von der schönheit der frühen fotografie

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von der schönheit der frühen fotografie
D I E M AG I E D E R A LT E N M E I S T E R : VO N D E R S C H Ö N H E I T
D E R F R Ü H E N F OTO G R A F I E
WILFRIED WIEGAND
Die Gegenwart ist farbig, die klassische Moderne schwarzweiß, aber die Fotografie des
19. Jahrhunderts ist etwas Drittes, sie ist »getont«. Ein bräunlicher Goldton liegt auf den
Bildern, er gibt ihnen die Wärme des Lebens und erinnert an den Ernst und Anspruch
alter Kunst. Dieser Bildton nobilitiert jeden Gegenstand. Was immer wir auf dem Foto
sehen, der Ton signalisiert unmissverständlich, dass wir nicht krude Realität abgebildet
sehen, sondern deren Übersetzung in die Sprache der Kunst.
Aber man findet auch immer wieder Aufnahmen des 19. Jahrhunderts, die schwarzweiß
abgezogen sind, das heißt, die ganze alte Fotografie wäre offenbar ohne farbige Tonung
möglich gewesen, statt vorwiegend braun hätte die Mehrzahl der Bilder ebenso schwarzweiß sein können. Das Braun ist also gewollt, ebenso gewollt wie das Schwarzweiß der
Moderne. (»Modern« meint im Folgenden immer die Modernität »vor« der Digitalfotografie.) Trotz aller fototechnischer Argumente, die für eine braune Tonung gesprochen
haben mögen, war offenkundig eine ästhetische Konvention mit im Spiel, ein Geschmack.
Dieser sorgte dafür, dass Braun jahrzehntelang der vorherrschende Bildton war. Der
Braunton ließ das Foto teilhaben an der Sphäre des Musealen. Heutige Betrachter werden
sich bei diesem Ton vielleicht an die Skizzen von Carl Blechen, Jean-Baptiste Camille
Corot oder Adolph von Menzel erinnert fühlen, die den Zeitgenossen freilich verborgen
blieben, sodass sie den bräunlichen Fototon mit Sepia und Bister verglichen, den gebräuchlichen rötlichbraunen Zeichentinten. Bei einigen Meisterfotografen wie David
Octavius Hill oder Julia Margaret Cameron schließlich war nicht zu übersehen, wie das
dunkle Kakaobraun ihrer Porträtaufnahmen auf das Helldunkel Rembrandts anspielte.
Der Bildton kennt erstaunlich viele Differenzierungen, sie ergeben sich schon aus der
technischen Qualität des Abzugs. Hinzu kommt der Variantenreichtum handwerklicher
Arbeitsweisen. Die Fotochemikalien wurden nicht von der Fabrik geliefert, und eine wuchernde Fachliteratur berichtete unentwegt von Fortschritten der Chemie und abermals
verbesserten Rezepturen, die noch stärkere Leuchtkraft, noch längere Haltbarkeit versprachen. In einem Klima permanenten Erfindens, Entdeckens und Ausprobierens
könnte manchmal die Experimentierfreude eines Laboranten ausgereicht haben, um eine
nie gesehene Tonvariante hervorzuzaubern. So kennt zwischen 1855 und 1875, der großen Zeit von Glasnegativ und Albuminabzug, nicht nur das vorherrschende Braun viele
Abstufungen zwischen hellem Goldgelb und schwärzlicher Schokoladenfarbe, sondern
es entstehen daneben ebenfalls konkurrierende Bildtöne, deren Grundfarbe häufig Blau,
gar nicht selten aber auch Grau, Violett oder Rot und gelegentlich sogar Grün sein kann.
Und jeder dieser Töne hat wiederum auf seiner Skala zahlreiche Zwischentöne, ganz abgesehen davon, dass die Farben anders leuchten, je nachdem wie kräftig der Abzug ist.
Zudem ist kein Fotograf verpflichtet, sein Leben lang einem einzigen Ton die Treue zu
halten, sodass allein schon dieser Variantenreichtum die alte Fotografie zu einem unvergleichlichen Medium macht. Nicht einmal die Altmeistergrafik, deren Kenner doch
so stolz sind auf den Reichtum an Druckvarianten, kann einem Vergleich mit der alten
Fotografie standhalten. Sonnenlicht und Fotochemie sind naturgemäß launischer als die
gehorsame Mechanik des Grafikers, sodass sich in der alten Fotografie zwei Abzüge vom
selben Negativ viel prinzipieller voneinander unterscheiden als zwei Blätter aus der
Presse des Grafikers.
Was für die Epoche des Albuminabzugs gilt, trifft umso mehr noch auf die Gründerjahre
davor zu. In diesen ersten zehn bis fünfzehn Jahren Fotografiegeschichte, also zwischen
1840 und 1850 beziehungsweise 1855, gibt es noch keinen Albuminabzug, und das Leitbild ist die in der Regel ebenfalls braun getonte Kalotypie mit ihrer reizvoll rauen Oberfläche – reizvoll, weil man die Abzüge am liebsten berühren möchte, so deutlich erkennt
man das zarte Relief der Papierfasern und der Salze, die sich darin niedergelassen haben.
Denn die sensiblen Substanzen, die das fotografische Bild erzeugen, liegen bei der Kalotypie anders als beim Albuminabzug oder der modernen Silbergelatine nicht in einer
Schicht »auf« dem Papier, sondern »im« Papier selbst. Beim Albuminabzug wird das Papier von der Eiweißschicht des Albumins verdeckt, bei der Kalotypie bleibt das Papier
nackt. Die Abzüge der Kalotypie werden im Sonnenlicht vom Papiernegativ kopiert.
Wurde die Aufnahme mit einem Glasnegativ gemacht, wie es seit den frühen 1850erJahren mehr und mehr üblich ist, spricht man meist von einem Salzpapierabzug, wenngleich der Grenzverlauf zwischen Kalotypie und Salzpapier umstritten ist und einige
namhafte Fotohistoriker auch die Salzpapiere als Kalotypien bezeichnen. Aber gerade
weil die Definition des Salzpapiers so unscharf ist, hat der Begriff Karriere gemacht. Denn
manche der neuen Fototechniken, die zwischen 1850 und 1855 so zahlreich entstehen, lassen sich unter dem vagen Begriff Salzpapier unterbringen. In jenen fünf Jahren konkurrieren so viele Neuerungen miteinander wie vielleicht niemals sonst in der Geschichte
der Fotografie. Beim Negativ wetteifern nicht nur Papier und Glas miteinander, für beide
gibt es jetzt auch jeweils mehrere Möglichkeiten der Beschichtung, und außerdem macht
das neuartige Wachspapiernegativ sowohl dem traditionellen Papiernegativ als auch
dem fortschrittlichen Glasnegativ Konkurrenz. Nicht weniger experimentierfreudig geht
man bei den Abzügen vor. Die Kombinationsmöglichkeiten sind so zahlreich, dass es
häufig selbst Kennern schwerfällt zu erkennen, ob ein Foto aus jenen Jahren mit einem
Negativ aus Glas oder aus Papier aufgenommen wurde. Und jener leichte Glanz auf der
Oberfläche – bedeutet er, dass ein Salzpapierabzug »gefirnisst« oder dass er »albuminisiert« wurde, oder sollte es sich gar nicht um Salzpapier handeln, sondern vielleicht um
einen etwas schwächlichen Albuminabzug? Fünf Jahre lang herrscht ein fotoästhetisches
Machtvakuum. Das alte Leitbild der Kalotypie gilt nicht mehr, aber das neue Leitbild
Albuminabzug ist noch nicht in Kraft.
Diese Jahre sind die große Zeit des Verlegers Louis Désiré Blanquart-Évrard in Lille, der
Bücher und Mappenwerke mit Originalabzügen von Fotos illustriert – die Epoche der gedruckten Reproduktionen ist bekanntlich noch weit entfernt – und dessen Manufaktur
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nach einem neuen chemischen Verfahren arbeitet. Blanquart-Évrard stellt dadurch Abzüge her, die außergewöhnlich haltbar sind, auch wenn ihr schwärzlicher Ton manchmal
enttäuschend nüchtern wirkt. Bis man eines Tages seine Abzüge mit heller Grauskala entdeckt und deren wie mit dem Aquarellpinsel ganz zart hingetuschte Töne bewundern
lernt. Das Album Le Nil von 1854, das die Ägyptenreise des jungen amerikanischen Fotografen John Beasley Greene dokumentiert, ist das Musterbeispiel dieser Subtilität. Greene,
in Ägypten durch das Warten auf Genehmigungen zur Ruhe verurteilt, entdeckt in der
Leere der gleichmütigen Landschaft das Spiegelbild seiner Verlassenheit und ist wohl
überhaupt der Erste, der die Leere als Sujet für die Kunst begreift. Seit Napoléon
Bonapartes Kampagne sind die Monumente Altägyptens beliebte Motive bei Stechern
und Lithografen, aber Greenes Kamera vermeidet die Touristenperspektive und kommt
den Bauwerken nicht zu nahe. Sie werden zu flüchtigen Erscheinungen, die am gegenüberliegenden Ufer herumzugeistern scheinen wie Phantome. Greene ist zweiundzwanzig Jahre alt, als er diese Aufnahmen macht. Nur zwei Jahre später stirbt er. Schon
in den 1970er-Jahren, als auf dem gerade entstehenden fotografischen Kunstmarkt die
Aufnahmen eines Greene-Albums zirkulieren, werden sie als Sensation empfunden und
bei Sammlern schnell zu begehrten Kostbarkeiten. Der Amerikaner, der in Paris lebte, galt
damals noch als Engländer, als einer unter vielen frühen englischen Orientfotografen.
Erst 1981 werden seine Lebensdaten und seine Herkunft bekannt, und der Amerikaner,
der in Paris lebt und in Ägypten reist, wird mit dieser Biografie zu einer Ausnahmeerscheinung unter den großen Fotografen seiner Zeit.1 Sein Tod im Alter von vierundzwanzig Jahren macht ihn endgültig zu einer Legende. Wer jetzt voreilig vermutet, die
künstlerische Wertschätzung und vor allem der Marktwert Greenes seien durch die Legendenbildung nach oben geschnellt, irrt sich. Greenes Nachruhm stand schon fest und
ließ sich nicht steigern. Aber seine Bilder wurden nun genauer und intensiver verstanden,
seit sie mit der außergewöhnlichen und tragisch endenden Biografie verbunden waren.
Seine Kunst war reicher geworden, sie hatte eine autobiografische Qualität dazugewonnen. Seine Aufnahmen wurden als Dokumente einer seelischen Befindlichkeit lesbar,
darin vergleichbar mit den faszinierendsten Werken traditioneller Kunst. Greene ist ein
Beispiel dafür, was frühe Fotografien zu erzählen haben, wenn es uns gelingt, sie zum
Sprechen zu bringen.
Die vorderasiatische und ägyptische Archäologie, die damals so enthusiastisch betrieben
wurde und an deren Forschungen die frühen Reisefotografen teilhaben wollten, war
mehr als bloß Altertumskunde. Sie hatte eine theologische Dimension. Ihr Motor war die
Autorität der Bibel. In Palästina und Ägypten befand man sich auf geweihtem Boden,
weil dort die biblischen Schauplätze lagen. Die Reisenden suchten nicht nur archäologische Wissensvermehrung, sondern auch spirituelle Erfahrungen. Von einem friedlichen
»neuen Kreuzzug« beispielsweise spricht Benjamin Disraeli 1847 bereits im Titel seines
Romans Tancred oder der Neue Kreuzzug, dessen Held, der junge Lord Montacute, ins Land
der Bibel fährt, um in dieser arabisch-jüdisch-christlichen Welt den Sinn des Lebens zu
suchen. Als Porträt einer Mentalität ist die idealisierte Figur des jungen Lords die Quintessenz vieler junger Künstler, die, wie unsere Fotografen, damals in die Länder der Bibel
reisten. Die Orientfahrt – sie mag noch so sehr touristische oder wissenschaftliche Bedürfnisse befriedigen – ist zugleich eine Reise ins Innere. So wie Lord Byron in Childe
Harold’s Pilgrimage von Rom als der »city of the soul« 2 gesprochen hat, gab es auch einen
Orient der Seele, dem die Reisenden am Schauplatz selbst begegnen wollten, so auch die
Fotografen – und ebenso die Betrachter ihrer Bilder daheim.
Das moderne Foto erzählt von seinem Gegenstand, und die Erzählweise ist oft auf der
Höhe der aktuellsten Kunst, eilt ihr nicht selten sogar voraus. Das alte Foto aber, was es
auch darstellen mag, hat mehr zu berichten. Es erzählt von der Schwerarbeit des Lichts,
das auf dem Negativ mühsam seine Spur hinterlassen hat, man sieht, wie das Licht das
Papier berührt hat. Und das alte Foto erzählt von den Tücken der unberechenbaren Fotochemie und von allerlei kleinen, oft winzigen Pannen des Laborbetriebs, sodass der fertige Abzug manches Geheimnis der Bildentstehung verrät. Anders als in der modernen
Fotografie, wo sich der Abzug als Medium unsichtbar macht und nur noch das Bild sein
will, ist der alte Abzug zugleich das Protokoll der Entstehung des Bildes.
Die alte Fotografie kennt auch Vergrößerungen, aber ohne Elektrizität waren Vergrößerungsgeräte kaum mehr als Kuriositäten, weshalb Sonnenlichtvergrößerer nur bei marktschreierischen Porträtstudios in Gebrauch kamen. Ansonsten wurde, wenn man eine Vergrößerung wollte, die betreffende Aufnahme mit einer größeren Kamera wiederholt, und
manchmal begnügte man sich sogar damit, statt der Realität einfach das kleinere Foto mit
der Großkamera noch einmal abzufotografieren. Aber das geschah selten, denn die Ergebnisse blieben meist unbefriedigend, Blässe und Unschärfe verrieten die Reproduktion.
Allerdings könnte ein bravouröser Techniker wie Gustave Le Gray dieses Verfahren benutzt haben, um Momentaufnahmen der Meereswogen, die nur im Kleinformat möglich
waren, auf ein größeres Format zu bringen und sie dann mit anderen, länger belichteten
Aufnahmen beispielsweise des Himmels zusammenzumontieren. Ob er tatsächlich so
verfuhr, ist bis heute ungeklärt, was die Faszination seiner Marinebilder aber umso größer macht. Manchmal herrscht am Himmel ein anderes Licht als auf den Wogen. Dann hat
Le Gray Aufnahmen mit unterschiedlichen Tageszeiten und Witterungsverhältnissen –
möglicherweise sogar mit verschiedenen Schauplätzen – zu einem Bild zusammengefügt;
mit einem Wort: Es sind Fotomontagen, vermutlich die raffiniertesten, die jemals angefertigt wurden. Die romantischen Kulissen vieler seiner Marinen mit Segelschiffen, sturmbewegten Wogen und Mondschein als Requisiten verbergen einen Man Ray des 19. Jahrhunderts, der im Verborgenen seine subversive Modernität praktiziert.
Das Foto des 19. Jahrhunderts, selbst in sehr großem Format, ist normalerweise ein Kontaktabzug. Es reproduziert, mit Vertauschung von Hell und Dunkel, von Oben und Unten, von Links und Rechts, das Negativ im Format eins zu eins. Kein Detail geht dabei
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verloren. Jede Linie und jeder Punkt bleiben so scharf und klar, wie sie das Negativ registriert hat. Der Kontaktabzug gibt die Vorlage so ungeschmälert wieder wie eine Fotokopie. Auch in der modernen Fotografie gibt es Kontaktabzüge, aber meistens sind sie
nur Arbeitsnotizen des Fotografen. Selten konzipiert er sein Bild von vornherein im Format des Negativs, weil die Negative der meisten modernen Kameras für eine bildmäßige
Wirkung viel zu klein sind. Noch seltener geschieht es, dass ein moderner Fotograf die
extreme Genauigkeit des Kontaktabzugs als Chance begreift, als eine verblüffende, rätselhafte ästhetische Qualität. Die Ausnahme ist Paul Outerbridge, dessen Abzüge auf Platinpapier meist etwa 10 mal 12 cm messen. Das ist verglichen mit einem Kleinbildnegativ
schon recht groß, für das Auge aber bleibt es ein kleines Bild. Durch die unfassbar nuancierte Tonabstufung dieser Platinabzüge sind sonst undenkbare Effekte möglich, besonders brillant wirken Sujets mit Textilien, deren Gewebestruktur man ebenso erkennen
kann wie den zarten Seidenglanz ihrer Oberflächen. Man meint eine Magie im Spiel
angesichts so augentäuschender Effekte, obwohl es sich um nichts anderes handelt als
perfekt gemeisterte Technik im Bündnis mit einem untrüglichen Sinn für das adäquate
Sujet. Outerbridge kennt die Stärken und Schwächen der Kamera und des Platinpapiers
so gut, dass er die Kunst beherrscht, Sujets zu finden, bei denen sich nur noch die Stärken zeigen und die Schwächen verschwinden. Die Kleinheit macht seine Kontaktabzüge
zu Objekten, die wie Preziosen in einer Wunderkammer ihre mikroskopische Schönheit
behüten. In der modernen Fotografie ist Outerbridge eine Ausnahme. Niemand hat ähnliche Effekte in kleinen Formaten erzielt, und nur auf größeren Formaten gibt es bei Perfektionisten wie Albert Renger-Patzsch oder Ansel Adams eine vergleichbar magische
Präzision.
Was im 20. Jahrhundert die Ausnahme bleibt, ist im 19. Jahrhundert die Regel. Denn der
Albuminabzug vom Glasnegativ, technischer Standard seit Mitte der 1850er-Jahre, bringt
etwas zustande, was sich mit der technisch umständlichen Daguerreotypie aus der Fotografie schon verabschiedet hatte: die Präzision der Linien. Daguerreotypien waren scharf
durchgezeichnet. Dass man Strohhalme, die an den Fenstern des Louvre klebten, auf einer kleinen Daguerreotypie mit der Lupe erkennen konnte, war der Stolz des Erfinders
Louis Jacques Mandé Daguerre. Daran gemessen waren die frühen Papiertechniken Kalotypie und Salzpapier von skandalöser Unschärfe. Der künstlerische Sinn der Zeit war
aber so hoch entwickelt, dass darin keineswegs nur ein Mangel gesehen wurde, den man
durch verbesserte Technik schnell aus der Welt schaffen müsse. Vielmehr entbrannte eine
regelrechte ästhetische Debatte um Schärfe und Unschärfe der Fotografie, und nicht theoretische Argumente, sondern der Erfolg von Kollodium und Albumin machten ihr ein
Ende. Das siegreiche neue Verfahren brachte neben technischen Verbesserungen auch
ästhetischen Zugewinn. Die Präzision, die man auf kleinen Formaten an der Daguerreotypie so bewundert hatte, eroberte nun auch die größten Abzüge. Das feine Netzwerk der
Linien entfaltet sich in einem Bildraum ohne perspektivische Verzerrung. Die Mechanik
selbst ganz großer Kameras war so geschmeidig, dass sich die Platte in jede Richtung
bewegen ließ und alle Verzerrungen korrigiert werden konnten. Niemand, der mit dem
Kopf im Nacken zu einer Fassade aufblickt, sieht sie so korrekt, wie die Fotos von damals
sie zeigen. Die Tiefenschärfe sorgte dafür, dass die vielen kleinen Wunden und Narben,
die ein Bauwerk lebendig machen, komplett und alle mit der gleichen bestechenden
Schärfe katalogisiert wurden. Kein menschliches Auge kann so sehen, kein moderner
Fotograf mehr so fotografieren. Und selbst wenn er so zu fotografieren versteht, muss er
sein Bild vergrößern, sodass es sich niemals mit dem Hyperrealismus von kleinformatigen Kontaktabzügen vergleichen kann. Zwei neue Zeitgeistphänomene erklären den
Erfolg der neuen Architekturfotografie und die Nachfrage nach großen Formaten: das
Interesse der Architekten an historischen Stilen und die patriotische Begeisterung für die
entstehende Denkmalpflege. Bis etwa 1865 ist die Architekturfotografie eine Königin
unter den Genres.
Der Erste, der an prominenter Stelle von den Alten Meistern der Fotografie gesprochen
hat, war der amerikanische Fotograf Alvin Langdon Coburn. Er organisierte 1915 eine
Ausstellung von viktorianischen Klassikern wie David Octavius Hill und Julia Margaret
Cameron und gab ihr den Titel The Old Masters of Photography. Das war eine Huldigung
an die Meister der Vergangenheit, aber auch eine Provokation. Denn Coburn wollte damit
sagen, dass die Piktorialisten des Kreises um Alfred Stieglitz sich vergebens um eine neue
Kunstfotografie bemühten, weil es die schon Jahrzehnte vorher und zwar auf musealem
Niveau gegeben hatte. Coburn, der selbst dem Stieglitz-Kreis nahegestanden hatte, verstand sich neuerdings als radikal moderner Künstler. Der Ausstellungstitel sollte seinen
Bruch mit dem Piktorialismus öffentlich machen. Mit Coburns Ausstellung wird die Fotogeschichte endgültig von einer Technikgeschichte zu einer Geschichte der Kunst. Die Vergangenheit wurde nicht mehr nach Fortschritten abgesucht, sondern nach Stilen und
Meistern. Einer war schon um 1900 ins Blickfeld von Sammlern, Fotografen und sogar
Museumsleuten geraten: David Octavius Hill. Der schottische Kalotypist wurde wegen
seines rembrandtartigen »Clair-obscur« als Ahnherr verstanden, als genialer Vorläufer
piktorialistischer Unschärfe. Aber man machte ihn mehr zu einem stilistischen Außenseiter, als er es jemals war, sodass sein Ruhm zugleich einem historischen Verstehen der
Vergangenheit im Wege stand. Erst Coburns kühner Vergleich mit den Alten Meistern öffnet den Blick für die Schönheit der ganzen fotografischen Frühzeit. Nicht nur Hill ist
genial, das ganze 19. Jahrhundert ist eine glorreiche Epoche. Beinahe jedes Foto der Frühzeit ist ein ästhetisches Wunderwerk, das wir wie die Bilder der Alten Meister im Museum
immer wieder neu entdecken und bestaunen, deuten und bewundern müssen.
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Bruno Jammes, »John B. Greene. An
American Calotypist«, in: History of
Photography, Vol. 5, No. 4, Oktober
1981, S. 305–324.
Lord Byron, Childe Harold’s Pilgrimage,
Canto 4, LXXVIII.