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Tobias Glawe CGS-Spezial-Reihe: Analysen zur globalen Politik des Internets JIHAD 2.0: STRUKTURELLE VERÄNDERUNGEN DES TERRORISMUS DURCH DAS INTERNET CGS - Discussion Paper 18 Dezember 2014 Das Internet hat seit seiner Entwicklung fast alle Bereiche des Lebens verändert. Auch der internationale Terrorismus hat sich in seiner Struktur durch die Übernahme der netzwerkartigen Strukturen des Internets gewandelt. Welche Auswirkungen hat die informationstechnische Globalisierung für die radikale islamistische Szene und die Art der terroristischen Bedrohung? Eine anzunehmende Folge, ist die wahrscheinliche Bedeutungszunahme des „Leaderless Jihad“. 1. Einleitung Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Nutzung des Internets für Terroristen mittlerweile ebenso selbstverständlich ist wie für den Durchschnittsbürger in Europa oder in den USA. Welche Auswirkungen und Konsequenzen dies auf die Struktur und Art des zukünftigen Terrorismus hat, ist indes umstritten. “Although it is known that terrorists already routinely use the Internet for purposes such as spreading propaganda or conducting internal communication, the threat that results from this use is heavily debated.“ 1 Die Forschung, die sich in diesem Zusammenhang mit den Wechselwirkungen von Internet und Terrorismus beschäftigt, lässt sich grundlegend in zwei Lager einteilen: Diejenigen, die das Internet schlicht als eine „neuartige Kommunikationsform“ betrachten und diejenigen, die von einer „neuen Phase in der Entwicklung des Terrorismus, in der Individuen und Kleingruppen die Initiative übernehmen“ ausgehen. 2 Dies lässt sich am besten anhand einer Diskussion zwischen den beiden amerikanischen Wissenschaftlern Marc Sageman und Dr. Bruce Hoffman veranschaulichen. Deren Auseinandersetzung begann, als Hoffman in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ Sageman’s Buch „Leaderless Jihad“ scharf kritisierte. Sageman hatte in seinem Buch die These aufgestellt, dass Organisationen wie Al-Qaida in Zukunft kaum noch eine Rolle spielen würden und die Terrorgefahr in Zukunft von einem fluiden Netzwerk an losen, über das Internet verbundenen Einzeltätern und lokalen Gruppen ausgehen werde. 3 “The present threat has evolved from a structured group of al Qaeda masterminds, controlling vast resources and issuing commands, to a multitude of informal local groups trying to emulate their predecessors by conceiving and executing operations from the bottom up. These 'homegrown' wannabes form a scattered global network, a leaderless jihad. Although physically unconnected, these terrorist hopefuls form a virtual yet violent social movement as they drift to Internet chat rooms that connect them and provide them with inspiration and guidance.” 4 Nach dieser These wird die Zukunft des Terrorismus also von Tätern geprägt, die sich über das Internet radikalisieren und informieren, aber bei der operativen Planung selbstständig und lokal agieren. In seiner Buchkritik in „Foreign Affairs“ wirft Hoffman seinem Kollegen daraufhin vor, dass er die Fakten ignoriere. Hoffman vertritt dabei die Meinung, dass AlQaida nach wie vor die größte Gefahr darstelle und immer noch nach dem klassischen Top1 Phillip W. Brunst, 'Terrorism and the Internet: New Threats Posed by Cyberterrorism and Terrorist Use of the Internet' in A War on Terror? The European Stance on a New Threat, Changing Laws and Human Rights Implications, eds. Marianne Wade and Almir Maljević (New York et al.: Springer, 2010), 51. 2 Guido Steinberg, 'Jihadismus und Internet. Eine Einführung' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 5. 3 See, Marc Sageman, Leaderless Jihad. Terror Networks in the Twenty-First Century (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008), viii. 4 Ibid, viii. CGS – Discussion Paper | 1 Down-Prinzip gesteuert wird. 5 “Al Qaeda is alive and well and plotting high-profile terrorist attacks much as it did before 9/11." 6 Dementsprechend sieht Hoffman keine strukturelle Veränderung in der Bedrohung durch Terroristen. Er erkennt zwar das Phänomen des „Homegrown-Terrorism“ an, führt dieses jedoch auf langfristige strategische Entscheidungen der Führung von Al-Qaida zurück, die nach wie vor mit den potentiellen Tätern in direktem Kontakt stehen würde. 7 In einer ebenfalls in „Foreign Affairs“ veröffentlichten Antwort fasst Sageman seine These daraufhin noch einmal folgendermaßen zusammen: “I show how the Internet has enabled a new wave of terrorist wannabes, who now constitute the main -- but not the entire -- threat to the West.” 8 Im weiteren Verlauf des Schlagabtausches zwischen Hoffman und Sageman kommt es nicht mehr zu einer gemeinsamen Position und die Frage, welche Auswirkungen das Medium Internet auf den globalen Terrorismus hat, bleibt ungelöst. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, warum die These von Marc Sageman insgesamt überzeugender und wahrscheinlicher ist. 2. Anschläge in Europa und den USA seit 9/11 Will man untersuchen, ob sich in der Funktionslogik des globalen Terrorismus mit der zunehmenden Nutzung des Internets signifikante Änderungen ergeben haben, scheint es unabdingbar, einen Blick auf die bisherigen Terrorangriffe in den USA und der Europäischen Union zu werfen. Die Anschläge in den USA am 11. September 2001 sind das Musterbeispiel schlechthin für die klassische Terrorbedrohung. Komplexe und langfristige Planung unter dem Dach einer einzigen hierarchisch aufgebauten Organisation führten aus Sicht der Terroristen zu einem Erfolg, der ihre kühnsten Erwartungen übertraf. 9 Bis heute prägt dieser Angriff das allgemein verbreitete Bild von Terrorismus und der Art der Bedrohung. Bei den Zug-Anschlägen in Madrid am 11. März 2004, schien sich dieses Muster erst einmal fortzusetzen. Zwar waren die Mitglieder der verantwortlichen Terrorzelle nicht direkt mit der Führungsriege Al-Qaidas verbunden, doch ebenso wenig hatten sie sich selbst radikalisiert. Rekrutierung und Organisation erfolgten vielmehr im Rahmen eines gut organisierten Netzwerkes von radikalen Islamisten in Nordafrika und Spanien. 10 Das Internet spielte für die Täter de facto keine Rolle. Etwas mehr als ein Jahr später, am 7. Juli 2005, folgte der nächste großangelegte Anschlag innerhalb der Europäischen Union, als in London Bomben in mehreren Bahnen und einem Bus gezündet wurden. Dieser Angriff ließ bereits erste Anzeichen einer strukturellen Veränderung erkennen. Zwar ließ sich im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ob und in welchem Ausmaß die Terroristen Kontakte zu Mitgliedern von Al-Qaida gehabt 5 See, Bruce Hoffman, 'The Myth of Grass-Roots Terrorism. Why Osama bin Laden Still Matters', Foreign Affairs 87, no. 3 (2008): 133 - 138. 6 Ibid, 134. 7 Ibid, 138. 8 Marc Sageman, ‘Does Osama Still Call the Shots? Debating the Containment of al Qaeda's Leadership’, Foreign Affairs 87, no. 4 (2008): 163 – 166. 9 See, Fawaz A. Gerges, The Rise and Fall of Al-Qaeda (New York: Oxford University Press, 2011), 84 – 103. 10 See, Rogelio Alonso, 'Radicalisation and recruitment among jihadist terrorists in Spain. Main patterns and subsequent counter-terrorist measures' in Understanding Violent Radicalisation. Terrorist and Jihadist Movements in Europe, ed. Magnus Ranstorp (New York: Routledge, 2010), 208 – 212. CGS – Discussion Paper | 2 hatten, doch im Wesentlichen schienen sie als eigenständige und autonome Zelle zu agieren. 11 Das Internet spielte jedoch auch für ihren Anschlag kaum eine Rolle. Würde man die Untersuchung hier abbrechen, würde freilich alles daraufhin deuten, dass der klassisch organisierte Terrorismus nach wie vor die größte (und einzige) Gefahr für die westliche Welt darstellt. Doch in den Jahren nach dem Anschlag in London hat sich die Situation verändert. Als Musterbeispiel für Terrorattacken des neuen Typus gilt dabei die Tat des KosovoAlbaners Arid Uka am 2. März 2011 in Frankfurt am Main, bei welcher Uka zwei amerikanische Soldaten erschoss. Der damals 21-jährige Uka hatte keinerlei physischen Kontakt zu Terrororganisationen, sondern radikalisierte sich innerhalb weniger Monate durch das Anschauen von islamistischen Videos und der Partizipation in einschlägigen Foren und Diskussionsgruppen. 12 Nach eigener Aussage war es schließlich ein einzelnes Video, welches ihn spontan zu der Tat veranlasste: „Der keiner einschlägigen Organisation zugehörige Täter gab an, sich aufgrund eines im Internet veröffentlichten ‚jihadistischen‘ Propagandavideos zu dieser Tat entschlossen zu haben.“ 13 Die Bedeutung dieses Vorfalls kann kaum unterschätzt werden. Der Fall des Arid Uka zeigt klar, dass potentielle Terroristen nicht in Camps in Afghanistan oder Pakistan geschult werden müssen; sie müssen nicht in lokalen Netzwerken von gleichgesinnten „Gotteskriegern“ organisiert sein oder sich Anweisungen von Al-Qaida Mitgliedern holen. Uka radikalisierte sich ganz bequem von zuhause aus und dies dazu noch so schnell, dass in diesem Zusammenhang bereits der Begriff „Instant-Radikalisierung“ geprägt wurde. 14 Als weiteres Beispiel kann auch der Anschlag auf den Boston Marathon am 15. April 2013 herangezogen werden. In diesem Fall hatten die beiden Täter ebenfalls keine Verbindungen zu bekannten Terrorgruppen, sondern erhielten sowohl ihre ideologische Indoktrination als auch die technischen Pläne zum Bau der Bomben durch das Internet. 15 Dieser Anschlag, der wohl der bislang verheerendste Angriff durch nicht organisierte Einzeltäter war, macht deutlich, dass die Voraussetzungen für solche Attacken grundsätzlich gering sind. Bislang sind Anschläge, die diesem Modus Operandi folgen, insgesamt aber eher selten aufgetreten. Dies liegt allerdings nicht daran, dass es keine ähnlichen Versuche geben würde, sondern vielmehr daran, dass viele dieser Anschläge in der Vergangenheit noch vor ihrer Ausführung durch die Sicherheitsbehörden vereitelt werden konnten. So wurden beispielsweise 2012 selbstradikalisierte Terroristen in Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Spanien, den Niederlanden und Dänemark aufgedeckt und verhaftet, wobei in den meisten Fällen Propagandamaterial und Anleitungen zum Bau von Waffen oder Bomben aus dem Internet sichergestellt werden konnten. 16 Darüber hinaus hat sich mit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien der Trend entwickelt, dass gewaltbereite radikale Islamisten in den Nahen Osten 11 See, House of Commons, Report of the Official Account of the Bombings in London on 7th July 2005 (London: The Stationery Office, 2006), available at: http://www.officialdocuments. gov.uk/document/hc0506/hc10/1087/1087.pdf: 20 - 21. 12 Steinberg, Jihadismus und Internet, 7. 13 Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht 2011 (Berlin: Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013), 258. 14 See, Rosaviola Frohneberg and Guido Steinberg, 'Videopropaganda und Radikalisierung' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 88. 15 See, Michael Cooper, Michael S. Schmidt and Eric Schmitt, 'Boston Suspects Are Seen as Self-Taught and Fueled by Web', New York Times (April 23, 2013), available at: http://www.nytimes.com/2013/04/24/us/bostonmarathon-bombing-developments.html?smid=pl-share. 16 See, Europol, TE-SAT 2013. EU Terrorism Situation and Trend Report (Den Haag: European Police Office, 2013), 17 - 19. CGS – Discussion Paper | 3 reisen anstatt in Europa oder den USA Anschläge zu verüben. 17 Folglich kann aus der geringen Zahl bisher erfolgter Anschläge durch selbstradikalisierte Einzeltäter nicht darauf geschlossen werden, dass das Phänomen nicht existiert oder nicht relevant sei. 3. Die Entwicklung der Internetnutzung durch radikale Islamisten Aufgrund der bisher geringen Fallzahl an Anschlägen durch selbstradikalisierte Einzeltäter, ist es notwendig zu untersuchen, wie sich die Art und Weise, in der radikale Islamisten das Internet nutzen, allgemein verändert hat. Die Möglichkeiten sind dabei prinzipiell vielfältig: Das Internet kann zur Kommunikation (untereinander und nach außen), zur Rekrutierung, zur Verbreitung von Informationen (Anleitungen für den Bau von Bomben etc.) oder für Propagandazwecke genutzt werden. Die frühe Phase der Internetnutzung wurde noch klar von den etablierten und namhaften Terrororganisationen dominiert. So war es die Hisbollah, die sich als eine der ersten Gruppierungen in ihrer Internetnutzung professionalisierte und auf verschiedenen Seiten und in mehreren Sprachen über ihr Ziele und Sichtweisen informierte. 18 Die Hisbollah nutzte das Internet also primär als Kommunikationsweg, durch welchen die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien umgangen werden konnte. Dabei funktionierte dieses System nach einem klassischen Top-Down-Prinzip: Die Führungsriege der Hisbollah entschied, welche Informationen verbreitet werden sollten und die Medienabteilung setzte dies um. Auf diese Weise agierten im Wesentlichen auch die anderen bedeutenden Terrororganisationen wie Al-Qaida oder die Hamas. 19 Spätestens ab 2004 setzte jedoch ein Wandel in der Struktur der Internetnutzung durch radikale Islamisten ein. Mit der Gründung der „Globalen Islamischen Medienfront“ gewann erstmals eine „Gruppe reiner Internetaktivisten, die nur wenige und schwach ausgeprägte Bezüge zu terroristischen Organisationen hatte“ 20 signifikanten Einfluss auf die jihadistische Szene. Hier zeigte sich bereits eine wesentliche strukturelle Veränderung: Die Bedeutungszunahme von losen Netzwerken gegenüber den klassischen etablierten Organisationen. Darüber hinaus wird der Aspekt der Partizipation immer wichtiger. Die frühere One-to-Many-Kommunikation wurde in zunehmendem Maße durch eine Many-to-Many-Kommunikation – vor allem in Form von Internetforen – ergänzt: "[J]ihadi publication and discussion forums combine the vertical structure of hierarchical authority with the horizontal structure of participation and membership outreach.“ 21 Der vorläufige Gipfel dieser Entwicklung wurde mit der Erschließung des “Web 2.0” (beispielsweise Facebook, YouTube und Twitter) durch die Jihadisten erreicht. 22 Der Trend geht klar zur Dezentralisierung. Wo früher die straff organisierten Medienzentren der großen Terrororganisationen dominierten, kann sich jetzt jeder nach eigenem Ermessen beteiligen und einbringen. Dies hat eine Vielzahl bedeutender Konsequenzen. Zum einen wird die Eintrittsschwelle in jihadistische Milieus signifikant 17 Ibid, 22. See, Bruce Hoffman, Terrorismus – der unerklärte Krieg (Bonn: S. Fischer Verlag, 2007), 319. 19 See, Ibid, 324 – 329. 20 Guido Steinberg, 'Die Globale Islamische Medienfront (GIMF) und ihre Nachfolger' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 23. 21 Philipp Holtmann, 'The Symbols of Online Jihad' in Jihadism: Online Discourses and Representations, ed. Rüdiger Lohlker (Goettingen: Vienna University Press, 2013), 21. 22 See, Asiem El Difraoui, 'Web 2.0 - mit einem Klick im Medienjihad' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 67 - 71. 18 CGS – Discussion Paper | 4 gesenkt, denn gerade in sozialen Netzwerken sind die radikalen Agitatoren oft nur schwer auf den ersten Blick zu erkennen. An einer Diskussion auf einer Facebook-Seite teilzunehmen erfordert erheblich weniger Engagement als in der realen Welt nach einem Treffpunkt radikaler Islamisten und dort nach Kontakten zu suchen. Somit können ganz neue Zielgruppen angesprochen werden, die Organisationen wie Al-Qaida niemals erreichen konnten. Durch die Nutzung des Internet konnten zum Beispiel deutlich mehr junge Leute, mehr Personen ohne Migrationshintergrund und mehr Frauen radikalisiert werden. 23 Darüber hinaus ist die Ideologie durch das Format des Videos deutlich einfacher zu rezipieren als durch das Lesen von komplizierten und langen Texten, wodurch die Dauer des Radikalisierungsprozesses deutlich verkürzt werden kann. 24 Derweil haben die Sicherheitsbehörden kaum Mittel, um diese Art der propagandistischen Nutzung des Internets wirksam zu unterbinden. Während die Internetauftritte einzelner Organisationen in vielen Fällen verhältnismäßig leicht gesperrt oder abgeschaltet werden können, ist der Zugriff auf Gruppen bei Facebook oder Kanäle bei YouTube kaum möglich und der Aufwand der Jihadisten, diese zu ersetzen, ist minimal. „Das Zusammenspiel der verschiedenen Netzwerke macht es mittlerweile so gut wie unmöglich, jihadistische Propaganda aus dem World Wide Web zu verbannen.“ 25 Dadurch entsteht ein diffuses Netz an Personen, die vom Sympathisanten bis zum Terroristen in spe die gesamte Bandbreite abdecken und sich schon durch ihre Masse einer individuellen Überwachung durch die staatlichen Behörden entziehen können. Die strategischen Vorteile sind so drückend, dass sogar Al-Qaida selbst 2011 eine entscheidende Neuausrichtung vornahm und in einer Videobotschaft alle Muslime zum „individuellen Jihad“ aufrief. 26 Dieser Schritt verdeutlicht die grundlegende Veränderung der terroristischen Bedrohung. Durch den langjährigen Kampf gegen den Terror wurden die etablierten Organisationen geschwächt. Neue Gesetze, neue Technik und Erfahrungswerte haben die Erfolgsquote der Behörden bei der Aufdeckung organisierter Angriffspläne stark erhöht. Die dezentrale Organisation über das Internet ermöglicht den Jihadisten, einen Großteil der bisherigen Bemühungen irrelevant zu machen. Viele der bislang ergriffenen Maßnahmen zielen beispielsweise darauf ab, die Kontrolle der Außengrenzen zu verbessern oder terroristischen Organisationen ihre finanziellen Mittel durch eine stärkere Überwachung von Geldströmen zu entziehen. Für den „Internet-Jihad“ stellt dies jedoch keinerlei Problem dar. Das Einrichten von Internetseiten verursacht keine oder nur minimale Kosten und keiner der Beteiligten muss sein Land verlassen. Durch die weltweite Vernetzung durch das Internet kommt es gewissermaßen zu einer Globalisierung der radikalen islamistischen Szene. „Sowohl die im Internet verbreitete Propaganda als auch die sich dort konstituierenden ‚virtuellen‘ Netzwerke tragen dazu bei, dass sich Aktivisten und Sympathisanten des globalen ‚Jihad‘ als Teil einer einzigen Bewegung begreifen, selbst wenn sich ihre Ziele und Handlungsmotive zuweilen stark unterscheiden.“ 27 23 See, Peter Nesser, 'Joining jihadi terrorist cells in Europe: exploring motivational aspects of recruitment and radicalization' in Understanding Violent Radicalisation. Terrorist and Jihadist Movements in Europe, ed. Magnus Ranstorp (New York: Routledge, 2010), 90. 24 See, Rosaviola Frohneberg and Guido Steinberg, Videopropaganda und Radikalisierung, 88. 25 Asiem El Difraoui, Web 2.0 - mit einem Klick im Medienjihad, 74. 26 See, Florian Peil, '>>Inspire<<: Das Jihad-Magazin für die Diaspora' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 33. 27 Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht 2011, 256. CGS – Discussion Paper | 5 Diese Internationalisierung sorgt letztlich für eine Vereinheitlichung der jihadistischen Szene, wie sie ohne das Internet kaum vorstellbar wäre. „Das jihadistische Online-Corpus besteht aus Schriften, Videos und Audiodateien, die von Unterstützern und Sympathisanten verbreitet werden. Dieses Material bietet der jihadistischen Szene weltweit ein kohärentes Wertesystem und ein Lebensmodell, dem es nachzueifern gilt.“ 28 Diese Entwicklung wird langfristig zu einer Stärkung der Islamisten führen, da sie die typischen Schwächen der organisierten Terrorgruppen beseitigt. So sind Organisationen beispielsweise immer stark von ihrer Führungsriege abhängig. Die Verhaftung oder Ausschaltung von bekannten Anführern – auch wenn es die Organisationen nicht zerstört – führt praktisch immer zumindest zu einer momentanen Schwächung, sowohl in operativer als auch in moralischer Hinsicht. Der „Leaderless Jihad“ kennt dieses Problem nicht, denn in dieser Bewegung ist jeder Einzelne der Anführer seiner eigenen Terrororganisationen und gleichzeitig ihr einziges Mitglied. Dies mindert die Verwundbarkeit der Szene und sorgt dafür, dass gezielte Schläge gegen einzelne Personen drastisch an Wirkung verlieren. Ebenso können inhaftierte Terroristen praktisch kaum noch nützliche Informationen liefern, die über ihre eigenen Anschlagspläne hinausgehen. Denn der Trend ist dahingehend, dass es im Internet de facto kaum noch einen Austausch über operative Details gibt, sondern die Verbreitung der Ideologie im Vordergrund steht. 29 Dementsprechend kann eine radikalisierte Person in den meisten Fällen keine Informationen über eventuelle andere Angriffe liefern. Der Verzicht auf die klassische Organisationsstruktur mindert darüber hinaus das Potential für interne Grabenkämpfe. Denkt man etwa an die Scharmützel, die sich verschiedene jihadistische Gruppierungen im syrischen Bürgerkrieg immer wieder liefern, wird klar, dass diese Art der Organisationsstruktur ein großes Konfliktpotential beinhaltet. Die Ordnung, die durch diese Gruppierungen geschaffen wird und ihnen in der Vergangenheit wesentlich zum Erfolg verholfen hat, wird immer mehr zu einem Problem, da sie Konkurrenz schafft. Wo einzelne Anführer unter Umständen aus persönlichen Zwisten ihre Anhänger gegeneinander aufhetzen, wird die Kampfkraft gegen den ursprünglichen Feind signifikant geschwächt. Der „Leaderless Jihad“ hingegen, ist von dieser Problematik kaum betroffen. Zwar kann es natürlich vorkommen, dass verschiedene Personen in Foren unterschiedliche Meinungen zu einigen Punkten vertreten, aber da es letztlich keine klaren Befehlsstrukturen gibt, ist das Konfliktpotential hier deutlich geringer. Einen weiteren Vorteil, den der „Internet-Jihad“ gegenüber dem klassischen internationalen Terrorismus hat, ist die größere Anpassungsfähigkeit an lokale Gegebenheiten. Besonders Al-Qaida litt unter dem Phänomen, dass sie in verschiedenen Ländern ein sehr unterschiedliches Maß an Unterstützung erfuhren, da sie die örtlichen Gebräuche und Sitten entweder nicht kannten oder nicht achteten. 30 Durch die Netzwerkbildung über das Internet kann eine im Kern einheitliche Ideologie in einer Art und Weise verbreitet werden, in der sie bei den lokalen Zielgruppen positiv aufgenommen wird ohne im Kern verändert zu werden. Dies beginnt schon bei der Überwindung der Sprachbarrieren. „Seit Mitte des letzten Jahrzehnts wird die arabische Terminologie des 28 Nico Prucha, 'Die Vermittlung arabischer Jihadisten-Ideologie: Zur Rolle deutscher Aktivisten' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 45. 29 See, Guido Steinberg, Jihadismus und Internet. Eine Einführung, 20. 30 See, Fawaz A. Gerges, The Rise and Fall of Al-Qaeda, 16. CGS – Discussion Paper | 6 Jihadismus durch bilinguale (Arabisch wie Deutsch beherrschende) Aktivisten und Prediger auch für ein deutschsprachiges Publikum aufbereitet.“ 31 Viele junge Muslime, die als Immigranten zweiter oder dritter Generation in den Ländern der westlichen Welt leben, können so einen Erstkontakt zur jihadistischen Szene etablieren ohne dafür Arabisch oder auch nur Englisch können zu müssen. Darüber hinaus bietet es den Propagandisten die Möglichkeit, die Deutungshoheit über die übersetzten Quellen zu übernehmen, indem sie die Originale auf eine bestimmte Weise interpretieren oder ihre Übersetzungen mit Anmerkungen versehen herausgeben. Außerdem können auch thematische Schwerpunkte gesetzt werden, die in einem bestimmten Land eine besonders große Resonanz hervorrufen. „So ist für die deutsche Internetszene die Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan ein prioritäres Thema ihrer Propaganda.“ 32 Durch die Hervorhebung von Themen, die die Rezipienten aus den Nachrichten kennen und die für sie in besonderem Maß emotional aufgeladen sind, kann der Wirkungsgrad der Propaganda erhöht werden. Die Übersetzer wiederum, die selbst in der Regel lange in der Europäischen Union oder den Vereinigten Staaten gelebt haben, wissen genau, welche Themen in der muslimischen Gemeinde besonders stark diskutiert werden. Durch diese Regionalisierung der Radikalisierungsstrategie können attraktive Subkulturen in den Ländern der westlichen Welt geschaffen werden, die eine immer stärkere Anziehungskraft entwickeln. In Großbritannien hat sich für dieses Phänomen bereits der Begriff „Jihadi-cool“ etabliert, der auf das extrem verzerrte Bild des heroischen Gotteskriegers abzielt. 33 Teilweise werden sogar popkulturelle Elemente in die islamistischen Internetpräsentationen mit eingebaut, um ihre Attraktivität zu steigern. So waren beispielsweise das Layout des Schriftzugs und wichtige Teile der Farbgebung einer deutschen jihadistischen Internetseite der amerikanischen Erfolgsserie Prison Break entlehnt, in der ein junger Mann unschuldig zum Tode verurteilt wird. 34 Durch die Nutzung des Internets als Propagandamedium gelingt es den radikalen Islamisten zunehmend, ihre eigenen Interpretationen und Ansichten in Konkurrenz zur Öffentlichkeit der klassischen Massenmedien zu etablieren. Videos und Verlautbarungen können in kürzester Zeit aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan nach Europa geschickt werden, wo sie in die lokalen Sprachen übersetzt werden und schon kurze Zeit später durch soziale Netzwerke, Foren und Chatrooms tausenden Interessierten zur Verfügung gestellt werden können. 4. Ausblick Der Internet-basierte „Leaderless-Jihad“ bietet insgesamt so viele strategische Vorteile, dass er zweifellos die Zukunft des Terrorismus in der Europäischen Union und den USA darstellt. Das heißt nicht, dass die klassischen Terrororganisationen in naher Zukunft verschwinden werden. Der Fall des „Islamischen Staates“ hat unlängst gezeigt, dass für bestimmte Aufgaben klare hierarchische Strukturen nach wie vor die effizienteste Organisationsform sind. Vielmehr steht zu erwarten, dass sich eine Art Arbeitsteilung zwischen den etablierten 31 Nico Prucha, Die Vermittlung arabischer Jihadisten-Ideologie: Zur Rolle deutscher Aktivisten, 48. See, Guido Steinberg, Jihadismus und Internet. Eine Einführung, 20. 33 See, Kate Holton and Raheem Salman, 'British Muslims blame jihadi subculture after beheading video' in Reuters UK (August 21, 2014), available at: http://uk.reuters.com/article/2014/08/21/uk-iraq-securityidUKKBN0GL1M720140821. 34 See, Guido Steinberg, Die Globale Islamische Medienfront (GIMF) und ihre Nachfolger, 30. 32 CGS – Discussion Paper | 7 Gruppen und den losen, fluiden Netzwerken des Internets entwickelt. Die klassischen Terrororganisationen werden den bewaffneten Kampf in den Ländern des Nahen Ostens führen, wo sie gegen säkulare Strukturen und ausländische Soldaten kämpfen. Gleichzeitig wird in der EU und den USA der Trend zum dezentralen „Internet-Jihad“ bestehen bleiben, da seine Vorteile einfach zu evident sind. Gruppierungen wie Al-Qaida sind durch die Verabschiedung neuer Gesetze und den Aufbau neuer Kapazitäten bei den Sicherheitsbehörden spätestens nach den Anschlägen in London 2005 in allen hochentwickelten Ländern derart unter Druck geraten, dass ihr Spielraum für Aktivitäten dort auf ein Minimum geschrumpft ist. Dem Prinzip des „Leaderless Jihad“ stehen sowohl die Staatengemeinschaft als auch die Wissenschaft weitestgehend ratlos gegenüber. Der Europäische Rat erklärte 2012 beispielsweise: „Die Auswertung von Anschlägen und die Reaktion bei Anschlägen wurden zwar verbessert, aber trotz einer immer besseren Bedrohungsanalyse mangelt es uns noch immer an praktischen Maßnahmen gegen die problematischsten Erscheinungen, nämlich terroristische Einzeltäter und die Entstehung von sicheren Zufluchtsorten außerhalb der EU.“ 35 In Reichweite und Wirkungsgrad übersteigt der „Internet-Jihad“ alles, was Al-Qaida jemals in Sachen Rekrutierung und Radikalisierung in den westlichen Ländern erreicht hat. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Jihadismus jetzt zu einem Massenphänomen wird; insgesamt ist die Unterstützung für die Ideologie gering. Nur etwa zwei Prozent aller europäischen Muslime sympathisieren mit der radikal-islamischen Ideologie. 36 Davon ist wiederum nur ein Bruchteil tatsächlich bereit, auch aktiv Gewalt auszuüben. Das Problem ist vielmehr, dass über das Internet so viele, so unterschiedliche Menschen angesprochen werden, dass es extrem schwierig wird, vorherzusagen, welche davon zu Terroristen werden oder auch nur festzulegen, welche Personen für eine intensivere Überwachung in Frage kommen. Die Struktur des Internets und insbesondere des „Web 2.0“ verwischen die Grenzen zwischen Interessierten, Sympathisanten und tatsächlich gewaltbereiten Jihadisten. Die naheliegende Gegenmaßnahme, die auch bereits zur Anwendung gelangt, ist die Unterwanderung der jihadistischen Szene. Nachrichtendienste betreiben teilweise selbst Foren (sogenannte „honey pots“), in denen radikale Islamisten angelockt und identifiziert werden sollen. 37 Die Probleme mit diesem Ansatz sind jedoch zahlreich. So kann die verbreitete Propaganda, die für die Tarnung notwendig ist, tatsächlich zu Radikalisierungsprozessen führen, was natürlich kontraproduktiv wäre. Es ist aber auch sehr problematisch, die Grenze zu ziehen, die zu einer Reaktion der Behörden führt. Können Sympathiebekundungen für Al-Qaida oder den Islamischen Staat bereits als Grund für eine Untersuchungshaft dienen? Paragraph 129a StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) bietet für die neuen Strukturen des „Internet-Jihad“ kaum eine Grundlage. Ein Gesetz, welches die effektive Verfolgung aller Besucher von islamistischen Foren oder Facebook-Gruppen ermöglicht, würde jedoch eine immense Gefahr zur Aushöhlung des Rechtsstaates darstellen. Eine wirksame und umfassende Abschaltung oder Sperrung aller Seiten, Foren und Gruppen scheint nach derzeitigem Stand der Technik ebenso ausgeschlossen. Es liegt daher nahe, dass die 35 Rat der Europäischen Union, Strategie der EU zur Terrorismusbekämpfung - Diskussionspapier (May 23, 2012), available at: http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=DE&f=ST%209990%202012%20INIT, 1. 36 See, Oldrich Bures, EU Counterterrorism Policy. A Paper Tiger? (Farnham: Ashgate Publishing, 2011), 37. 37 See, Guido Steinberg, Jihadismus und Internet. Eine Einführung, 13. CGS – Discussion Paper | 8 westlichen Staaten in Zukunft zunehmend in einen argumentativen Wettbewerb mit radikalen Ideologien gezwungen werden. Das Internet hat der jihadistischen Szene eine Öffentlichkeit gegeben, die ihr wohl nicht mehr genommen werden kann und die sie zu nutzen versteht. Wenn verhindert werden soll, dass dieses Phänomen zu einer immer höheren Zahl an Radikalisierungsprozessen führt und somit schließlich zum „Homegrown-Terrorism“, dann müssen die Behörden in einen aktiven Meinungskampf eintreten. Der Staat muss im Internet Präsenz zeigen und eine Gegenöffentlichkeit zu der radikalen islamistischen Propaganda aufbauen. Der Kampf gegen den Terrorismus wird in Zukunft zu einem Meinungskampf werden. Nur wenn es gelingt, den radikalen Kräften nicht die Deutungshoheit über bestimmte Themen zu überlassen, kann dieser Kampf gewonnen werden. Literaturempfehlungen Guido Steinberg, 'Jihadismus und Internet. Eine Einführung' in Jihadismus und Internet: Eine deutsche Perspektive, ed. Guido Steinberg (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), 7 – 22. Marc Sageman, Leaderless Jihad. Terror Networks in the Twenty-First Century (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008). Rüdiger Lohlker, ed., Jihadism: Online Discourses and Representations (Goettingen: Vienna University Press, 2013). Peter R. Neumann, Terrorism in the 21st century. The rule of law as a guideline for German policy (Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2008). CGS – Discussion Paper | 9