Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach dem
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Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach dem
Erschienen in: Zeitschrift für Mission 1-2/ 2003, S.3-38 (Korrigierte Fassung) Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach dem Zerfall der Sowjetunion von Joachim Willems Auch mehr als zehn Jahre nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs’ scheint die ehemalige Sowjetunion für Religionswissenschaftler und Ethnologinnen noch immer bedeutend exotischer zu sein als die meisten Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Zumindest ist es bis heute recht selten, dass sich Vertreter der besagten Fächer mit den Nachfolgestaaten der UdSSR beschäftigen. Dies ist bedauerlich, finden doch hier zur Zeit überaus spannende Transformationsprozesse statt, die einer wissenschaftlichen Begleitung und Analyse durchaus wert sind. Denn selbstverständlich vollzieht sich der Wandel, den die neu entstandenen Staatswesen im ehemaligen Ostblock erleben, nicht nur auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, sondern auch auf dem Gebiet der Religion, und zwar bedeutend vielfältiger, als es populäre Ansichten über ‚religiöse Renaissancen’ oder beharrlichen Atheismus ahnen lassen. Ich möchte eine unter vielen derzeitigen Bewegungen darstellen und analysieren, und zwar den bewussten Versuch einiger Lutheraner, ihre Konfession im heutigen Russland zu inkulturieren. Seinen besonderen Reiz bekommt dieser Prozess u.a. dadurch, dass diese Inkulturation sich in einem Land vollzieht, das bereits vor mehr als tausend Jahren christianisiert und in seiner Geschichte entscheidend durch die Russische Orthodoxe Kirche geprägt wurde. Es stellen sich also einige Fragen: Was führt Menschen im heutigen Russland zur Annahme des Luthertums? Warum wählen sie überhaupt nach ‚Siebzig Jahren Atheismus’ das Christentum, und warum ausgerechnet in dieser konfessionellen Ausprägung, die ja gerade nicht der im Jahre 988 begründeten russländischen 1 Tradition entspricht? Welche Konzepte verfolgen die Amtsträger, die ihrem Umfeld ein je spezifisches Luthertum präsentieren wollen? Um mich diesen Fragen zu nähern, möchte ich im folgenden zwei kleinere Gruppen des lutherischen Spektrums in Russland genauer in den Blick nehmen, die mir wegen ihrer Gegensätzlichkeit hierzu geeignet erscheinen: Die „Sibirische Evangelisch-Lutherische Kirche“ (Sibirskaja Evangeličesko-Ljuteranskaja Cerkov’, im Folgenden: SELC) mit ihrem Zentrum in Nowosibirsk einerseits und andererseits die beiden lutherischen Gemeinden in Saransk, der Hauptstadt der Republik Mordwinien, die der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes [oder auch: Ingriens] in Russland (ELKIR) angehören. Sowohl Nowosibirsk als auch Saransk habe ich im Juni 2001 während eines Forschungsaufenthaltes in Russland besucht, an Gottesdiensten teilgenommen und Gespräche mit Amtsträgern und Gemeindegliedern geführt. Meine Aussagen im Folgenden speisen sich also vor allem aus eigener teilnehmender Beobachtung und den in Interviews erhobenen Informationen, daneben auch aus den wenigen Aufsätzen zum Thema und Informationen aus dem Internet. Bevor ich mich den Gemeinden in Nowosibirsk und Saransk näher zuwende, möchte ich allerdings erst einige einleitende Bemerkungen zu den Themen Religion und Luthertum in Russland machen. Die religiöse Lage im postsowjetischen Russland Der Zerfall der Sowjetunion und der Systemwandel von einem atheistischen marxistisch-leninistischen Regime zu einem an westlichen Demokratien orientierten Staat veränderte die Rahmenbedingungen für Religionsgemeinschaften in Russland innerhalb weniger Jahre fast vollständig. Bereits bald nach Andropovs Tod begannen sich Liberalisierungen im Bereich der Religion abzuzeichnen, den eigentlichen Wendepunkt bildete aber erst das Jahr 1988 mit der Milleniumsfeier der Taufe von Großfürst Vladimir Gorbatschow und empfing der den Erinnerung damaligen an die Christianisierung russisch-orthodoxen Russlands: Patriarchen, ein Landeskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche konnte abgehalten werden, und an den Feierlichkeiten beteiligten sich auch staatliche sowie andere nichtkirchliche Vertreter. 1990 wurde ein neues Religionsgesetz für die Sowjetunion verabschiedet, 2 das den Kirchen bisher im Lande nicht gekannte Freiheiten verschaffte, welche auch nach der Verabschiedung eines neuen, restriktiveren Religionsgesetzes 19971 größtenteils weiterhin in Kraft sind. Die Rückgabe von enteigneten Kirchengebäuden erfolgte, der Aufbau Bildungseinrichtungen bzw. Ausbau kirchlicher und Sozialeinrichtungen Strukturen – wurde – z.B. auch möglich, von ebenso Krankenhaus-, Militär- und Gefängnisseelsorge sowie kirchliche Aktivitäten in Schulen. Gleichzeitig beendete der Staat die eigenen atheistischen Tätigkeiten.2 Damit deregulierte der Staat den religiösen Markt in einem Maße, wie es auch vor der Oktoberrevolution 1917 höchstens in der kurzen Phase zwischen ‚bürgerlicher’ Februar- und bolschewistischer Oktoberrevolution der Fall war. Die neue religiöse Freiheit eröffnete nicht nur der Russischen Orthodoxen Kirche und anderen traditionell in Russland beheimateten Konfessionen und Religionen neue Spielräume, sondern auch zahlreichen in- und ausländischen Sekten und religiösen Sondergruppen. Man kann sagen, dass es fast keine derartige Gruppierung gab, die nicht versuchte, in die damalige Sowjetunion beziehungsweise in die GUS-Staaten zu expandieren: Gruppen neoprotestantischen Ursprungs (z.B. Mormonen und Zeugen Jehovas), schon seit längerem im Westen heimische Gruppen und Praktiken östlicher Herkunft, vielfältigste neobuddhistische und neohinduistische Richtungen, dazu alle Arten von Magiern und einige in Russland selbst entstandene Gruppierungen wie die „Kirche des Letzten Testaments“ des „Neuen Christus“ Vissarion, die Weiße Bruderschaft oder das Gottesmutterzentrum. Außerdem finden sich verschiedene Spielarten von „New Age“-Religiosität (einschließlich der Schriften der Rerich-Familie, der russischen Variante der Theosophie), Neuheidentümer und diverse Meditations- und Heilungspraktiken. Verstärkte Missionsversuche ließen auch die russischen Protestanten stärker als früher in Erscheinung treten. Dabei waren nicht nur einheimische Missionarinnen und Missionare aktiv, sondern auch Glaubensgeschwister aus dem Westen. Sendezeit in Radio oder Fernsehen und 1 Vgl. Zum Religionsgesetz von 1997: Stricker, Gerd: Das neue Religionsgesetz in Rußland. Vorgeschichte, Inhalt, Probleme, Befürchtungen, in: Osteuropa 7/ 1998, S.689-709. 2 Vgl. Kääriäinen, Kimmo: Religion in Russia after the Collapse of Communism. Religious Renaissance or Secular State, Lewiston u.a. 1998, S.27-29. Diedrich, Hans-Christian u.a. (Hgg.): Das Gute behaltet. Kirchen und religiöse Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, Erlangen 1996, S.32-34. 3 Räume in Kulturpalästen wurden angemietet, und Billy Grahams Predigten füllten Fußballstadien.3 Der Erfolg der verschiedenen Missionsversuche lässt sich gewiss damit erklären, dass Religion etwas Neues und damit Aufregendes war und noch die Aura des ehemals Verbotenen besaß. Trotzdem darf der tatsächliche Einfluss der jeweiligen Religionen nicht überschätzt werden: Sowohl die Neugierde auf die Orthodoxie als auch auf Protestantismus und Katholizismus, Magie, Astrologie und Esoterik, Buddhismus und Hinduismus wurde bald schon wieder geringer. Für die orthodoxen Christen konstatieren Kääriäinen und Furman in der grundlegenden Studie über „Alte Kirchen, neue Gläubige. Religion im Massenbewusstsein des postsowjetischen Russland“, dass die Zahl der Gläubigen im traditionellen Sinn relativ konstant in den 1990er Jahren bei höchstens 7% lag. Die Indikatoren für Gläubigkeit im traditionellen Sinne waren dabei: Selbstdefinition als Gläubige und Orthodoxe; Angabe, dass sie an einen Gott glauben, zu dem man in eine persönliche Beziehung treten kann; entweder regelmäßiger Kirchgang mindestens einmal pro Monat oder häufiges Gebet. Würde man als weitere, gewiss nicht überzogen strenge Kriterien zum Beispiel mindestens jährlichen Abendmahlsempfang oder die Beachtung der orthodoxen Fastenvorschriften fordern, wäre die Zahl weitaus geringer!4 Man kann so zu dem Schluss kommen, dass sich die Zahl der orthodoxen Gläubigen im engeren Sinne im Vergleich zur Sowjetzeit überhaupt nicht erhöht hat, sondern lediglich die Zahl der „Feiertagschristen“.5 3 Ščipkov, Aleksandr: Vo čto verit Rossija. Kurs lekcij [Woran glaubt Russland? Lektionenkurs], S.1-22, S.139-154, S.155-175. Barker, Eileen: Und wer wird nun gewinnen? Nationalkirchen und Minderheitenreligionen in der postkommunistischen Gesellschaft; in: Pollack u.a. (Hgg.): Religiöser Wandel in den postkommunistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas, Würzburg 1998, S.121-149, hier bes. S.134f. Koslatschkow, Alexej: Das „Heer des Satans“. Oder: Die okkultistische Revolution in Rußland; in Wostok. Informationen aus dem Osten für den Westen Nr. 4/97 S.71-75. Krindač, Aleksej: Religiöse Wiedergeburt und Entstehung einer neuen „konfessionellen Landschaft“ in Rußland (I), in: Osteuropa 2/ 2000, S.161-175, hier bes. S.161-163. Einen guten Überblick über die postsowjetische religiöse Landschaft gibt auch ein Blick in eine beliebige russische Internet-Suchmaschine und die darüber gebotenen Links zum Thema Religion, z.B. http://weblist.ru/english/Society_and_culture/Religion/, 14.05.02 oder http://catalog.aport.ru/rus/themes.asp?id=205, 14.05.02. (Zur Verwendung von Internetseiten als Quelle: Den üblichen Gepflogenheiten entsprechend wird nach der Adresse das Datum des letzten Besuches auf der Seite angegeben. Zudem liegen dem Verfasser dieses Aufsatzes alle zitierten Seiten in ausgedruckter Form vor. Sind Seiten während der letzten Überarbeitung des Aufsatzes nicht mehr aufrufbar gewesen, so wird darauf gesondert verwiesen.) 4 Kääriäinen, Kimmo/ Furman, Dmitrij (Hgg.): Starye cerkvi, novye verujuščie. Religija v massovom soznanii postsovetskoj Rossii [Alte Kirchen, neue Gläubige. Religion im Massenbewusstsein des postsowjetischen Russland], Moskau/ St. Petersburg 2000, S.23f. In englischer Sprache sind die Ergebnisse zugänglich in Kotiranta, Matti (Hg.): Religious Transition in Russia, Helsinki 2000. 5 Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.21. 4 Als Neuerung gegenüber der Zeit vor der Perestrojka kann allerdings ein „proreligiöser“ und vor allem „proorthodoxer Konsens“ konstatiert werden6, der auch von denen geteilt wird, die selbst nicht an einen Gott in welcher Form auch immer glauben. So ist es etwa möglich, dass sich in Russland ein höherer Prozentsatz der Bevölkerung einer bestimmten Konfession zugehörig fühlt, als sich selbst als gläubig bezeichnet. Bei den Möglichkeiten, sich als „gläubig“, „zweifelnd“, „nicht gläubig“ oder „atheistisch“ zu definieren, stellte sich 1999 heraus, dass sich 98% der „Gläubigen“ als orthodox bezeichnen – und, was weitaus erstaunlicher und beachtlicher ist, 90% der „Zweifelnden“, 50% der „Nichtgläubigen“ und immerhin noch 42% der Atheisten!7 Die Vermutung liegt nahe, dass „Orthodoxie“ von vielen Russen – nicht nur ‚orthodoxen Atheisten’ – stärker als etwas zur Nationalkultur und zur ethnischen Identität Gehöriges denn als religiöse Überzeugung angesehen wird. Das ideologische Vakuum nach 1991 soll mit orthodoxem Christentum gefüllt werden, was der Russischen Orthodoxen Kirche einen enormen Aufstieg im öffentlichen Ansehen beschert – allerdings wird Orthodoxie eben auch nur als Ideologie rezipiert, und auch das nur dort, wo es opportun erscheint. Diese Hinwendung zur traditionellen Konfession betrifft nicht nur die ethnischen Russen. Der in der Überschrift dieses Artikels gewählte Begriff „russländisch“ soll darauf hinweisen, dass in Russland eben nicht alles russisch und nicht alle Menschen Russen sind. In der russischen Sprache unterscheidet man daher die Adjektive russkij = russisch im ethnischen Sinne oder auf die Sprache bezogen, und rossijskij = russländisch, worunter alles in Beziehung mit dem Staat und Land Russland fällt einschließlich seiner Bürgerinnen und Bürger, gleich welcher Nationalität sie sein mögen. Eingeschlossen Bundesländern (Rossijskaja sind vergleichbaren) Federacija) mit dann also die Republiken (am der nichtrussischer ehesten mit Russländischen Titularnation (wie deutschen Föderation Tatarstan, Baschkortostan, Tschetschenien, Dagestan, Komi, Karelien, Mari-El, Mordwinien, Tschuwaschien, Udmurtien, Tuva, Jakutien oder Kalmückien), ebenso die in Russland lebenden Völker ohne eigene Republik (z.B. Korjaken, Nencen, Mansen, Nganasanen, 6 7 Nanajcen, Itelmenen, Taten, Ebd., S.11. Ebd., S.16. 5 Lezginen usw.) oder mit einem Nationalstaat außerhalb des Landes (Kasachen, Georgier, Armenier, Balten etc., aber auch Deutsche, Juden, Finnen, Koreaner usw.). In noch stärkerem Maße als die Russen stehen die übrigen russländischen Völker nach dem Zerfall der Sowjetunion vor der Frage ihrer nationaler Identität. Alle haben mehr oder weniger intensive Versuche einer „nationalen Wiedergeburt“ erlebt, die – wegen der neuen religiösen Freiräume – auch immer eine konfessionelle Komponente hatte und hat. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Verbindung von nationaler und religiöser Rhetorik bei tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern, oder – weniger spektakulär – die Auseinandersetzungen um die mit Rom unierte Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche. Wie in Mordwinien versucht wird, die nationale Identitätssuche mit der Suche bzw. Propagierung einer nationalen Religion zu verknüpfen, soll später ausführlich dargestellt werden. Festzuhalten bleibt am Ende dieses kurzen Überblicks über die religiöse Lage Russlands in den 1990er Jahren dreierlei: 1. Russland erlebte um 1990 eine bis dahin noch nicht gekannte Religionsfreiheit. 2. Damit einher ging gleichzeitig eine Pluralisierung und Ausdifferenzierung des religiösen Spektrums. 3. Trotzdem bestand und besteht eine Verbundenheit der Mehrheit mit der jeweiligen traditionellen Religion, auch wenn dies nicht unbedingt heißt, dass diese auch wirklich als Religion praktiziert wird. Es interessieren an der Religion anscheinend mehr deren ideologische und nationale Komponenten. Lutherische Gemeinden in Russland Diese Rahmenbedingungen betreffen selbstverständlich auch die lutherischen Gemeinden im Lande, Traditionellerweise ist wobei das hier einige Luthertum in Besonderheiten Russland eine zu Tage typische treten. nationale Minderheitenreligion: Lutherisch waren in erster Linie Deutsche, Finnen und Balten. Im Baltikum reicht die Geschichte des Luthertums bis ins Jahr 1521 zurück, als Riga sich der protestantischen Bewegung zuwandte. Auf dem Boden des russischen Staates erschien die lutherische Lehre ebenfalls bereits im Reformationsjahrhundert. Die erste Erwähnung einer lutherischen Kirche in Moskau datiert in das Jahr 1576. 1832 wurden die Gemeinden per Gesetz 6 zur multinationalen „Evangelisch- Lutherischen Kirche in Russland“ zusammengefasst – mit dem Zaren als oberstem Bischof. 1914 gehörten dieser Staatskirche je über 1.000.000 Letten, Esten und Deutsche an, dazu knapp 150.000 Finnen, insgesamt über 3,6 Millionen Mitglieder.8 Nach der vollständigen Zerschlagung dieser Kirche in den 1930er Jahren und der Deportation der Finnen sowie der Russlanddeutschen nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion (außerhalb des später wieder einverleibten Baltikums) nur noch einzelne lutherische Hauskreise und geheime Gemeindegruppen. In diesen wurde die Frömmigkeit der pietistischen Brüderkreise prägend. Von den Geistlichen haben insgesamt nur drei Pfarrer nach zum Teil langjähriger Lagerhaft in den 1950er Jahren wieder als solche gearbeitet.9 Zwar konnte 1956 eine russlanddeutsche Gemeinde in Kasachstan die offizielle Registrierung bei den Behörden erreichen, die nächsten Registrierungen von Gemeinden fanden allerdings erst wieder über zehn Jahre später statt. Aber auch nach ihrer behördlichen Registrierung blieben die Gemeinden ohne gesamtkirchliche Struktur. Seit 1980 war es immerhin dem Rigaer Pfarrer Harald Kalnins möglich, sich als Superintendent um die deutschsprachigen Gemeinden in Sibirien, Kasachstan und den mittelasiatischen Sowjetrepubliken zu kümmern.10 Aus dieser Tätigkeit entstand (nach mehreren Umbenennungen) die heutige „Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland und anderen Staaten“ (ELKRAS), die sich als Nachfolgerin der vorrevolutionären Kirche betrachtet und die größte lutherische Kirchenorganisation im heutigen Russland und der GUS darstellt. Anlässlich der Generalsynode 1999 wurden für die ELKRAS-Regionalkirche Europäisches Russland 150 Gemeinden (ohne Gemeindegruppen) und für die Regionalkirche Ural, Sibirien, Ferner Osten 200 Gemeinden und Gemeindegruppen genannt.11 Zu diesen Gemeinden gehören sowohl alte Russlanddeutsche der brüdergemeindlichen (pietistischen) Tradition, als auch Russlanddeutsche, die auf 8 Zur Geschichte der lutherischen Gemeinden in Russland: Kahle, Wilhelm: Wege und Gestalt evangelischlutherischen Kirchentums. Vom Moskauer Reich bis zur Gegenwart, Erlangen 2002. Amburger, Erik: Geschichte des Protestantismus in Rußland, Stuttgart 1961. Die angegebenen Zahlen für 1914 finden sich bei Stricker, Gerd (Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 10), Berlin 1997, S.350. 9 Es handelt sich um Eugen Bachmann, Arthur Pfeiffer und Johannes Schlundt. Vgl. Licenberger, Ol’ga A.: Evangeličesko-ljuteranskaja cerkov’ i sovetskoe gosudarstvo (1917-1938) [Die Evangelisch-Lutherische Kirche und der Sowjetstaat (1917-1938)], Moskau 1999, S.332, S.376 und S.389. 10 Für die Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland nach 1917 sind grundlegend: Kahle, Wilhelm: Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sovetunion 1917-1938, Leiden 1974, und ders.: Die lutherischen Kirchen und Gemeinden in der Sowjetunion – seit 1938/ 1940 –, Gütersloh 1985. 7 der Suche nach ihrer nationalen Identität in Kontakt mit der Religion der Vorfahren gekommen waren. Auch Menschen ohne lutherische Vorfahren finden hier eine geistliche Heimat, die ihnen mehr zusagt als die orthodoxe Kirche. Anders als vor der Revolution sind die finnischen Gemeinden nicht Teil der ELKRAS geworden, sondern haben mit der „Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes in Russland“ (ELKIR) eine eigene Kirche gegründet. 1996 sollen der Kirche 15.000 registrierte Gemeindeglieder angehört haben, wobei sich allerdings zusätzlich noch einmal doppelt so viele Menschen aktiv am Leben der Gemeinden beteiligten.12 Auch hierunter finden sich Finnen, die unter Repressionsbedingungen am Glauben festgehalten haben, Finnen auf nationaler Identitätssuche und Angehörige anderer Völker.13 Zur ELKIR gehören zudem die Gemeinden im mordwinischen Saransk, auf die ich im Verlauf dieses Aufsatzes näher eingehen werde. Daneben gibt es weitere lutherische Gemeinden: Zum einen selbstständige lutherische Gemeinden – meist handelt es sich um Abspaltungen von der ELKRAS bzw. (wie im Falle einiger karelischer Gemeinden) von der ELKIR oder um ältere Gemeinden, die sich keiner Kirche angeschlossen haben (viele wissen auch bis heute einfach noch nichts von deren Existenz!) –, zum anderen um Gemeinden, die auf Missionsaktivitäten amerikanischer konservativer Lutheraner der Wisconsin 14 Evangelical-Lutheran Synode zurückgehen. Als weitere, aufstrebende Kirchenorganisation, die von Teilen der Lutheran Church – Missouri Synod (LCMS) unterstützt wird, ist die „Sibirische Evangelisch-Lutherische Kirche“ (SELC) zu nennen. Die „Sibirische Evangelisch-Lutherische Kirche“ 11 Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien 1994-1999, St. Petersburg 2000, S.71 und S.79. 12 Diedrich u.a. (Hgg.): Das Gute behaltet (Anm. 2), S.96. 13 Pihkala, Isto: Die Ingrische Kirche in den neunziger Jahren, in: Junker, Johannes/ Arkkila, Reijo (Hgg.): Nacht und neuer Morgen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche von Ingrien in Rußland, S.47-57, hier S.53. 14 Zu den Abspaltungen von der ELKRAS vgl. z.B. Stricker: Rußland (Anm. 8), S.404. Zur Abspaltung karelischer Gemeinden von der ELKIR: www.gov.karelia.ru/Different/Religion/protestant.html, 14.05.02 und Filatov, Sergej B.: Karelija: pravoslavno-ljuteranskoe pogranič’e [Karelien: orthodox-lutherisches Grenzland], in: Družba Narodov 5/ 2000, S.130ff., hier aus: http://novosti.online.ru/magazine/druzhba/n5-20/filat.htm, 14.05.02 (daher ohne Seitenzählung). Zu den Gemeinden der Wisconsin Synod: Willems, Joachim: Wege zur Wahrung und Wiedergewinnung religiöser Identität. Religiöse Minderheiten im sibirischen Omsk: Muslime, Juden, Lutheraner, in: Glaube in der 2. Welt Nr. 3/ 2002, S.26-31, hier S.31, und http://www.wels.net/sab/wor/rus-01.html, 14.05.02; http://www.wels.net/sab/wor/rus-09.html, 14.05.02 und http://www.wels.net/sab/wor/rus-09.html, 14.05.02. 8 Die erste Gemeinde der SELC wurde 1992 in Nowosibirsk offiziell registriert unter der Bezeichnung „Westsibirische Christliche Mission“ (Zapadno-Sibirskaja Christianskaja Missija; eine zeitlang war auch die Bezeichnung „Biblisch-Lutherische Kirche“ in Gebrauch). Das Interessante an dieser Kirche ist im Zusammenhang mit der Frage nach lutherischen Inkulturationsprozessen im modernen Russland vor allem die Tatsache, dass sie sich nicht als eine Kirche einer nationalen Minderheit versteht. Dies unterscheidet sie grundlegend von ELKRAS und ELKIR, die zwar beide ebenfalls betonen, dass Religion, Konfession, Bibel und Glaube nicht an Nationalität gebunden sind, in denen aber gleichwohl der jeweilige ethnische Hintergrund deutlich sichtbar bleibt. Ähnlich verhält es sich mit den amerikanischen lutherischen Missionen: Auch wenn sich die Missouri- und die Wisconsin-Synode in ihrer Missionsarbeit explizit an die autochthone Bevölkerung wenden und das von nationaler u.a. Kultur ‚reine’ Evangelium predigen wollen, so bleibt doch allein schon durch die aus den USA stammenden Missionare der nordamerikanische kulturelle und denominationelle Hintergrund prägend. Die Geistlichen der SELC dagegen sind Russen, die zudem bewusst ihre Kirche in der russischen Kultur beheimatet sehen wollen. Dies ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass für die übergroße Mehrheit der Russen russische Kultur untrennbar mit der orthodoxen Konfession verbunden ist, und auch deshalb, weil die SELC ihrem „kanonischen Status“ nach15 Teil der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche ist. Seinen Grund findet das in der Geschichte der SELC und der Biographie ihres Leiters Vsevolod Lytkin. Dieser, laut der Selbstdarstellung der Kirche im Internet, 1967 in eine Dissidentenfamilie im Nowosibirsker „Akademiestädtchen“ (Akademgorodok) geboren, stand schon in seiner Jugend in Opposition zum damals herrschenden atheistischen Staatssystem und begann so auch mit der religiösen Suche. Dabei kam er allein aus der Lektüre von Luthers Kleinem Katechismus, ohne persönliche Kontakte zu Lutheranern, zu der Überzeugung, hier die wahre Konfession gefunden zu haben. Da er aber 1987 keine lutherische Gemeinde in Sibirien fand – obwohl, das sei hinzugefügt, sogar in Nowosibirsk selbst eine heute 15 So der Ausdruck der SELC selbst in ihrer Internetdarstellung: www.lutheran.sib.net/rus/histblc.html, 26.09.00, aus der auch die Informationen der folgenden Absätze entnommen sind. Diese Seite ist nicht mehr aufrufbar. Die neue Adresse – mit leicht überarbeitetem Text – lautet: http://www.lutheran.ru/novosibirsk/novosibirsk.html, 14.05.02. 9 der ELKRAS angehörige Gemeinde schon lange existierte16 –, reiste er spontan ins Baltikum, und zwar ins estnische Tallinn, da in Leningrad gerade keine Fahrkarten nach Riga erhältlich waren. In Tallinn wurde er noch im selben Jahr getauft und arbeitete aktiv in der dortigen Heilig-Geist-Gemeinde mit. Bald allerdings schon kehrte er nach Nowosibirsk zurück, wo er sich an der Organisation christlicher Arbeit in der Stadt und an der Universität beteiligte, zusammen mit amerikanischen Missionaren und mit Menschen verschiedener denominationeller Ausrichtung. So entstand mit anderen, die wie er „etwas Ernsthafteres“17 als allein Bibelarbeit wollten, nämlich zusätzlich ein „tieferes kirchliches Verständnis Gottes und Seines Wortes“, der Kern der späteren SELC. Man setzte folgende Akzente: „Glaube, und nicht Kultur, Theologie, und nicht ,Party’ [tusovka = Szene, Jugendszene, Party, Fete], Verkündigung der Frohen Botschaft als Arbeit mit Menschen, und nicht ,Evangelisation auf den Straßen mit Broschüren’, ernsthafte Beziehung zur Lehre über die Rettung und zum christlichen Leben, und nicht das Prinzip ,einmal gerettet – immer gerettet’ [...].“ Die (nationale) Selbstständigkeit der Gruppe trotz der Beziehungen zu amerikanischen Missionaren wird unterstrichen: Schon damals sei man unabhängig gewesen, eine „russische Gemeinschaft von Gläubigen“, keiner ausländischen Führung untergeordnet; die „Beziehung zu ausländischen Brüderkirchen“ würden „ausgeübt ausschließlich auf der Grundlage christlicher Liebe, Hilfe und gegenseitiger Unterstützung.“ Den der Gruppe wichtigen ‚kirchlichen’ Status erreichte sie endlich am 11. Februar 1993 mit der Ordination von V. Lytkin durch den estnischen Bischof in Tallinn. Die genaue Nennung gerade dieses Datums quasi als eigentliche Geburtsstunde der Gemeinde unterstreicht die von Anfang an hervorgehobene Bedeutung der Kirchlichkeit. Die besondere Hochschätzung des (Klerikal-) Kirchlichen wird auch in einer Predigt Lytkins über den Heiligen Cyprian deutlich, in dem es unter anderem über die Stellung von Priester und Laien heißt: „Die LAIEN können keinem aus ihrer Zahl Macht übergeben, die sie gar nicht besitzen. Der Priester, der die Sakramente weiht, ist nicht ein EINFACHER VERTRETER der im Gottesdienst Anwesenden. Er STEHT 16 Die schon viel länger bestehende Gemeinde wurde aus politischen Gründen 1967 behördlich registriert; Kahle: Die lutherischen Kirchen und Gemeinden (Anm. 10), S.129. 17 So die Selbstdarstellung der SELC auf der oben genannten (Anm. 15) Internetseite. Hier finden sich auch die noch folgenden Zitate. Die Übersetzungen aus dem Russischen stammen vom Verfasser dieses Aufsatzes. 10 AUF DEM PLATZ CHRISTI, und er wirkt nicht im Namen der Gemeinde, sondern im Namen Christi.“18 Dass Lytkin hier nicht einfach die Sichtweise Cyprians referiert, sondern dass hier auch sein eigenes ekklesiologisches Modell deutlich wird, zeigt die Terminologie, die in der ‚Geschichtsschreibung’ der Kirche verwendet wird. So heißt es in der Selbstdarstellung im Internet, dadurch, dass Lytkin mit der „Handauflegung in den Stand des Priesters [russ.: svjaščennik] (Pastors)“ erhoben wurde, sei die „Gruppe“ zu einer „vollwertigen Eucharistischen Gemeinde“ geworden. Allerdings ist dies deutlich bereits die spätere Deutung der Ereignisse, da man selbst schreibt, in den ersten ein bis zwei Jahren habe das lutherische Selbstverständnis des Pastors das der Gemeinde übertroffen. Diese sei erst „nach einigen Jahren lutherischer Predigt in den Sonntagsgottesdiensten und einer Reihe von Bibel- und Dogmatikkursen“ „organisch in das Luthertum eingetreten“ [organično vošla v ljuteranstvo]. So sei man bis zum Sommer 1994, nachdem man sich auch von einigen baptistisch Orientierten getrennt habe, zu einer „vollen und klar ausgedrückten Konfessionalität“ gekommen, eine „streng lutherische Pfarrei“ geworden. Diese konfessionalistische Ausrichtung erklärt auch die enge Zusammenarbeit der Gemeinde mit der Missouri Synod (LCMS) in den USA. In deren Seminaren studieren nicht nur seit 1994 Vertreter der SELC (im Sommer 1994 z.B. Lytkin selbst sowie der ebenfalls von mir interviewte Diakon – mittlerweile zum Pastor ordinierte – Pavel Chramov), von hier kommen auch Dozenten, um im Nowosibirsker Lutherischen Theologischen Seminar der SELC zu unterrichten.19 Besonders gute Beziehungen bestehen zum ebenfalls hochkirchlich ausgerichteten Seminar der LCMS in Fort Wayne. Weitere Kontakte unterhält man zur estnischen ‚Mutterkirche’, die laut Pastor Lytkin geplant hatte, die SELC im Oktober 2001 in die Unabhängigkeit zu entlassen20, außerdem in Deutschland zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen 18 www.radiotserkov.ru/biblio/kiprian.shtml, 15.05.02. Hervorhebungen so im Original, Übersetzung aus dem Russischen von Verfasser dieses Aufsatzes. 19 Vgl. zum Seminar z.B. dessen Internetseiten: www.seminary.faithweb.com/engl/Default.htm, 14.05.02, und www.lts.ru, 14.05.02. 20 Diese Information gab mir Lytkin im persönlichen Gespräch am 17.06.2001 in Nowosibirsk. Offensichtlich ist es dazu nicht gekommen. Zumindest wird in den regelmäßig per E-Mail verschickten Rundbriefen („Newsletter“) der Gemeinde (über [email protected]) wie in anderen Quellen keine kirchliche Unabhängigkeit erwähnt. Die Gründe hierfür sind mir nicht bekannt und waren auch nicht in Erfahrung zu bringen. 11 Kirche (SELK). Das Verhältnis zu den anderen lutherischen Kirchen in Russland dagegen ist mindestens gespannt.21 Zur weiteren Geschichte der SELC ist von Bedeutung, dass man sich nicht auf die Gemeinde in Nowosibirsk beschränkte, sondern eine ausgedehnte Missionstätigkeit begann, z.B. in Chakassien und Burjatien, in Ekaterinburg, Tschita und Irkutsk. Zur Zeit meines Besuches gab es nach den Informationen von Pavel Chramov elf Gemeinden der SELC, die von einem Pastor (Vsevolod Lytkin) und sechs Diakonen betreut wurden. Mittlerweile ist die Zahl der Geistlichen gestiegen: Am 2. September 2001 wurden in Nowosibirsk u.a. durch den Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Litauens vier Diakone zu Pastoren (unter ihnen Pavel Chramov) und zwei Männer zu Diakonen ordiniert, am 8. Dezember 2001 in Tallinn/ Estland zwei weitere Diakone und ein Pfarrer durch den estnischen Erzbischof Jaan Kiivit.22 Der Gottesdienst der ‚Muttergemeinde’ im Nowosibirsker „Akademiestädtchen“ wurde am17. Juni 2001, als auch ich anwesend war, von ca. 40 Menschen besucht. Laut Internetinformationen berücksichtigen, dass in gibt es Russland etwa 100 in allen Gemeindeglieder. religiösen Es ist Gemeinden zu der Gottesdienstbesuch im Sommer bedeutend geringer ist als im Winter, da ein Großteil der Gemeindeglieder auf die Erträge des eigenen Gartens oder der Datscha angewiesen ist. Diese aber hat man an den ‚arbeitsfreien’ Tagen wie Sonn- und Feiertagen zu bestellen. Unter den Teilnehmern am Gottesdienst waren auffallend viele Kinder und junge Menschen, aber auch Alte, also alle Altersgruppen. Dem Heimatort (Akademgorodok) und der Gemeindegeschichte (studentischer Bibelkreis als eine der Keimzellen der Kirche) ist es zu verdanken, dass, so Chramov, viele Studenten und Akademiker (Professoren, Lehrer, Ärzte, Wirtschaftswissenschaftler) zur Gemeinde gehören. Die nicht zur Gründungsgeneration gehörenden Glieder seien vor allem über persönliche Kontakte in die Gemeinde gekommen, auch über die Evangelisationen von amerikanischen Missionaren. 21 Dies wird in Gesprächen mit den Vertretern der verschiedenen Kirchen deutlich. Trotzdem werden Kontakte gepflegt. Bei der Einweihung des Kirchenneubaus der SELC in Akademgorodok/ Nowosibirsk am 2. September 2001 waren der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Litauens anwesend, außerdem Vertreter der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der LCMS und der ELKRAS (u.a. der Stellvertreter des Erzbischofs und Rektor des Theologischen Seminars, Bischof Dr. Stefan Reder). (Quelle: Rundmail „ELKRAS-Nachrichten“, [email protected], vom 7. September 2001. http://www.luther.ru/news/s6.htm, 08.11.01, Seite nicht mehr zugänglich.) 12 Die starke Betonung der Kirchlichkeit und das Streben nach einem eindeutigen „kanonischen Status“ wurden bereits erwähnt. Wie wirkt sich dies im Einzelnen in der Lehre und kirchlichen Praxis der Kirche aus, und welche weiteren Akzente werden gesetzt? Für den bundesdeutschen Betrachter sind zahlreiche Züge der SELC auffällig, die an die Russische Orthodoxe Kirche erinnern. Dies beginnt mit der Bezeichnung des Pfarrers, für die nicht das auch im Russischen (z.B. in der ELKRAS) gebräuchliche Wort „Pastor“ verwendet wird, sondern „svjaščennik“, „Priester“. Angesprochen wird der Pfarrer mit „Vater“ (otec). Entsprechend wird auch in Texten dem Namen ein „o.“ vorangestellt, also z.B. „o. Vsevolod Lytkin“. Ebenfalls als „Väter“ gelten die Diakone, die, wie auch in der ELKIR, entweder bestimmte liturgische Funktionen im Gottesdienst neben dem Pastor erfüllen oder für diesen in Vertretung die Feier leiten. Beim Eintritt in den Gottesdienstraum – im Falle der Nowosibirsker Gemeinde bis September 2001 ein gemieteter und kirchlich hergerichteter Raum eines heruntergekommenen sowjetischen Jugendzentrums – bekreuzigt man sich wie beim Eintritt in eine orthodoxe Kirche. Interessanterweise geschieht das bei einigen in der ‚östlichen’ (orthodoxen) Form (mit drei Fingern von rechts nach links), bei anderen in der ‚westlichen’ (mit fünf Fingern von links nach rechts). Bisweilen lassen sich Mischformen beobachten, wie z.B. ‚östlich’ in der Richtung, aber mit fünf Fingern. Auch während des Gottesdienstes und vor allem während des Abendmahls ist die Gemeinde dadurch am Geschehen beteiligt, dass sie sich wiederholt bekreuzigt. Nach Pavel Chramov geht die ‚westliche’ Form des Kreuzschlagens auf das Vorbild Pastor Lytkins und der amerikanischen Dozenten am Theologischen Seminar zurück. Wie Chramov berichtet, habe man in einer der Kirche gehörenden Wohnung auch Ikonen, außerdem benutze man an Feiertagen Weihrauch. Theologisch sei die Verwendung von Ikonen kein Problem, wenn man sich bewusst sei, dass eben keine Bilder angebetet würden, sondern die Verehrung den Heiligen ‚dahinter’ gelte. Dies entspricht der orthodoxen Theorie, ist 22 aber im lutherischen Kontext doch Rundmail „ELKRAS-Nachrichten“ (Anm. 21) vom 7.9.2001. „Newsletter“ der SELC (Anm. 20) vom 19.12.2001. Die Zahl der Gemeinden scheint seitdem nicht gestiegen zu sein. Auf ihrer aktualisierten Homepage werden die Adressen von zehn Gemeinden genannt: http://www.lutheran.ru/contacts.html, 14.05.02. 13 ungewöhnlich. Noch deutlicher wird eine spezifische Art von Heiligenverehrung in einer über das Internet verbreitete Predigt Lytkins über den „Hl. Dietrich Bonhoeffer und den Glauben an die Auferstehung“ [Sv. Ditrich Bonchjoffer i vera v Voskresenie].23 Hier heißt es u.a.: „Am 9. April begeht die Kirche den Tag des Hl. Dietrich Bonhoeffer.“ Der Gedankengang der Predigt sei hier skizziert. Er führt von einer Zusammenfassung des Lebens und Sterbens des ‚Heiligen’ zum Thema ,Glauben an die Auferstehung’. Hierzu wird ein Ausspruch Bonhoeffers im Angesicht des eigenen Todes zitiert: „Das ist das Ende, aber für mich der Beginn des Lebens.“ Es folgt eine kurze polemische Beschreibung eines Gespräches mit einem liberalen deutschen Pfarrer, „der nach Russland kam aus dem Lande des Hl. Dietrich“ und bestritt, dass man an eine leibliche Auferstehung Christi glauben müsse. Demgegenüber sei die leibliche Auferstehung den Aposteln aber keinesfalls egal gewesen, und ebenso wenig den Märtyrern und Heiligen. Der Glaube daran bleibe die Grundlage auch der Hoffnung der heute lebenden Christen. Abgesehen von der erstaunlichen Tatsache, dass eine sich selbst als konfessionalistisch, „konservativ und hochkirchlich“24 definierende, ekklesiologischlegalistische Kirche in dieser Art einen Menschen zum Heiligen erhebt, stellen sich einige weitere Fragen: Warum erhebt man gerade einen Theologen zum Heiligen, der nicht von vornherein die emanzipierte „religionslose Welt“ nach der Aufklärung verurteilt, sondern sich Gedanken über ein „religionsloses Christentum“ macht? Außerdem: Wer hat Bonhoeffer überhaupt kanonisiert, wie wird der „Tag des Heiligen“ begangen, welche Formen von Heiligenverehrung sind noch üblich? Hierzu sagte mir Lytkin, natürlich gebe es problematische Züge in Bonhoeffers Theologie. Gleichwohl sei er wegen seines Leben und Sterbens ein Heiliger, nicht, weil er als solcher kanonisiert sei, sondern weil er in der Kirche besonders geschätzt und verehrt werde.25 Gebete zu Heiligen gebe es allerdings nicht, doch sei man sich gewiss, dass Bonhoeffer seinerseits im Himmel für seine Kirche bete. Diakon Pavel Chramov meint sogar, es stelle sich in der SELC die Frage, warum man nicht 23 Die Predigt fand sich unter www.lutheran.sib.net/rus/liturgy/ditr.html, 26.09.00, ist mittlerweile aber nicht mehr aufrufbar. 24 So Lytkin mir gegenüber im Gespräch am 17.6.2001 zur Charakterisierung der SELC. 25 Auch hier liegen ‚orthodoxe Anklänge’ vor, da in der Orthodoxie die Initiative zur Erhebung eines Verstorbenen zum Heiligen von der kirchlichen Basis ausgeht. Vgl. hierzu z.B. anlässlich einer aktuellen Frage Stricker, Gerd: Zar Nikolaj II. – ein „Neu-Heiliger“. Zu einer umstrittenen Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Osteuropa 11/ 2000, S.1187-1196, hier (zur Kanonisierung in der orthodoxen Kirche im Allgemeinen) S.1188-1190. 14 Bonhoeffer oder andere im Kirchenkalender der SELC aufgeführte (altkirchliche, russische etc.) Heilige im Gebet anrufen solle und greift ein in der orthodoxen Kirche verbreitetes Argument auf: Wenn man seine lebenden Freunde bitten könne, für einen zu beten, warum dann nicht auch die verstorbenen? Man sei in diesem Punkte vorsichtig, schätze die Heiligen auf jeden Fall als Vorbilder und halte sich ansonsten „an den Buchstaben des Konkordienbuches“ und daran, was Melanchthon schreibe: Man solle Gott für diese Menschen danken. Ein weiterer Punkt, an dem sich die Nähe zur orthodoxen Theologie zeigt, ist das Verständnis von Liturgie und Abendmahl innerhalb der SELC. Die Agende fußt zwar auf protestantischen Quellen der hochkirchlichen Richtung: auf der russischen lutherischen vorrevolutionären Agende sowie den Agenden der ELKIR, der LCMS und der Anglikanischen Kirche – aus dem orthodoxen oder katholischen Umfeld stammen nur einige Lieder –, das Verständnis der Liturgie sei aber, wie man in der SELC betont, „östlich“ und unterscheide sich so auch von dem der US-amerikanischen Dozenten im SELC-Seminar. Den östlichen Zugang zur Theologie bezeichnet Chramov als synthetisch im Gegensatz zum westlich-analytischen. Etwa unterteile man die Liturgie nicht in eine „Liturgie des Wortes“ und eine „Abendmahlsliturgie“, vielmehr sei die Eucharistie der Mittelpunkt und die Kulmination des gesamten Gottesdienstes und darüber hinaus der gesamten Theologie, auch in Predigt und Katechese. Für eine streng konfessionalistisch-lutherische Gruppierung überrascht zudem der Satz, dass nach dem Verständnis der SELC die Predigt zum Abendmahl hinführen solle und ohne eigenes Gewicht sei!26 Theologisch verficht man selbstverständlich die Realpräsenz, die Abendmahlspraxis ist exklusiv – es sind also nur Lutheraner zugelassen, wie die vor den Gottesdiensten verteilten Zettel mit den gesamten Texten einschließlich der Lieder den Gästen mitteilen. Anders als in einigen anderen konfessionalistischen Kirchen werden allerdings auch die angeblich ‚liberal’ von der lutherischen Lehre abweichenden Kirche wie die deutsche VELKD und die ELKRAS anerkannt. Auffällig ist die Beteiligung von Kindern am Abendmahl, die ebenfalls wieder die Verknüpfung von orthodoxer und lutherischer Tradition deutlich macht. Der hohen Bedeutung, die der Eucharistie beigemessen wird, entspricht, dass wie in der Orthodoxie auch 26 Pavel Chramov im Gespräch am 17.6.2001. Die folgenden Aussagen stammen ebenfalls aus den an diesem Tag geführten Gesprächen mit Chramov und Lytkin. 15 Kinder diese nach Möglichkeit empfangen sollen. Da aber der lutherischen Tradition gemäß eigentlich nur Konfirmierte das Abendmahl empfangen dürften, versuche man, die Kinder so jung wie möglich zu konfirmieren. Der bisher jüngste Konfirmand sei sechs Jahre als gewesen, ein Alter, das als durchaus erstrebenswert für diesen Passageritus gilt. Wegen der Wichtigkeit des Abendmahls wird dies an jedem Sonntag gefeiert, wenn ein Pastor oder ein Diakon anwesend ist, der die Erlaubnis zu seiner Einsetzung besitzt. Bezeichnend und aussagekräftig für die Sicht des Abendmahls ist es, wenn Pastor Lytkin der Wisconsin Synod ein „reformiertes Abendmahlsverständnis“ vorwirft. Den Hinweis entkräftend, dass diese doch die altlutherische Dogmatik einschließlich Realpräsenz verträte, argumentiert Lytkin, man sehe an der Tatsache, dass dort nur einmal im Monat das Abendmahl gefeiert werde, welch geringe (eben: „reformierte“) Bedeutung dem Sakrament beigemessen werde. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass gewisse in Russland zu beobachtende hierarchische Auswüchse in der Praxis die hochkirchliche SELC nicht erreicht haben. So existiert Berichten zufolge in einigen alten russlanddeutschen Brüdergemeinden die Vorstellung, man dürfe das Abendmahl nicht von einer in der geistlichen Rangfolge niedriger gestellten Person gereicht bekommen.27 Dasselbe habe ich in einem Gottesdienst der ELKIR28 beobachtet, in dem der Pastor (auch hier „Priester“ genannt und mit „Vater“ angeredet) nach der Austeilung an die Gemeinde erst dem Diakon das Sakrament reichte und dann sich selbst, es sich also nicht reichen ließ. In dem von mir besuchten Gottesdienst der SELC dagegen empfing Pastor Lytkin Brot und Wein aus den Händen eines der beteiligten Diakone. Auch das Amt des Diakons mit bestimmten Aufgaben während der Liturgie zeigt im übrigen den hochkirchlichen Stil der SELC, auch wenn hier nicht unbedingt orthodoxer Einfluss vorliegt. Ein solcher wird allerdings wahrscheinlich für die Beichte. Für diese hat der Pastor wöchentlich vier Stunden reserviert, und bei der Besichtigung des mittlerweile geweihten und bezogenen neuen Kirchengebäudes der Nowosibirsker Gemeinde zeigte mir ein Gemeindeglied den für die Kapelle vorgesehenen Raum, in dem in Zukunft der Pastor die Beichte abnehmen werde. Anscheinend ist aber auch dies eher eine Einrichtung ‚von oben’. So meint Chramov, 27 Behrens, Eberhard: In Rußland nicht nur Zwiebeltürme. Stationen einer Reise zu christlichen Gemeinden in der UdSSR, in: Gustav Adolf Kalender 1992, S.78-82, hier S.81. 28 Am 20. August 2000 in St. Michaelis, St. Petersburg (Pfarrer Sergej Prejman). 16 es sei „leider“ noch nicht üblich zu beichten, die Möglichkeit werde aber mehr und mehr in Anspruch genommen. Eine deutliche und nicht unbedingt notwendige Distanz zur Orthodoxie besteht wegen der Verwendung des westlichen Gregorianischen Kalenders. Anders z.B. halten es russische Baptistengemeinden und auch etwa die Gemeinden der lutherischen Wisconsin Synod in Russland, die Weihnachten dem Julianischen Kalender entsprechend am 7. Januar unserer Zeitrechnung feiern. Die Gründe hierfür sind mir bei der SELC nicht ganz klar, bezeichnend allerdings ist die Erklärung Chramovs: Dies löse das Problem mit dem Fasten! Denn indem man Weihnachten vor Neujahr feiere, sei zu diesem Fest, an dem in Russland viel gegessen (und vor allem auch getrunken) werde, das Fasten beendet. Allerdings muss gesagt werden, dass die wiederum sehr orthodox anmutende Praxis des Fasten vor Weihnachten (obwohl dies ja historisch keinesfalls allein orthodox ist) doch eher einem westeuropäischen ‚Sieben Wochen ohne’ entspricht. Es gebe nämlich keine verpflichtenden Essensregeln, das Fasten müsse sich überhaupt nicht auf die Nahrungsaufnahme beziehen, sondern könne auch andere Formen annehmen. Wichtig sei allein der Aspekt der Vorbereitung auf das Fest der Menschwerdung Gottes. Ein weiteres Argument für die Begehung des 25. Dezembers sei, dass man so in einer besseren Atmosphäre feiern könne als am orthodoxen Datum, das von der Mehrheit der Russen zum Anlass für Saufgelage genommen werde. Wie ist der stark an die Orthodoxie angelehnte Charakter der SELC einzuordnen? Diakon Pawel Chramov selbst erklärt den Übergang zur Hochkirchlichkeit auf dreierlei Weisen. Erstens beruhe er auf der kanonischen Herkunft (s.o.) der Kirche aus der Tradition des skandinavischen Luthertums, zweitens vollziehe sich hierin eine Abgrenzung von anderen in Russland aktiven Protestanten wie Baptisten oder Adventisten, und drittens bestehe wegen des „hohen Ausbildungsgrades“ der Geistlichen der SELC ein großes Interesse an altkirchlichen Formen und Liturgiegeschichte. Von ihm ebenso wie von Pastor Lytkin wird außerdem ein eher pragmatisch klingendes Argument genannt: Die Nähe zur Russischen Orthodoxen Kirche erleichtere die Mission. Die besondere Kleidung der Geistlichen, die häufige Verwendung von Kerzen und der Einsatz von Weihrauch an Feiertagen entspreche 17 den Vorstellungen von Russen darüber, wie eine Kirche sein müsse. Lytkin fügt noch hinzu, dass die Kombination der ‚westlichen’ Elemente mit der stark betonten Liturgie darüber hinaus der westlich ausgebildeten hiesigen Intelligenz entspräche. Damit zeigt er implizit wiederum seine Sympathie für den ‚Osten’, denn der Liturgie, dem nach dieser Sichtweise eigentlich Zentralen und Wichtigen, wird das ‚westliche’ eher aus (missions-) taktischen Motiven beigesellt. Man könnte fast davon sprechen, dass sich die Inkulturation der lutherischen Gemeinde in den russischen (intellektuellen) Kontext paradoxerweise gerade darin äußert, dass man der Intelligenzija durch die Hinzunahme lutherischer (‚westlicher’) Elemente in die stärker ‚östlich’-orthodox geprägte (Ausgangs-) Form entgegenkommt! Mir scheint die spezifische Verknüpfung von Luthertum und Orthodoxie ein Schlüssel zum Verständnis der SELC zu sein. Bewusst oder unbewusst folgt die SELC der in Russland verbreiteten Vorstellung, dass Russentum und Orthodoxie untrennbar verbunden seien. Man Nationalitätszugehörigkeit, legt z.B. ja wenn durchaus man im Wert Internet auf die betont, eigene nie eine amerikanische oder amerikanisch-russische Gruppe gewesen zu sein, sondern immer russisch. Nach Angaben von Sergej Filatov, einem Experte für die gegenwärtige religiöse Lage in Russland, ist der Pastor der SELC-Gemeinde in Irkutsk, Vjačeslav Pljaskin, sogar ein ausgesprochener russischer Nationalist und vertrete die These, Russland stehe auf zwei Säulen: Der Orthodoxie und dem Luthertum.29 So übernimmt man zahlreiche Elemente der Orthodoxie, sowohl, weil sie den eigenen Bedürfnissen entsprechen, als auch aus missionstaktischen Gründen. Gerade weil die Russische Orthodoxe Kirche – gegenwärtig wohl leider nicht zu Unrecht – im Ruf steht, ritualistisch zu sein, kann man durch die Annäherung in den Adiaphora ein hervorstechendes Merkmal der Orthodoxie einfangen und dem Bedürfnis nach Ritus, Feierlichkeit und Emotion, auch nach Mysterium und Eingebundensein in die nicht allein irdische Kirche nachkommen. Zugleich aber verbindet man dies mit typisch protestantischen Elementen gerade an den Punkten, wo von vielen, vor allem Intellektuellen, ein Defizit der Russischen Orthodoxen 29 Filatov, Sergej/ Stepina, Aleksandra: Rossijskoe ljuteranstvo, in: Filatov, Sergej (Hg.): Religija i obščestvo. Očerki religioznoj žizni sovremennoj Rossii [Religion und Gesellschaft. Skizzen des religiösen Lebens des modernen Russland], Moskau/ St. Petersburg 2002, S.315-335, hier S.334. Den Leiter der Nowosibirsker Gemeinde, Vsevolod Lytkin, bezeichnet Filatov als „russischen lutherischen Patrioten“; ebd., S.331. 18 Kirche gesehen wird: Wichtig ist hier vor allem die Verständlichkeit des Gottesdienstes, der in der SELC in modernem Russisch gehalten wird und nicht im schwer oder gar nicht verständlichen Kirchenslawischen wie in der orthodoxen Kirche. Dies ermöglicht zugleich, dem Verlangen der aus einem atheistischen Umfeld stammenden Menschen nach Information entgegenzukommen. Das Bildungsdefizit der orthodoxen Kleriker wie auch der Gemeindeglieder wird oft beklagt. Nach Mitteilung vieler Beobachter und auch vieler russischer Protestanten, die zuerst in der Orthodoxie eine religiöse Heimat gesucht hatten, sind dort der ‚richtige’ äußere Vollzug von Riten und das Wie wichtiger als das Verständnis des Warum. Praktizierte orthodoxe Frömmigkeit im heutigen Russland stellt eher nonverbale Handlungen (Sich-Bekreuzigen, Kerzen aufstellen etc.) oder die Wiederholung vorgegebener Gebete in den Vordergrund, weniger oder gar nicht dagegen wortbezogene Religiosität wie Bibellektüre oder gar den Austausch und Diskussionen über die Bibel, theologische Fragen und Kirchengeschichte.30 Menschen mit Hochschulbildung werden deshalb besonders von protestantischen Gemeinden angesprochen, in denen es möglich ist, gemeinsam die Bibel und andere wichtige Texte der jeweiligen Konfession zu lesen, zu fragen und darüber zu sprechen. Diese Möglichkeit besteht in der SELC mit ihren wöchentlichen Bibelstunden und dem wöchentlichen Unterricht über Luthers Kleinem Katechismus und die Confessio Augustana, außerdem selbstverständlich durch die Predigt, die trotz aller Relativierung ein weitaus größeres Gewicht behält als in orthodoxen Gottesdiensten. (In diesen wird oft genug überhaupt nicht gepredigt.) Als weiteres Defizit der orthodoxen Kirche wird oft genannt, dass in ihr die zwischenmenschliche Gemeinschaft zu kurz komme. Wer einen orthodoxen Priester nach der Größe seiner Gemeinde fragt, bekommt in der Regel die Anzahl der im Gebiet seiner Pfarrei wohnenden ethnischen Russen gesagt, auf Nachfrage vielleicht den ungefähren Gottesdienstbesuch. Zu ihm kommen 30 Ein gutes Beispiel hierfür ist das in einer Auflage von 200.000 Exemplaren erschienene und weit verbreitete Buch „Pravoslavie dlja vsech“ [Orthodoxie für alle], hg. Von Ieromonach Chariton (Prostorov) mit dem Segen von Erzbischof Aleksandr von Kostroma und Galič, Kostroma 2000. In dieser Einführung in die Orthodoxie für Menschen ohne Vorwissen begegnet die Bibel im sechs Seiten umfassenden Kapitel „Heilige Schrift. Kirchenslawische Sprache“, wovon sich drei Seiten mit der Bibel beschäftigen und wo erklärt wird, in der Russischen Orthodoxen Kirche werde nicht die Fassung in den Ursprachen verwendet, sondern in Kirchenslawisch. Es folgen drei weitere Seiten Erklärung, warum in der Russischen Orthodoxen Kirche kein modernes Russisch verwendet wird. Zum Vergleich: Das Unterkapitel über das richtige Verhalten in orthodoxen Kirchbauten ist neun Seiten lang, das Kapitel über Wundertätige Ikonen der Gottesmutter 15 Seiten, über Fastenvorschriften 17, über Begräbnis, Trauergottesdienste und Totengedenken 25, über Gottesdienst und göttliche Liturgie 37 und über die Sakramente gar 90 Seiten. 19 nämlich Menschen, damit – wie es in der Sowjetsprache hieß – ihre ‚religiösen Bedürfnisse befriedigt’ werden: z.B. durch die Teilnahme an der Liturgie, den Empfang der Eucharistie oder die Beichte. Ein ausgeprägtes Gemeindeleben, bei dem sich die Gemeindeglieder untereinander kennen und unterstützen, ist zumindest in den Städten überaus selten. Bezeichnend ist, wenn z.B. in der bereits zitierten empirischen Erhebung von 1999 nur je 3% der sich als gläubig Bezeichnenden „oft“ oder „manchmal“ mit einem Priester reden, 61% dagegen „nie“.31 In der SELC dagegen findet man Gemeinschaft oder die gewünschte Beachtung der eigenen Person: In den Kreisen der Gemeinde oder beim gemeinsamen Teetrinken nach dem Gottesdienst, aber auch, wenn sich sonntags ein Diakon Gebetsanliegen aus der Gemeinde zurufen lässt und diese unmittelbar danach in das Fürbittengebet mit aufnimmt.32 Legt man ein religionssoziologisches Marktmodell zugrunde, so kann man sagen, dass die SELC genau die Nische besetzt, die weder von der orthodoxen Kirche noch von den ‚radikaleren’ Protestanten wie den Baptisten oder den in den 1990er Jahren in Russland boomenden Charismatikern bedient wird. Sie verbindet nämlich einige Vorzüge beider und erreicht damit die Zielgruppe intellektueller Russen, die gleichzeitig Wert auf religiöses Wissen und die existenzielle Aneignung verbal explizierbarer religiöser Weltbilder einerseits sowie Form und Ritus andererseits legen, die als ‚echte Intellektuelle’ also nur schwer einen Zugang zur gegenwärtigen Orthodoxie finden33 und als ‚echte Russen’ keine Heimat bei anderen protestantischen Gruppen. Solch ein Modell beinhaltet die Prämisse, dass die Attraktivität einer religiösen Gemeinschaft nicht nur – und wohl nicht einmal in hohem Maße – von der fixierten Dogmatik und ihrer Überzeugungskraft ausgeht. Dies bestätigt Diakon Chramov, wenn er angibt, nur von drei Gemeindegliedern zu wissen, die sich wirklich aus dogmatischen Gründen gerade der SELC angeschlossen haben. Trotzdem bleibt die Frage bestehen: Wie verträgt sich der ja gleichwohl strikte Konfessionalismus mit der ‚missionstaktisch geschickten’ Verbindung von Luthertum 31 Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.22. Auch hier übrigens liegt die Parallelität zur orthodoxen Praxis auf der Hand, für Angehörige beten zu lassen. In der orthodoxen Kirche schreibt man deren Namen allerdings auf und händigt den Zettel zusammen mit einer Spende einer Mitarbeiterin der Kirche aus. 33 Anders als in den 1970er Jahren ist die orthodoxe Kirche heute vor allem eine Kirche der Rentnerinnen mit wenig Bildung; vgl. Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.25-30. 32 20 und Orthodoxie? Dem eigenen Selbstverständnis nach will man ja nicht ein ‚marktkonformes’ Christentum kreieren und damit auf Kundenfang gehen. Im Gegenteil ist man von der Wahrheit und Richtigkeit der eigenen Konfession ohne Abstriche überzeugt. Man lebt im Bewusstsein, auch dort in Übereinstimmung mit dem Konkordienbuch zu sein, wo man sich orthodoxen Einflüssen öffnet. Deutlich allerdings sind dies nachgeschobene Erklärungen. Man prüft gewiss nicht zuerst, welche Form von Heiligenverehrung schrift- und bekenntnisgemäß ist und führt diese dann ein, sondern schaut, ob eine praktizierte oder gewünschte Form dem Bekenntnis widerspricht oder akzeptabel ist. Trotzdem lässt sich vielleicht sagen, dass der strenge Konfessionalismus gleichsam die Klammer bildet, die ‚westliche’ und ‚östliche’ (orthodoxe) Elemente zusammenhält. Denn indem man z.B. Ikonen und Heilige theologisch-argumentativ absichert, u.a. mit Rückgriff auf die Bekenntnisschriften und Melanchthon, werden diese in das lutherische Schema eingeordnet. Der Bezugspunkt des eigenen Konfessionalismus ist damit nicht die historische, empirisch entfaltete Konfession, die keine Heiligenverehrung kennt und die Predigt in das Zentrum des Gottesdienstes stellt, sondern eine unhistorische Matrix, die das ‚reine Luthertum’ als eine Sammlung von Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts versteht, die nichts von ihrer Reinheit einbüßt, wenn man in sie Adiaphora einträgt wie eben Ikonen und Weihrauch. Auf der theoretischen Ebene zeigt sich somit die Priorität des auf die lutherischen Bekenntnistexte bezogenen Konfessionalismus vor der konkreten praktischen Ausgestaltung des kirchlichen Lebens und der Theologie, obwohl systematisch-theologisch auch hier Spannungen konstatiert werden müssten. In der Praxis dagegen scheint der primäre Rahmen eher eine bestimmte nationale und schichtspezifische Kultur zu sein, trotz aller Beteuerung, man wolle im Gegensatz zu ELKRAS und ELKIR keine Nationalkirche aufbauen und sich von partikularen Kultureinflüssen freihalten. Mordwinisches Luthertum Wenden wir uns nach dem ‚russischen Luthertum’ Lytkins und der SELC dem ‚mordwinischen Luthertum’ der zwei Saransker ELKIR-Gemeinden zu, so müssen wir uns noch einmal die wichtigsten Unterschiede in der Ausgangsposition vor Augen halten. Handelt es sich bei den Nowosibirsker Inkulturationsprozessen um solche in 21 die hegemoniale Kultur hinein, so ist der Bezugspunkt in Saransk eine marginalisierte Kultur, die – zumindest bei den hier vorgestellten Akteuren – sich ihrer selbst bewusst wird und um Anerkennung und eine neue Blütezeit kämpft. Deshalb erinnern die Rahmenbedingungen eher an postkoloniale Kontexte in Asien, Afrika oder Amerika. Und bewegt sich die ‚russisch-lutherische’ SELC in einem kulturellen Umfeld, das von einer ein Jahrtausend alten orthodoxen und einer jahrzehntelangen atheistischen Prägung bestimmt ist, so handelt es sich im Fall von Mordwinien um ein Volk, das nur oberflächlich und teilweise unter Einsatz von Zwangsmitteln christianisiert wurde, wobei Christianisierung und Russifizierung oft – zumindest langfristig – Hand in Hand gingen.34 So verwundert es nicht, dass die sowjetische Atheisierung in Mordwinien eine ‚geistliche Verwüstung’ sowohl unter den russisch-orthodoxen als auch unter den paganen Mordwinen anrichten konnte. Doch zuerst einige grundlegende Informationen über Mordwinien, die in Deutschland nicht vorausgesetzt werden können. Mordwinien ist eine Autonome Republik innerhalb der Russländischen Föderation von einer Größe von ca. 26.000 km2, also etwas größer als Mecklenburg-Vorpommern, auf dessen Höhe es auch liegt. Die Hauptstadt Saransk befindet sich so nördlich wie Rostock, allerdings ca. 600 km östlich von Moskau und damit zwar noch diesseits des Ural, aber schon auf dem Längengrad Bagdads. In der eigenen Republik bilden die ethnischen Mordwinen eine Minderheit von nur 32,5%, die Mehrheit sind Russen (60%), die drittgrößte Volksgruppe stellen mit 5% die Tataren dar. Die Mordwinen sind aber nicht nur die Minderheit in Mordwinien, es lebt auch nur eine Minderheit dieser Volksgruppe von gut 300.000 Personen in der eigenen Republik – die übrigen 800.000 Mordwinen wohnen in den angrenzenden Gebieten der Russländischen Föderation.35 Die Mordwinen gehören wie die benachbarten Udmurten und Mari und andere kleinere Völker Russlands ebenso wie Finnen, Ungarn und Esten zur finnougrischen Sprachfamilie. Das Mordwinische gliedert sich wiederum in zwei sprachliche Untergruppen: In Mokša und Èrzja. Obwohl die Mordwinen seit dem 18. Jahrhundert offiziell als orthodox gelten, haben sie lange ihren finnougrisch-paganen Glauben und Ritus bewahrt, der von nichtprofessionellen Priesterinnen oder Priestern 34 Kappeler, Andreas: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 2001, S.35f. und S.129. 35 N.S. Popov: Art. Mordvy verovanija [Der Glaube der Mordwinen], in: Religii narodov sovremennoj Rossii. Slovar’ [Religionen der Völker des modernen Russland. Ein Wörterbuch], Moskau 1999, S.246-250, hier S.246f. 22 vollzogen wurde. Immer wieder kam es zu nationalen Bewegungen, die u.a. auch die Stärkung des Heidentums und die Ablehnung des Christentums propagierten. Der bekannteste Führer dieser Art war der Bauer Kuz’ma Alekseev, der „der mordwinische Gott“ genannt wurde und die weltweite Verbreitung des mordwinischen Glaubens prophezeite. Die von ihm ausgelöste Bewegung wurde 1810 von der Regierung gewaltsam unterdrückt.36 Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert veranlasste die Russische Orthodoxe Kirche die Übersetzung der Bibel und einiger Gebetsbücher ins Mordwinische – Ansätze, die durch die Revolution 1917 zunichte gemacht wurden. In den 1990er Jahren wurden aufgrund lutherischer Initiative Teile des Neuen Testaments in Stockholm übersetzt und in Finnland herausgegeben. Eine vom örtlichen orthodoxen Bischof eingesetzte Kommission zur Übersetzung der Liturgie arbeitet nach Angaben Aleksandr Ščipkovs bisher ohne greifbare Resultate.37 Gegenwärtig ist Mordwinien von den Nachwirkungen der religionsfeindlichen sowjetischen Politik bestimmt, obgleich auch hier natürlich einige den Glauben in der orthodoxen Form oder Reste paganer Volkstraditionen erhalten haben. Dazu kommt im Zuge der nationalen Renaissance seit der Perestrojka eine stärker werdende neuheidnische Bewegung, die – im Wesentlichen von mordwinischen Intellektuellen getragen – seit 1992 wieder öffentliche Anbetungsfeste durchführt und das eigene Volk durch die Rückkehr zum Heidentum der Vorfahren aus der russischen (und damit auch christlich-orthodoxen) Dominanz befreien will. Solche neuheidnischen Strömungen finden sich nicht nur in Mordwinien, sondern ebenso in den angrenzenden finnougrischen Republiken, in denen sich altes Paganentum teilweise noch besser erhalten konnte. Auch hier strebt man im ideologischen Vakuum nach 1991 und auf der Suche nach einer neuen (Volks-) Identität in einigen Teilen der Bevölkerung zu einer (Re-) Konstruktion einer spezifischen Volksreligion und -kultur. In stärkerem Maße als für Mordwinien kann man z.B. im Blick auf die Republik Mari-El bzw. das Volk der Mari noch von einer gewissen Kontinuität heidnischer Vorstellungen sprechen, obwohl pagane Riten von den sowjetischen Behörden strafrechtlich verfolgt wurden. Die einzige offiziell 36 Popov: Art. Mordvy verovanija (Anm. 35), S.247f. Ščipkov, Aleksandr: Heidentum in Rußland. Kulturpolitische Beobachtungen an einigen kleinen Völkern der Wolga-Finnen, in: Glaube in der 2. Welt 5/ 2001, S.18-24, hier S.19. 37 Popov: Art. Mordvy verovanija (Anm. 35), S.249. Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.19f. 23 genehmigte pagane Feier war 1949 ein öffentliches Ritual aus Anlass des Sieges über Nazideutschland.38 Die Entstehung des mordwinischen Luthertums ging auf die Initiative des mordwinischen Künstlers Andrej Aleškin zurück, dessen Bruder Alexej amtierender lutherischer Geistlicher in Saransk und einer meiner Informanten ist. Andrej Aleškin machte Anfang der 1990er Jahre in St. Petersburg die Bekanntschaft des ingermanländisch-finnischen lutherischen Pastors Arvo Survo und kam zur Überzeugung, dass das Luthertum nicht nur aus religiösen Gründen die wahre Konfession sei, sondern auch wichtig für die nationale Zukunft der Mordwinen. Nach den Informationen Aleksandr Ščipkovs und Sergej Filatovs hatte die erste lutherische Gemeinde in Saransk, die 1991 behördlich registriert wurde, seit ihrer Anfangszeit zwei „Gegner“: Einerseits die Russische Orthodoxe Kirche, die eine antilutherische Kampagne startete, andererseits die Lutherische Kirche Finnlands. Dieser sei die Betonung mordwinischer Eigenheiten und der eigenen Selbstständigkeit ein Dorn im Auge gewesen. Die Mordwinen ihrerseits hätten der finnischen Kirche Liberalismus vorgeworfen, weil man hier Frauen ordiniere, „feministische Theologie“ und Homosexualität dulde und ein falsches Abendmahlsverständnis habe. Die mordwinischen Lutheraner selbst hätten nämlich laut Ščipkov und Filatov orthodoxe Sakramentsvorstellungen übernommen. So sei es zur Abspaltung einer Helsinki-hörigen Gemeinde gekommen, während die andere Gruppe sich als „Mordwinische Christliche Kirche nach dem Bekenntnis von Dr. Martin Luther“ konstituiert habe, das nationale Moment betonend und das Adjektiv „lutherisch“ scheuend. Ebenso habe man bei Missionsveranstaltungen auf dem Lande nicht herausgestellt, dass man eine lutherische Gemeinde sei, sondern gesagt, man bringe „mordwinisches Christentum“. Ein wichtiges Element dieser Missionseinsätze seien die Auftritte eines zum Luthertum konvertierten Volksmusikensembles gewesen.39 38 Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.19-24. Filatov, Sergej/ Ščipkov, Aleksandr: Povolžskie narody v poiskach nacional’noj very [Wolgavölker auf der Suche nach einem nationalen Glauben], in: Voroncova, L.M./ Pčelincev, A.W./ Filatov, S.B. (Hgg.): Religija i pravo čeloveka. Na puti k svobode sovesti III. [Religion und Menschenrecht. Auf dem Weg zur Gewissensfreiheit III.], Moskau 1996, S.256-284, hier S.278f. 39 Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 35), S.19f. Filatov/ Ščipkov: Povolžskie narody (Anm. 38), S.261-264. Ščipkov: Vo čto verit Rossija (Anm. 3), S.103-106. (Alle drei Aufsätze verarbeiten dasselbe Material.) Zuletzt veröfentlichte Filatov entsprechendes Material in Filatov / Stepina: Rossijskoe ljuteranstvo (Anm.29), S.333-335. 24 Diese Informationen sind in einigen Punkten zu relativieren oder richtig zu stellen.40 Wenn ich sie dennoch so ausführlich wiedergegeben habe, dann deshalb, weil die Aufsätze von Aleksandr Ščipkov und Sergej Filatov die meines Wissens einzigen nicht von der ELKIR selbst für einen kleinen internen Leserkreis herausgegebenen Informationen z.B. in kirchlichen Zeitschriften sind. Zuerst einmal muss gesagt werden, dass die mordwinischen Lutheraner Teil der ELKIR sind und damit Teil der Lutherischen Kirche finnischer Tradition in Russland, die enge Beziehungen zu Finnland unterhält. In Saransk selbst arbeiten zur Zeit mehrere Finnen aus Finnland, die mit ihrer Arbeit die örtlichen Gemeinden unterstützen wollen und von diesen willkommen geheißen werden. Dies erklärt sich damit, dass der Nationalismus in den Gemeinden die kulturelle Wiedergeburt des eigenen Volkes im Auge hat und sich höchstens gegen Russland wendet, nicht aber gegen die finnougrischen Brüdervölker, die vielmehr als Vorbilder gesehen werden. Die Konversion der einheimischen Führungsriege zum Luthertum geschah gerade deshalb, weil man auf der Suche nach einer Alternative zur russisch geprägten Orthodoxie sich am Vorbild Finnlands und Estlands orientierte, wie mir die Geistlichen beider Gemeinden in Saransk gesagt haben. Wenn man dennoch dem theologischen ‚Liberalismus’ in Finnland kritisch gegenübersteht, ist dies schwerlich auf die spezifisch mordwinische Situation zurückzuführen. Die gesamte ELKIR lehnt die Ordination von Frauen ab und ist im Vergleich zu den westeuropäischen lutherischen Kirchen ausgesprochen konservativ, was u.a. zu einer immer stärkeren Intensivierung der Beziehungen zur LCMS geführt hat. So lehnt man selbstverständlich auch Homosexualität als unbiblisch und sündhaft ab. Auch dies ist aber wiederum typisch für wohl fast alle Christen in Russland und lässt sich aus der in der gesamten Gesellschaft verbreiteten Verwerfung und Tabuisierung von Homosexualität erklären. Wenn dieser Punkt als Unterschied zu Finnland betont wird, so muss zudem betont werden, dass ja auch in Westeuropa – anders, als in Russland oft angenommen wird – alles andere als ein kirchlicher Konsens zugunsten z.B. der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare besteht. Im Kontext der ELKIR wiederum ist Aleksej Aleškin eher ein Vertreter des ‚linken Flügels’, wenn er mir gegenüber mit Verweis 40 Die Quelle für die folgenden Informationen sind die Notizen meiner zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnten eigenen teilnehmenden Beobachtung im Juni 2001 sowie die Notizen der Gespräche mit den Pastoren der Saransker Gemeinden. 25 auf Gal. 3,28 äußert, er selbst habe keine Bedenken gegen die Ordination von Frauen. Diese werde in Russland letztlich allein aus kulturellen Gründen abgelehnt. Ähnlich scheint mir auch in Bezug auf die Sakramentstheologie ein Missverständnis vorzuliegen. Wenn nämlich in lutherischen Gemeinden in Russland – nicht nur in Mordwinien! – Wert auf die Realpräsenz Christi im Abendmahl gelegt wird, so entspricht das ja durchaus lutherischer Tradition und ist kein orthodoxer Einfluss. In Gesprächen mit lutherischen Pfarrern verschiedener russländischer Kirchen habe ich es nie erlebt, dass man die Realpräsenz mit Verweis auf die Orthodoxie verficht, oft aber den Verweis auf Luthers Haltung im Marburger Religionsgespräch gehört. Allerdings findet man in Russland des öfteren die Vorstellung, dass erst das symbolische Verständnis des Abendmahls den Protestanten zu einem solchen mache.41 Was die Bezeichnung der Kirche angeht, so erklärte mir Diakon Mikiž, die ELKIR sei für eine Umbenennung der „Mokša-Èrzja Kirche“ (Mokša-Èrzjanskaja Cerkov’) gewesen, die Gemeinde habe sich aber in verschiedenen Abstimmungen für die Beibehaltung des Namens ausgesprochen. Die in der Anfangszeit fehlende Bezeichnung „Evangelisch-lutherisch“ habe man später hinzugenommen, und zwar nach Vorwürfen der orthodoxen Kirche in Zeitungsartikeln, die Gemeinde „verheimliche“ ihre Konfession. Die Informationen Ščipkovs, der – so Mikiž – „eben doch ein Orthodoxer“ sei, seien dagegen falsch – man habe sich als Lutheraner nie verstecken wollen. In der Darstellung meiner Interviewpartner Diakon Aleksej Aleškin und Diakon Mikiž (mit bürgerlichem Namen: Vladimir Nikiforovič Mišin) stellt sich die kurze Geschichte des mordwinischen Luthertums folgendermaßen dar: Diakon Mikiž betont, er sei bereits 1990 unabhängig von den Aleškin-Brüdern zum Luthertum gekommen. In einer persönlichen Krise habe er 1987 an seinem damaligen Wohnort in Kasachstan Interesse am christlichen Glauben bekommen. Da er als Parteifunktionär zu keiner Kirche gehen konnte, habe er die örtlichen Baptisten zu einem öffentlichen (Streit-) Gespräch mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei über das Thema ‚Glaube und Perestrojka’ eingeladen. Vielen der anwesenden Kommunisten seien die Tränen 41 So z.B. bei Guščina, Ekaterina: „Slovo Božie i Ljutera učenie...“. „Svoim blagočestiem i strogost’ju žizni protestanty mnogo sposobstvovali očiščeniju nravov meždu pravoslavnymi...“ [„Gottes Wort und Luthers Lehr’...“. „Durch ihre Frömmigkeit und die Strenge des Lebens trugen die Protestanten viel dazu bei, die Sitten unter den 26 gekommen, als sie die Lieder und Bibellesungen der Baptisten gehört hätten. Bei dieser Gelegenheit habe er auch eine Bibel geschenkt bekommen und die ganze Nacht darin gelesen. Durch die Bibellektüre sei er zum Schluss gekommen, dass die Orthodoxe Kirche „vom Menschen, nicht von Gott“ sei, und habe nach einer Alternative gesucht. Weil er sich an den Brüdervölkern der Mordwinen orientieren wollte, sei er 1990 in die finnische Botschaft gegangen, wo es aber keinen Zuständigen für Kirchenfragen gegeben habe. Zur Keimzelle einer lutherischen Gemeinde in Saransk, wohin er mittlerweile gezogen war, sei dann die Organisation zur nationalen Renaissance geworden, in der er und der bereits erwähnte lutherische Ingermanländer Arvo Survo gepredigt hätten. Noch vor der behördlichen Registrierung der Gemeinde am 5. November 1991, nämlich im Februar desselben Jahres, habe er mit der Ausbildung zum Diakon begonnen, dem in der ELKIR zweiten geistlichen Rang vor dem des Katecheten und nach dem des Pastors. Die Handauflegung und damit Einführung ins Diakonat sei im Januar 1992 erfolgt. Anscheinend beabsichtigt Diakon Mikiž mit dieser Darstellung, seine eigene Bedeutung für das mordwinische Luthertum zu unterstreichen, indem er seine eigene Konversation früher ansetzt als die Andrej Aleškins, den er nicht erwähnt. Trotzdem scheint das Verhältnis zur anderen, von Aleksej Aleškin geleiteten lutherischen Gemeinde im Ort nicht schlecht zu sein. Die Gründung einer zweiten Pfarrei im Ort im Jahre 1994 sei keine Spaltung gewesen, so Mikiž. Es sei doch umso besser, je mehr Pfarreien es gebe, außerdem setze man verschiedene Akzente und verwende verschiedene mordwinische Dialekte als Gottesdienstsprache. Aleksej Aleškin bestätigt, dass es keine Feindschaft zwischen den Gemeinden gebe, betont aber zugleich stärker die Unterschiede, die der Grund für die Trennung gewesen seien. So sei etwa das Bildungsniveau der beiden Gemeinden sehr unterschiedlich, in seiner Gemeinde hätten 80-85 % Hochschulbildung, von 30 aktiven Gemeindegliedern 12 den akademischen Grad eines „Kandidaten“ (d.h., sie haben nach dem eigentlichen Universitätsabschluss noch eine der Doktor-Dissertation vorgeordnete Kandidaten-Dissertation verfasst). Darüber hinaus begehe man in seiner Gemeinde Feiertage wie den Tag der finnischen Sprache, den Tag der estnischen Kultur oder den Tag der Bachmusik, während Diakon Mikiž nur geistliche Orthodoxen zu säubern“], in: Nezavisimaja Gazeta – Religii, 27.9.2000; aus: http://religion.ng.ru/confessions/200009-27/4_luterstudy.html, 11.07.01, ohne Seitenzählung. 27 Akzente setzen würde. Aleškin dagegen wolle mit seiner Gemeinde auch dem Mangel an Geistigem entgegenwirken und verstünden die Kirche als ein Haus, wo man moralisch und geistig wachsen könne, als eine Familie, die nicht nur zusammen bete und dann auseinandergehe, sondern die auch darüber hinaus Gemeinschaft pflege und sich gegenseitig Trost und Hilfe spende. Die andere Gemeinde setze auch weniger Gewicht auf die Pflege mordwinischer Kultur, wenngleich dort ebenfalls die mordwinische Sprache benutzt wird. Obwohl Aleškin den religiösen Akzent der Gemeinde Mikižs betont, ist doch bei beiden das national(istisch)e Moment stark ausgeprägt. Bei Diakon Mikiž wird dies ja schon deutlich in seiner Teilnahme an der säkularen Bewegung zur nationalen Wiedergeburt, aus der heraus seine Gemeinde entstanden ist. Auch sein geistlicher Name Mikiž, den er bei der Einsegnung zum Diakon angenommen hat, macht dies deutlich. Sein bürgerlicher Name Vladimir (russ.: Beherrsche die Welt) nämlich sei heidnisch, Mikiž dagegen [!] mordwinisch. Logisch scheint dies nicht unbedingt, müsste doch der Gegensatz zu „heidnisch“ „christlich“ sein. Es liegt näher, den Gegensatz „russisch“ – „mordwinisch“ als eigentliches Motiv der Umbenennung anzusehen, nicht nur, weil dies die Annahme des neuen Namens erklärt, es macht auch die Ablehnung des alten Namens plausibler. Denn der nicht nur unter orthodoxen Russen hochverehrte Fürst Vladimir von Kiew war es, der vor gut tausend Jahren die orthodoxe Christianisierung des Landes veranlasste. Hier zeigt sich eine Verbindung von Luthertum und Mordwinentum in Gegenüberstellung zur abgelehnten Orthodoxie, die auch andernorts deutlich wird. Etwa spreche doch – so Mikiž – schon die Situation in den orthodoxen Ländern gegen die Orthodoxie. Denn diese seien arm, ihre Geschichte bestimmt von Revolution und Blut, Russland im besonderen voll von „Bettlern und Säufern“. Seine Erklärung: „Wo die Wahrheit Gottes nicht ist, da regiert der Teufel.“ Vergleiche man die orthodoxen Staaten mit Schweden, Finnland, Deutschland oder Amerika [!], so sehe man doch gleich, dass es in den lutherisch geprägten Ländern besser gehe. Ähnlich Aleškin, der diesen Gedanken weiterführt und einen Gegensatz der Volkscharaktere konstruiert: Dort der russische hierarchische „orthodoxe Totalitarismus“ einschließlich dem der Sowjetunion, der zu Zerstörung, ökologischen Katastrophen, Armut und Alkoholismus geführt habe, hier die demokratische, den Wert des Individuums betonende Tradition der lutherischen Länder einerseits und 28 der mit einigen ‚lutherischen Völkern’ ethnisch verwandten Mordwinen andererseits. Demokratie und ökologisches Bewusstsein findet er im mordwinischen Charakter, weil die Mordwinen in der Geschichte ihre (heidnischen) Priester stets gewählt und die Einheit des Menschen mit der Natur gelebt hätten. Dass bei solchen Gedankengängen der Nationalismus und der nationale Antagonismus zu Russland den konfessionellen Gegensatz oft überlagert, überrascht nicht. Aleškin betont immer wieder die „Liebe zum Heimatland, zum heimatlichen Ofen, zur Heimaterde“ und nicht „zu Moskau, dem Roten Platz oder Nowosibirsk“. Wohl aus diesem Grund betont er auch das angeblich Großartige in der Geschichte Mordwiniens dort, wo kein Bezug zu Christentum oder Luthertum herzustellen ist. So sei z.B. der Name der Mordwinen vom Lateinischen herzuleiten und bedeute „Todbringer“ [wohl von „mors“ und „dare“]. Sie hätten viel „Wikingerblut“ in sich und seien gefürchtete Krieger gewesen, die sich im Kampf weder hätten gefangen nehmen lassen noch Gefangene gemacht hätten. Im Zweiten Weltkrieg sei es sogar ein Mordwine gewesen, der in den Diensten der Deutschen Wehrmacht die Truppen bei der Eroberung von Paris befehligt hätte. Dies habe eine Bekannte von ihm in einem Zeitungsartikel nachgewiesen, der zwar durch die Redaktion solange überarbeitet wurde, bis die Aussage gegen den mordwinischen Offizier und ausreichend antinazistisch geworden sei, wer aber „zwischen den Zeilen lesen“ könne, verstehe trotzdem noch die eigentliche Pointe: Es sei eine Lüge der Russen, dass die Mordwinen immer ein Volk von Sklaven waren. Mir gegenüber gebraucht Aleškin häufiger den Vergleich eines von China okkupierten Deutschland, in dem die Menschen chinesische Sprache, Kultur und Literatur übernehmen und ihre eigene Identität aufgeben müssten oder zumindest ihre Sprache – wenn ihnen deren Gebrauch erlaubt sei – in fernöstlichen Schriftzeichen schreiben.42 In dieses Weltbild wird nun auch das Luthertum eingebaut, das ja erst seit zehn Jahren in Mordwinien präsent ist. Rückblickend stellt Aleškin fest, dass in der Zeit der Stalinschen Repressionen der Zusammenhalt des Volkes gefehlt habe, weil es keinen Glauben und keine Bibel in der Muttersprache hatte. Was in der mordwinischen Geschichte fehlte, war ein Martin Luther. Dieser habe das deutsche Volk gleichzeitig geeint, indem er durch seine Bibelübersetzung die deutschen 42 Mordwinische Nationalisten setzen sich dafür ein, Mordwinisch mit lateinischen statt mit kyrillischen Buchstaben zu schreiben. 29 Dialekte in eine gemeinsame Schriftsprache geführt habe, und das Volk religiös erneuert, indem er ihm eben diese Bibel in der Volkssprache geschenkt habe. Doch was bisher gefehlt habe, werde Gott dem mordwinischen Volke schenken: Einen neuen Luther, der zugleich die mordwinischen Dialekte Mokša und Èrzja zu einer gemeinsamen Schriftsprache vereine, damit das Volk erst zum Volke mache und ihm zugleich „seine“ Bibel schenke. Hätte man eine solche Bibel in der eigenen Sprache, so Aleškin, würde man mit ihr auch Sprachunterricht durchführen, sowohl für die assimilierten Mordwinen, als auch für im Lande lebende Russen u.a. Völker. Auch hier wird der enge Zusammenhang von Konfession und Nation deutlich, der übrigens auch bei anderen Völkern Russlands zu beobachten ist.43 Noch ausführlicher vertritt den Gedanken der Volkwerdung durch Reformation der Kantor der Gemeinde, Aleksandr Sergeevič Kizaev (Pseudonym: Kizaj), der sich selbst als Musiker, Komponist, Künstler, Philosoph und Reformer der mordwinischen Sprache vorstellt. Alle diese Talente stellt er in den Dienst der Renaissance seines Volkes. Er komponiert Nationalopern, geistliche Chorwerke, Filmmusiken und mordwinische Musik für Gitarre und Panflöte, die auch im Gottesdienst zum Einsatz kommt, er schreibt kleine literarisch-philosophische Texte in einer von ihm geschaffenen Literatursprache, die die beiden mordwinischen Dialekte vereine (und für die er auch Wörterbücher erstellt), und er hat bereits ein Buch „Predigt in Graphiken“ herausgegeben. Diese Graphiken seien finnougrisch nicht nur, weil sie traditionelle Formen finnougrischer Volkskunst aufnähmen, sondern auch, weil sie konkret seien wie etwa auch die deutsche Kunst eines Lukas Cranach und nicht wie die „slawische Kunst“ aus Andeutungen und Schmuck bestünden, hinter denen der Inhalt „verborgen“ sei. Mit dieser Kunst wolle er das Gute im Menschen wecken, was nur konkrete Kunst könne. Sei Malerei unklar, wie eben z.B. die „slawische“, dann wecke sie Unklares und damit Gutes wie Schlechtes. Auch Kizajs Weltbild stellt Mordwinien und Russland in einen klaren Gegensatz. Noch ausgeprägter als meine anderen Gesprächspartner scheint er in Russland den bedrohlichen Feind zu sehen, der mit großem Interesse die Entwicklungen in 43 In einigen lutherischen Gemeinden der ELKRAS z.B. gibt es Deutschunterricht mit der Lutherbibel als ‚Lehrbuch’. Dabei ist aber eher der Deutschunterricht das ‚Lockmittel’, um Menschen an die Bibel heranzuführen – ähnlich der Strategie vieler amerikanischer Missionare, die mit kostenlosen Englischkursen werben –, nicht wie im Falle von Mordwinien anscheinend umgekehrt: Die Menschen sollen zur mordwinischen Sprache geführt werden. Ähnliche Versuche, Luthertum und ein ursprünglich nichtlutherisches finnougrisches Volk zusammenzubringen, werden im übrigen aus der Republik Komi berichtet; Filatov / Stepina: Rossijskoe ljuteranstvo (Anm.29), S.333. 30 Saransk verfolge. So meint er etwa, in Moskau werde „nichts mehr gefürchtet als die Vereinigung der beiden mordwinischen Sprachen“ zu einer gemeinsamen Schriftsprache. Wenn Kizaj betont, der notwendige „mordwinische Luther“ müsse, um eine gute Übersetzung der Bibel erstellen zu können, wie der deutsche Luther zugleich Schriftsteller, Philosoph und Komponist – und natürlich ein gläubiger Mensch – sein, so fragt man sich, ob sich Kizaj selbst in dieser Rolle sieht. Das aber weist er von sich: Die Reform der Sprache, an der man zur Zeit arbeite, sei nur die notwendige Voraussetzung für eine behelfsmäßige Übersetzung. Diese solle dann die bisherigen Versuche von „atheistischen Professoren“ ablösen, die sich zudem eng an die seiner Meinung nach fehlerhafte offizielle russische Übersetzung hielten. So wird also Martin Luther beinahe zu einer soteriologischen Gestalt. Er, der ‚Erlöser’ der Deutschen von Rom, der ein neues (Volks-) Leben geschaffen hat, wird als Luther redivivus in Mordwinien erwartet, wo er das Volk ebenfalls schaffen und von der (russischen) Fremdherrschaft zumindest kulturell und religiös befreien soll (politische Unabhängigkeit des Landes fordert in meinem Beisein niemand). Diese Interpretation wird gestützt durch mehrere mehr oder weniger mythologische Erzählungen, auf die man Wert zu legen scheint und die alle von der Struktur sind, dass „Weiße“ (Mittel-/ Westeuropäer) ihre Verwandten, die Mordwinen, von den „Schwarzen“ (Tataren, Russen, also ‚Ostler’) befreien helfen. Solch eine „weiße“ westliche Rettergestalt wäre nach dieser Sicht dann auch Martin Luther. Welche Position nimmt in der Sicht der Vertreter des örtlichen Luthertums in Saransk aber die russische Bevölkerung ein, die ja immerhin die Mehrheit in der Republik bildet? Aleškin betont, in seiner Gemeinde seien auch Russen, Tataren, Juden und Angehörige anderer Völker. Im Glauben seien alle Brüder und Schwestern und somit eine große Familie. Diakon Mikiž erzählt, zu Beginn hätte man die Gottesdienste ausschließlich auf Mordwinisch gehalten, sei aber dann dazu übergegangen, auch Russisch zu verwenden. Schon wenn nur ein Russe anwesend sei, übersetze er alles, um verstanden zu werden. Damit sich die neuen Besucher seiner Gottesdienste am Gottesdienst beteiligen können, hängen im Bethaus großformatig das Apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in Russisch und Mokša. Die Spannung zwischen der Offenheit für Nichtmordwinen einerseits und der starken Betonung des Nationalen andererseits scheint dem Führungspersonal der Gemeinden nicht bewusst zu sein. Bei Gesprächen mit Gemeindegliedern nach 31 dem Gottesdienst dagegen war ich überrascht, wie wenig Wert vor allem junge Menschen auf das mordwinische Moment legen. Für sie stehen Glaube und Gemeinschaft eindeutig im Vordergrund. Vielleicht ermöglicht die Tatsache, dass in der Praxis das Gewicht nationalistischer Politik in den Hintergrund tritt, die Lösung der theoretisch bestehenden Spannung. Andererseits bleibt das vordergründig zuweilen propagierte Miteinander mit den Russen zumindest außerhalb der eigenen Gemeinde durchaus ambivalent. Deutlich wird dies etwa, wenn Diakon Aleškin im Gottesdienst nicht nur für die Obrigkeit und den ELKIR-Bischof, sondern auch für den örtlichen orthodoxen Bischof betet. Auf Nachfrage erklärt er dann, man solle ja auch für die Feinde beten – nicht, dass er den Bischof als Feind betrachte, zumindest hoffe er, dass dieser kein solcher sei, trotz der massiven verbalen Angriffe auf die Lutheraner (aber, so scheint er sagen zu wollen, sicher könne man sich nicht sein). Überhaupt müsse man beten, dass alle Kirchen näher zu Gott kämen, auch die orthodoxe (die – so hier wohl die suggerierte Pointe – augenscheinlich noch einen weiteren Weg vor sich hat). Und wenn sie „Gott in Wahrheit predigen“, dann (aber anscheinend auch erst dann) „sind sie auch unsere Brüder“. Die Rede von der Überwindung der nationalen Gegensätze in Christus wird auch relativiert, wenn Aleškin von seinem guten Verhältnis zur neuheidnischen Bewegung erzählt und diese der Orthodoxie gegenüberstellt. Mit vielen Vertretern der Neopaganen sei er befreundet, und es gebe gemeinsame Treffen. Die Vertreter einer revitalisierten traditionellen mordwinischen Religion interessierten sich dafür, wie die Lutheraner in Mordwinisch predigten, und er nehme mit seiner Frau im Gegenzug an deren heidnischen Opferfesten teil. Trotz der religiösen Unterschiede bewundere er, dass diesen Menschen das Schicksal des Volkes am Herzen liege und es ihnen, anders als der orthodoxen Kirche, „nicht egal“ sei, „wenn nebenan jemand [=das mordwinische Volk] stirbt.“ Zukunftsaussichten der Sibirischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und des mordwinischen Luthertums 32 Wagen wir einen Blick nach vorn. Welche Zukunftsaussichten sind für die SELC und für das mordwinische Luthertum wahrscheinlich?44 Die SELC hat m.E. ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft. Da sie eine ‚Marktnische’ besetzt, wird sie sicher in allen Städten, in denen sie Missionen aufbaut, Anhänger finden – ungeachtet der für westliche Augen nicht spannungsfreien Verknüpfung von Luthertum und Orthodoxie, oder besser gesagt: gerade wegen dieser Verknüpfung. Wie oben dargestellt, macht wohl besonders diese Verbindung von ‚Vorteilen’ beider Konfessionen die SELC für eine bestimmte Zielgruppe (intellektuelle Russen) attraktiv. Potentielle Mitglieder werden den konfessionalistischen Zug ebenfalls weniger als in Spannung zur ‚synkretistischen’ Praxis stehend empfinden, vielmehr wird dieser einem latenten (postsowjetischen) russländischen Fundamentalismus und seinem Wunsch nach Eindeutigkeit und ideologischer Klarheit entsprechen. Auch die lutherischen Gemeinden in Mordwinien haben gewiss noch eine große potentielle Klientel. Dabei muss aber bedacht werden, dass die mordwinischen Lutheraner in den 1990er Jahren im Unterschied zur SELC keine Wachstumsraten zu verzeichnen hatten. Laut Diakon Mikiž haben in der Anfangszeit, also 1991/ 1992, 22 Menschen durch Unterschrift ihre Gemeindezugehörigkeit bestätigt und so die behördliche Registrierung ermöglicht. In den Gottesdiensten seien aber bis zu über 300 Personen (an Feiertagen) gewesen. Heute kämen sonntags 30 bis 50 Menschen (am 25. Juni, als ich mit ihm gesprochen habe, seien nur 18 da gewesen, der harte Kern). Im Gottesdienst von Diakon Aleškin habe ich 18 Leute gezählt, darunter einen finnischen Missionspastor mit Frau und eine weitere finnische Missionarin. Von einem Wachstum der Gemeinden in Saransk kann also kaum gesprochen werden. Auch die Mission auf den umliegenden Dörfern scheint – anders als die der SELC – nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein. Zwar predigt Mikiž hier und „viele“ 44 Nicht berücksichtigt werden hier ethische Fragen, die sich aus der Tätigkeit lutherischen Kirchen in Russland ergeben. Wie auch im Westen mittlerweile weithin bekannt ist, fühlt sich die Russische Orthodoxe Kirche durch die Arbeit anderer Kirchen im Lande bedroht, zumal, wenn diese aus Menschen traditionell orthodoxer Völker bestehen und unter solchen missionieren. Das Argument, dass nichtorthodoxe Christen faktisch eine momentane Position der Schwäche nach jahrzehntelanger sowjetischer Herrschaft ausnutzen und damit die Russische Orthodoxe Kirche schädigen, mag dies den Akteuren bewusst sein oder nicht, ist nicht von der Hand zu weisen. Da der vorliegende Aufsatz keine ethischen Wertungen intendiert, sollen nicht Argumente der lutherischen Kirche für ihr Wirken mit denen aus orthodoxen Kreisen konfrontiert und abgewogen werden. In einem Aufsatz, der Deskription und verstehende Interpretation der beobachteten Phänomene verbindet, ist aber darauf hinzuweisen, dass eine Verschärfung zwischenkonfessioneller Spannungen eine Folge des Wachstums der untersuchten lutherischen Gemeinden sein kann. 33 Leute wollten auch eine Kirche und einen Prediger, würden aber selbst nichts aufbauen und nur auf die Initiative von anderen warten. Auch Aleškin bestätigt zwar die Information von Ščipkov und Filatov, dass es Missionskonzerte einer zum Luthertum konvertierten Folklore-Gruppe gebe, aber auch diese scheinen keine großen Erfolge bewirkt zu haben. Darüber hinaus zeigt die gesamtrussländische Entwicklung, dass insgesamt kein gutes Klima für verbindliche Religiosität besteht, sondern der Trend eher zu ‚Patchwork’-Religiosität ohne institutionelle Anbindung geht. Gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner sind deshalb die mit ihrer Kirche verbundenen Gläubigen aller Konfessionen in einer Minderheitenposition. Daher ist für sogar für die SELC von keinen herausragenden Wachstumsquoten auszugehen, obwohl sie die im Vergleich zu den mordwinischen Gemeinden besseren Chancen besitzt. Mir scheint dennoch die Prognose realistisch, dass sich die SELC stabilisieren kann und die Zahl ihrer Gemeinden und Mitglieder weiter steigern wird. Aus den Missionsanstrengungen werden wahrscheinlich intellektuelle Großstadtgemeinden von einigen Duzend bis wenigen hundert Mitgliedern hervorgehen. Abhängig von der finanziellen Lage der Kirche kann sich dieses Wachstum schneller oder langsamer vollziehen. Hierfür ist vor allem die zukünftige Missionsstrategie der Missouri Synod für Russland sowie die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort entscheidend. Wird sich ein Mittelstand herausbilden – zur Zeit gehören Akademiker in ihren typischen Berufen wie Lehrerinnen oder Ärzte zum unteren Ende der sozialen Leiter! –, so wird auch die finanzielle Ausstattung für den Unterhalt und Ausbau der Gemeinden nicht fehlen. Für die nahe Zukunft allerdings ist davon nicht auszugehen. Erst recht werden die Zukunftsaussichten des mordwinischen Luthertums vom religionssoziologischen Makroklima negativ beeinflusst werden. Wenn Ščipkov die Frage stellt, ob „dieses Luthertum in Mordwinien ein modischer Renner ist oder aber Zukunft hat“,45 so scheint die Antwort nicht in dieser Alternative zu liegen. Von einem „modischen Renner“ kann unter den oben skizzierten Bedingungen nicht die Rede sein. Trotzdem ist anzunehmen, dass die Kirche Zukunft hat, da auch ihr Potential noch nicht ausgeschöpft ist. Allerdings wird die Betonung des Mordwinischen eher ein Wachstumshemmnis sein, da damit die Zielgruppe stark eingegrenzt wird – anders als im Falle der SELC, die mit ihrem ‚russischen 45 Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.20. 34 Luthertum’ die Mehrheitsbevölkerung anspricht und das nationale Moment darüber hinaus auch weniger explizit betont. Außerdem kommt man sich beim Werben um die in absoluten Zahlen ja auch nicht sehr zahlreichen religiös interessierten und zugleich nationalbewussten Mordwinen mit den ansässigen Neuheiden in die Quere. Ebenfalls zu beachten bleibt auch hier wieder, dass in Mordwinien wie in der übrigen ehemaligen Sowjetunion die beliebtesten religiösen Varianten immer noch (wenn nicht Atheismus so doch zumindest) Agnostizismus und religiöse Indifferenz oder ‚postmodern’ synkretistische Religiosität sind, nicht aber institutionalisierte Formen von Glauben. Da die Beobachtung andererseits zeigt, dass jede Kirche im gegenwärtigen Russland wächst, die einladendes Christentum praktiziert und ein lebendiges Gemeindeleben vorweisen kann, besteht gleichwohl die Möglichkeit, dass man mit entsprechender Arbeit auf den bislang religiös unterversorgten Dörfern durchaus noch Potentiale ausschöpfen kann. Allerdings fehlen bisher die notwendigen sprachkundigen Mitarbeiter und Gelder. Zumindest erstere fehlen – anders als in der SELC – und können den Mordwinen kaum von der Missouri Synod oder anderen ausländischen Organisationen bereitgestellt werden. So scheint die Stärke und Attraktivität des mordwinischen Luthertums, das erstmals der einheimischen Bevölkerung Christentum in der Muttersprache bringt und das den Wert der mordwinischen Kultur betont, zugleich das größte Wachstumshindernis zu sein. Will man sich nicht von Erfolg oder Misserfolg der nationalen Bewegung im Ganzen abhängig machen, müsste man, wie es in der Praxis zumindest an der Basis ja anscheinend schon geschieht, die nationale Rhetorik zurücknehmen und stärker auf alle in der Republik lebenden Menschen eingehen. Spezifika lutherischer Inkulturation im postsowjetischen Russland Überspitzt könnte man die beiden behandelten Kirchen durch folgende Bilder charakterisieren: In Nowosibirsk steht der lutherische Priester Weihrauch schwenkend vor der Ikonostase und betet zum Heiligen Dietrich (Bonhoeffer), während sein Saransker Amtskollege in den mordwinischen Wäldern den mordwinischen Göttern opfernd die Wiederkehr Luthers in das heilige Land Mordwinien erwartet. 35 Deutlich wird durch diese Karikaturen meines Erachtens die Besonderheit der beiden Kirchen. Bedingt durch die historisch gesehen ‚unzeitgemäße Geburt’ des Luthertums in Nowosibirsk und Saransk unterscheidet sich die konkrete Ausprägung in hohem Maße von der in Mittel- und Westeuropa. Man geht intensiv auf kulturelle Besonderheiten ein, was zu Formen führt, die den übrigen Lutheranerinnen und Lutheranern in Europa mindestens fremd sind, und man ist sich dessen auch bewusst. Dies betrifft weltanschauliche im Falle Dimension der von Saransk Religion. vor allem die ideologische/ Dabei ist zu beachten, dass der Verknüpfung von Luther- mit Mordwinentum ebenso wie der von Luther- mit Russentum spezifische Konstruktionen zugrunde liegen: So schätzt man in Saransk Luther als den Nationalhelden und Freiheitskämpfer und verbindet diese partikulare Sicht mit der Konstruktion eines ‚seinem Volkscharakter nach’ demokratischen, ökologischen, nüchternen und das Individuum hochachtenden Mordwinien. Auch in der SELC erscheinen einige zentrale Anliegen Luthers allenfalls am Rande, z.B. die Bedeutung der Predigt oder des allgemeinen Priestertums. Luthertum bedeutet in erster Linie eine in den Bekenntnisschriften fixierte Lehre, die auch hier wiederum mit zum (diesmal russischen) ‚Volkscharakter’ gehörenden Elementen verbunden wird. Dabei steht der ‚Orthodoxität’ des ‚Volkscharakters’ entsprechend die rituelle, nicht die ideologische Dimension im Vordergrund: Man betont Ritus, Liturgie und Sakrament, wie man es aus der orthodoxen Umwelt gewohnt ist. In beiden Fällen also rezipiert man Luthertum in der Form, wie sie dem eigenen Kontext kompatibel erscheint, und Selbstdefinition bekommt im wegen Endeffekt der zwei Unterschiede Formen einer der eigenen Konfession, ethnischen die sich in entscheidenden Punkten unterscheiden, wenn nicht gar widersprechen. Kann man trotz dieses Befundes von einem typischen Zug der Inkulturationsprozesse im gegenwärtigen russländischen Luthertum sprechen? Ich denke, ja. Denn es wird deutlich, wie sehr man nicht nur vom mordwinischen bzw. russischen Kontext bestimmt ist, in den hinein die Inkulturation bewusst geschehen soll, sondern darüber hinaus (und vielleicht vor allem) von der postsowjetischen Situation. Diese ist gekennzeichnet durch ein ideologisches Vakuum und durch die Versuche, sich in der Umbruchzeit seiner selbst zu vergewissern auf dem Wege der Verortung in der jeweiligen nationalen Kultur. Seit die Sowjetideologie als zu sandig für ein Identitätsfundament gilt, gräbt man historisch tiefer in der Hoffnung, auf 36 vorrevolutionären (orthodoxen, muslimischen oder sogar heidnischen) Fels zu stoßen, oder man reichert – um im Bild zu bleiben – den weiterhin sichtbaren sowjetischen Sand mit festigenden Versatzstücken unterschiedlichster politischer, philosophischer, nationalistischer oder religiöser Ideologien an. Ein wichtiges dieser Elemente ist dann durchaus auch das ‚westliche’ (Parlamentarismus, Demokratie, Individualismus etc.), das ja ebenfalls in der russländischen Geschichte verankert ist – man denke nur an die Westorientierung unter Peter I. oder Katharina der Großen, an die Diskussionen zwischen ‚Westlern’ und ‚Slawophilen’ oder den gleichfalls ‚westlichen’ Marxismus. Das ‚westliche’ an der russländischen ‚Präsidialdemokratie’ im Unterschied zu Zarismus oder Sowjetsystem ist heute weitgehender Konsens. Doch zuerst einmal beziehen Russen sich auf ‚echt Russisches’, etwa auf die Orthodoxe Kirche (oder auch auf alte slawische Götter), auf Puschkin, Pasternak – oder Gorkij – oder auf die Geschichte der russländischen Staatlichkeit und seine herausragenden Protagonisten. Als solche gelten dann, wobei je nach Standpunkt verschiedene Akzente gesetzt werden können: Großfürst Vladimir, Peter der Große, die letzte Zarenfamilie, Lenin, Stalin u.a. Dass man sich bei der Mischung der jeweils bevorzugten Ingredienzien nicht an die überkommene politische Unterteilung in ‚rechts’ und ‚links’ halten muss, zeigen z.B. die Großprojekte, die in den letzten Jahren unter Moskaus Bürgermeister Lužkov entstanden sind: Der Wiederaufbau der prunkvollen Christ-Erlöser-Kathedrale, ein völlig überproportioniertes Denkmal Peters I. als Zar und Zimmermann auf einem Segelschiff stehend, der gigantomanische Siegespark, gebaut aus Anlass des 50. Jahrestages des Triumphes im ‚Großen Vaterländischen Krieg’.46 Als Variante einer derartigen postsowjetischen Selbstdefinition kann man m.E. auch das ‚russische Strukturmerkmal Luthertum’ der gegenwärtiger SELC deuten, russländischer da auch hier das Identitätsfindung zentrale erscheint: Rückgriff auf alte russische (d.h. auch: orthodoxe) Tradition, verbunden mit ‚westlichen’ Elementen. Den Erfolg der SELC scheint es ja gerade auszumachen, dass man die Vorteile des Protestantismus in seiner am stärksten ‚orthodoxiekompatiblen Form’, der lutherischen, beibehält, um diese mit Elementen der eigenen (religiösen) Volkstradition anzureichern. Dabei erklärt sich auch die 46 Vgl. Hierzu de Keghel, Isabelle: Die Moskauer Erlöserkathedrale als Konstrukt nationaler Identität. Ein Beitrag zur Geschichte des „patriotischen Konsenses“, in: Osteuropa 2/ 1999, S.145-159. 37 Attraktivität der ‚lutherischen’ Elemente aus der Umbruchsituation: Religiös nicht sozialisierte Intellektuelle verlangen nach Verständlichkeit des Gottesdienstes, nach Unterricht und Information über Glaube, Religion und Bibel; Bewohner verfallender Städte und zerfallener sozialer Strukturen suchen menschliche Gemeinschaft; beteiligte Beobachter einer trostlosen ökonomischen Situation suchen, vom marxistisch-leninistischen Rationalismus enttäuscht, das Mysterium der Realpräsenz im Abendmahl. Für die russländischen Minderheitenvölker liegt wie für die ethnischen Russen zumeist die Wiederbelebung der alten, in der Sowjetunion unterdrückten Volksreligion nahe, will man Halt im Strudel nach dem Untergang der UdSSR finden. Hieran halten sich vor allem diejenigen fest, die wenig russisch assimiliert sind oder ihre Assimilierung rückgängig machen wollen, was einfacher ist, je größere Bedeutung der Nationalkonfession faktisch noch zukommt. Sonst muss eine solche erst (re-) konstruiert, ähnlich wie in den verschiedenen Revitalisierungsbewegungen außerhalb Europas, in denen kolonialisierte Völker zu ihrer vermeintlich traditionellen Kultur und Religion ‚zurückkehren’, in der Praxis aber eher künstliche synkretistische Neureligionen schaffen. Eine andere Möglichkeit ist es, dass eine Volksreligion – wie im Falle der mordwinischen Lutheraner intendiert – ganz neu geschaffen wird. Dabei treten nationalistische Momente in den Vordergrund, die in den ursprünglichen Religionen von eher nachgeordneter Bedeutung oder zumindest einer größeren Selbstverständlichkeit waren, so dass man gelassener mit ihnen umgehen konnte und sie nur in Krisenzeiten zur Abgrenzung von den ‚Anderen’ hervorheben musste. Vor allem aber ist, will man eine andernorts schon bestehende Konfession zur Volksreligion machen, die Hervorhebung von nationalen Momenten unvermeidbar, die natürlich vorher auf keinen Fall Teil der Konfession gewesen sein konnten. Daher wird man sich eine Religion suchen, die einerseits als zukunftsträchtig gilt und andererseits möglichst viele Anknüpfungspunkte an die eigene nationale Ideologie bietet bzw. eine Abgrenzung von den ‚Anderen’ möglich macht. Alle diese Kriterien erfüllt in den Augen der mordwinischen Lutheraner das Luthertum: Kein Schritt zurück zum Heidentum, stattdessen Abgrenzung von den Russen und Annäherung an die finnougrischen Brüdervölker; eine demokratische und nichthierarchische, individualistische Religion, dem Wesen der Mordwinen 38 gemäß; Luther, der Erneuerer von Christentum, Sprache, Volk und Gesellschaft als Identifikationsfigur für ein Volk, das all dies auch für sich erhofft. Mordwinische wie russische Lutheraner also zeigen trotz aller Unterschiede zwei Varianten einer Entwicklung: Religiöse Selbstvergewisserung durch nationale Selbstverortung. Dies ist sowohl in Saransk als auch in Nowosibirsk auf zweierlei Wegen möglich: Der erste Weg ist der ideologische, auf dem sowohl Konfession als auch Nationalität ideologisiert, als unveränderlich fixiert und damit vergötzt werden. Der zweite Weg führt durch die Religion und die Nationalität hindurch zum Grund der Rechtfertigung. Das hieße, dass man sich nicht auf dem als gegeben geltenden ‚Volkscharakter’ oder einer bestimmten, in lutherischer Terminologie formulierten Wahrheit ausruht und damit zufrieden gibt, sondern dass man diese wie sich selbst immer wieder vom lebendigen Wort Gottes in Frage stellen lässt. Dieser Weg ist zumal in Umbruchzeiten gewiss der unbequemere. Inkulturation, die lutherisch sein will, kann trotzdem nur auf ihm gelingen. Denn der erste Weg führt bestenfalls zu einem Widerspruch in sich: zu lutherischer Ideologie. Welcher Weg in Russland beschritten werden wird, bleibt abzuwarten. 39