Die Bedeutung von Bewegungsangebote in Pädagogik und

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Die Bedeutung von Bewegungsangebote in Pädagogik und
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Donau-Universität Krems
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Abteilung für Umwelt- und Medizinische Wissenschaften
Universitätslehrgang
AKADEMISCHE BEWEGUNGSTHERAPIE
Abschlussarbeit
Die Bedeutung von Bewegungsangebote
in Pädagogik und Therapie
am Beispiel
Psychomotorischer Entwicklungsbegleitung
und
Integrativer Bewegungstherapie
vorgelegt von
Maga. Veronika Pinter-Theiss
Matrikelnummer: 8710192
September 2005
-1-
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Erklärung
Ich versichere, dass ich die vorliegende Abschlussarbeit selbstständig
verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt
und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfe bedient habe.
Graz, 13. September 2005
Verfasst von
Maga. Veronika Pinter-Theiss
8010 Graz
Charlottendorfgasse 6
-2-
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
4
1.
Einleitung
5
2.
7
2.1.
2.2.
2.3.
Bewegung - aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet - Begriffsklärung und
Zuordnungen
Bewegung – aus allgemeiner Sicht betrachtet
Bewegung – aus Sicht der Psychomotorik betrachtet
Bewegung – aus Sicht der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie betrachtet
3.
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
Die Bedeutung von Bewegung für den Menschen
Die instrumentelle Dimension von Bewegung
Die explorierend-erkundende Dimension von Bewegung
Die soziale Dimension von Bewegung
Die personale Dimension von Bewegung
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4.
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
4.5.
4.6.
Bewegung im Rahmen des komplexen Leibkonzeptes der Integrativen Therapie
Der perzeptive Leib (Wahrnehmung)
Der expressive Leib (Ausdruck und Handlung)
Der memorative Leib (Gedächtnis)
Der reflexive Leib (Denken)
Bewegung als Lebensphänomen
Der Mensch in Bewegung
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5.
Bewegungsangebote in der Pädagogik
am Beispiel psychomotorischer Entwicklungsbegleitung
Bewegung und Handlungskompetenz
Konzept der Psychomotorik
Bewegungsthemen in der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung
Bewegungsthemen zur leiblichen Erfahrung
Bewegungsthemen zur materialen Erfahrung
Bewegungsthemen zur sozialen Erfahrung
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20
20
6.1.
6.2.
6.2.1.
6.2.2.
6.2.3.
Bewegungsangebote in der Therapie
am Beispiel Integrativer Bewegungs- und Leibtherapie
Bewegung und Lernen
Bewegungsthemen in der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie
Dimensionen der Leiblichkeit
Dynamiken des Leibes
Der Leib in seinen Relationen
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7.
Bewegung und Beziehung
25
8.
8.1.
8.2.
8.2.1.
8.2.2.
8.2.3.
8.3.
8.4.
8.4.1.
8.4.2.
8.4.3.
Bewegungsangebote in der pädagogischen und therapeutischen Praxis –
Zwei Beispiele
Eine psychomotorische Stunde mit Kindern
Eine Nachbetrachtung
Realisierte Bewegungsthemen zur leiblichen Erfahrung
Realisierte Bewegungsthemen zur materialen Erfahrung
Realisierte Bewegungsthemen zur sozialen Erfahrung
Eine bewegungstherapeutische Stunde mit einer erwachsenen Klientin
Eine Nachbetrachtung
Realisierte Erfahrungen zu den Dimensionen der Leiblichkeit
Realisierte Erfahrungen zu den Dynamiken des Leibes
Realisierte Erfahrungen zum Leib in seinen Relationen
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30
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33
33
34
9.
Zusammenfassung
34
10.
Literatur
35
11.
Abbildungen
35
5.1.
5.2.
5.3.
5.3.1.
5.3.2.
5.3.3.
6.
-3-
7
8
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Vorwort
Schon immer hat mich Bewegung fasziniert!
Als Kind bewegungsinteressierter Eltern war ich im Familienverband oft wandern,
schwimmen, eislaufen und Schi fahren und durfte ich viele Sportarten erlernen.
Lange Zeit galt meine große Liebe dem Pferdesport und diesen vernachlässigte ich
auch erst dann, als ich mein Studium der Sportwissenschaften begann – einfach,
weil ich nicht mehr genug Zeit hatte.
Während meines Sportstudiums erkannte ich, dass mich viel weniger die
Leistungsmaximierung im Spitzensport oder die Optimierung von sportlichen
Techniken und motorischen Fertigkeiten interessierte, als vielmehr der Einsatz von
Bewegung in der Arbeit mit behinderten und kranken Menschen.
Auf der Suche nach einem weiter geöffneten Blick auf Bewegung, als ihn der Sport
hatte, fand ich meine nächste Ausbildung: das Motologiestudium
(Bewegungswissenschaften).
Zwei Jahre verbrachte ich in Deutschland und lernte die Bewegung nun unter
einem ganz anderen Aspekt kennen – als Teil der Persönlichkeit des Menschen.
Unter diesem Blickwinkel erweiterte sich auch wieder die Zielgruppe, mit der ich
tätig sein wollte – es mussten nicht mehr nur behinderte oder kranke Menschen
sein. Ich wollte mit Menschen unterschiedlichsten Alters und Entwicklungsstandes
zusammen sein, beobachten, welche Bedeutung Bewegung für deren Leben hat
und als Entwicklungsbegleiterin mit ihnen ein Stück ihres Weges gehen.
Viele Jahre war ich als psychomotorische Entwicklungsbegleiterin tätig als mich
neuerlich der Wunsch packte, meinen Blick auf den Menschen und seine
Bewegung zu überprüfen, zu erweitern, neu zu schärfen. Und so begann ich mich
mit dem Konzept der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie zu beschäftigen.
Hier erlebte ich einerseits sehr Vertrautes, andererseits auch viel Neues, vor allem
immer dort, wo es um den Einsatz von Bewegung im therapeutischen Tätigkeitsfeld
ging. Und hier begannen auch die Fragen, die mich zu dieser Arbeit gebracht
haben: Worin besteht der Unterschied zwischen pädagogischem und
therapeutischem Tun? und: Welche Bedeutung haben Bewegungsangebote für die
pädagogische oder therapeutische Arbeit?
Ich selbst verstehe mich als psychomotorische Entwicklungsbegleiterin.
Mein Selbstverständnis nährt sich aus einer Sichtweise, die Bewegung als
zentrales Element für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen anerkennt.
Mag sein, dass ich pädagogisch arbeite, wenn ich mit gesunden Menschen zu tun
habe, mag sein, dass ich einen sonderpädagogischen Ansatz vertrete, wenn ich mit
behinderten Menschen spiele und mag sein, dass ich therapeutisch tätig bin, wenn
ich kranke Menschen zu unterstützen versuche.
Gewiss ist, dass es immer Menschen sind und dass ich mich bemühe, sie auf ihrem
Weg bestmöglich zu begleiten. Und gewiss ist, dass mein Weg zu ihnen über die
Bewegung führt.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
1. Einleitung
„Machst du mit uns eine Turnstunde?! Eine extra Turnstunde?! Eine PatenkinderTurnstunde?! Nur für uns vier? Im Turnsaal?! Jetzt gleich? Bitte!!!“
Vier Mädchen zwischen 5 und 8 Jahren hängen an mir, ihre leuchtenden Augen
strahlen mir voller Energie und Erwartung entgegen und eine versucht die andere
zu überschreien:
„Machst du mit uns eine Turnstunde?! Eine extra Turnstunde?! Eine PatenkinderTurnstunde?! Nur für uns vier? Im Turnsaal?! Jetzt gleich? Bitte!!!“
Ich wische mir die Hände im Geschirrhangerl trocken, schnaufe kurz durch und
antworte: „Ja natürlich, gerne!“
Immerhin ist heute Patenkindertag, ein Tag, den ich nur einmal im Jahr organisiere
und an dem sich meine vier Patenmädchen, Fabiola und Tabea, meine zwei
Nichten, und Clara und Miriam, die Töchter zweier Freundinnen von mir, bei mir
treffen, um einen „besonderen“ Tag zu verbringen.
Um den Tag zu einem „besonderen“ Tag werden zu lassen haben sie sich diesmal
– wie auch schon im vergangenen Jahr – eine Extra-Patenkinder-Turnstunde
ausgesucht.
So finden wir uns 10 Minuten später in meinem kleinen Bewegungsraum wieder
und gestalten miteinander die „Extra-Patenkinder-Turnstunden“, ein
bewegungsorientiertes Angebot basierend auf den Grundprinzipien der
psychomotorischen Entwicklungsbegleitung.
Zwei Tage später.
Mein Handy piepst, eine SMS ist angekommen:
LV, freue mich schon wieder auf eine Stunde mit Ihnen und wollte anfragen, ob Sie
nächste Woche einmal Zeit für mich haben? Lg, P.
P. ist eine Klientin von mir, die ich seit mehreren Jahren begleite. Die Stunden mit
ihr beinhalten bewegungsorientierte Angebote, basierend auf den Grundprinzipien
der Integrativen Bewegungstherapie.
Was aber lässt die Mädchen nach einer Turneinheit betteln?
Warum fragt P. noch nach Jahren um eine gemeinsame Stunde?
Welche Bedeutung kommt mir, einmal als Pädagogin und einmal als Therapeutin in
diesem Zusammenhang zu?
Und welche Bedeutung hat es für die Motivation der Kinder und der erwachsenen
Frau, dass mein Angebot ein Bewegungsangebot ist?
Diesen Fragen werde ich in meiner Arbeit nachgehen, sie sollen der Leitfaden sein,
der mich einer Antwort auf die übergeordnete Frage näher bringt:
Welche Bedeutung haben Bewegungsangebote in Pädagogik und Therapie?
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Zu Beginn der Arbeit werde ich Begrifflichkeiten klären und das Phänomen
Bewegung aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.
Der „lebendige Leib in Bewegung“ steht im Mittelpunkt meiner weiteren
Betrachtungen. Sowohl die Bedeutungsdimensionen von Bewegung nach Grupe
als auch der komplexe Leibbegriff von Petzold werden übersichtlich dargestellt.
Im Anschluss daran beschreibe ich, welcher Platz der Bewegung in den Konzepten
der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung und der Integrativen Bewegungsund Leibtherapie einge-räum-t wird. Damit untersuche ich auch die Frage nach dem
Einsatz von Bewegung in Pädagogik und Therapie.
Welche Rolle der PädagogIn bzw. TherapeutIn im bewegungsorientierten Prozess
zukommt, wird in dieser Arbeit nur ein kurzes Kapitel gewidmet.
Abschließend gebe ich zwei Beispiele meiner praktischen Arbeit – eines aus meiner
Tätigkeit als Pädagogin in der Arbeit mit einer Kindergruppe, das andere aus
meiner Tätigkeit als Therapeutin mit einer erwachsenen Klientin in der Einzelarbeit.
Alle in der Arbeit kursiv geschriebenen und grau hinterlegten Textstellen sind Zitate
aus schriftlichen Rückmeldungen meiner Klientin Frau P., der ich an dieser Stelle
herzlich dafür danken möchte, dass sie es mir erlaubt hat, meine Arbeit um ihre
Gedanken und Aussagen zu bereichern.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
2. Bewegung - aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet
Begriffsklärung und Zuordnungen
Sowohl als Psychomotorikerin als auch als Bewegungstherapeutin arbeite ich mit
und über das Medium Bewegung.
Was aber ist eigentlich Bewegung?
2.1. Bewegung – aus allgemeiner Sicht betrachtet
Möchte man das Phänomen Bewegung näher fassen, es sich von Experten
erklären lassen und schlägt man dazu in einem Lexikon nach, zeigt sich schon auf
den ersten Blick, dass dieses Phänomen kein ein-faches sondern ein vielschichtiges ist.
Das Goldmann-Lexikon z.B., das sich in meinem Besitz befindet, schlägt gleich drei
Betrachtungsweisen von Bewegung vor: eine philosophische, eine biologische und
eine physikalische (vgl. Goldmann-Lexikon, 1996, S. 1150ff)
Im physikalischen Sinne wird unter Bewegung eine „zeitbedingte, relative
Ortsänderung eines Körpers“ (Goldmann-Lexikon, Band 3, S. 1150) verstanden, die
„hinsichtlich Richtung und Geschwindigkeit nur in Bezug auf einen anderen Körper
festgestellt werden kann“ (ebd.).
Im philosophischen Sinne wird Bewegung als eine „Veränderung räumlich-örtlicher,
quantitativer und qualitativer, wesentlicher oder oberflächlicher Art, der alles
Endliche unterworfen ist“ (ebd.) gesehen.
Und im biologischen Sinne gibt es sogar noch eine Unterteilung: „Im Tierreich
gehen wahrscheinlich alle Bewegungs-Formen auf sich aktiv zusammenziehende
Eiweißstoffe zurück“ (ebd.) – d.h. hier wird Bewegung in einen Zusammenhang mit
Muskelarbeit gesetzt, die dann z.B. „aktive Ortsbewegungen der Tiere wie Laufen,
Fliegen, Schwimmen, Kriechen, Klettern und passive Ortsbewegungen wie Gleiten,
Segeln, Auf- und Absteigen von Wassertieren“ (ebd.) ermöglicht.
„Im Pflanzenreich treten neben langsam ablaufenden Bewegungen wie Wachstum
und Entwicklung eine Reihe besonderer, schnell ablaufender Bewegungsvorgänge
auf.“ (ebd.)
Wachstum und Entwicklung!
Das sind zwei Begriffe, die mich ansprechen – zwar sind sie dem Pflanzenreich
zugeordnet, aber das kenne ich ja auch aus anderen Bereichen meiner Tätigkeit,
wie z.B. dem Kindergarten. Entwicklung wird öfters mit Vergleichen aus der
Pflanzenwelt beschrieben.
Wachstum und Entwicklung haben also auch etwas mit Bewegung zu tun!
Diese Erkenntnis ist jedoch nicht neu und ebenso ist es schon lange anerkannt,
dass Bewegung eine Schlüsselrolle spielt in der Entwicklung der Persönlichkeit des
Menschen.
Zwei Konzepte, die aufgrund dieser Erkenntnis in ihrer praktischen Umsetzung
einen Schwerpunkt auf Bewegungsangebote legen, möchte ich aus persönlichem
Interesse herausgreifen und darstellen.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
2.2. Bewegung – aus Sicht der Psychomotorik betrachtet
„Aufgrund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper,
Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff PSYCHOMOTORIK die
Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für
die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen
Kontext.“ (Definition des Europäischen Forums für Psychomotorik, 1996)
Unabhängig voneinander hat sich in den letzten Jahrzehnten in den einzelnen
Ländern und Regionen Europas eine Strömung in der Pädagogik und Therapie
entwickelt, die die Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung des Menschen
theoretisch beschreibt und in der Praxis berücksichtigt. (vgl. Passolt/Pinter-Theiss,
2003, S. 11)
So unglaubwürdig es aus dem Mund von jemandem klingen mag, der meist so
einseitig einen Ansatz heranzieht, wie ich das tue, so sehr reizt es mich vielseitiger
zu werden und den versteckten, verkümmerten, nie wirklich entwickelten Aspekten
meiner Persönlichkeit nachzuspüren.
Im deutschsprachigen Raum sind in diesem Zusammenhang mehrere Definitionen
sowohl des Begriffes Motorik als auch des Begriffes Bewegung zu finden:
So schreibt NITSCHKE 1968, dass Motorik „die ganze Fülle der Bewegungen (…),
die der Mensch im Gehen, Handeln, bei Spiel und Sport, in seinen Leistungen im
Handwerk und Beruf, beim Schreiben oder im Gespräch ausführt und ebenso seine
Weise, Gemütsbewegungen und Stimmungen in Haltung, Mimik und Gebärde
auszudrücken“ umfasst.
Der Definition des AKTIONSKREISES PSYCHOMOTORIK DEUTSCHLAND aus
dem Jahr 1976 nach gilt „Motorik als das bewußte und unbewußte Haltungs- und
Bewegungsgesamt des Menschen in der Funktionseinheit von Wahrnehmen,
Erleben und Handeln.“
In beiden Definitionen wird deutlich, dass Bewegung weit mehr ist, als eine raumzeitliche Veränderung, und dass in der Komplexität von Bewegung das Potential
liegt, sie als Angebot für die Begleitung von Persönlichkeitsentwicklung einzusetzen.
Die Psychomotorik, die Bewegung als Medium in der Entwicklungsbegleitung
einsetzt, umfasst ein Fachgebiet, das sich in drei große Richtungen differenzieren
lässt: die psychomotorische Pädagogik, die psychomotorische Förderung und die
psychomotorische Therapie.
Meine berufliche Tätigkeit fällt in die ersten beiden Bereiche und wird in der Folge
als psychomotorische Entwicklungsbegleitung beschrieben sein.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
2.3. Bewegung – aus Sicht der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie
betrachtet
Die Integrative Bewegungs- und Leibtherapie ist eine Methode innerhalb des
Verfahrens der Integrativen Therapie.
„Die INTEGRATIVE THERAPIE ist ein sozialwissenschaftlich und
tiefenpsychologisch fundiertes, ganzheitliches Therapieverfahren, das 1965 von
Prof. Dr. H. G. Petzold begründet und seitdem mit Dr. J. Sieper und Dr. H. Heinl
und ihren MitarbeiterInnen entwickelt wird und das sich – getreu seiner
heraklitischen Orientierung – in ständiger Weiterentwicklung befindet.“ (Hausmann
et al, 1996, S. 24f).
Im Zentrum des Interesses der Integrativen Therapie steht – wie auch in der
Psychomotorik - der Mensch in seiner Entwicklung.
Die Integrative Bewegungs- und Leibtherapie, als eine von mehreren Methoden der
Integrativen Therapie, nimmt den lebendige „Leib in Bewegung“ als die Grundlage
aller Wahrnehmung, jeder Kommunikation, jeder Emotion und selbst des
feinsinnigsten Gedankens“ in ihren Fokus. (vgl. Petzold, 1996, einleitender Text)
„Die Integrative Bewegungstherapie versucht den Menschen in seiner
Körperlichkeit, seinen emotionalen Regungen, seinen sozialen Interaktionen und in
seinen geistigen Strebungen zu erreichen.“ (Petzold, 1996, S. 61)
Tief in meinem Inneren war für mich stets klar (und das seit mehr als 20 Jahren),
daß ein Ansatz, der versucht Körper und Geist/Psyche zu trennen, mir nur schwer
helfen könnte. Aber meine seinerzeitigen Versuche nach Hilfe zu suchen, waren
ergebnislos und später hatte ich es aufgegeben gehabt. Es ist für mich eine
Riesenerleichterung zu erfahren, daß ich nicht mein Denken zwangsweise
ausschalten muß, um mich im Bereich der Körpers weiterentwickeln zu können
„Bewegung ist die natürliche Gegebenheit des lebendigen Körpers, sei er nun
gesund oder krank. Der gesunde Körper als bewegter verfügt über ein
Bewegungspotential, über Möglichkeiten, Bewegungen zu vollziehen, auszuführen,
die durch seine Wahrnehmung, seine Muskelkraft, die Bewegungsmöglichkeiten
der Gelenke und durch seinen psychophysiologischen Allgemeinzustand
vorgegeben sind. (…) Im integrativen Ansatz wird Bewegung aber komplexer
aufgefasst: als körperliche Motilität, emotionale Bewegtheit, geistige Beweglichkeit,
soziales Aufeinanderzugehen oder Voneinandergehen, als Bewegung im
sozioökologischen Raum also.“ (Orth, 1996).
Auch hier wird also die Komplexität von Bewegung deutlich und somit der Einsatz
von Bewegung als Medium in der Therapie und von gezielten
Bewegungsangeboten im Speziellen gerechtfertigt.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
3. Die Bedeutung von Bewegung für den Menschen
Bei meinen theoretischen Vorüberlegungen und meiner Suche nach Definitionen
von Bewegung ist mir schnell klar geworden, dass Bewegung für meine Arbeit nur
insofern relevant ist, als sie unter dem Aspekt zu betrachten ist, welche Bedeutung
sie für den Menschen hat.
Radfahren war immer schon eine meiner bevorzugten Bewegungsaktivitäten, wenn
ich auch einige Jahre fast gar nichts gefahren bin und den Anschluß total verloren
hatte und den Wechsel in der Radtechnologie erst sehr spät (vor 3 Jahren)
mitbekommen habe. Nichtsdestotrotz stelle ich fest, daß ich mittlerweile das Fahren
mehr genießen kann. Auf der einen Seite bin ich mittlerweile sensibler auf die
Signale des Körpers und kann dadurch öfter mal die Haltung ändern was sich sehr
günstig auf die langsamere Ermüdung und auf Vermeidung von Verspannungen
auswirkt. Auf der anderen Seite kann ich auch das Gefühl, in Bewegung zu sein,
viel positiver wahrnehmen. Es frustriert mich nicht mehr, wenn mich andere
Radfahrer überholen, egal wie alt sie sind. Ich fahre mein eigenes Tempo (Schnitt
so um die 18 km/h) und schaue nicht mehr so viel auf die anderen wie früher.
Mit der Frage nach der Bedeutung von Bewegung wird zugleich die
subjektbezogene Sichtweise deutlich. Bewegung ist das Medium, durch das sich
der Mensch – das Subjekt, sich selbst, anderen Menschen, den Dingen des Alltags
und Situationen zuwendet, sie ist „der Zugang zur Welt“ (Grupe, 1976, S. 5). Der
Mensch tut das aber jeweils auf die ihm eigenste Art und Weise und seine
„Bewegung wird beeinflusst von der individuellen und sozialen Wirklichkeit, von
biographischen wie von gesellschaftlichen, von biologischen wie auch
kulturhistorischen Tatbeständen…“ (Philippi-Eisenburger, 1990, S. 13)
So hat jede Bewegung(shandlung) auch einen individuellen Sinn, der oft nur aus
einem situativen Zusammenhang zu erschließen oder zu interpretieren ist.
„Bewegungen unterscheiden sich oft weniger in ihrem motorischen Vollzug als
vielmehr durch die unterschiedliche Sinngebung.“ (ebd, S. 14)
Wenn wir also einen Menschen laufen sehen, wissen wir aufgrund des motorischen
Geschehens noch nicht, ob er versucht, noch schnell eine Straßenbahn zu
erreichen, ob er sich auf der Flucht befindet, ob er sich zugunsten einer
Gewichtsreduktion schneller als normal bewegt oder ob er an einem sportlichen
Wettkampf teilnimmt.
Erst der Kontext - manchmal die Kleidung, manchmal der Raum in dem die
Bewegung stattfindet – lassen den Betrachter den individuellen Sinn der Bewegung
erahnen.
Um dem Bedeutungsgesamt des Phänomens Bewegung näher zu kommen lohnt
es sich, dieses zu systematisieren. (vgl. Grupe, 1976)
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
3.1. Die instrumentelle Dimension von Bewegung
Jeder Mensch verwendet im Rahmen seiner Möglichkeiten den eigenen Körper und
seine Bewegungen tagtäglich als Werkzeug, mit Hilfe dessen er seinen Alltag
bewältigt. Es gibt keine Handlung im Alltag, sei es in Beruf oder Freizeit, die ohne
Bewegung möglich wäre. Die instrumentelle Bedeutung von Bewegung bezieht sich
„auf Techniken des Körpers, die der Mensch sich im Laufe der phylogenetischen
wie ontogenetischen Entwicklung durch Nachahmung, Erziehung und Lernen
angeeignet hat und die so selbstverständlich zur Verfügung stehen, dass sie, wenn
sie nicht gerade durch innere oder äußere Anlässe gestört oder behindert werden,
oft außerhalb des Bewußtseins ausgeführt werden.“ (Philippi-Eisenburger, 1990, S.
14)
Bewegung wird also nicht per se produziert oder durchgeführt, sondern immer, um
damit etwas zu erreichen, was quasi außerhalb der eigentlichen Bewegung liegt:
Grundbewegungsarten wie das Gehen, das Laufen, das Springen, das Klettern;
Kulturtechniken wie Essen, Schreiben, Körperpflege, … (vgl. ebd.)
Eine große Rolle spielt die instrumentelle Bedeutung von Bewegung für das junge
Kind, das erst lernen muss, mit dem Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten
kompetent umzugehen und in der Arbeit mit alten Menschen, wenn es das Ziel ist,
den Gebrauch des Werkzeugs möglichst lange zufriedenstellend zu erhalten.
3.2. Die explorierend-erkundende Dimension von Bewegung
Ich finde es echt faszinierend, was man auf so einem Trampolin alles machen kann,
ohne Fähigkeiten haben zu müssen, die ich nicht habe.
Über Bewegung wird es dem Menschen möglich etwas über sich selbst und seine
materielle und personale Umwelt zu erfahren.
Interessieren wir uns z.B. für einen schönen Stein, so nehmen wir ihn in die Hand –
das Sprichwort „man schaut mit den Augen und nicht mit den Händen“ verliert
sofort seine Gültigkeit – drehen und wenden ihn, machen wiegende Bewegungen
und erhalten so Informationen über seine Beschaffenheit: Ist der Stein schwer oder
leicht? Ist er rau oder glatt? Wo hat er Ecken und Kanten? Ist er warm oder kalt? Ist
er groß oder klein?
Die erkundende Bedeutung von Bewegung umfasst alles, was „dazu dient, Wissen
zu erlangen, Wissen, wie die Dinge der Welt beschaffen sind und wie man mit
ihnen umgeht.“ (Eisenburger in Köckenberger, 2004, S. 535)
Neugierde ist eine Triebfeder des Lernens und damit der Entwicklung und somit
spielt das Erkunden, das Be-greifen, das Er-fassen, das immer neue und neugierige Auf-die-Welt-zugehen eine bedeutende Rolle in allen Lebensabschnitten.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
3.3. Die soziale Dimension von Bewegung
Bewegung ermöglicht nicht nur soziale Erfahrungen sondern sie ist auch das
Medium sozialer Beziehungen.
Über den Körper und seine Bewegungshandlungen kommuniziert der Mensch mit
seinen Mitmenschen, drückt er seine Stimmungen, seine Wünsche, seine
Befindlichkeit aus und versucht er auf das Gegenüber Einfluss zu nehmen und
etwas zu bewirken.
„Soziale Kommunikation als Grundbedürfnis des Menschen realisiert sich in der
Regel durch Elemente wie Sprache und Schrift, Körpersprache, Gestik und Mimik.
Sich verständlich machen und Verstehen, Lachen und Weinen, Besuche machen,
Familientreffen, ins Theater gehen – wie soll man dies ohne Bewegung
tun?“ (Eisenburger in Köckenberger, 2004, S. 536)
Soziale Bewegungen sind stark kulturell gefärbt, was z.B. bei Grußverhalten
sichtbar wird. Während in unserem Lebensraum ein kräftiger Händedruck zur
Begrüßung immer mehr einem unverbindlichen, körperfernen „Hallo“ weichen muss,
kennen wir in südlichen Teilen Europas das sehr körpernahe „Küsschen rechts und
Küsschen links“ als einen Gruß, der sowohl für Freunde als auch für Fremde
verwendet wird.
Bewegung ist die erste Kommunikationsform des Menschen und bleibt ein Leben
lang bedeutsam für ein gesundes Leben im sozialen Umfeld.
3.4. Die personale Dimension von Bewegung
„Die personale Bedeutungsdimension erschließt sich dem Subjekt, indem es sich
selbst in seiner Bewegung und durch sie erfahren und verwirklichen
kann.“ (Philippi-Eisenburger, 1990, S. 18)
Ein wunderschöner Aspekt an unseren Stunden ist, daß Sie mir vor Augen führen,
daß man auch mit ganz elementaren Dingen Spaß haben kann, wenn man sich
diese weder selbst vermiest noch dies durch andere erfolgt. Ich fühle wie die Kraft
in mir steigt mich diesbezüglich auch wieder der Außenwelt zu stellen.
Es fällt mir noch nicht leicht mir zu denken "Da bin ich und ich habe auch ein Recht
hier zu sein“, aber ich merke, daß mir solche Gedanken weniger fern sind als sie es
noch vor einiger Zeit waren.
Bewegungserfahrungen sind immer Erfahrungen des eigenen Selbst. In der
Bewegung, im Tun, im Spiel erlebt der Mensch, was er kann, wofür seine
momentane Leistung ausreicht, aber auch wo seine Grenzen sind.
In der Bewegung erlebt sich der Mensch als selbstwirksam, als jemand, der etwas
bewirken kann und entwickelt darüber auch ein Bild von sich selbst.
„Bei Kindern sind es insbesondere körperliche und motorische Fähigkeiten, die für
sie für den Prozess der Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung von Bedeutung
sind.“ (Zimmer in Köckenberger, 2004, S. 59)
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
„Die Erfahrung eines Mehr an Bewegungskönnen ist hierbei die Erfahrung eines
möglichen Mehr an Sicherheit, an Zutrauen zu sich, an Selbstwerteinschätzung, an
Kompetenz, und insofern auch an Möglichkeiten und individueller Freiheit.“ (Grupe,
1976, S. 15)
Je mehr erfolgreiche Bewegungserfahrungen also gemacht werden, desto mehr ist
auch eine positive Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten – in
jedem Lebensalter.
4. Bewegung im Rahmen des komplexen Leibkonzeptes der
Integrativen Therapie
Leib und Bewegung sind untrennbar miteinander verbunden. So spricht Petzold wie
schon zitiert vom lebendigen „Leib in Bewegung“ und macht damit deutlich, dass
der Bewegungsbegriff der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie aus einer
engen Körperbezogenheit herausführt und in ein umfassendes Leibkonzept
hineinführt. (vgl. Hausmann, 1996, S. 37)
Der Leib ist die Basis menschlicher Existenz und der „Mensch ist, als Mann und
Frau, ein Körper-Seele-Geist-Wesen in einem sozialen und ökologischen Kontext
im Zeitkontinuum“ (Petzold, zitiert aus dem Skriptum der Weiterbildung zur
akademischen Bewegungstherapie an der Donau-Uni Krems - ohne Angabe).
Über seinen Leib, den der Mensch nicht hat, sondern der er ist, nimmt der Mensch
seine Mitwelt und seine Umwelt wahr, gestaltet sie mit und kann über sie
reflektieren.
Wie im vorherigen Abschnitt der Bewegung Bedeutungsdimensionen zugeordnet
werden konnten, können dem Leib Funktionen zugeschrieben werden, die das
Gesamt des Leibes als „totales Sinnesorgan“ konkretisieren. (vgl. Grund et al, 2004,
S. 220f)
4.1. Der perzeptive Leib (Wahrnehmung)
Solche Aufgabenstellungen wie gewisse Bewegungsmuster zu beobachten und
diese zu versuchen zu beschreiben, helfen mir sehr, zu lernen meine eigenen
Bewegungen besser wahrzunehmen (oft nahm ich diese in der Vergangenheit gar
nicht wahr) und mir Gedanken über Bewegungen zu machen, die ich mir ansonsten
nie im Leben gemacht hätte. Ich empfinde diese Erfahrungen als ungemein
spannend, interessant und bereichernd.
Der wahrnehmende Leib funktioniert über die Sinnesorgane des Menschen. Über
die körpernahen Sinne wie das taktile, das vestibuläre, das kinästhetische, das
gustatorische und das olfaktorische System, sowie über die körperfernen Sinne wie
das visuelle und das auditive System werden Informationen aufgenommen und
verarbeitet.
Der Leib nimmt einerseits sich selber wahr und andererseits auch das, was von
außen an ihn herankommt. Das tut er nicht, indem er jeden Reiz und jede
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Information separat aufnimmt, sondern es kommt ununterbrochen zu so genannten
„Polyästhesien“ (Petzold, 1996, S.196), zu vielfältigen und differenzierten
gleichzeitigen Wahrnehmungen und Empfindungen.
Angemessenheit in der Reizsetzung, d.h. weder ein Mangel an Reizen noch eine
Reizüberflutung sind die Voraussetzung für eine „Aneignung und Einleibung von
Welt“ (Schmitz in Grund et al, 2004, S. 221)
Wahrnehmung ist ohne Bewegung nicht möglich und somit sind
Bewegungsangebote die Voraussetzung für einen Sensibilisierung des perzeptiven
Leibes.
4.2. Der expressive Leib (Ausdruck und Handlung)
Jeder Mensch hat das Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden und er nützt sein
ganzes Bewegungspotential, um sich über Mimik, Gestik, Haltung, Stimme, usw.
auszudrücken.
Die Aufnahme von Reizen und Informationen durch den perzeptiven Leib hat eine
direkte Auswirkung auf den expressiven Leib, da dieser die wahrgenommenen
Eindrücke in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringt.
Befinden wir uns z. B. in einer Disko, in der uns die Musik nicht gefällt, die wir
darüber hinaus als zu laut empfinden, so werden wir nicht unbekümmert tanzen
gehen, sondern eher angespannt an der Theke stehen und immer wieder auf die
Uhr schauen, ob das Taxi bald kommt.
Mir war immer klar, daß Trampolinspringen prinzipiell Spaß machen kann, wie viele
andere Bewegungsformen auch, nur dachte ich stets, ich sei halt die Ausnahme,
die zu ungeschickt sei, um bei solchen Aktivitäten Spaß haben zu können.
Wenn es gelingt, über Bewegungsangebote das Vermögen zu aktivieren,
Empfindungen und Gefühle mit dem Körper auszudrücken, wirkt man gleichzeitig in
die psychischen Strukturen hinein. Durch eine Förderung der Ausdruckskraft des
Leibes wird also auch die emotionale Ausdrucksfähigkeit des ganzen Menschen
unterstützt.
4.3.Der memorative Leib (Gedächtnis)
Mir wurde dann beim Nachdenken klar, daß ich gar nicht so sehr mitteilte, was ich
beobachtet hatte (ich war auf das Springen konzentriert), sondern einfach sagte,
was ich aus Erfahrung zu wissen glaubte.
Im memorativen Leib werden sowohl alle Wahrnehmungen (Eindruck) als auch alle
Reaktionen auf diese (Ausdruck) verarbeitet und gespeichert. So kann man den
Leib als ein Archiv verstehen, in dem alle Szenen und Atmosphären des Lebens
festgehalten werden.
„In den Archiven des Leibes sind kognitive, emotionale und volitive Inhalte, im
Kontext mit Atmosphären, Bildern, Sätzen, Szenen und Worten, samt den
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
dazugehörigen leiblichen Phänomenen (sensumotorische, propriorezeptive und
autonome Körperreaktionen) sowie begleitende emotionale Bewertungen, kognitive
Einschätzungen, subjektive Sinnstrukturen und Bedeutungen inkarniert.“ (Grund,
2004, S. 222)
Über Bewegungsangebote können Erfahrungen – angenehme wie unangenehme,
die im memorativen Leib gespeichert sind, aktiviert werden. Das ist die
Voraussetzung dafür, von guten Erfahrungen zu profitieren oder traumatische
Erfahrungen zu bearbeiten.
4.4. Der reflexive Leib (Denken)
Die Arbeit mit Ihnen, die praktischen Bewegungserfahrungen und das Gespräch
darüber und mein Reflektieren darüber helfen mir sehr, Zusammenhänge besser zu
erkennen, die ich so nie erkannt hatte. Ich beginne immer besser zu verstehen,
warum so manches früher völlig schief gegangen ist. Ich habe das Gefühl, daß mir
dies sehr hilft, wenn es darum geht, zu lernen mit Mißerfolgssituationen
(=Situationen, die nicht so ablaufen wie ich es mir erwarte bzw. in denen ich nicht
leiste, was ich denke leisten zu müssen) vernünftig umzugehen. Dies ist viel leichter,
wenn es auch Erfolgserlebnisse auf dem Weg gibt.
Auch reflexiver Leib zu sein bedeutet, den Leib „verlassen“ zu können, eine
Außenposition einnehmen zu können, um über mich selbst nachdenken zu können.
Das Potential zu dieser Exzentrizität entspringt dem memorativen Leib, dem
Leibgedächtnis.
4.5. Bewegung als Lebensphänomen
Der Bewegungsbegriff der Integrativen Therapie und Agogik begrenzt sich nicht auf
bloße Lokomotion sondern ist auf das Lebensphänomen Bewegung gerichtet. (vgl.
Petzold, 1993, S. 1338). Das bedeutet aber auch, dass der Lebensweg des
Menschen in seiner Gesamtheit in den Blick genommen werden muss. „Bewegung
heißt Aktivität in einer gegebenen Gegenwart, heißt immer auch Herkommen und
stets auch Fortgang.“ (ebd., S. 1339)
Ebenso können menschliche Bewegungen nicht unabhängig von den Mitmenschen
und der Mitwelt gesehen werden. „Die Bewegungen des Lebens sind immer
„Bewegungen mit“: das Ich mit dem Du, das eine mit dem anderen.“ (ebd., S. 1340).
So ist menschliches bewegtes Sein immer ein Mit-Sein, ist Ko-existenz als
Kommotilität. „Die Kommotilität ist nicht nur in der Tat äußerst wichtige motorische
Mitbewegung (…), sie ist auch Ausdruck eines „social interplay“, das alle die an ihm
beteiligt sind, untereinander abstimmt und koordiniert.“ (ebd., S. 1341)
Vor dem Hintergrund der Betrachtungsweise der Bewegung als Lebensphänomen
schreibt Petzold, 1993, S. 1343f, folgende Definitionen:
„Menschliche Bewegung ist die aufgrund der genetisch vorgegebenen,
sensumotorischen Organisation des Körpers und seinen ökologischen, sozialen
und kulturellen Prägungen ausgebildete Lebens- und Ausdrucksform eines
- 15 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
konkreten Subjekts, die es durch den Aufforderungscharakter (affordance) eines
gegebenen Kontextes/Kontinuums in jeweils einzigartiger Weise aktualisiert.“
und
„In der Bewegung zeigt sich die Befindlichkeit der biographisch gewordenen
Persönlichkeit eines Menschen im Zusammenspiel (commotilité) mit den
Gegebenheiten einer Situation und seiner Geschichte, an die er sich autoplastisch
anpasst, in die er sich ideoplastisch einpasst oder die er kooperativ in
alloplastischer Weise verändert.“
und
„In der Bewegung liegen die Möglichkeiten des Leibsubjekts, sich unter
Ausschöpfung der Potentiale der Wahrnehmung, Mobilität, Expressivität, seiner
Einbildungskraft, Gefühle, Stimmungen, Bedürfnisse im sozialen Kontext zu
artikulieren und die Welt in funktionaler, kommunikativer und ästhetischer Hinsicht
zu gestalten.“
All dies Definitionen machen die Komplexität des Bewegungsbegriffes mehr als
deutlich und zeigen auf, welche Bedeutung die die Kenntnis der Theorie und
Umsetzung der theoretischen Überlegungen für die praktische Arbeit hat.
4.6. Der Mensch in Bewegung
Mich auf Grupe und Petzold beziehend lässt sich zusammenfassend also sagen:
Der Leib in Bewegung ist die Basis menschlicher Existenz. Über Bewegung
gestaltet der Mensch sein Dasein, er nützt die Bewegung in funktionalem Sinne wie
ein Werkzeug, mit Hilfe dessen er seinen Alltag bewältigt. Über Bewegung erfährt
sich der Mensch auch selbst und kann er sich, seine materiale Umwelt und seine
soziale Mitwelt wahrnehmen, erkunden und erforschen. Er kann sich neugierig auf
die Welt zubewegen und mit seinen Mitmenschen kommunizieren und interagieren.
All die daraus gewonnenen Eindrücke werden verarbeitet und gespeichert und
machen in der Summe das individuelle Wesen jedes einzelnen Menschen aus.
Bewegter Eindruck braucht bewegten Ausdruck und so wird die Identität eines
jeden Menschen für die Mitwelt als eine Persönlichkeit mit ihren Stärken und
Schwächen, Besonderheiten und Eigenheiten, Bewegungen, Stimmungen und
Gedanken sichtbar und erlebbar.
Doch kann auch jeder Mensch sich selber sehen und erleben. Er verfügt über die
Gabe, eine exzentrische Position einzunehmen und über sich selber zu reflektieren.
Das in seinen motorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Anteilen
beschriebene Phänomen Bewegung ist der Grund für die Bedeutung des Einsatzes
von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie. Denn aufgrund ihrer
Komplexität können Bewegungsangebote sowohl Bildungs- und
Erziehungsprozesse als auch Heilungsprozesse unterstützen – in jedem Fall
Entwicklungsprozesse.
- 16 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
5. Bewegungsangebote in der Pädagogik am Beispiel
psychomotorischer Entwicklungsbegleitung
Pädagogik ist die traditionelle Bezeichnung für die wissenschaftliche Disziplin, die
sich mit Bildung und Erziehung befasst. Synonym dazu wird auch der
Begriff ’’Erziehungswissenschaft’’ benutzt. Ihr kommt die Doppelrolle zu, sowohl
Bildungs- und Erziehungszusammenhänge zu erforschen, als auch – als
Handlungswissenschaft – darüber zu reflektieren, wie Bildungs- und
Erziehungspraxis gestaltet und verbessert werden kann.
(de.wikipedia.org/wiki/Pädagogik, 2004)
Psychomotorische Entwicklungsbegleitung versteht sich als angewandte
Psychomotorik im pädagogischen Tätigkeitsfeld. Sie geht davon aus, dass das
„Individuum – das handelnde Subjekt – die Rolle des Produzenten der eigenen
Entwicklung“ (Fischer, 2004, S. 38f) innehat. Ein handelndes Subjekt zu sein,
bedeutet aber auch in Bewegung zu sein und Bewegungsangebote sind in diesem
Sinne Handlungsangebote.
5.1. Bewegung und Handlungskompetenz
Wenn sich „Persönlichkeitsentwicklung als Entwicklung der
Handlungskompetenz“ (Fischer, 2004, S. 39) definiert, so stellt sich zunächst die
Frage, wie sich diese Handlungskompetenz erweitern lässt.
Im Konzept der Psychomotorik wird davon ausgegangen, dass der Mensch dann
handlungsfähig ist, wenn er über gewisse Kompetenzen, d.h. Fähigkeiten verfügt:
über die Fähigkeiten mit sich selbst (Ich-Kompetenz), der materialen Umwelt
(Sachkompetenz) und der sozialen Mitwelt (Sozialkompetenz) bestmöglich
umgehen zu können.
Diese Kompetenzen können über Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Körper
(Körpererfahrung), mit Materialien und Geräten (Materialerfahrung) und im Umgang
mit anderen Menschen (Sozialerfahrung) erworben werden. Dazu ist wiederum
Bewegung nötig.
„Der Erfahrungsbegriff wird in diesem Sinne zu einer wichtigen didaktischen
Kategorie, weil er den Prozess beschreibt, wie das Kind durch den handelnden
Umgang mit den Dingen Qualifikationen erwirbt, die die Psychomotorik mit IchKompetenz, Sachkompetenz, Sozial- oder Handlungskompetenz bezeichnet. Das
Erfahrungslernen ist strukturbildend im doppelten Sinne für Können und Wissen.
Wissen stellt dabei die abstrahierte Form der Tätigkeit dar. Bewegung ist insofern
die Basis für Können, als sie durch vielfältige, den Prinzipien des Experimentierens
und Variierens folgende Bewegungstätigkeiten die Handhabung von Dingen
(Können) vervollkommnet.“ (Fischer, 2004, S. 78)
Um Erfahrungen machen zu können ist Erfahrungsraum nötig und dieser wird in der
psychomotorischen Entwicklungsbegleitung auf mehreren Ebenen zur Verfügung
gestellt. Einerseits wird er in Form eines realen Raums als Turnsaal,
Bewegungsraum, Schwimmbad oder Reithalle angeboten, andererseits als ideeler
Raum, der geprägt ist von Haltungen und Einstellungen. Die bewusste Gestaltung
- 17 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
ideelen Raums vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und angenommen Seins, eine
unbedingte Voraussetzung um sich auf (Bewegungs-)Experimente einzulassen. (vgl.
Passolt/Pinter-Theiss, 2003, S.19f)
Neben Raum bietet die PsychomotorikerIn der Person, die von ihr
bewegungspädagogisch begleitet wird, auch Zeit und sich selber, also
professionelle Beziehung an. Ihr inhaltliches Angebot macht sie einerseits aufgrund
ihres Fachwissens über die Lebensthemen und den Entwicklungsstand der
Zielgruppe, andererseits aufgrund ihres Einfühlungsvermögens in die aktuelle
Situation.
Die folgende Abbildung soll einen Überblick über das Konzept der Psychomotorik
geben.
5.2. Konzept der Psychomotorik
Person
Lebensthemen
Entwicklungsaufgaben
Ó
Ñ
Fachwissen, Empathie
Eigentätigkeit
Ò
Ô
PsychomotorikerIn
Beziehung
Raum
Zeit
Angebot = Bewegung
Handlungskompetenz
Í Erfahrungen Î
Ich-Kompetenz
Sach-Kompetenz
Sozial-Kompetenz
Abb. 1 aus: Unterlagen zur vaLeo-Zusatzqualifikation Motopädagogik, 2004
- 18 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
5.3. Bewegungsthemen in der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung
Das inhaltliche Angebot der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung als
pädagogische Intervention ist die Bewegung.
Bewegungsangebote dienen dabei dazu, Erfahrungen zu ermöglichen, die sich zu
Kompetenzen entwickeln können.
Entsprechend der drei Kompetenzbereiche (Ich-, Sach- und Sozialkompetenz) hat
Ruth Haas (1997) versucht Bewegungsthemen zusammenzustellen, die als
Grundlage für bewegungspädagogische Angebote dienen sollen:
Die nachfolgenden Tabellen sind Fischer, 2004, S. 122-124 entnommen.
5.3.1. Bewegungsthemen zur leiblichen Erfahrung
Themenbereich
Sinnliche Erfahrungen
des Leibes
Der eigene Leib –
leibliche Identität
Mein Leib in Bewegung
ƒ taktil, kinästhetisch, vestibulär, akustisch, visuell
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Leibliche Expression
und Impression
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Entdeckung
leiblicher Alltagshilfen
Spielen in der Bewegung
und mit dem Leib
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Leibliche Ausdehnung, Leibgrenzen
Körperhaltung, Körperausdruck
Körperkenntnis, Einstellung zum eigenen Leib
Orientierung im Leibraum, in der Kinesphäre
Leibregionen und -funktionen als Ausdruck der
Lebensgeschichte
Bewegungsmöglichkeiten des Leibes
Grundformen der Bewegung (Fortbewegungsarten,
Sprung, Drehung, Ruhe)
Grunddimensionen leiblicher Bewegung
Bewegungsrichtung, Räumlichkeit von Bewegung
Bewegungszeit, Bewegungsrhythmus
Umgang mit Schwerkraft, Spannungsregulation
Grundpositionen: Liegen, Sitzen, Gehen, Stehen
Entdecken und Ausprobieren leiblicher Stärken,
Fähigkeiten
Labilität - Stabilität
Wahrnehmung und Ausdruck leibseelische
Zusammenhänge
Emotionaler Ausdruck von Gefühlen, Stimmungen,
Befindlichkeiten (z.B. Freude, Trauer, Wut, Zorn, Angst,
Zuversicht, Hoffnungslosigkeit)
Bewegungsgestaltung
Leiblicher Ausdruck mit anderen kreativen Medien (Ton,
Farbe, Rhythmusinstrumente etc.)
Entspannungsformen
Atmung und Bewegung
Zentrierung
Grounding, Bodenkontakt
Emotionaler Ausgleich über Bewegung
Spiel mit den leiblichen Bewegungsmöglichkeiten
sportliche Techniken und Fertigkeiten
- 19 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
5.3.2. Bewegungsthemen zur materialen Erfahrung
Themenbereich
Sinnliche Erfahrungen der
materialen Umwelt und
ihrer Bedeutung
Erfahrungen
physikalischer
Grundeigenschaften und
deren Bedeutung
Material sach- und
zielgerecht einsetzen
Anpassung an veränderte
materiale Gegebenheiten
Spielen mit Materialien
Umweltraum
Bedeutungsgehalt von
Materialien
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Materialeigenschaften von Dingen, Räumen erforschen
unterscheiden, benennen
Dinge ertasten, begreifen
Schwerkraft erfahren
Gleiten, Rutschen, Rollen, Schaukeln, Schwingen
Reibung und Widerstand
ƒ mit Materialien gestalten
ƒ Materialien kombinieren
ƒ Material in neuen Bedeutungszusammenhängen
verwenden
ƒ Unterschiedliche Formen, Größen, Farben,
Oberflächenbeschaffenheiten und Konsistenz von
Materialien und Objekten wahrnehmen und differenzieren
können
ƒ Materialien nach Eigenschaften ordnen und ihre Funktion
erkennen
ƒ Ausprobieren, arrangieren, bauen, stapeln, rollen, werfen
und fangen, aneinander legen, mit Material kreativ
umgehen und Spielsituationen einen eigenen Sinn geben
ƒ Materiale Gestaltung und Strukturierung von Räumen
ƒ Raumebenen, Raumdimensionen, Raumrichtungen,
Raumempfinden
ƒ Symbolische Bedeutung von Gegenständen, Räumen
ƒ Umgang mit Umwelt und Natur (Tieren, Pflanzen,
Gegenständen, ökologische Ressourcen)
5.3.3. Bewegungsthemen zur sozialen Erfahrung
Themenbereich
Grundsituationen
menschlicher Interaktion
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Kommunikation
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Gruppe
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Nähe – Distanz
Geben – nehmen, Öffnen – Schließen
Hemmung – Aggression, Hingabe – Widerstand
Alleinsein – Kontakt – Beziehung,
Autonomie – Abhängigkeit
Führen – Folgen, Festhalten – Loslassen
Passivität – Aktivität, Macht – Ohnmacht
Vertrauen – Misstrauen
Körpersprache bei sich und anderen verstehen und
einsetzen lernen
Verbale Kommunikation
Techniken mitmenschlichen Umgangs lernen
Kontaktaufnahme über Material, Spielformen etc.
Berührung als Thema
Gruppenerfahrungen machen, Gruppenzugehörigkeit
erleben
Funktionen in der Gruppe übernehmen
Gegenseitige Hilfe erfahren
Eigene Individualität und Ähnlichkeiten mit anderen
erkennen
Anerkennung in der Gruppe
- 20 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Spielen mit anderen
ƒ Sozialer Raum
ƒ Spezielle Themen aus dem Bereich der Grundsituationen
menschlicher Interaktion:
ƒ Regeln –Offenheit, Kooperation – Konkurrenz,
Stärken – Schwächen, Innen – Außen
ƒ Ursprünglichkeit, Freude am gemeinsamen Tun erleben
ƒ Geselligkeit im Spiel erfahren
Erlebt und realisiert werden die Bewegungsthemen in Bewegungssituationen. In der
pädagogischen Arbeit mit Kindern sind das zumeist Spiele, wobei die Art des Spiels
vom Entwicklungsalter des Kindes abhängig ist. Eine zentrale Stellung hat das
Rollenspiel, im Rahmen dessen Kinder ihre Lebensthemen – bewusst oder
unbewusst – zeigen und „bearbeiten“. Im Rahmen von Rollenspielen kommen die
Kinder auch ihren primären Bewegungsbedürfnissen, wie laufen, springen, klettern,
rutschen, steigen, balancieren, … nach.
Bei älteren Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen werden oft Spiele oder
Aufgaben ausgewählt, die die Kooperation in der Gruppe fördern und wo das
gemeinsame Lösen eines Problems im Mittelpunkt der gemeinsamen Aktivität steht.
Ein weiterer Inhalt psychomotorischer Stunden sind Entspannungssituationen, die
ebenfalls spielerisch angeboten werden und deren Ziel es ist, den eigenen Körper
bewusst in einer wohltuenden Situation wahrzunehmen.
6. Bewegungsangebote in der Therapie am Beispiel
Integrativer Bewegungs- und Leibtherapie
Die Therapie (griechisch θεραπεία) bezeichnet in der Medizin die Maßnahmen zur
Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Ziel des Therapeuten ist die
Heilung, die Beseitigung oder Linderung der Symptome und die Wiederherstellung
der körperlichen oder psychischen Funktion. (de.wikipedia.org/wiki/Therapie)
Die Integrative Therapie gibt sich mit einer so einseitigen Definition allerdings nicht
zufrieden. Neben den oben angeführten kurativen (reparierenden) und palliativen
(lindernden) Aspekten sieht sie auch einen evolativen (fördernden) Anteil in der
Therapie (vgl. Petzold, 1996, S. 215f).
„Der Aspekt der Entwicklung von Fähigkeiten (Kompetenzen) und Fertigkeiten
(Performanzen) über die reparative Wiederherstellung hinaus ist immer in das
therapeutische Handeln einbezogen.“ (ebd, S. 216) und „In einem solchen
weitgefaßten Therapieverständnis treten neben das Ziel der Heilung (curing) im
klinischen und kurativen Sinne, die Ziele der Bewältigung (coping) bei irreversiblen
Schäden oder unvermeidlichen Belastungen, der Stütze (support) in
Problemsituationen und bei Schwierigkeiten der Lebensführung, der Verbreiterung
(enlargement) des persönlichen Horizontes und Handlungsraums, der Bereicherung
(enrichment) der Erlebnismöglichkeiten und der Lebensgestaltung sowie der
Selbstbestimmtheit (empowerment) im Sinne des offensiven Wahrnehmens
legitimer Rechte und des kämpferischen Eintretens, wo Rechte verletzt und
- 21 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
eingeschränkt werden.“ (Petzold, 1994a und Orth et al 1995 in Petzold 1996, S.
217)
6.1. Bewegung und Lernen
Durch diese Therapiedefinition von Petzold wird es zunehmend schwerer die
Bereiche der Pädagogik und der Therapie voneinander zu unterscheiden.
Wie auch in pädagogischen Konzepten so werden in der Integrativen Therapie
Veränderungen als Lernprozesse gesehen. „Dabei wird Lernen als
mehrdimensionaler Vorgang angesehen, der Veränderungen auf verschiedenen
Ebenen bewirkt, nämlich Veränderung der körperlichen, der psychischen, der
sozial-interaktionalen und der kognitiven Struktur.“ (Petzold, 1996, S. 77)
Was ich besonders schön an unserer Arbeit finde, ist dass es dort kein richtig und
falsch im Sinne einer schwarz-weiss Logik gibt - daß es ein spielerisches Problem
ist und ein schrittweises Herantasten und Verschieben von Grenzen. Es gefällt mir
sehr mich auch einmal an einer Aufgabenstellung versuchen zu können, die eine
Herausforderung für mich darstellt wie das Gehen über die Bank mit geschlossenen
Augen. Das Durchleben von schaffbaren Herausforderungen ist eine wunderbare
Erfahrung, die mir sehr viel gibt.
Dem Anspruch der Heilung des Menschen durch eine therapeutische Intervention
versucht die Integrative Therapie über verschiedene Methoden gerecht zu werden.
In der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie nützt sie dafür das Potential, das
in der Bewegungsarbeit steckt und die Fülle von Bewegungsangeboten.
Die Angebote und Übungen der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie sind
über viele Jahre von unterschiedlichen Menschen entwickelt und von wiederum
anderen weiterentwickelt worden, sodass heute nicht mehr klar ist, wer die
„SchöpferInnen“ einzelner Übungen sind. Das heutige Repertoire ist das Ergebnis
von über 30 Jahren Arbeit und wird als Allgemeingut der Integrativen Bewegungsund Leibtherapie verstanden, aus dem alle schöpfen, das aber auch immer durch
die jeweilige Persönlichkeit der TherapeutIn, durch ihre Individualität und Kreativität
beeinflusst ist. (vgl. Hausmann, 1996, S. 55)
6.2. Bewegungsthemen in der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie
Schauen wir uns die bewegungsorientierten Angebote und Übungen aus Sicht der
Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie an, fällt auf, dass im Zentrum jeder
praktischen Intervention (jedes Angebots) der Leib steht. Bei Hausmann et al, 1996
ist folgende Struktur des praktischen Angebots zu finden, das ich nur auszugsweise
darstelle:
- 22 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
6.2.1. Dimensionen der Leiblichkeit
Themenbereich
Leben als Einheit von
Körper, Seele und Geist
Leib in der
Selbstwahrnehmung
Leib im Raum
Leib in der Zeit
Leib als „eingefleischte
Geschichte“
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Leib als soziale Realität
ƒ
ƒ
ƒ
Erinnern – Spüren – Fühlen
Bewegen – Fühlen – Begreifen
Fühlen – Bewegen – Imaginieren
Bewusstwerdung des Zusammenhangs
Selbstwahrnehmung in Ruhe
Selbstwahrnehmung in Bewegung
Selbsterleben mit Objekten und in der Berührung
Selbsterleben in Äußerungen des Leibes (Gähnen, Zittern
…)
Körper im Raum – Raumkörper
Ausdehnung und Umraum
Umraum – Grenzen – Innenraum
Raumerkundung in Bewegung
Landschaft als Lebensraum
Ruhe
Tempo
Rhythmus, vorgegeben, selbst erzeugt, persönlicher
Atem, Herzschlag, Puls
Sprachliche Hinführung zum Leib, z.B. Redewendungen,
Eigenschaftswörter
Leibregionen und -funktionen als Ausdruck von
Lebensgeschichte, z.B. mein Kindergesicht
Der Mensch im Symbol, z.B. Bodychart, Tonskulpturen,
geleitete Imagination
Lebenspanorama
Intermediale Quergänge z.B. Maske – Bewegung – Text,
Bewegung – Visualisierung – Bild – Bewegung
Haltungen und Bewegungen unterschiedlicher Kulturen
Frauenwelt – Männerwelt
Geschlechtersozialisation
6.2.2. Dynamiken des Leibes
Themenbereich
Leben im Wechselspiel
von Eindruck und
Ausdruck
Leben im Spannungsfeld
der Gegensätze
Leben aus der Mitte
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Bewußtwerdung des eigenen Ausdrucks
Leibliche Berührung als Eindruck
Emotionen finden leibhaftigen Ausdruck
Engung – Weitung
Blockieren – fließen lassen
Geben – nehmen
Zuwendung zu sich selbst – Zuwendung zu anderen
Übergänge zwischen zwei Polen
Übergänge zwischen Positionen
Konflikt zwischen zwei Bedürfnissen
Bekanntes Verhalten – gegenteiliges Verhalten
Erkundung und Veränderung von Verhaltensmustern
Aufrichtung
Balance
Mitte, Einklang
- 23 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
6.2.3. Der Leib in seinen Relationen
Themenbereich
Frühe Zwischenleiblichkeit
Ich-Selbst: Identität
Ich – Du: Intersubjektivität
Ich und die anderen:
Leben in sozialen
Bezügen
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Positive Konfluenz
Grundvertrauen
Befriedigung von Grundbedürfnissen
Gesichts-, Blick-, Stimm- und Berührungsdialog
Leib- und Bewegungserforschung
Grenzerfahrung und Loslösung
Welterforschung und -gestaltung
Identifizierung, Identifikation, Valuation
Fremdattribution
Sich selbst sehen „mit anderen Augen“
Die fünf Säulen der Identität
Geschlechtsidentität
Erotik
Meine Kraftquellen
Selbstwahrnehmung
Kontakt und Abgrenzung
Begegnung und Beziehung in Auseinandersetzung
Zusammenspiel: miteinander – gegeneinander –
füreinander
Individuen miteinander
Individuen formen und gestalten Gruppen
Verhältnisse in Gruppen
Zwei Gruppen
Individuum und Gruppe
Ich und die Dinge
Der Mensch im Kosmos
Bewegungssituationen in denen die oben genannten Bewegungsthemen erlebbar
werden sind in der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie der Tanz, das
darstellende Spiel, Bewegungsspiele, Übungen aus fernöstlichen Techniken wie
zum Beispiel aus dem Qui Gong, Atemübungen, Gymnastik,
Entspannungsübungen, Wahrnehmungsübungen, …
Der Einsatz der Übungen kann auf zwei Arten erfolgen. Entweder kann über die
Zugangsweise der körperlichen Aktivierung eine Beeinflussung des emotionalen,
kognitiven und sozialen Bereichs erreicht werden (bottom up approach). „Auch
wenn die Indikation zunächst nur auf die körperliche Dimension des Leibes
gerichtet ist, führt das Faktum, daß der Mensch als Leibsubjekt ein ganzer ist, dazu,
daß alle anderen Bereiche seines Erlebens und Verhaltens miteinbezogen
werden.“ (Orth, 1996).
Andererseits kann über die Vorstellungswelt, über Imaginationsübungen und
meditative Praktiken der Körper und die leibliche Befindlichkeit beeinflusst werden
(top down approach). (vgl. Orth, 1996).
Ziel der therapeutischen Maßnahme ist es, einen bewegungsaktiven Lebensstil zu
unterstützen. Manchmal geht es einfach darum, einen solchen Lebensstil zu
entdecken und zu üben, in anderen Fällen „geht es darum, alten, vielleicht
einschüchternden, in Abwehrstellung bringenden etc. Erfahrungen/Inkarnationen
- 24 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
neue, ermutigende, wohltuende, tröstende usw. entgegenzusetzen.“ (Grund et al,
2004, S. 234)
Ganz besonders hilfreich für mich ist es, Ihr Feedback betreff Außensicht zu
bekommen. Ich habe so sehr verinnerlicht, daß ich extrem ungeschickt, verkrampft,
unfähig ... bin, so daß es mir gar nicht leicht fällt, einzuschätzen wie es von außen
aussieht. Deswegen gefällt es mir sehr gut, daß Sie mich mit Ihren Fragen zwingen
mir Gedanken darüber zu machen und daß Sie mir hinterher dann Ihre Sicht
mitteilen.
7. Bewegung und Beziehung
Bewegungsangebote alleine aber genügen nicht!
Wie die relationale Sichtweise des Menschen zeigt, bedarf es eines anderen
Menschen, einer Mitwelt, von der ich achtsam und wertschätzend gesehen und
begleitet werde, braucht es ein „ko-respondierendes dialogisches
Milieu“ (Hausmann et al, 1996, S. 37), damit sich der komplexe Vorgang
menschlicher Entwicklung vollziehen kann.
Ich schreibe Ihnen dies, weil Sie ganz wesentlichen Anteil daran haben, daß ich
eine völlig neue Einstellung zu Bewegungsaktivitäten gewonnen habe. Ihre
positiven Rückmeldungen und die Erfolgserlebnisse, die Sie mir immer wieder
verschaffen, tun mir unglaublich gut. Ich kann jetzt noch viel besser ermessen was
ich all die Jahre diesbezüglich völlig entbehrt habe. Es ist wunderschön, nicht als
Totalversager dazustehen.
Für die PädagogIn wie für die TherapeutIn ist es unabdingbar zu wissen, dass der
Verlauf des pädagogischen wie des therapeutischen Prozesses unauflöslich mit
ihrer eigenen Person verbunden ist. Dies gilt sowohl für den Einfluss der PädagogIn
auf die KlientIn, wie für die Wirkung der PatientIn auf die TherapeutIn. Die
BegleiterIn muss also um ihre Rolle wissen, „reflektiert diese u. a. unter ethischer
Perspektive (Alterität) und lässt sich gleichzeitig als Mitmensch leiblich
berühren…“(Schuch 2000 in Grund et al, 2004, S. 232).
Was Schmidt-Denter, 1993, für die Eltern-Kind-Beziehung beschreibt hat auch für
die bewegungspädagogische und bewegungstherapeutische Arbeit Bedeutung.
„Betrachtet man die Eltern-Kind-Beziehung als Dialog oder im Kontext eines
familiären Systems, so wird leicht nachvollziehbar, daß Entwicklungsfortschritte bei
einer beteiligten Person auch die anderen Interaktionspartner beeinflussen. Die
Eltern-Kind-Beziehung muß somit immer wieder neu gestaltet und redefiniert
werden, wenn auf der Seite der Kinder Entwicklungsgewinne zu neuen
Möglichkeiten und einem neuen Status führen oder wenn sich auf der Seite der
Eltern Veränderungen ergeben. (Schmidt-Denter, 1993, S. 341)
Jedes bewegungspädagogische Angebot und jede bewegungstherapeutische
Intervention ist also auch ein Beziehungsangebot und bewegungsorientierte Arbeit
ist dadurch immer Beziehungsarbeit.
- 25 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
8. Bewegungsangebote in der pädagogischen und therapeutischen
Praxis - Zwei Beispiele
Viele Jahre arbeite ich nun schon bewegungsorientiert mit Menschen
unterschiedlichen Alters und Entwicklungsstandes. Die beiden hier angeführten
Beispiele sollen einen Einblick in meine Arbeitsweise ermöglichen und die
Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie noch einmal
verdeutlichen.
8.1. Eine psychomotorische Stunde mit Kindern
„Machst du mit uns eine Turnstunde?! Eine extra Turnstunde?! Eine PatenkinderTurnstunde?! Nur für uns vier? Im Turnsaal?! Jetzt gleich? Bitte!!!“
Fünf Minuten nachdem mich meine Patenkinder Fabiola (8), Tabea (fast 7), Clara
(auch fast 7) und Miriam (5) gebeten haben, mit ihnen in meinen Bewegungsraum
zu gehen, um dort gemeinsam eine Bewegungsstunde zu machen, wie sie alle
Kinder kennen (weil sie auch sonst in Psychomotorikgruppen sind), sitzen wir auf
dem blauen Begrüßungsteppich.
„Sind wir vollzählig?“ frage ich. „Ja!“ rufen vier Kinderstimmen: „lass uns anfangen!“
„Möchte jemand noch etwas erzählen, bevor wir zu spielen beginnen?“ Diese Frage
ist mir immer sehr wichtig, weil sie mir die Chance gibt, am Anfang der Stunde
schon eine Idee davon zu bekommen, was mögliche Spielthemen sein können.
„Ja, ich!“ ruft Miriam und erzählt uns dann in dem für sie typischen rasend schnellen
Sprechtempo, dass sie die vergangene Woche mit ihrer Schwester Elisabeth und
ihrer Großmutti auf einem Bauerhof verbracht hat, wo es eine Babykatze gegeben
hat. Fabiola erklärt, dass sie Katzen auch sehr gerne mag, aber in der neuen
Wohnung, wo sie gerade erst eingezogen sind, sicher keine bekommen darf. Das
bestätigt ihr ihre jüngere Schwester Tabea.
Tiere am Bauernhof könnte also heute ein Thema sein, aber auch Wünsche, die in
der Wirklichkeit nicht in Erfüllung gehen …
Clara hat genug gehört: „Fang ma endlich an …“ fordert sie.
„Was wollt ihr spielen?“ frage ich. „Versteinern!“ schreit Tabea. „Vorsicht!
Aufgepasst!“ wünscht sich Clara. Ich entscheide mich für die Erfüllung von Claras
Wunsch und lege eine CD in CD-Player. Zu Musik können sich die Kinder wie sie
wollen durch den Raum bewegen, bei Musikstopp rufe ich „Vorsicht! Aufgepasst!
Alle Kinder … - wer hat eine Idee?“ und dann kann jeweils ein Kind ansagen, was
alle zu tun haben.
Knapp 10 Minuten toben wir gemeinsam durch dem Bewegungsraum, bis kein
Stückchen Haut mehr trocken ist.
Das extensive Spiel hat seinen Zweck erfüllt: die größte Spannung ist abgebaut, die
aufgestaute Energie entladen.
- 26 -
Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Wir setzen uns wieder auf den blauen Teppich und die Mädchen antworten auf
meine Frage, was sie nun zum Spielen brauchen ganz unterschiedlich. Fabiola
möchte das Trapez, Clara die Ringe, Tabea die Strickleiter. Miriam kann sich nicht
entscheiden: „Ich schau zuerst ein bissi zu. Darf ich dann später auch noch etwas
nehmen?“ Meine Zustimmung erleichtert sie.
Ich hänge den großen Mädchen die Geräte auf, die sie sich gewünscht haben und
setze mich an den Rand des Raumes. Von hier aus werde ich das Spielgeschehen
beobachten, zur Hilfe kommen, wenn ich benötigt werde und eingreifen, wenn ich
es für gegeben halte. Mein Verhalten orientiere ich an dem Satz: „Lass mich in
Ruhe, aber nicht allein.“ So versuche ich sehr präsent zu sein, ohne aber das
Geschehen, das sich zwischen den Kindern entwickelt zu stören.
Die ersten Minuten der intensiven Phase finde ich immer besonders spannend:
Was wird geschehen? Wer spielt mit wem? Welches Thema wird das Thema der
Stunde?
Während Fabiola, Tabea und Clara zu schaukeln beginnen und dabei versuchen,
jeweils am meisten Schwung zu haben und dadurch am höchsten zu schaukeln,
beginnt Miriam bunte Sandsäckchen auf den Rand des Mini-Trampolins zu legen.
Wie nebenbei sagt sie: „Ich bau mir ein Katzenkörberl!“
Doch Fabiola hat sie gehört und fragt, ob sie Miriam helfen darf. „Sicher“, sagt diese,
„aber du musst immer die richtige Reihenfolge legen: zuerst ein blaues, dann ein
rotes, dann ein grünes und dann eine gelbes. Und dann wieder ein blaues und so
weiter.“
Bald sind alle vier Mädchen mit dem Bau des Katzenkörberls beschäftigt, das noch
vielerlei Schmuck bekommt und dann auch intensiv im Spiel genützt wird. Die
Rollen von Katzenbaby, Katzenmutter, Katzenvater und Katzenkind werden lange
ausdiskutiert, bevor sie endgültig vergeben werden. Schließlich wird zugunsten
eines dritten Kindes auf den Vater verzichtet.
Die Mädchen krabbeln miauend durch den Raum, klettern auf die Sprossenwand
und den Turnkasten, die Bäume sind und kommen ab und zu zu mir, um sich laut
schnurrend streicheln zu lassen: „Du bist nämlich die Bäuerin!“ bekomme auch ich
eine Rolle.
Nach knapp 45 Minuten beenden wir das Katzenspiel mit einer Entspannungsphase,
indem ich den Kindern vorschlage, dass ich als Bäuerin allen Katzen noch das Fell
striegeln könnte. Die Kinder sind begeistert und genießen sehr, dass ich ihnen mit
einer weichen Bürste über die Haut und die Haare fahre.
Die Spielsequenz endet mit der klaren Abmachung, dass nun niemand mehr eine
Katze ist, sondern dass wieder vier Mädchen mit mir auf dem Teppich sitzen, um
gemeinsam zu besprechen, was wir in der Stunde erlebt haben.
Fabiola sagt: „Das war lustig als Katze auf einen Baum zu klettern – ich find das eh
nicht gut, wenn eine Katze in einer Wohnung wohnen muss.“
Tabea ist noch ganz berührt von der Entspannungsmassage und fragt mich, wo
man so eine Bürste kaufen kann.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Clara ist der Meinung, dass „ich ganz viele gute Ideen beim Laufen am Anfang
gehabt habe. Das Vorsicht! Aufgepasst!-Spiel war meine Idee!“
Und Miriam bedankt sich bei den anderen Kindern: „Danke, dass ihr mir geholfen
habt, dass ich so ein schönes Körberl gemacht habe und dass ihr mit mir Katzen
gespielt habt.“
Ich beschließe die Stunde mit den Worten: „Ich habe viel Freude gehabt mit euch
zu laufen, zu tanzen und zu spielen. Und jetzt ab in die Küche, wo es etwas zu
trinken gibt!“
8.2. Eine Nachbetrachtung
In der Nachbetrachtung der Stunde stellen sich nun die Fragen: Was konnten die
Kinder erleben? Welche Kompetenzen konnten sie erweitern? Welche motorischen,
emotionalen, kognitiven und sozialen Bereiche wurden angesprochen? Haben die
Kinder heute etwas gelernt? Haben sie Raum und Zeit zu Verfügung gehabt, um
Fertigkeiten oder Verhaltensweisen neu zu entdecken oder zu üben?
Die in der Theorie erstellten Bewegungsthemen noch einmal betrachtend, lässt sich
für diese psychomotorische Stunde klären, welche Ziele der
bewegungspädagogischen Arbeit durch mein Spielangebot und die von den
Kindern selbst gewählten Spielideen erreicht wurde.
8.2.1. Realisierte Bewegungsthemen zur leiblichen Erfahrung
Themenbereich
Sinnliche Erfahrungen
des Leibes
Der eigene Leib –
leibliche Identität
Mein Leib in Bewegung
Leibliche Expression
und Impression
Entdeckung
leiblicher Alltagshilfen
Spielen in der Bewegung
und mit dem Leib
ƒ taktile Erfahrungen bei der Abschlussmassage
ƒ vestibuläre Erfahrungen beim Schaukeln
ƒ akustisch Erfahrungen beim Spiel mit Musik und
Musikstopp
ƒ visuell Erfahrungen mit den bunten Sandsäckchen
ƒ Körperausdruck im Katzenspiel
ƒ Körperkenntnis beim Vorsicht!-Aufgepasst!-Spiel: z.B. „alle
Kinder berühren mit der Nase die Wand!“
ƒ Bewegungsmöglichkeiten des Leibes
ƒ Grundformen der Bewegung: laufen, klettern, springen
ƒ Bewegungsrichtung, Räumlichkeit von Bewegung:
vorwärts und rückwärts laufen, nach oben klettern, nach
unten springen
ƒ Entdecken und Ausprobieren leiblicher Stärken,
Fähigkeiten in allen Spielen
ƒ Emotionaler Ausdruck von Gefühlen, Stimmungen: die
müde Katze, die hungrige Katze, die wilde Katze, …
ƒ Entspannungsformen: Massage mit einer weichen Bürste
ƒ Spiel mit den leiblichen Bewegungsmöglichkeiten im
Katzenspiel
ƒ sportliche Techniken und Fertigkeiten, z.B. klettern und
springen
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
8.2.2. Realisierte Bewegungsthemen zur materialen Erfahrung
Themenbereich
Sinnliche Erfahrungen der
materialen Umwelt und
ihrer Bedeutung
Erfahrungen
physikalischer
Grundeigenschaften und
deren Bedeutung
Material sach- und
zielgerecht einsetzen
Anpassung an veränderte
materiale Gegebenheiten
Spielen mit Materialien
Umweltraum
Bedeutungsgehalt von
Materialien
ƒ Materialeigenschaften von Dingen erforschen: das
Sandsäckchen ist klein und trotzdem schwer
ƒ unterscheiden, benennen: blau, rot, grün, gelb
ƒ Schaukeln, Schwingen, Reibung und Widerstand
ƒ mit Materialien gestalten: das Katzenkörberl bauen
ƒ Materialien kombinieren: Trampolin, Sandsäckchen, Seile,
Putzschwämme
ƒ Material in neuen Bedeutungszusammenhängen
verwenden: der Putzschwamm wird zum Katzenfutter, die
Nagelbürste zum Striegel
ƒ Materialien nach Eigenschaften ordnen: ordnen nach
Farben
ƒ Ausprobieren, arrangieren, bauen, stapeln, aneinander
legen, mit Material kreativ umgehen und Spielsituationen
einen eigenen Sinn geben
ƒ Materiale Gestaltung und Strukturierung von Räumen: Der
Kasten und die Sprossenwand als Bäume sind woanders
im Raum als das Katzenkörbchen – es gibt ein Innen und
Außen
ƒ Symbolische Bedeutung von Gegenständen, Räumen: im
gesamten kindlichen Rollenspiel gewinnen die
Gegenstände im Bewegungsraum symbolische Bedeutung
8.2.3. Realisierte Bewegungsthemen zur sozialen Erfahrung
Themenbereich
Grundsituationen
menschlicher Interaktion
Kommunikation
Gruppe
ƒ Nähe – Distanz: Miriam schaut zuerst den anderen zu,
bevor sie ihr Spiel beginnt.
ƒ Alleinsein – Kontakt – Beziehung
ƒ Passivität – Aktivität: im Spiel aktiv sein, in der
Entspannung passiv sein und genießen
ƒ Körpersprache bei sich und anderen verstehen und
einsetzen lernen: deutlicher Einsatz von Körpersprache im
Katzenspiel, das stimmlich(miauen, schnurren), aber nicht
sprachlich begleitet ist
ƒ Verbale Kommunikation: die Kinder erzählen einander am
Anfang der Stunde, was sie für wichtig halten und geben
am Ende der Stunde Rückmeldung über das Erlebte
ƒ Techniken mitmenschlichen Umgangs lernen: ich lege
Wert darauf, dass die Kinder „bitte“ und „danke“ sagen,
höflich sind und nicht fluchen
ƒ Kontaktaufnahme über Material, Spielformen, z. B. über
das Auflegen der Sandsäckchen
ƒ Gruppenerfahrungen machen, Gruppenzugehörigkeit
erleben: „Wir sind alle deine Patenkinder!“
ƒ Gegenseitige Hilfe erfahren: Fabiola bietet Miriam ihre
Hilfe beim Auflegen des Sandsäckchen an, Tabea taucht
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Spielen mit anderen
Clara beim Schaukeln an, …
ƒ Eigene Individualität und Ähnlichkeiten mit anderen
erkennen: „Du hast auch braune Haare, aber meine sind
viel länger!“, „Wir haben alle die gleiche h&m-Hose, die
rosa mit den Herzen!“
ƒ Anerkennung in der Gruppe: „Das war eine lustige Idee …“
ƒ Ursprünglichkeit, Freude am gemeinsamen Tun erleben
ƒ Geselligkeit im Spiel erfahren
8.3. Eine bewegungstherapeutische Stunde mit einer erwachsenen Klientin
Mein Handy piepst, eine SMS ist angekommen:
LV, freue mich schon wieder auf eine stunde mit Ihnen und wollte anfragen, ob Sie
nächste woche einmal zeit für mich haben? lg, P.
P. hat mich über eine Bekannte „entdeckt“ und kommt seit einigen Jahren
regelmäßig, im Durchschnitt 14-tägig zu mir, um sich mit meiner Unterstützung und
aufgrund meiner Bewegungsangebote mit sich selbst und ihren motorischen
Fertigkeiten auseinanderzusetzen.
P. ist eine hochintelligente Frau Ende 30, die ihre mangelnden
Bewegungserfahrungen über viele Jahre mit großartigen kognitiven Leistungen
kompensiert hat. Doch entstand bei ihr das Gefühl, dass sie in ihrem Leben etwas
vermisst, dass sie gerne mehr für sich und ihren Körper tun möchte. Ein
Sportverein kam für sie nicht in Frage und so landete sie schließlich mit ihrer
bewegungsarmen Lebensgeschichte und ihren Wünschen für eine bewegtere
Zukunft bei mir.
Seit einigen Wochen beschäftigen wir uns mit Bewegungsformen und Spielen, die
eigentlich dem Lebensabschnitt Kindheit zugeordnet werden. Für heute hatte ich
eine Einheit zum „Gummihüpfen“ geplant.
Während P. sich umzieht – sie kommt immer direkt von der Arbeit – schließe ich
nach dem Lüften des Bewegungsraums die Fenster und schließe die blickdichten
aber lichtdurchlässigen Vorhänge, um einen ungestörten Erlebnis- und
Erfahrungsraum anbieten zu können.
„Schön, wieder einmal da zu sein“, seufzt P. beim Betreten des Raums, „da kann
ich wenigstens eine Stunde das ganze Chaos in der Arbeit vergessen!“
„Was beschäftigt Sie denn gerade?“ frage ich sie, um den Übergang von ihrem
Alltag in die Therapieeinheit etwas sanfter zu gestalten.
Und so erzählt sie mir, während wir in unserem Anfangsritual den Körper
durchbewegen, ein paar Details, über die sie sich heute hatte ärgern müssen.
Doch schon bald wird sie ruhiger und beginnt aufgrund meiner Anregungen die
Wahrnehmung auf sich selbst zu richten.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Am Ende des Aufwärmens sagt P. plötzlich: „Ich bin schon ganz neugierig, was Sie
sich heute wieder für mich ausgedacht haben?“
Eine solche Aussage ist typisch für meine Klientin. Es ist ganz schwierig für sie,
selber Wünsche oder Ideen zu äußern und sie ist stets der Meinung, dass ich viel
besser wisse, was sie braucht. Obwohl ich weiss, dass P. es nicht gerne hört und
dass sie dadurch auch verunsichert wird, frage ich sie dennoch: „Was würden Sie
denn heute gerne machen?“
„Keine Ahnung!“ ist die augenblickliche Antwort. Doch nach einigem Zögern meint
sie: „Vielleicht noch so etwas wie bei den letzen Malen – so was kindisches?“ Dabei
lächelt sie und ich greife ihren Vorschlag auf.
„Gerne! Dann ist heute das gute alte Kinderspiel Gummihüpfen an der Reihe.
Haben Sie das schon einmal gemacht?“
P. verneint. Aber sie schaut heute nicht mehr so skeptisch wie damals als ich ihr
Seilspringen und Tempelhüpfen vorgeschlagen habe. Sie hat Freude daran
gefunden, Spiele auszuprobieren, die sie in ihrer Kindheit nie gespielt hat.
Und so beschäftigt sie sich intensiv in den folgenden 30 Minuten mit verschiedenen
Sprungtechniken für verschiedene Höhen, mit Rhythmen in der Bewegung und in
der Sprache, weil sie natürlich auch die Sprüche zu den entsprechenden
Sprungfolgen wissen will: Ho ruck, Donald Duck, Mickey Mouse, rein, raus!
Ich schaue ihr zu, beantworte ihre Fragen zu dem Spiel und stelle meinerseits
Fragen, die den Prozess des Ausprobierens in Gang halten und ihm eine Richtung
geben: vom Einfachen zu Komplizierten, vom Bekannten zum Unbekannten.
Zwischendurch hält P. immer wieder inne, fast wie verwundert über sich selbst und
sagt so leise, dass ich es kaum verstehen kann: „Das ich das noch erleben darf! So
oft schon habe ich Kindern in meiner Siedlung neidisch beim Gummihüpfen
zugeschaut, aber ich konnte ja nicht einfach hingehen und sagen, dass ich das
auch einmal probieren möchte…“
Kurz vor Ende der Stunde bitte ich P. das, was sie heute erlebt hat mit
geschlossenen Augen und auf einer Decke liegend noch einmal gedanklich und
emotional nachzuempfinden und den Eindrücken mit Hilfe eines Wortes oder eines
Satzes zu einem Ausdruck zu verhelfen.
„Wenn ich spiele bin ich leichter und dann kann ich höher springen.“ sagt sie.
Und wir beschließen die Stunde mit unserem Ritual des Ausschwingens.
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Wie nach jeder Einheit fährt P. auch heute direkt an ihren Arbeitsplatz zurück, um
mir spät in der Nacht und nachdem sie zuvor noch einige Stunden gearbeitet hatte,
eine Rückmeldung zu schreiben.
Hier ein Auszug aus der Rückmeldung zu dieser Stunde:
Liebe Veronika,
mir hat die heutige Stunde wieder ganz besonders gefallen. Die Verbindung
zwischen Ausprobieren, Erfahrungen sammeln, darüber Reden und Nachdenken
kommt mir ganz besonders entgegen, weil sie für mich eine Brücke darstellt, die ich
in dem Bereich so viele Jahre vergeblich gesucht habe. Ich war auf der Suche nach
angenehmen und schönen Bewegungsgefühlen wie ich meinte, daß sie die meisten
anderen Menschen verspürten, aber ich fand keinen Weg dazu, den Transfer von
meinen rein kognitiven Vorstellungen durchzuführen. …
… Ich glaube ich habe es noch nie explizit angesprochen, aber ich wollte ihnen
auch einmal mitteilen, wie angenehm ich auch den Stundeneinklang jedes Mal
empfinde. Die Bewegungen sind alle sehr angenehm, es ist ein sachter Einstieg
(kommt mir sehr entgegen) und die Atmosphäre, ist so wunderbar locker. Es macht
nichts, wenn nicht alles perfekt ausgeführt wird oder manches zunächst gar nicht so
recht klappen will. Keine schiefen Blicke, kein "Draufrumhacken" was alles nicht
stimmt, dafür viel Zeit und Geduld und soviel, lang entbehrte positive Rückmeldung
für die Dinge die klappen und mögen die noch so einfach sein. …
… Ich denke heute, daß mir gerade beim Geräteturnen die fehlenden frühkindlichen
Erfahrungen zu Springen, Hüpfen, Balancieren, Schaukeln etc. ganz besonders im
Weg waren. Ich hatte nicht die geringste Selbsteinschätzung und kein Gefühl für
diese Dinge und dazu kam dann oft noch eine sehr große Angst und Panik.
Manchmal hatte ich das Gefühl, daß mir ein wenig Experimentieren geholfen hätte,
aber dazu gab es weder Zeit noch Gelegenheit. …
Es macht mich vor allem sehr glücklich manchmal kleine Momente durchblitzen zu
sehen, wo eine Bewegung hinreichend automatisiert abläuft, daß ich plötzlich eine
Ahnung VERSPÜRE was es bedeutet sich in einem bestimmten Rhythmus zu
bewegen. Die Betonung liegt auf dem Spüren. Das rationale Klarmachen der
Situation ist etwas anderes und liegt rein auf intellektueller Ebene. …
PS: Mir gefällt es, wenn Sie Fachausdrücke verwenden. Ich fühle mich dadurch
besonders ernst genommen.
8.4. Eine Nachbetrachtung
Wie in der Arbeit mit den Kindern muss ich mir auch nach der Stunde mit P. die
Fragen stellen: Was konnten meine Klientin erleben? Welche Kompetenzen
konnten sie erweitern? Welche motorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen
Bereiche wurden angesprochen? Habt P. heute etwas gelernt? Habt sie Raum und
Zeit zu Verfügung gehabt, um Fertigkeiten oder Verhaltensweisen neu zu
entdecken oder zu üben?
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
Und wie in der Arbeit mit den Kindern lohnt es sich, die allgemeinen
Bewegungsthemen der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie auf die konkrete
Umsetzung für diese praktische Einheit zu überprüfen.
8.4.1. Realisierte Erfahrungen zu den Dimensionen der Leiblichkeit
Themenbereich
Leben als Einheit von
Körper, Seele und Geist
Leib in der
Selbstwahrnehmung
Leib im Raum
Leib in der Zeit
Leib als „eingefleischte
Geschichte“
Leib als soziale Realität
ƒ Bewegen – Fühlen – Begreifen: Aufgrund des Kinderspiels
Gummihüpfen hatte P. Empfindungen und Erinnerungen
(Bottom up)
ƒ Bewusstwerdung des Zusammenhangs
ƒ Selbstwahrnehmung in Ruhe: zum Abschluss der Stunde
auf der Decke liegend
ƒ Selbstwahrnehmung in Bewegung: zu Beginn der Stunde
beim aktiven Durchbewegen des Körpers
ƒ Selbsterleben mit Objekten: diesmal dem Hosengummi
ƒ Körper im Raum – Raumkörper: wo bin ich im Verhältnis
zum Hindernis Hosengummi, das in unterschiedlichen
Höhen gespannt ist?
ƒ Tempo: je nach Sprung-Geschwindigkeit ist es leichter
oder schwerer die Aufgabe zu erfüllen
ƒ Rhythmus: Bewegungs- und Sprechrhythmus müssen bei
dem Spiel aufeinander abgestimmt werden
ƒ Atem, Herzschlag, Puls. das aktive Springen hat einen
großen Einfluss auf Atmung und Kreislauf
ƒ Intermedialer Quergang: in diesem Fall von der Bewegung
zu einem Satz
ƒ Haltungen und Bewegungen unterschiedlicher Kulturen:
Gummihüpfen als ein Kinderspiel, das es in vielen
verschiedenen Kulturen gibt …
ƒ Frauenwelt – Männerwelt: … und vor allem von Mädchen
gespielt wird.
8.4.2. Realisierte Erfahrungen zu den Dynamiken des Leibes
Themenbereich
Leben im Wechselspiel
von Eindruck und
Ausdruck
Leben im Spannungsfeld
der Gegensätze
ƒ Bewußtwerdung des eigenen Ausdrucks: „Wenn ich spiele
bin ich leichter und kann höher springen.“
ƒ Engung – Weitung: P. gestattet sich nicht, mit den Kindern
in der Siedlung zu springen, erlaubt es sich aber in der
Therapiestunden
ƒ Übergänge zwischen zwei Polen: direkt von der Arbeit in
die Therapiestunde zu kommen
ƒ Konflikt zwischen zwei Bedürfnissen: ich will gerne hüpfen,
aber ich geniere mich so …
ƒ Bekanntes Verhalten – gegenteiliges Verhalten: eigentlich
soll Veronika sagen, was wir heute tun – P. hat einen
eigenen Vorschlag
Leben aus der Mitte
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
8.4.3. Realisierte Erfahrungen zum Leib in seinen Relationen
Themenbereich
Frühe Zwischenleiblichkeit
Ich-Selbst: Identität
Ich – Du: Intersubjektivität
Ich und die anderen:
Leben in sozialen
Bezügen
ƒ Befriedigung von Grundbedürfnissen: P. wird gesehen, so
wie sie ist
ƒ Gesichts-, Blick-, Stimm- und Berührungsdialog als
Kerngeschehen des therapeutischen Prozesses
ƒ Meine Kraftquellen. Das „gut Denken und Analysieren
können“ als Stärke sehen können
ƒ In der Einzelarbeit über Kontakt und Abgrenzung mit der
Therapeutin möglich
ƒ Individuen miteinander: Die Erfahrungen aus der
Therapiestunde sind nachhaltig und haben eine Relevanz
für den Alltag von P.
9. Zusammenfassung
Der Mensch ist Mitmensch in einer Mitwelt und „lebendiger Leib in
Bewegung“ (Petzold, 1996, einleitender Text).
Diese Sichtweise macht es notwendig, über die Bedeutung von Bewegung
nachzudenken, vor allem wenn frau einen Beruf gewählt hat, wo sie über das
Medium Bewegung Menschen in ihrer Entwicklung begleiten möchte.
Dass Bewegung mehr ist als die Raum-Lage-Veränderung eines Körpers liegt auf
der Hand – wie differenziert Bewegung aber gesehen werden kann, wollte ich mit
dieser Arbeit aufzeigen.
Dazu habe ich die Bedeutungsdimsionen von Bewegung nach Grupe dargestellt,
aber auch die Bewegungsdefinitionen und das Leibkonzept von Petzold zitiert.
Die Abgrenzung von pädagogischen und therapeutischen Konzepten erschien mir
schwierig, weil das Therapieverständnis der Integrativen Bewegungs- und
Leibtherapie neben den heilenden und lindernden Aspekten auch all die
pädagogischen Anteile, wie Verbreiterung des persönlichen Horizontes oder
Bereicherung der Erlebnismöglichleiten beinhaltet. Demgegenüber verschließt sich
auch die psychomotorische Entwicklungsbegleitung, die ich grundsätzlich als eine
pädagogische Interventionsform verstehe niemandem, der mit einer
therapeutischen Fragestellung kommt.
Mit diesen Überlegungen könnte möglicherweise auch die Gruppenarbeit mit den
Kindern als Integrative Bewegungs- und Leibtherapie verstanden werden, wie die
Arbeit mit Frau P. als psychomotorische Entwicklungsbegleitung.
Letztlich liegt es wohl an der Beziehung zwischen der PatientIn oder KlientIn und
ihrer BegleiterIn, wie sich der bewegungsorientierte Prozess, der sich in der
Zwischenleiblichkeit vollzieht, zum Wohle beider gestaltet.
Und: „…wenn man das Leben als ganzes, als Gestalt verstehen will – und die
Fragmentierung ist der Tod des Lebendigen – muß man Therapeut und Pädagoge
sein (Schipperges 1986), muß man das Kranke und das Gesunde, muß man die
gesamte Lebensspanne in den Blick nehmen.“ (Petzold, 1996, S. 14)
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Die Bedeutung von Bewegungsangeboten in Pädagogik und Therapie
10. Literatur
AKTIONSKREIS PSYCHOMOTORIK e.V. Überarbeitete Entwürfe der
Grundlagenkommission. Unveröffentlicht, 1976
FISCHER, K.: Einführung in die Psychomotorik. 2. Auflage. Ernst Reinhardt Verlag,
München, 2004
GOLDMANN-LEXIKON, Band 3, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1998
GRUND, O./RICHTER, K./SCHWENDLAND-SCHULTE, G.: Das „komplexe
Leibkonzept“ der Integrativen Therapie. In: Integrative Therapie 3/2004, S. 216-236,
Junfermann Verlag, Paderborn, 2004
GRUPE, O.: Was ist und was bedeutet Bewegung? In HAHN, E./PREISING, W. (Red.): Die
menschliche Bewegung – Human Movement. Hofmann Verlag, Schorndorf, 1976, 3-19
HAUSMANN, B./NEDDERMEYER, R.: Bewegt sein. Integrative Bewegungs- und
Leibtherapie in der Praxis. Erlebnisaktivierung und Persönlichkeitsentwicklung. Junfermann
Verlag, Paderborn, 2. Auflage, 2003
KÖCKENBERGER, H./HAMMER, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder.
Ein Lehrbuch. verlag modernes lernen, Dortmund, 2004
LEHRTEAM der vaLeo-Zusatzqualifikation Motopädagogik: Unterlagen zur vaLeoZusatzqualifikation Motopädagogik, 2004
NITSCHKE, A. : Das verwaiste Kind der Natur. Tübingen 1968. Zit. in SCHERLER, K.:
Sensomotorische Entwicklung und materialer Erfahrung. Hofmann Verlag, Schorndorf,
1995
PASSOLT, M./PINTER-THEISS, V.: Ich habe eine Idee. Psychomotorische Praxis planen,
gestalten und reflektieren. verlag modernes lernen, Dormund, 2003
PETZOLD, H.: Integrative Therapie. Band II/3, Junfermann Verlag, Paderborn, 1993
PETZOLD, H.: Integrative Bewegungs- und Leibtherapie. Ein ganzheitlicher Weg
leibbezogener Psychotherapie. Band 1 und 2. 3. überarbeitete Auflage, Junfermann Verlag,
Paderborn, 1996
PHILIPPI-EISENBURGER, M.: Bewegungsarbeit mit älteren und alten Menschen, Verlag
Karl Hofmann, Schorndorf 1990
PINTER-THEISS, V./THEISS, C. (Hrsg.): Bewegt durchs Leben. Psychomotorik als Beitrag
zur Entwicklung des Menschen. Hölder-Pichler-Tempsky-Verlag, Wien, 1997
ORTH, I.: Heilung durch Bewegung. Überlegungen zu Diagnostik, Indikation und
Therapeutik in der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie. Vortrag gehalten auf der
Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Integrative Bewegungstherapie“ (DGIB), 7.-9.
Juni 1996, Hückeswagen, www.fpi-publikationen.de
SCHMIDT-DENTER, U.: Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen. In
MARKEFKA/NAUCK (Hrsg.): Handbuch der Kindheitsforschung, Luchterhand, 1993
10. Abbildungen
Abb. 1: Das Konzept der Psychomotorik. Unterlagen zur vaLeo-Zusatzqualifikation
Motopädagogik, 2004
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