mit seinen Untersuchungen über die altgriech. Sprache und antike Grammatik einer der berühmtesten Geisteswissenschaftler des 19. Jahrhunderts. H. begründete ebenso wie sein schärfster akademischer Gegner, August Boeckh in Berlin, eine eigene Schule. 10 C(K)arl Otfried Müller (1779−1840). Altphilologe, Mitbegründer der modernen Klassischen Archäologie und Alten Geschichte. Wurde in Berlin als Schüler Boeckhs zum Vertreter der Sachphilologie (im Gegensatz zur wortphilologischen Schule Gottfried Hermanns). Seit 1819 Prof. an der Göttinger Universität. Er vergrößerte die dortige Archäologische Sammlung ganz erheblich, indem er zahlreiche antike Kunstwerke ebenso wie Gipsabdrücke (darunter die der Elgin Marbles) ankaufte und die Münzsammlung auf 7 000 Stücke erweiterte. M. starb in Athen, nachdem er sich bei archäologischen Arbeiten in Delphi eine Hirnhautentzündung zugezogen hatte. Unter seinen damaligen Begleitern befand sich auch Ernst Curtius. Kindheit – Jugend – Frühe Prägung 19 Jacob Grimm, dessen Vorlesung über Rechtsaltertümer Lepsius belegt hatte, scheint ihn schnell in sein Herz geschlossen zu haben. Bald ging der Studiosus in der Grimmschen Familie ein und aus.11 Nach einiger Zeit sollte jedoch ein anderer Lehrer den Grimms den Rang ablaufen: Der Altertumswissenschaftler Carl Otfried Müller. Er behandelte die »alten Griechen« auf völlig neue Weise: Zur Einführung ließ Müller die Studenten Abbildungen griechischer Skulpturen und Bauwerke kopieren sowie Kupferstiche durchzeichnen. In seinen Vorlesungen über das klassische Altertum setzte er die Bildwerke und die Baukunst der Griechen in Bezug zu ihrer Literatur – insbesondere zu den Epen Homers und den Tragödien anderer Dichter. Dieses zukunftsweisende Modell sollte eine Gesamtschau griechischer Kultur bieten. Schließlich führte er seine Zuhörer in das noch junge Fach der Archäologie ein. Dafür verfaßte er ein richtungsweisendes »Handbuch der Archäologie der Kunst«12, Richards »Bibel der Altertumswissenschaften«. Sein Lehrer wies Lepsius auch auf das archäologische Institut in Rom hin, das »Instituto di corrispondenza archaeologica«, dem er selbst angehörte und das sein enger Freund, der Archäologe Eduard Gerhard – den Lepsius wenig später kennenlernen sollte – mitbegründet hatte. Welche zentrale Rolle das Instituto noch in seinem Leben spielen würde, konnte Lepsius zu diesem Zeitpunkt kaum erahnen. Die Studien wurden im Dezember 1830 jäh unterbrochen.13 In Göttingen brach die »Revolution« aus, die Trikolore flatterte über der Stadt. Der Pariser Aufstand vom Juli hatte das verschlafene Städtchen erreicht. Das revolutionäre Flämmchen wurde schnell erstickt. Militär rückte ein. Die Universität wurde geschlossen. Wenn Richard Lepsius auch einige gemäßigte Forderungen der Bürger und Studenten anfangs gebilligt hatte, blieb ihm die sich als Revolution gebärdende Revolte letztlich fremd. Hier zeigt sich eine eher konservativ ausgerichtete Grundhaltung, die später auch seine Einstellung zur 48er Revolution bestimmen sollte. Dank seiner guten persönlichen Verbindungen zu den Professoren, denen man Lehrverbot erteilt hatte, entging er der Relegation, die auch manchen Unbeteiligten traf und konnte sogar – anfangs privatim – seine Studien fortsetzen. 11 So schrieb Richard nach Hause: »[…] spaßhaft ist es anzusehen, wenn diese beiden Männer (Jacob u. Wilhelm Grimm, AdV) all ihre immense Gelehrsamkeit vergessen und mit ihrem kleinen Hermann spielen, daß sich endlich die Mutter darüber beschwerte, sie würden ihn noch ganz verziehen.« Zit. n. Ebers, Lepsius, S. 27. 12 C(K)arl Otfried Müller, Handbuch der Archäologie der Kunst. 1830. 1. Aufl. Breslau. 13 Am 8. Dezember 1830 kam es zu einer spontanen Studenten‑ und Bürgerrevolte, die einige Tage anhielt. Die König reagierte hart. Hannoversche Studenten und »Ausländer« wurden ausgewiesen und konnten nur mit besonderer Fürsprache in der Stadt verbleiben. S. a. Ebers, Lepsius. Beilage I. »Göttinger Aufstand«, S. 354−359. 20 Richard Lepsius – Kapitel 2 Nach fünfsemestrigem Studium in Göttingen wechselte Lepsius 1832 nach Berlin, um an der noch jungen Friedrich-Wilhelms-Universität das Studium mit seiner Dissertation über die »Eugubinischen Tafeln« abzuschließen.14 Die Anregung zu dieser Arbeit über die umbrische Sprache, die Lepsius bald als Epigraphiker bekannt machen sollte, war von seinem Lehrer Otfried Müller ausgegangen, einem der ersten Erforscher der etruskischen Kultur.15 1831 hatte Richard seinem Vater aus Göttingen mitgeteilt: »Jetzt habe ich einen recht hübschen Gegenstand zur Untersuchung, worauf mich auch Müller zuerst aufmerksam gemacht, und worüber ich vielleicht einmal meine Doctor-Dissertation schreiben will […]. Das sind die sieben Eugubinischen Tafeln, das einzige, aber ziemlich bedeutende Denkmal der umbrischen Sprache, was bis jetzt niemand versteht, aber äußerst wichtig für die altitalischen Götterdienste und Opfergebräuche wäre […].16 Friedrich-Wilhelms-Universität, Berlin [heutige Humboldt-Universität]: Diese Universität war eine der jüngsten (protestantischen) Hochschulen Deutschlands. Sie wurde 1810 auf Initiative Wilhelm von Humboldts im Geist neuhumanistischer Ideen gegründet. Sein Ziel war die Belebung und Erneuerung der geistigen Kräfte Preußens in Zeiten der politischen Schwäche, »da der Staat an geistigen Kräften ersetzen müsse, was er an physischen verloren«. (W. v. Humboldt). Viele Lehrstühle wurden früh mit hervorragenden Lehrern besetzt. Darunter waren Friedrich Schleiermacher, einer der einflußreichsten protestantischen Theologen des 19. Jahrhunderts, Carl Ritter, neben Alexander von Humboldt Begründer der modernen Geographie, Christian Gottfried Ehrenberg, Naturwissenschaftler, Entdecker der Infusorien. August Boeckh, Vater der modernen Altertumswissenschaften, Graecist, herausragender Epigraph, Herausgeber des Corpus Inscriptionum Graecarum oder Franz Bopp, Mitbegründer der vergleichenden Sprachwissenschaften, bahnbrechender Sanskritforscher. Mit hochgesteckten Erwartungen war der inzwischen sehr anspruchsvolle Studiosus in die preußische Hauptstadt gekommen. Anfangs jedoch enttäuschten ihn die Berliner Professoren. Kaum jemand fand Gnade vor diesem höchst kritischen Hörer aus Göttingen. Franz Bopp, der anerkannte Begründer der indogermanischen Sprachwissenschaften, wurde ebensowenig geschont wie August Boeckh, der Erneuerer der historischen Altertumswissenschaften.17 Bei Bopp bemängelte er den »todten, geschmacklosen Vortrag«, nicht ganz zu Unrecht, da Bopps rhetorische Fähigkeiten begrenzt waren. Boeckhs philologisches Seminar stufte er als eine »grausame Sal14 Eugubinische Tafeln: Sieben im Jahre 1444 in Gubbio entdeckte Kupfertafeln mit umbrischen (insgesamt etwa 1 000 umbrische Wörter) und lateinischen Inschriften (5 Tafeln mit umbrischen, 2 mit lateinischen Schriftzeichen). Dieses mit bedeutendste und älteste altitalische Sprachmonument enthält vorwiegend liturgische Texte. Etwa um 400 v. Chr. entstanden. 15 Müller hatte schon 1828 das zweibändige, bis heute grundlegende Werk »Die Etrusker«. Breslau. 1828 (2. Aufl. 1877) herausgegeben. 16 Ebers, Lepsius, S. 55. 17 Möglicherweise war Lepsius’ Haltung durch seine früheren Lehrer Hermann in Leipzig und Dissen in Göttingen – Boeckhs schärfste Konkurrenten – ungünstig beeinflußt. Kindheit – Jugend – Frühe Prägung 21 baderei« ein. Dessen Vorlesungen schienen ihm gegenüber denen Otfried Müllers, einem Schüler Boeckhs, deutlich abzufallen. Die Ausführungen Schleiermachers, des bedeutendsten protestantisch-preußischen Theologen seiner Zeit, über das »Leben Jesu« stießen bei ihm ebenfalls auf Ablehnung, sah er in ihnen doch einen »Widerspruch durch und durch«18, wobei ihn hauptsächlich das Fehlen einer positiven Weltanschauung irritiert haben dürfte. Nach und nach begann er, sein hartes Urteil zu revidieren. Als er Bopp privat näher kennengelernt hatte, erkannte er schnell dessen außerordentliche Qualitäten: »Aber zu Hause ist Bopp ein freundlicher Mann, dessen große und tiefe Gelehrsamkeit ich noch mehr zu benutzen gedenke.«19 Dagegen blieb das Verhältnis zu Boeckh sehr distanziert (was sich in den kommenden Jahren gründlich ändern sollte). Obwohl Lepsius eine besondere Empfehlung Müllers überbracht hatte, ist von einer Unterstützung Boeckhs bei der »etruskischen Dissertation« nichts bekannt. Möglicherweise wurde seine Mithilfe auch gar nicht erbeten. Der Abschluß dieser Arbeit rückte langsam näher. Es traf sich glücklich, daß ihn zu diesem Zeitpunkt der Archäologe Eduard Gerhard20 in Berlin besuchte. Gerhard – durch Otfried Müller auf Lepsius und die Dissertation über die Eugubinischen Tafeln hingewiesen – hatte bereits einige Jahre zuvor erste etruskische Gräberfunde in Tarquinia erforscht. Er interessierte sich außerordentlich für Lepsius’ Studien und versprach, neue und bessere Kopien der Originaltafeln aus Gubbio zu beschaffen. Über die Begegnung der beiden, die ungeahnte Folgen für Lepsius haben sollte, schreibt Ebers: »Was Lepsius Gerhard von seiner Dissertation zeigte, gefiel demselben ausnehmend, und nachdem er sie endlich vollendet und der Facultät eingereicht hatte, ward sie auch von dieser mit solchem Beifall […] aufgenommen, daß sie dem Candidaten die erste Censur eintrug.«21 Am 22. April 1833 wurde Richard Lepsius an der Berliner philologischen Fakultät promoviert.22 Trotz magerer Leistungen in den Nebenfächern23 Ebers, Lepsius, S. 53 (alle Zitate dieses Abschnitts). Ebers, Lepsius, S. 51. 20 Eduard Gerhard: S. Kurzbiographie im Anhang. 21 Ebers, Lepsius, S. 59. 22 »De tabulis Eugubinis«. Diss. philologica, Berolini 1833. Ebers. I. Die mit röm. Zahlen versehenen Hinweise auf Ebers beziehen sich auf den von Ebers dem »Lebensbild« angefügten »Index der Schriften von Richard Lepsius«, S. 376 ff. 23 So berichtet Max Lenz, Geschichte d. königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd. 2, 2. H., S. 141 f.: »Tölken fand ihn in der alten Geographie und Geschichte sehr wenig bewandert, Wilken wußte auch die allgemeinen Geschichtskenntnisse nicht zu loben, und Steffens war von den philosophischen Kenntnissen wenig erbaut. Nur mit Rücksicht auf die speziellen Kenntnisse im Hauptfach und die gelehrte und verständige Dissertation ward das Examen als bestanden erklärt.« 18 19 22 Richard Lepsius – Kapitel 2 bestand er das Examen immerhin »cum laude«, wozu die hochgelobte Dissertation wesentlich beigetragen hatte. Boeckh als Vorsitzender kommentierte die Entscheidung der Kommission folgendermaßen: »Mit Rücksicht auf die speciellen Kenntnisse des Candidaten in seinem Hauptfache und die gelehrte und verständige Dissertation, die ihn zur genauen Erforschung eines besonders speciellen und von anderen wissenschaftlichen Objekten sehr isolierten Gegenstandes geleitet hat […], beschloß die Fakultät einstimmig, dem Lepsius den Doktorgrad zuzuerkennen.«24 Naville bemerkte zu dieser Arbeit: »Es war hauptsächlich eine Entzifferung und eine treffliche Vorbereitung zu den Arbeiten, die bald das Hauptziel seiner wissenschaftlichen Thätigkeit werden sollten.«25 Man feierte das Ereignis mit dem Onkel Heinrich Gläser, der den »Doctorschmaus« ausrichtete. Jetzt mußte über die weitere Zukunft entschieden werden. Da waren Vater und Sohn unterschiedlicher Meinung. Carl Peter Lepsius hätte Richard gern im Schuldienst gesehen. Dabei dachte er nicht zuletzt an seine strapazierten Finanzen. Denn Gustav, sein Jüngster, ging noch zur Schule, Reinhold suchte weiterhin eine feste Stelle in einem größeren Handelshaus und Edmund, der Älteste, stand erst am Anfang seiner Juristenlaufbahn. Er erhielt, da er das 30. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, eine nur geringe Vergütung.26 Zum Pädagogen fühlte sich Richard jedoch nicht berufen. Vorerst wollte er – möglichst in Paris – sein Studium der vergleichenden Sprachwissenschaften und der Altertumskunde fortsetzen, obwohl er bereits ein gründliches Studium bei herausragenden Lehrern – meist Pionieren ihres Fachs – absolviert hatte. Sie alle – insbesondere Otfried Müller – hatten ihn geschult und sein Denken, seine Arbeitsweise, seine Systematik entscheidend geprägt. Dessenungeachtet fühlte er sich auf eine wissenschaftliche Laufbahn nur unvollkommen vorbereitet, was auch sein teilweise schwaches Examen bestätigte. Seinen Studien, seiner Bildung, seinem Französisch (immer noch die lingua franca Europas) fehlte der letzte Schliff. Insgeheim erhoffte Lepsius nichts Geringeres als den Wechsel in eine neue Existenz. Er rechnete darauf, daß in Paris »die Erfahrung ganz neuer Verhältnisse und Lebensansichten sowie die Verbindung mit vielen 24 Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin: 1832, 1833 Phil. Fak. Littr P No 4 Vol. IV, Promotion Richard Lepsius. 25 ADB Bd. 51 (1906) S. 659 ff. v. Ed. Naville. / Lepsius hat 1841 in seinen »Inscriptiones umbricae et oscae« noch einmal die Eugubinischen Tafeln in »urkundlich treuen Abbildungen der Inschriften in der Größe des Originals« (Meyers Konv.-Lex. 1888. Eugubin. Tafeln, S. 5.903.) wiedergegeben und damit eine weitere wichtige editionsphilologische Aufgabe gemeistert. 26 In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mußten Aspiranten für die Beamtenlaufbahn oft über Jahre als schlecht oder gar nicht besoldete Hilfkräfte im Staatsdienst tätig sein. Nach Erreichen des 30. Lebensjahres erhielten sie oft die erste feste Anstellung, hatten jedoch nicht selten einen Teil ihres Gehaltes für die Pension ihres Vorgängers abzutreten. Kindheit – Jugend – Frühe Prägung 23 höchst interessanten Männern […] auf sein ganzes folgendes Leben von entschiedendstem Einfluß sein müsse«.27 Was er gewünscht, halb voraus geahnt hatte, sollte bald in Erfüllung gehen. Gerhard hatte Richards Pariser Pläne von Anfang an lebhaft unterstützt, vermutlich auch initiiert. Denn die Pariser Hochschulen waren international höchst angesehen, vor allem das Collège de France, das auf eine lange Tradition zurückblicken konnte und in vielen Fächern die Sorbonne übertraf. Hier wurden die Sprach‑ und Altertumswissenschaften von berühmten Professoren vertreten. Als führender, international geschätzter Linguist unterrichtete der Orientalist Silvestre de Sacy.28 Zu Sacys Schülern zählten so bedeutende Männer wie Champollion und der Begründer der Sanskritforschung Franz Bopp.29 1816 hatte der junge Carl Josias Bunsen gemeinsam mit Alexander von Humboldt bei Sacy Persisch studiert.30 Seitdem waren sie ständig in Verbindung geblieben. Der angesehene Altertumswissenschaftler Letronne31, eine Koryphäe seines Fachs, vertrat am Collège die Archäologie und die alte Geschichte. Er hielt sogar eine spezielle Vorlesung über die Historie Altägyptens, wobei er völlig neue Wege beschritt und die griechischen wie lateinischen Inschriften der ägyptischen Spätzeit miteinbezog. So zögerte Gerhard nicht, Carl Peter Lepsius auf die herausragenden Pariser Lehrer hinzuweisen. Auch stellte er eine Unterstützung durch die Pariser Sektion des Instituto archaeologico32 in Aussicht. Schließlich ließ sich Richards Vater überzeugen. Zum einen, weil er das Studium der alten Geschichte und alter Sprachen hoch einschätzte, zum anderen, weil er seinem Sohn Richard eine wissenschaftliche Laufbahn eröffnen wollte, die ihm selbst versagt geblieben war. Hatte Carl Peter doch wenige Monate 27 Undatierter Brief Richards an C. P. Lepsius, ca. April 1833. Deutsches Archäologisches Institut. Archiv Berlin. Richard Lepsius. Konvolut Richard II vom Juni 1833 bis Dez. 1835. Richard Lepsius an Carl Peter Lepsius. Künftig: DAI Vol. II. Richard an C. Peter Lepsius. 28 Silvestre de Sacy (1758−1838). Verfasser zahlreicher Lehrbücher über die arabische Sprache. Seit 1785 Mitglied der Acad. des Inscriptions et Belles-Lettres. Mitbegründer der École de langues orientales (1795) und der Société asiatique (1822) zu Paris. Richtete Lehrstühle für Sanskrit, Hindustani, Chinesisch und Mandschou am Collège de France ein. Leistete entscheidende Vorarbeiten zur Entschlüsselung der demotischen Schrift auf dem Stein von Rosette (dazu Ebers, Lepsius, S. 91). Er hatte u. a. drei Königsnamen entziffert. 29 Franz Bopp hatte 1812 in Paris im Austausch mit Sacy und A. W. Schlegel seine entscheidende Arbeit über das Sanskrit begonnen, mit der er die indogermanische Sprachwissenschaft begründete. 30 Bunsen (siehe Kurzbiographie im Anhang) plante zu diesem Zeitpunkt eine – nie realisierte – Forschungsreise durch Persien und Indien, Humboldt bereitete sich auf eine große Asienexpedition vor, die in dieser Form ebenfalls nicht zustande kam. 31 Jean Antoine Letronne (1787−1848). Seit 1831 Prof. für Geschichte am Collège de France, später auch für Archäologie. Verfaßte bereits 1816 eine wichtige Abhandlung »Über das Maßsystem der alten Ägypter«. 32 Siehe FN 34. 24 Richard Lepsius – Kapitel 2 nach dieser Entscheidung an Richard geschrieben: »Glücklicher Mensch! der sich den Studien seiner Neigung widmen kann. Ich war zeitlebens Sklav der Verhältniße, in denen ich ohne Neigung lebte. Nicht als ob ich auch meinem Beruf Intereße abgewonnen hätte. Im Gegentheil, ich habe ihn immer als Herzensangelegenheit betrieben. Aber nur im Felde der Forschung hätte ich Befriedigung gefunden, und sie hätte mich weit geführt, auch bei sehr mäßigen Geistesanlagen. Eigenes inneres Streben überwindet alle Schwierigkeiten.«33 Gerhards Bemühungen, Richard Lepsius nach Paris zu holen, waren nicht ganz uneigennützig. Er hoffte, ihn enger an das Instituto archaeologico34 binden zu können. Dessen römische Zentrale mit ihren Dépendancen in Paris, London und Bonn bildete den Dreh‑ und Angelpunkt der aktuellen europäischen Forschung. Dem Instituto gehörten die meisten führenden Archäologen Europas an. In den laufenden Publikationen wurden die wichtigsten neuen Funde veröffentlicht. Gerhard hatte Lepsius nicht nur gebeten, Beiträge einzureichen, sondern ihm jede nur mögliche Hilfe der französischen Abteilung zugesichert. Im Stillen rechnete er darauf, seinen Schützling, dessen hohe linguistische Begabung er früh erkannt hatte, für die Ägyptologie, insbesondere für die Hieroglyphik, gewinnen zu können. Obwohl bei ihrer ersten Begegnung in Berlin ein entsprechender Vorschlag Gerhards auf wenig Gegenliebe gestoßen war,35 blieb Lepsius der heimliche Wunschkandidat. Ähnlich dachte auch der Generalsekretär des Instituto, Bunsen,36 der die Ägyptologie den klassischen Disziplinen der Archäologie gleichstellen wollte. Zweifellos war das Thema hoch aktuell und Paris der geeignete Ort, die mit Champollions Tod verwaisten Studien der Hieroglyphik fortzuführen. 33 DAI Vol. III. C. Peter an Richard Lepsius. Br. vom 24. 1. 1834. Siehe auch »Richard Lepsius und Carl Peter Lepsius – zwei große Söhne Naumburgs«. M. Rainer Lepsius in Saale-UnstrutJahrbuch 4. Jahrgang 1999, S. 69−80. 34 Das Instituto trug offiziell die Bezeichnung Instituto di corrispondenza archaeologica. Der Begriff Instituto hätte korrekterweise »Istituto« lauten müssen, ist jedoch von Anfang an in dieser fehlerhaften Form verwendet worden. Um es vom späteren Deutschen Archäologischen Institut (DAI), seiner Nachfolgerin, zu unterscheiden, werden im Folgenden die Begriffe »Instituto« oder »Instituto archaeologico« verwandt. Das 1829 gegründete Instituto hatte seine Zentrale in Rom. Ihr Generalsekretär war der preußische Gesandte beim Heiligen Stuhl, Carl Josias von Bunsen. Als dirigierende Sekretäre fungierten Eduard Gerhard in Rom, später in Berlin, und Theodor Panofka in Paris. Die deutsche Sektion leitete der Altertumswissenschaftler Friedrich G. Welcker in Bonn, die englische in London der Diplomat Julius Michael Milligen. Zur Geschichte des Instituto siehe die Ausführungen auf S. 37. 35 Vgl. Ebers, Lepsius, S. 77. 36 Carl Josias v. Bunsen: siehe Kurzbiographie im Anhang.