Manuskript zum

Transcription

Manuskript zum
Der Heimkehrer und der Zurückgebliebene (Lk 15, 11-31). Das „kleine Wunder
des Anerkennens“ und das große Fest des Verzeihens.
Prof. Dr. Jean Greisch
In der neueren Tierkunde spielt der Unterschied zwischen „Nesthockern“ und
„Nestflüchtern“ eine wichtige Rolle. Viele Familienväter und Familienmütter können
aufgrund ihrer eigenen, manchmal sehr leidvollen Erfahrung ein Lied davon singen,
dass diese Unterscheidung nicht nur in der Tierwelt, sondern auch in der Menschenwelt
anzutreffen ist. Der eine ihrer Sprösslinge verlässt das Familiennest, noch ehe er so
recht flügge geworden ist, während der oder die andere sich zeitlebens nicht aus dem
häuslichen Schutzraum heraustraut.
Heute Abend wollen wir uns ein biblisches Paradebeispiel für diese
unterschiedlichen Verhaltensweisen etwas näher ansehen. Es ist das im 15. Kapitel des
Lukasevangeliums erzählte Gleichnis vom „verlorenen Sohn“. Es ist das längste in der
Gruppe der drei Gleichnisse von der göttlichen Barmherzigkeit, die in diesem Kapitel
dicht aufeinander folgen: das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das Gleichnis von der
verlorenen Drachme und das Gleichnis vom verlorenen Sohn (15, 1-32).
Wenn man eine Erzählung richtig verstehen will, dann muss man nicht nur auf das
achten, was in ihr erzählt wird, sondern sich auch fragen, wer wem etwas, und unter
welchen Umständen erzählt. Unsere drei Gleichnisse, die offensichtlich eine
geschlossene redaktionelle Einheit bilden, werden von Jesus selbst „unterwegs nach
Jerusalem“ erzählt, und sie wollen sicher auch etwas zum Verständnis dieses Weges
beitragen, mit dem wir uns in unserer vierten Meditation beschäftigt haben.
Auf die Gleichnisreden des Jesus der Evangelien können wir den Spruch Goethes
anwenden: „Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren, ich wüsste mich sonst nicht zu
erklären.“ Wie viele andere Gleichnisse auch, können unsere drei Gleichnisse als eine
indirekte Selbsterklärung Jesu gelesen werden, der sich als „Gottes Zeugnis für Gottes
Sünderliebe“ (K.H. Rengtsdorf) verstanden hat. Sie stellen eine Antwort auf eine
Konfliktsituation dar: Jesus ist den Pharisäern und Schriftgelehrten zum Anstoß und
Ärgernis geworden, weil er Sünder und Zöllner an sich herankommen lässt, und sogar
Tischgemeinschaft mit ihnen hält: „Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu
hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt
sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen.“ (V.1-2)
I. Verloren und wiedergefunden: Die Freude des Wieder(an)erkennens
Das verärgerte Murren der ersten Gruppe könnte man unschwer in den Vorwurf
übersetzen: „Gleich und gleich gesellt sich gern!“, den manche von uns wohl auch
bereits in ähnlichen Situationen verwendet haben. „Murren“ ist nicht nur etwas, dem
2
6. MEDITATION (16.06.2010)
wir mehr als einmal in der Bibel begegnen; es ist auch eine Reaktion, die wir aus
eigener Erfahrung gut, manchmal sogar viel zu gut kennen.
Versuchen wir uns zum Beispiel in die Situation der hundert Schafe hineinzudenken,
die der Schafhirte scheinbar im Stich lässt, um einem einzigen „Ausreißer“
nachzulaufen. Wie werden sie wohl auf sein Verhalten reagiert haben? Sicher nicht mit
Begeisterungsstürmen! In welcher Gemeinschaft von Gläubigen ist nicht schon mehr
als einmal der mürrische Seufzer vernehmbar gewesen: Warum kümmert unser
Rabbiner, unser Pastor, unser Pfarrer sich mehr um die Außenstehenden und
Fernstehenden, als um uns, die wir doch die Säulen seiner Gemeinde sind, weil ohne
uns nichts läuft?
Es wäre natürlich fatal, wenn der „Seelenhirte“ hierauf antworten würde: „Weil die
Anderen eben interessanter als Ihr seid!“. In jeder zünftigen Gemeinde gibt es eine
Anzahl von frömmelnden Betschwestern, oder wie das französische Wort hierfür lautet,
von „grenouilles de bénitier“ („Weihwasserfröschen“), die den Weihwasserkessel ihrer
Pfarre mit dem Ozean der „großen weiten Welt“ verwechseln, aber das ist noch lange
kein Grund, sie nicht für Brüder und Schwestern im gleichen Glauben zu halten. Die
einzig sachgerechte Antwort kann nur darin bestehen, dass die Gemeinde sich daran
erinnert, dass das, was sie zusammenhält, nicht irgendein gemeinsamer Stallgeruch ist,
sondern der göttliche Hirte, der sie zusammengerufen (ekklesia) hat und in dessen
Namen sie versammelt sind.
„Verlieren“ und „Wiederfinden“ ist der eine gemeinsame Nenner, der die drei hier
erzählten Gleichnisse miteinander verbindet. Noch wichtiger ist der zweite gemeinsame
Nenner, der die eigentliche Pointe aller dreier Gleichnisse bildet: die überschwängliche
Freude über das Wiedergefundene, die in allen drei Geschichten mit einer Einladung
zur Mitfreude und mit einer Festfeier endigt: „Und wenn er’s gefunden hat, so legt er
sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde
und Nachbarn und spricht zu ihnen: freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf
gefunden, das verloren war.“ (15, 5-6).
Der gute Hirte, der das verlorene Schaf auf den Schultern trägt, ist ein Motiv, dem
wir häufig in den altrömischen Katakomben, etwa in der Priscilla-Katakombe
begegnen.
Auch in den frühchristlichen Mosaiken ist der gute Hirte öfters dargestellt. Weil der
Künstler nicht über viele Möglichkeiten verfügt, die Freude des Wiederfindens im
Gesichtsausdruck des Hirten wiederzugeben, stattet er ihn, wie auf dem Bodenmosaik
in der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts gebauten Basilika von Aquileia, halt mit
einem Musikinstrument aus.
Dem guten Hirten begegnen wir auch im berühmten Mausoleum der Gallia Placida
in Ravenna, aber hier in einer ganz anderen, „byzantinischen“ Interpretation. Für den
Betrachter dieser Darstellung besteht kein Zweifel daran, wer der gute Hirte ist, und
dass die Herde nur solange Bestand hat, wie sie ihren Blick nicht von diesem
königlichen Hirten abwendet.
LK 15, 11-31
3
Auch die Freude der Engel im Himmel über die Bekehrung des einzigen Sünders ist
der Aufmerksamkeit der Künstler nicht entgangen, wie folgende Darstellung im
Speculum humanae salvationis, einem im 14. Jahrhundert entstandenen populären
Erbauungsbuch beweist, in dem die uns hier interessierenden Gleichnisse ausführlich
kommentiert und illustriert sind.
Im zweiten Gleichnis trommelt die Frau, die nach langem Suchen ihren verlorenen
Silbergroschen wiedergefunden hat, ihrer Freundinnen mit den Worten zusammen:
„Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren
hatte.“ (V.9). Ihre angstvolle Suche spiegelt sich in einer anderen Darstellung des
Speculum humanae salvationis wieder.
Nirgendwo aber findet diese Freude des Wiederfindens einen so überschwänglichen
Ausdruck wie im dritten Gleichnis. Hier erzählt Jesus die Geschichte einer gelungenen
Umkehr, die aber wiederum in ein neues Ärgernis umschlägt.
Hören wir uns die Geschichte zunächst an und fragen wir uns, welcher Titel ihr am
Besten gerecht wird. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Es ist die Geschichte
vom „Verlorenen Sohn“.
Aber ist dies der bestmögliche Titel? Könnte man die Parabel nicht ebenso gut „Der
barmherzige Vater“ betiteln?
Diese Pointe der Geschichte haben zahlreiche Künstler in den Vordergrund gestellt.
Besonders schön Rembrandt, der sich zwanzigmal mit diesem Motiv beschäftigt hat:
Wenn ich mir die klassischen Illustrationen unseres Gleichnisses anschaue, dann
habe ich manchmal den Eindruck, dass in ihnen jemand zu kurz kommt, entweder, weil
er überhaupt nicht in Erscheinung tritt, oder nur eine Schattenfigur im Hintergrund ist,
wie in einer anderen Zeichnung Rembrandts: Es ist der andere Sohn, der
„Zurückgebliebene“, der „Nesthocker“.
Eine dritte mögliche Überschrift, die sich direkt auf die Eingangsverse des 15.
Kapitels bezieht, habe ich bereits im Titel unserer Meditation angedeutet: Es handelt
sich in Wirklichkeit um die Geschichte von zwei verlorenen Söhnen.
Dieser Plural wird im Verlauf meiner Meditation noch eine weitere Bedeutung
erhalten, auf die ich aber erst später zurückkommen werde.
Dass es in der Kunstgeschichte so wenige Darstellungen des „Nesthockers“ unserer
Parabel gibt, hat natürlich auch seinen Grund darin, dass es nicht viel über ihn zu
erzählen gibt, ganz im Gegenteil zum abenteuerlichen Leben des Nestflüchters.
Was die beiden voneinander unterscheidet, ist zunächst ihr Altersunterschied, der in
unserem Fall auch mit dem Erstgeburtsrecht, mit dem wir uns in einer anderen
Meditation befasst haben, verbunden ist. Die Gründe, die den Älteren daran hindern, so
wie sein jüngerer Bruder das Weite zu suchen, sind möglicherweise nicht so
uneigennützig, wie man glauben könnte. Es könnte ja auch sein, dass er zurückbleibt,
um besser über sein künftiges Vermögen wachen zu können.
4
6. MEDITATION (16.06.2010)
Der Jüngere jedenfalls hat keine solche Bedenken. Er fordert energisch sein Erbteil,
und nach einer kurzen Bedenkpause verlässt er das Vaterhaus, um in der Fremde ein
Lotterleben zu führen. Wichtig für unsere Lektüre des Gleichnisses ist, dass wir nicht
erfahren, worin dieses Leben eigentlich bestanden hat. Es heißt kurz und bündig: „Er
zog in ein fernes Land und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.“ (V.13).
Die Künstler, die diese Geschichte illustriert haben, haben es natürlich nicht bei
dieser Diskretion belassen, sondern sie haben eher der Vorstellung, die der ältere
Bruder sich von diesem in Saus und Braus verbrachten Leben machte, Glauben
geschenkt. So zeigt ihn uns Rembrandt in einem seiner Gemälde in der Rolle des
Verschwenders des väterlichen Vermögens. Hier wird geschwelgt, gezecht und gefeiert.
Es geht ihm gut, und viel zu gut. Das riesige Champagnerglas, das er in der Hand hält,
ist schon halbleer. Bald wird es ganz leer sein.
Pablo Picasso „zitiert“ und interpretiert dieselbe Darstellung Rembrandts auf seine
Weise:
Etwas ausführlicher fällt im Lukasevangelium die Beschreibung der Notlage aus, in
die der Verschwender alsbald gerät. „Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam
eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben und ging hin und
hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue
zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen;
und niemand gab sie ihm.“ (V. 14-16).
Albrecht Dürer zeigt ihn uns im Zustand der Verlotterung, ein heruntergekommener
Schweinehirt, den selbst die Schweine zu verspotten scheinen.
Je mehr ich diese Erzählung überdenke, desto stärker fällt mir auf, wie sehr die
Fresssucht die ganze Darstellung beherrscht. Nirgendwo geht die Rede davon, dass der
Ausreißer sich mit dem väterlichen Vermögen irgendwelche Freunde gemacht hätte.
Insofern ist er bei den Säuen in guter Gesellschaft, denn wie sie begehrt er nur, sich den
Bauch vollzuschlagen.
Das bestätigt auch der erste Akt der Reue, mit dem der Rückweg nach Hause
einsetzt: „Da ging er in sich (eis eauton de elthon) und sprach: Wie viele Tagelöhner
hat doch mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier vor Hunger!“
(V.17). Zwar ist dieses „In-sich-gehen“ auch ein Gehen, aber es geht nicht in sein Herz,
sondern eher in seinen Bauch, so dass es schwer fällt, hier schon von einem
eigentlichen Weg des Anerkennens, d.h. einer Bekehrung im biblischen Sinn des
Wortes, einem Umdenken (metanoiein) zu sprechen. Zwar wird etwas erkannt: Zu
Hause würde es mir wahrscheinlich besser ergehen, und ich könnte mir wieder den
Bauch füllen; aber nichts ist anerkannt.
„Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem
kommen, und der hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den
Hals und küsste ihn.“ (V.20). Mit diesem Vers, der der Angelpunkt des ganzen
Gleichnisses bildet, sind wir offenbar in der Herzmitte unserer Geschichte angelangt. In
LK 15, 11-31
5
diesem Vers hat mir die Wendung: Er „sah ihn schon von weitem kommen“ es
besonders angetan. Er lässt sich auf mehrfache Weise verstehen.
Trotz der räumlichen und zeitlichen Ferne, die sie voneinander trennt, hat der Vater
ihn nicht aus den Augen verloren. Immer noch hält er Ausschau nach ihm, er hat also
die Hoffnung auf eine mögliche Wiederkehr noch nicht aufgegeben.
Eltern verstehen ihre Kinder manchmal besser, als diese sich selbst verstehen haben,
sie sind hellsichtiger und weitsichtiger, ein Verständnis, das dort, wo ein Kind sich
noch nicht selbst gefunden und anerkannt hat, manchmal sehr schwierig sein kann!
In unserem Vers ist das Ausschauhalten bereits ein Ausdruck jener
zuvorkommenden Liebe, von der es im ersten Johannes-Brief den man geradezu als
theologischen Kommentar unseres Gleichnisses lesen könnte, heißt: „Denn wenn das
Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles.“ (1 Joh 3,
20).
Man könnte sich natürlich ein ganz anderes Verhalten des Vaters vorstellen, die in
vielen Heimkehr-Geschichten das Gesamtbild bestimmt. Der Vater liegt auf der Lauer,
um die offenbaren Schuldgefühle des Sohnes noch zu verstärken: „Du Lump, hatte ich
dir nicht prophezeit, dass du eines Tages mit leeren Taschen und als Bettler nach Hause
zurückkommen würdest! Jetzt beweise mir erst einmal, wie ehrlich deine Reue gemeint
ist, und ob du fähig bist, ein anständiges Leben zu führen!“
Nichts von alledem geschieht in unserer Geschichte. Der verlumpte und
ausgemergelte Sohn, dem wir im Mittelstück eines eindrucksvollen, 1889/99 gemalten
Triptychons von Max Slevogt begegnen, das in der Stuttgarter Staatsgalerie hängt, wird
mit einem Festgewand bekleidet, es wird ein Mastkalb geschlachtet und es werden die
Vorbereitungen zu einem großen Festgelage getroffen.
Der Sohn rezitiert sein sicherlich auswendig gelerntes Reuebekenntnis: „Vater, ich
habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein
Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.“ (V.18). Aber er kommt nicht
bis zum Ende seiner Litanei. Das „mach mich zu einem deiner Tagelöhner“ kann er sich
sparen, weil er an den Worten des Vaters zu seinen Knechten merkt, dass es eigentlich
nicht mehr am Platze ist: „Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt
ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an. Bringt das Mastkalb her, und
schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein Sohn war tot und lebt
wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ (V.22-23). Diese
Verwandlung hat Giovanni Francesco Barbieri in einem 1619 gemalten, offensichtlich
von Caravaggio inspirierten Gemälde festgehalten.
Kurz darauf beginnt das „fröhliche Fest“ des Wiedersehens, das eigentlich ein Fest
des Wieder-Anerkennens ist.
Aus dem, was wir bisher vom jüngsten Sohn erfahren haben, können wir schließen,
dass vom Mastkalb kein Bissen übrig geblieben ist. Der Wunsch des Nimmersatts ist
tatsächlich in unvorstellbarer Weise in Erfüllung gegangen, weil auch in dieser
Geschichte die Liebe zum Teil durch den Magen geht. Aber doch mit einem gewaltigen
6
6. MEDITATION (16.06.2010)
Unterschied: Die Sehnsucht nach einem gut gefüllten Magen erfüllt sich in einem neuen
Horizont. Dort wo eine herzliche Atmosphäre herrscht, kann auch herzhaft zugelangt
werden, weil die gespendete Nahrung vom Herzen und nicht in erster Linie aus dem
Backofen kommt. Und da macht es auch keinen Unterschied mehr, ob das Verzehrte ein
riesiges Mastkalb oder eben nur eine bescheidene Pizza ist.
Und doch gibt es einen, dem dieses Festgelage schwer auf den Magen geschlagen
ist: Es ist der ältere Sohn, der Zurückgebliebene. Für ihn kommt es nicht in Frage, dass
er sich an diesem großen Fest des gegenseitigen Wieder- und Anerkennens beteiligen
könnte. Er spielt die Rolle der beleidigten Leberwurst, die häufig bei Familienfesten
von irgendeinem Familienmitglied gespielt wird. Es ist die flammende Eifersucht, die
aus den Worten spricht, die er an den Vater richtet, nachdem dieser ihn zur Rede
gestellt hat, und ihm gut zugeredet hat: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe
ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock
geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der
hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast
du für ihn das Mastkalb geschlachtet.“ (V.29-30).
Hier müssen wir wiederum sehr genau hinhören, um zu verstehen, was für Gefühle
sich in diesen Worten verraten. Hier wird die Sprache des Habens und Besitzens, des
„mein“ und „dein“ gesprochen: „dein Sohn“, „meine Freunde“. Hier ist der Kaufwert
der Besitztümer das einzige, was zählt: „nur ein Ziegenbock“, „das Mastkalb“. Unter
den vielen Possessivpronomina fehlt nur ein einziges: „mein Bruder“. Würde dieses
Wörtchen fallen, dann wäre mindestens ein erster Schritt auf dem Weg des
Anerkennens getan, aber gerade dieses Wort kommt nicht über die Lippen. Anstatt des
„mein Bruder“ wird das Demonstrativpronomen: „dieser da“ verwendet, das hier ganz
offensichtlich die Bedeutung einer Anklage und eines Vorwurfs hat.
Was aber ist der Gegenstand der Anklage? Dein (nicht sein) Vermögen hat er „mit
Dirnen durchgebracht“! Hier müssten wir eigentlich wieder stutzig werden: Woher
weiß er denn eigentlich, dass sein Bruder das Vermögen des Vaters auf eine solche
unanständige Weise verschwendet hat? Davon ging ja in dem bisher Gesagten noch gar
keine Rede!
Die Antwort liegt auf der Hand: Sein Wissen entstammt seiner eigenen schmutzigen
Phantasie, anders gesagt, aus den Vorstellungen, die ihm seine heimlichen, bisher
verborgenen, aber jetzt offen zu Tage tretende Wünsche vorgaukeln. Insofern haben die
Künstler, die gerade diesen Aspekt betonen, den ältesten Sohn besser verstanden, als er
selbst sich verstanden hat. So stellt etwa der Utrechter Maler Johannes Baeck das „mit
Dirnen verbracht“ in einem 1637 gemalten Gemälde dar, auf dem wieder ein diesmal
randvoll gefülltes Champagnerglas geschwenkt wird.
Offenbar ist hier eine zweite Bekehrung fällig, die die Schlussworte des Vaters
andeuten: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles was mein ist, ist auch dein.
Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot
und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ (V.31-32). Mit
diesen Worten deutet der Vater an, dass der älteste Sohn selbst ein Festkleid trägt. Das
aber merkt er nicht, oder er will es nicht wahrhaben.
LK 15, 11-31
7
Ob die damit fällige „Arbeit des Anerkennens“ geleistet wurde oder nicht, entzieht
sich unserer Kenntnis.
II. Verloren und nicht wieder(an)erkannt. Drei moderne Gleichnisse
Mit dieser offenen Frage könnten wir eigentlich unsere Betrachtung beenden. Oder
auch nicht, denn vielleicht haben wir gute Gründe, uns zu fragen, ob dieses Gleichnis
nicht in jedem Menschenleben in neuer Weise „durchgespielt“ und verarbeitet wird.
So jedenfalls verstehe ich die zahlreichen moralischen, allegorischen und
sakramentalen Auslegungen, die dieses Gleichnis von den Kirchenvätern bis zu Luther
und Calvin gefunden hat, aber auch die gewaltigen Spuren, die es in der
abendländischen Literatur vom mittelalterlichen um 1220 aufgeführten Mysterienspiel:
Le Lai de Courtois d’Arras bis in die Literatur des 16. und die Mitte des 17.
Jahrhunderts erfahren hat. In einigen dieser Texte erscheint der verlorene Sohn fast als
ein „Aufklärer“ avant la lettre, der sich von den Fesseln der Tradition lösen will.
Auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts bezeugen die Interpretationen von André
Gide, Rainer-Maria Rilke, Franz Kafka und Martin Walser, dass die
Auseinandersetzung mit diesen Gleichnissen, die Charles Péguy als „niemals veraltete“
Gleichnisse („paraboles invieillies“) bezeichnete, immer noch weitergeht.
Wenn wir uns André Gides Le Retour de l’Enfant Prodigue, die letzten Seiten von
Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Kafkas kurze Erzählung: Die
Heimkehr, aufmerksam ansehen, dann merken wir, dass auch sie, ähnlich wie die
Darstellung mancher Künstler, einen Beitrag zum Verständnis unseres Gleichnisses
liefern, sei es auch nur, weil im Gegenlicht dieser Erzählungen, in denen keine
wirkliche Umkehr stattfindet, weil das „kleine Wunder des Anerkennens“ ausbleibt, das
große Wunder des Verzeihens und der göttlichen Barmherzigkeit noch deutlichere
Konturen gewinnt.
1. André Gide erfindet einen dritten Bruder, den der Heimkehrer erst nach seiner
Heimkunft kennen lernt. Der verlorene Sohn lädt diesen Bruder ein, so wie er in die
Fremde zu gehen, aber im Gegenteil zu ihm, auf keinen Fall zurückzukehren: „Geh
lautlos weg. Komm her, umarme mich, mein junger Bruder, denn du trägst alle meine
Hoffnungen mit dir. Sei stark: Vergiss uns und vergiss mich. Hoffentlich wirst du
niemals mehr zurückehren.“1
2. Das Stichwort, das Rilkes Beschäftigung mit dem, was er am Ende seines Malte
„die Legende vom verlorenen Sohn“ nennt auslöst, lautet: Versuch, „mit dem Herzen zu
denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen“. Es handelt
sich hier um eine Besinnung über die Schmerzen, welche die Arbeit der
Selbstanerkennung uns, und damit auch den Anderen, bereitet.
1
« Pars sans bruit. Allons ! embrasse-moi, mon jeune frère : tu emportes tous mes espoirs. Sois fort :
oublie nous, oublie moi. Puisses-tu ne pas revenir. »André Gide, Le Retour du Fils prodigue, Paris, folio,
1991, S.182.
8
6. MEDITATION (16.06.2010)
„Man wird mich schwer davon überzeugen, dass die Geschichte des verlorenen
Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind
war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wusste es nicht anders und gewöhnte
sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine
Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen
herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so
wars, weil auch sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme,
Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen
oder zu kränken.“
Mit diesen Worten setzt Rilkes „Legende“ ein. Von Anfang an deutet er an, dass die
Liebe, die in seinem Heimathaus herrscht, mit der Freiheit unverträglich ist. Geliebtsein
heißt hier nur, sich den Erwartungen der Anderen anpassen müssen. Schon die kleinen
Ausflüge als Kind vor die Haustür sind von dieser Zweideutigkeit behaftet: „Nur dass
der Heimweg dann kam. Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn
richtig vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten. Wie sehr
man auch zögerte und sich umsah, schließlich kam doch der Giebel herauf. Das erste
Fenster oben fasste einen ins Auge, es mochte wohl jemand dort stehen. Die Hunde, in
denen die Erwartung den ganzen Tag angewachsen war, preschten durch die Büsche
und trieben einen zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man
musste nur eintreten in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste entschieden.
Kleinigkeiten konnten sich noch ändern; im ganzen war man schon der, für den sie
einen hier hielten; der, dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen
Wünschen längst ein Leben gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag und
Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem
Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall. So einem nützt es nichts, mit unsäglicher
Vorsicht die Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Türe muss
nur gehn, so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten. Aber dann
kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn bei den Händen, sie ziehen ihn an den Tisch, und
alle, soviel ihrer da sind, strecken sich neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie
halten sich dunkel, und auf ihn allein fällt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu
haben.“
Hier wird ein existentieller Konflikt erlebt, der den Wunsch einer Flucht nach vorne
auslöst: „Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm zuschreiben,
und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen
der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber
verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur
noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte? Nein, er wird fortgehen. Zum
Beispiel während sie alle beschäftigt sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit
den schlecht erratenen Gegenständen, die wieder einmal alles ausgleichen sollen.
Fortgehen für immer.“
Fast könnte man diese Legende in Anspielung auf ein Märchen der Brüder Grimm
betiteln: „Von einem der auszog, weil er nicht geliebt werden wollte“. Die einzige Form
der Liebe, die er kennt, ist eine infantilisierende, erstickende, gleichsam
menschenfresserische Liebe, so dass jede Heimkehr die Rückkehr in ein Gefängnis mit
LK 15, 11-31
9
herzweichen Gittern ist, deren Stäbe aus Erwartungen und Befürchtungen, Vorwürfen
und Beifällen bestehen, die ihm die „Scham, ein eigenes Gesicht zu haben“, einflössen.
Der gedeckte Tisch, in diesem Fall der Geburtstagstisch, ist in Wirklichkeit ein
Altar, auf dem eine menschenfresserische Liebe zelebriert wird, in der das Kind das
Opferlamm ist. Es ist kein Zufall, dass die Entscheidung, für immer wegzugehen,
gerade am Geburtstag getroffen wird, ein Tag, der ihn an die Kontingenz seiner Geburt
erinnert.
Motiviert ist sie durch den Wunsch, „niemals zu lieben, um keinen in die
entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein“. Natürlich ist dies ein paradoxer, nicht
einzuhaltender Wunsch gewesen, der aber alle seine späteren Liebesversuche von
vorneherein zum Scheitern verurteilt: „wie andere Vorsätze, so ist auch dieser
unmöglich gewesen. Denn er hat geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit;
jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die
Freiheit des andern.“
So tritt er eine zweite Flucht nach vorne an, und er verwandelt sich in eine Art
kosmischen Hirten, der nichts anderes als „die lange Liebe zu Gott (...), die stille,
ziellose Arbeit“ im Sinn hat. Wir könnten sagen, dass er sich in einen „Mystiker“ zu
verwandeln versucht: „Denn über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam
noch einmal das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte
er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes
Wesen versprach ihm, dass jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit
durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft
geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand.
Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller
Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen, um sie
hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche
Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die
Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er wollte es nicht glauben
zuerst, dass ein langes Leben darüber hingehen könne, die ersten, kurzen Scheinsätze zu
bilden, die ohne Sinn sind. Er stürzte sich ins Erlernen wie ein Läufer in die Wette; aber
die Dichte dessen, was zu überwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts
auszudenken, was demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft. Er hatte den
Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das rasch gemachte Gold seines
Glücks unaufhörlich zu verwandeln in das klumpige Blei der Geduld. Er, der sich dem
Raum angepasst hatte, zog wie ein Wurm krumme Gänge ohne Ausgang und Richtung.
Nun, da er so mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm gezeigt, wie
nachlässig und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Wie
aus keiner etwas hatte werden können, weil er nicht begonnen hatte, an ihr Arbeit zu
tun und sie zu verwirklichen. In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen
vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er
mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war ‚sa patience de supporter une
âme’.“
Der also „Entfremdete“ entschließt sich endlich, es doch auf das Wagnis einer
Heimkehr ankommen zu lassen. „Ja, seine innere Fassung ging so weit, dass er
10
6. MEDITATION (16.06.2010)
beschloss, das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was
einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit,
sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen
hatten das Vage von Ahnungen an sich, und dass sie als vergangen galten, machte sie
nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der
Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte.“
Jetzt aber merkt er, dass die inneren Verwandlungen, die mit ihm vorgegangen sind,
ihn noch unkenntlicher als zuvor gemacht haben: „Gesichter erscheinen an den
Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem
ganz alten schlägt ganz plötzlich blass das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich
nur das Erkennen?--Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon?--Die Liebe. Mein Gott: die
Liebe. Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie er war: dass
sie noch sein könne. Es ist begreiflich, dass von allem, was nun geschah, nur noch dies
überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen
hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, dass
sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten
sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muss für ihn
unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass ihn alle missverstanden, trotz der
verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er
erkannte von Tag zu Tag mehr, dass die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren
und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast musste er lächeln, wenn sie sich
anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten. Was wussten sie,
wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, dass nur Einer dazu
imstande sei. Der aber wollte noch nicht.“
Die Unterschiede zwischen Rilkes „Legende“ und dem lukanischen Gleichnis
springen in die Augen: Hier wird die brüderliche Eifersucht mit keinem Wort erwähnt
und das Wort „Vater“ wird niemals verwendet. Ob das „Heimathaus“ ein „Vaterhaus“
ist, wissen wir nicht. Nur die Haushunde scheinen irgendwie ein persönliches
Verhältnis zu diesem Mann zu haben, dessen „Erlösung“, wenn man überhaupt diesen
Begriff verwenden darf, in der unerschütterlichen Gewissheit besteht, für die Seinen
absolut unverständlich geworden zu sein.
3. Noch ein Stück befremdlicher ist Franz Kafkas kleine, zehn Jahre nach Rilkes
Malte entstandene kleine Erzählung „Heimkehr“. Hier wird die Rückkehr des
verlorenen Sohnes in der Ich-Perspektive geschildert:
„Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist
meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät,
ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem
Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich
im Wind.
Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der
Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht.
Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.
Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen
eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte.
LK 15, 11-31
11
Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten
Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne
horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher
überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur
einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus
den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort
Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird
man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich
dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.“
Natürlich muss auch diese Erzählung vor dem Hintergrund von Kafkas
Lebensgeschichte und seinem zwiespältigen Verhältnis zu seinem Vater gelesen
werden, das sich im berühmten „Brief an den Vater“ widerspiegelt. Schon im zweiten
Satz fällt ein wichtiges Stichwort für die Charakterisierung der ganzen Szene: „meines
Vaters alter Hof“ – nicht zu verwechseln mit: „meines alten Vaters Hof“. Dieser Hof ist
ein unfruchtbares, nutzloses Gelände, mit dem man nichts mehr anfangen kann, und in
dem man sich nicht eigentlich „heimlich“, das heißt „heimisch“, „zu Hause fühlen“
kann.
Der alte Landwirt, der Vater, tritt selbst nicht in Erscheinung. Er lässt nichts von sich
hören. Das Unheimliche in dieser Erzählung ist, dass der ganz Nahe eigentlich immer
noch ein „Fernstehender“ ist: „Nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche
ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von
der Ferne horche, erhorche ich nichts.“ Es bleibt bei lauter Fragezeichen und bei einer
letzten Unsicherheit: „Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der
Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht.
Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.“
Der also Horchende will sich nicht überraschen lassen. Vielleicht ist dies einer der
Gründe, warum auch in dieser Erzählung das „kleine Wunder des Anerkennens“ und
Wiedererkennens nicht stattfindet.
Gerade deshalb lohnt es sich, das biblische Gleichnis vom verlorenen und
wiedergefunden Sohn auch im Gegenlicht dieser Version einer gescheiterten Heimkehr
zu betrachten.