Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach dem

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Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach dem
Erschienen in: Zeitschrift für Mission 1-2/ 2003, S.3-38
(Korrigierte Fassung)
Inkulturationsprozesse im russländischen Luthertum nach
dem Zerfall der Sowjetunion
von
Joachim Willems
Auch mehr als zehn Jahre nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs’ scheint die
ehemalige Sowjetunion für Religionswissenschaftler und Ethnologinnen noch immer
bedeutend
exotischer zu sein als die meisten Länder Afrikas, Asiens und
Lateinamerikas. Zumindest ist es bis heute recht selten, dass sich Vertreter der
besagten Fächer mit den Nachfolgestaaten der UdSSR beschäftigen. Dies ist
bedauerlich, finden doch hier zur Zeit überaus spannende Transformationsprozesse
statt, die einer wissenschaftlichen Begleitung und Analyse durchaus wert sind. Denn
selbstverständlich vollzieht sich der Wandel, den die neu entstandenen Staatswesen
im ehemaligen Ostblock erleben, nicht nur auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik
und Gesellschaft, sondern auch auf dem Gebiet der Religion, und zwar bedeutend
vielfältiger,
als
es
populäre
Ansichten
über
‚religiöse
Renaissancen’
oder
beharrlichen Atheismus ahnen lassen. Ich möchte eine unter vielen derzeitigen
Bewegungen darstellen und analysieren, und zwar den bewussten Versuch einiger
Lutheraner,
ihre
Konfession
im
heutigen
Russland
zu
inkulturieren.
Seinen
besonderen Reiz bekommt dieser Prozess u.a. dadurch, dass diese Inkulturation sich
in einem Land vollzieht, das bereits vor mehr als tausend Jahren christianisiert und
in seiner Geschichte entscheidend durch die Russische Orthodoxe Kirche geprägt
wurde. Es stellen sich also einige Fragen: Was führt Menschen im heutigen Russland
zur Annahme des Luthertums? Warum wählen sie überhaupt nach ‚Siebzig Jahren
Atheismus’ das Christentum, und warum ausgerechnet in dieser konfessionellen
Ausprägung, die ja gerade nicht der im Jahre 988 begründeten russländischen
1
Tradition entspricht? Welche Konzepte verfolgen die Amtsträger, die ihrem Umfeld
ein je spezifisches Luthertum präsentieren wollen?
Um mich diesen Fragen zu nähern, möchte ich im folgenden zwei kleinere Gruppen
des lutherischen Spektrums in Russland genauer in den Blick nehmen, die mir
wegen
ihrer
Gegensätzlichkeit
hierzu
geeignet
erscheinen:
Die
„Sibirische
Evangelisch-Lutherische Kirche“ (Sibirskaja Evangeličesko-Ljuteranskaja Cerkov’, im
Folgenden: SELC) mit ihrem Zentrum in Nowosibirsk einerseits und andererseits die
beiden
lutherischen
Gemeinden
in
Saransk,
der
Hauptstadt
der
Republik
Mordwinien, die der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes [oder
auch: Ingriens] in Russland (ELKIR) angehören. Sowohl Nowosibirsk als auch
Saransk habe ich im Juni 2001 während eines Forschungsaufenthaltes in Russland
besucht, an Gottesdiensten teilgenommen und Gespräche mit Amtsträgern und
Gemeindegliedern geführt. Meine Aussagen im Folgenden speisen sich also vor allem
aus
eigener
teilnehmender
Beobachtung
und
den
in
Interviews
erhobenen
Informationen, daneben auch aus den wenigen Aufsätzen zum Thema und
Informationen aus dem Internet.
Bevor ich mich den Gemeinden in Nowosibirsk und Saransk näher zuwende, möchte
ich allerdings erst einige einleitende Bemerkungen zu den Themen Religion und
Luthertum in Russland machen.
Die religiöse Lage im postsowjetischen Russland
Der Zerfall der Sowjetunion und der Systemwandel von einem atheistischen
marxistisch-leninistischen Regime zu einem an westlichen Demokratien orientierten
Staat veränderte die Rahmenbedingungen für Religionsgemeinschaften in Russland
innerhalb weniger Jahre fast vollständig. Bereits bald nach Andropovs Tod begannen
sich Liberalisierungen im Bereich der Religion abzuzeichnen, den eigentlichen
Wendepunkt bildete aber erst das Jahr 1988 mit der Milleniumsfeier der Taufe von
Großfürst
Vladimir
Gorbatschow
und
empfing
der
den
Erinnerung
damaligen
an
die
Christianisierung
russisch-orthodoxen
Russlands:
Patriarchen,
ein
Landeskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche konnte abgehalten werden, und an
den Feierlichkeiten beteiligten sich auch staatliche sowie andere nichtkirchliche
Vertreter. 1990 wurde ein neues Religionsgesetz für die Sowjetunion verabschiedet,
2
das den Kirchen bisher im Lande nicht gekannte Freiheiten verschaffte, welche auch
nach der Verabschiedung eines neuen, restriktiveren Religionsgesetzes 19971
größtenteils weiterhin in Kraft sind. Die Rückgabe von enteigneten Kirchengebäuden
erfolgte,
der
Aufbau
Bildungseinrichtungen
bzw.
Ausbau
kirchlicher
und
Sozialeinrichtungen
Strukturen
–
wurde
–
z.B.
auch
möglich,
von
ebenso
Krankenhaus-, Militär- und Gefängnisseelsorge sowie kirchliche Aktivitäten in
Schulen. Gleichzeitig beendete der Staat die eigenen atheistischen Tätigkeiten.2
Damit deregulierte der Staat den religiösen Markt in einem Maße, wie es auch vor
der Oktoberrevolution 1917 höchstens in der kurzen Phase zwischen ‚bürgerlicher’
Februar- und bolschewistischer Oktoberrevolution der Fall war.
Die neue religiöse Freiheit eröffnete nicht nur der Russischen Orthodoxen Kirche und
anderen traditionell in Russland beheimateten Konfessionen und Religionen neue
Spielräume, sondern auch zahlreichen in- und ausländischen Sekten und religiösen
Sondergruppen. Man kann sagen, dass es fast keine derartige Gruppierung gab, die
nicht versuchte, in die damalige Sowjetunion beziehungsweise in die GUS-Staaten
zu expandieren: Gruppen neoprotestantischen Ursprungs (z.B. Mormonen und
Zeugen Jehovas), schon seit längerem im Westen heimische Gruppen und Praktiken
östlicher Herkunft, vielfältigste neobuddhistische und neohinduistische Richtungen,
dazu
alle
Arten
von
Magiern
und
einige
in
Russland
selbst
entstandene
Gruppierungen wie die „Kirche des Letzten Testaments“ des „Neuen Christus“
Vissarion, die Weiße Bruderschaft oder das Gottesmutterzentrum. Außerdem finden
sich verschiedene Spielarten von „New Age“-Religiosität (einschließlich der Schriften
der Rerich-Familie, der russischen Variante der Theosophie), Neuheidentümer und
diverse Meditations- und Heilungspraktiken. Verstärkte Missionsversuche ließen
auch die russischen Protestanten stärker als früher in Erscheinung treten. Dabei
waren nicht nur einheimische Missionarinnen und Missionare aktiv, sondern auch
Glaubensgeschwister aus dem Westen. Sendezeit in Radio oder Fernsehen und
1
Vgl. Zum Religionsgesetz von 1997: Stricker, Gerd: Das neue Religionsgesetz in Rußland. Vorgeschichte, Inhalt,
Probleme, Befürchtungen, in: Osteuropa 7/ 1998, S.689-709.
2
Vgl. Kääriäinen, Kimmo: Religion in Russia after the Collapse of Communism. Religious Renaissance or Secular
State, Lewiston u.a. 1998, S.27-29. Diedrich, Hans-Christian u.a. (Hgg.): Das Gute behaltet. Kirchen und religiöse
Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, Erlangen 1996, S.32-34.
3
Räume in Kulturpalästen wurden angemietet, und Billy Grahams Predigten füllten
Fußballstadien.3
Der Erfolg der verschiedenen Missionsversuche lässt sich gewiss damit erklären,
dass Religion etwas Neues und damit Aufregendes war und noch die Aura des
ehemals Verbotenen besaß. Trotzdem darf der tatsächliche Einfluss der jeweiligen
Religionen nicht überschätzt werden: Sowohl die Neugierde auf die Orthodoxie als
auch auf Protestantismus und Katholizismus, Magie, Astrologie und Esoterik,
Buddhismus und Hinduismus wurde bald schon wieder geringer. Für die orthodoxen
Christen konstatieren Kääriäinen und Furman in der grundlegenden Studie über
„Alte Kirchen, neue Gläubige. Religion im Massenbewusstsein des postsowjetischen
Russland“, dass die Zahl der Gläubigen im traditionellen Sinn relativ konstant in den
1990er
Jahren
bei
höchstens
7%
lag.
Die
Indikatoren für
Gläubigkeit
im
traditionellen Sinne waren dabei: Selbstdefinition als Gläubige und Orthodoxe;
Angabe, dass sie an einen Gott glauben, zu dem man in eine persönliche Beziehung
treten kann; entweder regelmäßiger Kirchgang mindestens einmal pro Monat oder
häufiges Gebet. Würde man als weitere, gewiss nicht überzogen strenge Kriterien
zum Beispiel mindestens jährlichen Abendmahlsempfang oder die Beachtung der
orthodoxen Fastenvorschriften fordern, wäre die Zahl weitaus geringer!4 Man kann
so zu dem Schluss kommen, dass sich die Zahl der orthodoxen Gläubigen im
engeren Sinne im Vergleich zur Sowjetzeit überhaupt nicht erhöht hat, sondern
lediglich die Zahl der „Feiertagschristen“.5
3
Ščipkov, Aleksandr: Vo čto verit Rossija. Kurs lekcij [Woran glaubt Russland? Lektionenkurs], S.1-22, S.139-154,
S.155-175. Barker, Eileen: Und wer wird nun gewinnen? Nationalkirchen und Minderheitenreligionen in der
postkommunistischen Gesellschaft; in: Pollack u.a. (Hgg.): Religiöser Wandel in den postkommunistischen Ländern
Ost- und Mitteleuropas, Würzburg 1998, S.121-149, hier bes. S.134f. Koslatschkow, Alexej: Das „Heer des Satans“.
Oder: Die okkultistische Revolution in Rußland; in Wostok. Informationen aus dem Osten für den Westen Nr. 4/97
S.71-75. Krindač, Aleksej: Religiöse Wiedergeburt und Entstehung einer neuen „konfessionellen Landschaft“ in
Rußland (I), in: Osteuropa 2/ 2000, S.161-175, hier bes. S.161-163. Einen guten Überblick über die postsowjetische
religiöse Landschaft gibt auch ein Blick in eine beliebige russische Internet-Suchmaschine und die darüber
gebotenen Links zum Thema Religion, z.B. http://weblist.ru/english/Society_and_culture/Religion/, 14.05.02 oder
http://catalog.aport.ru/rus/themes.asp?id=205, 14.05.02.
(Zur Verwendung von Internetseiten als Quelle: Den üblichen Gepflogenheiten entsprechend wird nach der Adresse
das Datum des letzten Besuches auf der Seite angegeben. Zudem liegen dem Verfasser dieses Aufsatzes alle zitierten
Seiten in ausgedruckter Form vor. Sind Seiten während der letzten Überarbeitung des Aufsatzes nicht mehr
aufrufbar gewesen, so wird darauf gesondert verwiesen.)
4
Kääriäinen, Kimmo/ Furman, Dmitrij (Hgg.): Starye cerkvi, novye verujuščie. Religija v massovom soznanii
postsovetskoj Rossii [Alte Kirchen, neue Gläubige. Religion im Massenbewusstsein des postsowjetischen Russland],
Moskau/ St. Petersburg 2000, S.23f. In englischer Sprache sind die Ergebnisse zugänglich in Kotiranta, Matti (Hg.):
Religious Transition in Russia, Helsinki 2000.
5
Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.21.
4
Als Neuerung gegenüber der Zeit vor der Perestrojka kann allerdings ein
„proreligiöser“ und vor allem „proorthodoxer Konsens“ konstatiert werden6, der auch
von denen geteilt wird, die selbst nicht an einen Gott in welcher Form auch immer
glauben. So ist es etwa möglich, dass sich in Russland ein höherer Prozentsatz der
Bevölkerung einer bestimmten Konfession zugehörig fühlt, als sich selbst als gläubig
bezeichnet. Bei den Möglichkeiten, sich als „gläubig“, „zweifelnd“, „nicht gläubig“
oder „atheistisch“ zu definieren, stellte sich 1999 heraus, dass sich 98% der
„Gläubigen“ als orthodox bezeichnen – und, was weitaus erstaunlicher und
beachtlicher ist, 90% der „Zweifelnden“, 50% der „Nichtgläubigen“ und immerhin
noch 42% der Atheisten!7 Die Vermutung liegt nahe, dass „Orthodoxie“ von vielen
Russen – nicht nur ‚orthodoxen Atheisten’ – stärker als etwas zur Nationalkultur und
zur ethnischen Identität Gehöriges denn als religiöse Überzeugung angesehen wird.
Das ideologische Vakuum nach 1991 soll mit orthodoxem Christentum gefüllt
werden, was der Russischen Orthodoxen Kirche einen enormen Aufstieg im
öffentlichen Ansehen beschert – allerdings wird Orthodoxie eben auch nur als
Ideologie rezipiert, und auch das nur dort, wo es opportun erscheint.
Diese Hinwendung zur traditionellen Konfession betrifft nicht nur die ethnischen
Russen. Der in der Überschrift dieses Artikels gewählte Begriff „russländisch“ soll
darauf hinweisen, dass in Russland eben nicht alles russisch und nicht alle Menschen
Russen sind. In der russischen Sprache unterscheidet man daher die Adjektive
russkij = russisch im ethnischen Sinne oder auf die Sprache bezogen, und rossijskij
= russländisch, worunter alles in Beziehung mit dem Staat und Land Russland fällt
einschließlich seiner Bürgerinnen und Bürger, gleich welcher Nationalität sie sein
mögen.
Eingeschlossen
Bundesländern
(Rossijskaja
sind
vergleichbaren)
Federacija)
mit
dann
also
die
Republiken
(am
der
nichtrussischer
ehesten
mit
Russländischen
Titularnation
(wie
deutschen
Föderation
Tatarstan,
Baschkortostan, Tschetschenien, Dagestan, Komi, Karelien, Mari-El, Mordwinien,
Tschuwaschien, Udmurtien, Tuva, Jakutien oder Kalmückien), ebenso die in
Russland lebenden Völker ohne eigene Republik (z.B. Korjaken, Nencen, Mansen,
Nganasanen,
6
7
Nanajcen,
Itelmenen,
Taten,
Ebd., S.11.
Ebd., S.16.
5
Lezginen
usw.)
oder
mit
einem
Nationalstaat außerhalb des Landes (Kasachen, Georgier, Armenier, Balten etc.,
aber auch Deutsche, Juden, Finnen, Koreaner usw.).
In noch stärkerem Maße als die Russen stehen die übrigen russländischen Völker
nach dem Zerfall der Sowjetunion vor der Frage ihrer nationaler Identität. Alle
haben mehr oder weniger intensive Versuche einer „nationalen Wiedergeburt“
erlebt,
die
–
wegen
der
neuen
religiösen
Freiräume
–
auch
immer
eine
konfessionelle Komponente hatte und hat. Das bekannteste Beispiel ist wohl die
Verbindung
von
nationaler
und
religiöser
Rhetorik
bei
tschetschenischen
Unabhängigkeitskämpfern, oder – weniger spektakulär – die Auseinandersetzungen
um die mit Rom unierte Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche. Wie in
Mordwinien versucht wird, die nationale Identitätssuche mit der Suche bzw.
Propagierung einer nationalen Religion zu verknüpfen, soll später ausführlich
dargestellt werden.
Festzuhalten bleibt am Ende dieses kurzen Überblicks über die religiöse Lage
Russlands in den 1990er Jahren dreierlei: 1. Russland erlebte um 1990 eine bis
dahin noch nicht gekannte Religionsfreiheit. 2. Damit einher ging gleichzeitig eine
Pluralisierung und Ausdifferenzierung des religiösen Spektrums. 3. Trotzdem
bestand
und
besteht
eine
Verbundenheit
der
Mehrheit
mit
der
jeweiligen
traditionellen Religion, auch wenn dies nicht unbedingt heißt, dass diese auch
wirklich als Religion praktiziert wird. Es interessieren an der Religion anscheinend
mehr deren ideologische und nationale Komponenten.
Lutherische Gemeinden in Russland
Diese Rahmenbedingungen betreffen selbstverständlich auch die lutherischen
Gemeinden
im
Lande,
Traditionellerweise
ist
wobei
das
hier
einige
Luthertum
in
Besonderheiten
Russland
eine
zu
Tage
typische
treten.
nationale
Minderheitenreligion: Lutherisch waren in erster Linie Deutsche, Finnen und Balten.
Im Baltikum reicht die Geschichte des Luthertums bis ins Jahr 1521 zurück, als Riga
sich der protestantischen Bewegung zuwandte. Auf dem Boden des russischen
Staates erschien die lutherische Lehre ebenfalls bereits im Reformationsjahrhundert.
Die erste Erwähnung einer lutherischen Kirche in Moskau datiert in das Jahr 1576.
1832
wurden
die
Gemeinden
per
Gesetz
6
zur
multinationalen
„Evangelisch-
Lutherischen Kirche in Russland“ zusammengefasst – mit dem Zaren als oberstem
Bischof. 1914 gehörten dieser Staatskirche je über 1.000.000 Letten, Esten und
Deutsche an, dazu knapp 150.000 Finnen, insgesamt über 3,6 Millionen Mitglieder.8
Nach der vollständigen Zerschlagung dieser Kirche in den 1930er Jahren und der
Deportation der Finnen sowie der Russlanddeutschen nach dem Überfall Hitlers auf
die Sowjetunion gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion (außerhalb
des später wieder einverleibten Baltikums) nur noch einzelne lutherische Hauskreise
und geheime Gemeindegruppen. In diesen wurde die Frömmigkeit der pietistischen
Brüderkreise prägend. Von den Geistlichen haben insgesamt nur drei Pfarrer nach
zum Teil langjähriger Lagerhaft in den 1950er Jahren wieder als solche gearbeitet.9
Zwar konnte 1956 eine russlanddeutsche Gemeinde in Kasachstan die offizielle
Registrierung bei den Behörden erreichen, die nächsten Registrierungen von
Gemeinden fanden allerdings erst wieder über zehn Jahre später statt. Aber auch
nach ihrer behördlichen Registrierung blieben die Gemeinden ohne gesamtkirchliche
Struktur. Seit 1980 war es immerhin dem Rigaer Pfarrer Harald Kalnins möglich,
sich
als
Superintendent
um
die
deutschsprachigen
Gemeinden
in
Sibirien,
Kasachstan und den mittelasiatischen Sowjetrepubliken zu kümmern.10
Aus dieser Tätigkeit entstand (nach mehreren Umbenennungen) die heutige
„Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland und anderen Staaten“ (ELKRAS), die
sich als Nachfolgerin der vorrevolutionären Kirche betrachtet und die größte
lutherische Kirchenorganisation im heutigen Russland und der GUS darstellt.
Anlässlich
der
Generalsynode
1999
wurden
für
die
ELKRAS-Regionalkirche
Europäisches Russland 150 Gemeinden (ohne Gemeindegruppen) und für die
Regionalkirche Ural, Sibirien, Ferner Osten 200 Gemeinden und Gemeindegruppen
genannt.11 Zu diesen Gemeinden gehören sowohl alte Russlanddeutsche der
brüdergemeindlichen (pietistischen) Tradition, als auch Russlanddeutsche, die auf
8
Zur Geschichte der lutherischen Gemeinden in Russland: Kahle, Wilhelm: Wege und Gestalt evangelischlutherischen Kirchentums. Vom Moskauer Reich bis zur Gegenwart, Erlangen 2002. Amburger, Erik: Geschichte
des Protestantismus in Rußland, Stuttgart 1961. Die angegebenen Zahlen für 1914 finden sich bei Stricker, Gerd
(Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 10), Berlin 1997, S.350.
9
Es handelt sich um Eugen Bachmann, Arthur Pfeiffer und Johannes Schlundt. Vgl. Licenberger, Ol’ga A.:
Evangeličesko-ljuteranskaja cerkov’ i sovetskoe gosudarstvo (1917-1938) [Die Evangelisch-Lutherische Kirche und
der Sowjetstaat (1917-1938)], Moskau 1999, S.332, S.376 und S.389.
10
Für die Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland nach 1917 sind grundlegend: Kahle,
Wilhelm: Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sovetunion 1917-1938, Leiden 1974, und
ders.: Die lutherischen Kirchen und Gemeinden in der Sowjetunion – seit 1938/ 1940 –, Gütersloh 1985.
7
der Suche nach ihrer nationalen Identität in Kontakt mit der Religion der Vorfahren
gekommen waren. Auch Menschen ohne lutherische Vorfahren finden hier eine
geistliche Heimat, die ihnen mehr zusagt als die orthodoxe Kirche.
Anders als vor der Revolution sind die finnischen Gemeinden nicht Teil der ELKRAS
geworden,
sondern
haben
mit
der
„Evangelisch-Lutherischen
Kirche
des
Ingermanlandes in Russland“ (ELKIR) eine eigene Kirche gegründet. 1996 sollen der
Kirche 15.000 registrierte Gemeindeglieder angehört haben, wobei sich allerdings
zusätzlich noch einmal doppelt so viele Menschen aktiv am Leben der Gemeinden
beteiligten.12 Auch hierunter finden sich Finnen, die unter Repressionsbedingungen
am Glauben festgehalten haben, Finnen auf nationaler Identitätssuche und
Angehörige anderer Völker.13 Zur ELKIR gehören zudem die Gemeinden im
mordwinischen Saransk, auf die ich im Verlauf dieses Aufsatzes näher eingehen
werde.
Daneben gibt es weitere lutherische Gemeinden: Zum einen selbstständige
lutherische Gemeinden – meist handelt es sich um Abspaltungen von der ELKRAS
bzw. (wie im Falle einiger karelischer Gemeinden) von der ELKIR oder um ältere
Gemeinden, die sich keiner Kirche angeschlossen haben (viele wissen auch bis heute
einfach noch nichts von deren Existenz!) –, zum anderen um Gemeinden, die auf
Missionsaktivitäten
amerikanischer
konservativer
Lutheraner
der
Wisconsin
14
Evangelical-Lutheran Synode zurückgehen.
Als weitere, aufstrebende Kirchenorganisation, die von Teilen der Lutheran Church –
Missouri Synod (LCMS) unterstützt wird, ist die „Sibirische Evangelisch-Lutherische
Kirche“ (SELC) zu nennen.
Die „Sibirische Evangelisch-Lutherische Kirche“
11
Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien 1994-1999, St.
Petersburg 2000, S.71 und S.79.
12
Diedrich u.a. (Hgg.): Das Gute behaltet (Anm. 2), S.96.
13
Pihkala, Isto: Die Ingrische Kirche in den neunziger Jahren, in: Junker, Johannes/ Arkkila, Reijo (Hgg.): Nacht
und neuer Morgen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche von Ingrien in Rußland, S.47-57, hier S.53.
14
Zu den Abspaltungen von der ELKRAS vgl. z.B. Stricker: Rußland (Anm. 8), S.404. Zur Abspaltung karelischer
Gemeinden von der ELKIR: www.gov.karelia.ru/Different/Religion/protestant.html, 14.05.02 und Filatov, Sergej
B.: Karelija: pravoslavno-ljuteranskoe pogranič’e [Karelien: orthodox-lutherisches Grenzland], in: Družba Narodov
5/ 2000, S.130ff., hier aus: http://novosti.online.ru/magazine/druzhba/n5-20/filat.htm, 14.05.02 (daher ohne
Seitenzählung). Zu den Gemeinden der Wisconsin Synod: Willems, Joachim: Wege zur Wahrung und
Wiedergewinnung religiöser Identität. Religiöse Minderheiten im sibirischen Omsk: Muslime, Juden, Lutheraner, in:
Glaube in der 2. Welt Nr. 3/ 2002, S.26-31, hier S.31, und http://www.wels.net/sab/wor/rus-01.html, 14.05.02;
http://www.wels.net/sab/wor/rus-09.html, 14.05.02 und http://www.wels.net/sab/wor/rus-09.html, 14.05.02.
8
Die erste Gemeinde der SELC wurde 1992 in Nowosibirsk offiziell registriert unter
der
Bezeichnung
„Westsibirische
Christliche
Mission“
(Zapadno-Sibirskaja
Christianskaja Missija; eine zeitlang war auch die Bezeichnung „Biblisch-Lutherische
Kirche“ in Gebrauch). Das Interessante an dieser Kirche ist im Zusammenhang mit
der Frage nach lutherischen Inkulturationsprozessen im modernen Russland vor
allem die Tatsache, dass sie sich nicht als eine Kirche einer nationalen Minderheit
versteht. Dies unterscheidet sie grundlegend von ELKRAS und ELKIR, die zwar beide
ebenfalls betonen, dass Religion, Konfession, Bibel und Glaube nicht an Nationalität
gebunden sind, in denen aber gleichwohl der jeweilige ethnische Hintergrund
deutlich sichtbar bleibt. Ähnlich verhält es sich mit den amerikanischen lutherischen
Missionen: Auch wenn sich die Missouri- und die Wisconsin-Synode in ihrer
Missionsarbeit explizit an die autochthone Bevölkerung wenden und das von
nationaler u.a. Kultur ‚reine’ Evangelium predigen wollen, so bleibt doch allein schon
durch die aus den USA stammenden Missionare der nordamerikanische kulturelle
und denominationelle Hintergrund prägend.
Die Geistlichen der SELC dagegen sind Russen, die zudem bewusst ihre Kirche in der
russischen Kultur beheimatet sehen wollen. Dies ist erstaunlich angesichts der
Tatsache, dass für die übergroße Mehrheit der Russen russische Kultur untrennbar
mit der orthodoxen Konfession verbunden ist, und auch deshalb, weil die SELC
ihrem „kanonischen Status“ nach15 Teil der Estnischen Evangelisch-Lutherischen
Kirche ist. Seinen Grund findet das in der Geschichte der SELC und der Biographie
ihres Leiters Vsevolod Lytkin. Dieser, laut der Selbstdarstellung der Kirche im
Internet, 1967 in eine Dissidentenfamilie im Nowosibirsker „Akademiestädtchen“
(Akademgorodok) geboren, stand schon in seiner Jugend in Opposition zum damals
herrschenden atheistischen Staatssystem und begann so auch mit der religiösen
Suche. Dabei kam er allein aus der Lektüre von Luthers Kleinem Katechismus, ohne
persönliche Kontakte zu Lutheranern, zu der Überzeugung, hier die wahre
Konfession gefunden zu haben. Da er aber 1987 keine lutherische Gemeinde in
Sibirien fand – obwohl, das sei hinzugefügt, sogar in Nowosibirsk selbst eine heute
15
So der Ausdruck der SELC selbst in ihrer Internetdarstellung: www.lutheran.sib.net/rus/histblc.html, 26.09.00, aus
der auch die Informationen der folgenden Absätze entnommen sind. Diese Seite ist nicht mehr aufrufbar. Die neue
Adresse – mit leicht überarbeitetem Text – lautet: http://www.lutheran.ru/novosibirsk/novosibirsk.html, 14.05.02.
9
der ELKRAS angehörige Gemeinde schon lange existierte16 –, reiste er spontan ins
Baltikum, und zwar ins estnische Tallinn, da in Leningrad gerade keine Fahrkarten
nach Riga erhältlich waren. In Tallinn wurde er noch im selben Jahr getauft und
arbeitete aktiv in der dortigen Heilig-Geist-Gemeinde mit.
Bald allerdings schon kehrte er nach Nowosibirsk zurück, wo er sich an der
Organisation christlicher Arbeit in der Stadt und an der Universität beteiligte,
zusammen mit amerikanischen Missionaren und mit Menschen verschiedener
denominationeller Ausrichtung. So entstand mit anderen, die wie er „etwas
Ernsthafteres“17 als allein Bibelarbeit wollten, nämlich zusätzlich ein „tieferes
kirchliches Verständnis Gottes und Seines Wortes“, der Kern der späteren SELC.
Man setzte folgende Akzente: „Glaube, und nicht Kultur, Theologie, und nicht ,Party’
[tusovka = Szene, Jugendszene, Party, Fete], Verkündigung der Frohen Botschaft
als Arbeit mit Menschen, und nicht ,Evangelisation auf den Straßen mit Broschüren’,
ernsthafte Beziehung zur Lehre über die Rettung und zum christlichen Leben, und
nicht das Prinzip ,einmal gerettet – immer gerettet’ [...].“ Die (nationale)
Selbstständigkeit der Gruppe trotz der Beziehungen zu amerikanischen Missionaren
wird unterstrichen: Schon damals sei man unabhängig gewesen, eine „russische
Gemeinschaft von Gläubigen“, keiner ausländischen Führung untergeordnet; die
„Beziehung zu ausländischen Brüderkirchen“ würden „ausgeübt ausschließlich auf
der Grundlage christlicher Liebe, Hilfe und gegenseitiger Unterstützung.“ Den der
Gruppe wichtigen ‚kirchlichen’ Status erreichte sie endlich am 11. Februar 1993 mit
der Ordination von V. Lytkin durch den estnischen Bischof in Tallinn. Die genaue
Nennung gerade dieses Datums quasi als eigentliche Geburtsstunde der Gemeinde
unterstreicht die von Anfang an hervorgehobene Bedeutung der Kirchlichkeit. Die
besondere Hochschätzung des (Klerikal-) Kirchlichen wird auch in einer Predigt
Lytkins über den Heiligen Cyprian deutlich, in dem es unter anderem über die
Stellung von Priester und Laien heißt: „Die LAIEN können keinem aus ihrer Zahl
Macht übergeben, die sie gar nicht besitzen. Der Priester, der die Sakramente weiht,
ist nicht ein EINFACHER VERTRETER der im Gottesdienst Anwesenden. Er STEHT
16
Die schon viel länger bestehende Gemeinde wurde aus politischen Gründen 1967 behördlich registriert; Kahle:
Die lutherischen Kirchen und Gemeinden (Anm. 10), S.129.
17
So die Selbstdarstellung der SELC auf der oben genannten (Anm. 15) Internetseite. Hier finden sich auch die noch
folgenden Zitate. Die Übersetzungen aus dem Russischen stammen vom Verfasser dieses Aufsatzes.
10
AUF DEM PLATZ CHRISTI, und er wirkt nicht im Namen der Gemeinde, sondern im
Namen Christi.“18
Dass Lytkin hier nicht einfach die Sichtweise Cyprians referiert, sondern dass hier
auch sein eigenes ekklesiologisches Modell deutlich wird, zeigt die Terminologie, die
in der ‚Geschichtsschreibung’ der Kirche verwendet wird. So heißt es in der
Selbstdarstellung im Internet, dadurch, dass Lytkin mit der „Handauflegung in den
Stand des Priesters [russ.: svjaščennik] (Pastors)“ erhoben wurde, sei die „Gruppe“
zu einer „vollwertigen Eucharistischen Gemeinde“ geworden. Allerdings ist dies
deutlich bereits die spätere Deutung der Ereignisse, da man selbst schreibt, in den
ersten ein bis zwei Jahren habe das lutherische Selbstverständnis des Pastors das
der Gemeinde übertroffen. Diese sei erst „nach einigen Jahren lutherischer Predigt in
den Sonntagsgottesdiensten und einer Reihe von Bibel- und Dogmatikkursen“
„organisch in das Luthertum eingetreten“ [organično vošla v ljuteranstvo]. So sei
man bis zum Sommer 1994, nachdem man sich auch von einigen baptistisch
Orientierten
getrennt
habe,
zu
einer
„vollen
und
klar
ausgedrückten
Konfessionalität“ gekommen, eine „streng lutherische Pfarrei“ geworden.
Diese konfessionalistische Ausrichtung erklärt auch die enge Zusammenarbeit der
Gemeinde mit der Missouri Synod (LCMS) in den USA. In deren Seminaren studieren
nicht nur seit 1994 Vertreter der SELC (im Sommer 1994 z.B. Lytkin selbst sowie
der ebenfalls von mir interviewte Diakon – mittlerweile zum Pastor ordinierte – Pavel
Chramov), von hier kommen auch Dozenten, um im Nowosibirsker Lutherischen
Theologischen Seminar der SELC zu unterrichten.19 Besonders gute Beziehungen
bestehen zum ebenfalls hochkirchlich ausgerichteten Seminar der LCMS in Fort
Wayne. Weitere Kontakte unterhält man zur estnischen ‚Mutterkirche’, die laut
Pastor Lytkin geplant hatte, die SELC im Oktober 2001 in die Unabhängigkeit zu
entlassen20, außerdem in Deutschland zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen
18
www.radiotserkov.ru/biblio/kiprian.shtml, 15.05.02. Hervorhebungen so im Original, Übersetzung aus dem
Russischen von Verfasser dieses Aufsatzes.
19
Vgl. zum Seminar z.B. dessen Internetseiten: www.seminary.faithweb.com/engl/Default.htm, 14.05.02, und
www.lts.ru, 14.05.02.
20
Diese Information gab mir Lytkin im persönlichen Gespräch am 17.06.2001 in Nowosibirsk. Offensichtlich ist es
dazu nicht gekommen. Zumindest wird in den regelmäßig per E-Mail verschickten Rundbriefen („Newsletter“) der
Gemeinde (über [email protected]) wie in anderen Quellen keine kirchliche Unabhängigkeit erwähnt. Die Gründe
hierfür sind mir nicht bekannt und waren auch nicht in Erfahrung zu bringen.
11
Kirche (SELK). Das Verhältnis zu den anderen lutherischen Kirchen in Russland
dagegen ist mindestens gespannt.21
Zur weiteren Geschichte der SELC ist von Bedeutung, dass man sich nicht auf die
Gemeinde in Nowosibirsk beschränkte, sondern eine ausgedehnte Missionstätigkeit
begann, z.B. in Chakassien und Burjatien, in Ekaterinburg, Tschita und Irkutsk. Zur
Zeit meines Besuches gab es nach den Informationen von Pavel Chramov elf
Gemeinden der SELC, die von einem Pastor (Vsevolod Lytkin) und sechs Diakonen
betreut wurden. Mittlerweile ist die Zahl der Geistlichen gestiegen: Am 2. September
2001 wurden in Nowosibirsk u.a. durch den Bischof der Evangelisch-Lutherischen
Kirche Litauens vier Diakone zu Pastoren (unter ihnen Pavel Chramov) und zwei
Männer zu Diakonen ordiniert, am 8. Dezember 2001 in Tallinn/ Estland zwei
weitere Diakone und ein Pfarrer durch den estnischen Erzbischof Jaan Kiivit.22
Der Gottesdienst der ‚Muttergemeinde’ im Nowosibirsker „Akademiestädtchen“
wurde am17. Juni 2001, als auch ich anwesend war, von ca. 40 Menschen besucht.
Laut
Internetinformationen
berücksichtigen,
dass
in
gibt
es
Russland
etwa
100
in
allen
Gemeindeglieder.
religiösen
Es
ist
Gemeinden
zu
der
Gottesdienstbesuch im Sommer bedeutend geringer ist als im Winter, da ein
Großteil der Gemeindeglieder auf die Erträge des eigenen Gartens oder der Datscha
angewiesen ist. Diese aber hat man an den ‚arbeitsfreien’ Tagen wie Sonn- und
Feiertagen zu bestellen. Unter den Teilnehmern am Gottesdienst waren auffallend
viele Kinder und junge Menschen, aber auch Alte, also alle Altersgruppen. Dem
Heimatort (Akademgorodok) und der Gemeindegeschichte (studentischer Bibelkreis
als eine der Keimzellen der Kirche) ist es zu verdanken, dass, so Chramov, viele
Studenten und Akademiker (Professoren, Lehrer, Ärzte, Wirtschaftswissenschaftler)
zur Gemeinde gehören. Die nicht zur Gründungsgeneration gehörenden Glieder
seien vor allem über persönliche Kontakte in die Gemeinde gekommen, auch über
die Evangelisationen von amerikanischen Missionaren.
21
Dies wird in Gesprächen mit den Vertretern der verschiedenen Kirchen deutlich. Trotzdem werden Kontakte
gepflegt. Bei der Einweihung des Kirchenneubaus der SELC in Akademgorodok/ Nowosibirsk am 2. September
2001 waren der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Litauens anwesend, außerdem Vertreter der
Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der LCMS und der ELKRAS (u.a. der Stellvertreter des Erzbischofs
und Rektor des Theologischen Seminars, Bischof Dr. Stefan Reder). (Quelle: Rundmail „ELKRAS-Nachrichten“,
[email protected], vom 7. September 2001. http://www.luther.ru/news/s6.htm, 08.11.01, Seite nicht mehr
zugänglich.)
12
Die starke Betonung der Kirchlichkeit und das Streben nach einem eindeutigen
„kanonischen Status“ wurden bereits erwähnt. Wie wirkt sich dies im Einzelnen in
der Lehre und kirchlichen Praxis der Kirche aus, und welche weiteren Akzente
werden gesetzt?
Für den bundesdeutschen Betrachter sind zahlreiche Züge der SELC auffällig, die an
die Russische Orthodoxe Kirche erinnern. Dies beginnt mit der Bezeichnung des
Pfarrers, für die nicht das auch im Russischen (z.B. in der ELKRAS) gebräuchliche
Wort „Pastor“ verwendet wird, sondern „svjaščennik“, „Priester“. Angesprochen wird
der Pfarrer mit „Vater“ (otec). Entsprechend wird auch in Texten dem Namen ein
„o.“ vorangestellt, also z.B. „o. Vsevolod Lytkin“. Ebenfalls als „Väter“ gelten die
Diakone, die, wie auch in der ELKIR, entweder bestimmte liturgische Funktionen im
Gottesdienst neben dem Pastor erfüllen oder für diesen in Vertretung die Feier
leiten.
Beim Eintritt in den Gottesdienstraum – im Falle der Nowosibirsker Gemeinde bis
September
2001
ein
gemieteter
und
kirchlich
hergerichteter
Raum
eines
heruntergekommenen sowjetischen Jugendzentrums – bekreuzigt man sich wie
beim Eintritt in eine orthodoxe Kirche. Interessanterweise geschieht das bei einigen
in der ‚östlichen’ (orthodoxen) Form (mit drei Fingern von rechts nach links), bei
anderen in der ‚westlichen’ (mit fünf Fingern von links nach rechts). Bisweilen lassen
sich Mischformen beobachten, wie z.B. ‚östlich’ in der Richtung, aber mit fünf
Fingern. Auch während des Gottesdienstes und vor allem während des Abendmahls
ist die Gemeinde dadurch am Geschehen beteiligt, dass sie sich wiederholt
bekreuzigt. Nach Pavel Chramov geht die ‚westliche’ Form des Kreuzschlagens auf
das Vorbild Pastor Lytkins und der amerikanischen Dozenten am Theologischen
Seminar zurück.
Wie Chramov berichtet, habe man in einer der Kirche gehörenden Wohnung auch
Ikonen, außerdem benutze man an Feiertagen Weihrauch. Theologisch sei die
Verwendung von Ikonen kein Problem, wenn man sich bewusst sei, dass eben keine
Bilder angebetet würden, sondern die Verehrung den Heiligen ‚dahinter’ gelte. Dies
entspricht
der
orthodoxen
Theorie,
ist
22
aber
im
lutherischen
Kontext
doch
Rundmail „ELKRAS-Nachrichten“ (Anm. 21) vom 7.9.2001. „Newsletter“ der SELC (Anm. 20) vom 19.12.2001.
Die Zahl der Gemeinden scheint seitdem nicht gestiegen zu sein. Auf ihrer aktualisierten Homepage werden die
Adressen von zehn Gemeinden genannt: http://www.lutheran.ru/contacts.html, 14.05.02.
13
ungewöhnlich. Noch deutlicher wird eine spezifische Art von Heiligenverehrung in
einer über das Internet verbreitete Predigt Lytkins über den „Hl. Dietrich Bonhoeffer
und den Glauben an die Auferstehung“ [Sv. Ditrich Bonchjoffer i vera v
Voskresenie].23 Hier heißt es u.a.: „Am 9. April begeht die Kirche den Tag des Hl.
Dietrich Bonhoeffer.“ Der Gedankengang der Predigt sei hier skizziert. Er führt von
einer Zusammenfassung des Lebens und Sterbens des ‚Heiligen’ zum Thema
,Glauben an die Auferstehung’. Hierzu wird ein Ausspruch Bonhoeffers im Angesicht
des eigenen Todes zitiert: „Das ist das Ende, aber für mich der Beginn des Lebens.“
Es folgt eine kurze polemische Beschreibung eines Gespräches mit einem liberalen
deutschen Pfarrer, „der nach Russland kam aus dem Lande des Hl. Dietrich“ und
bestritt,
dass
man
an
eine
leibliche
Auferstehung
Christi
glauben
müsse.
Demgegenüber sei die leibliche Auferstehung den Aposteln aber keinesfalls egal
gewesen, und ebenso wenig den Märtyrern und Heiligen. Der Glaube daran bleibe
die Grundlage auch der Hoffnung der heute lebenden Christen.
Abgesehen
von
der
erstaunlichen
Tatsache,
dass
eine
sich
selbst
als
konfessionalistisch, „konservativ und hochkirchlich“24 definierende, ekklesiologischlegalistische Kirche in dieser Art einen Menschen zum Heiligen erhebt, stellen sich
einige weitere Fragen: Warum erhebt man gerade einen Theologen zum Heiligen,
der nicht von vornherein die emanzipierte „religionslose Welt“ nach der Aufklärung
verurteilt, sondern sich Gedanken über ein „religionsloses Christentum“ macht?
Außerdem: Wer hat Bonhoeffer überhaupt kanonisiert, wie wird der „Tag des
Heiligen“ begangen, welche Formen von Heiligenverehrung sind noch üblich?
Hierzu sagte mir Lytkin, natürlich gebe es problematische Züge in Bonhoeffers
Theologie. Gleichwohl sei er wegen seines Leben und Sterbens ein Heiliger, nicht,
weil er als solcher kanonisiert sei, sondern weil er in der Kirche besonders geschätzt
und verehrt werde.25 Gebete zu Heiligen gebe es allerdings nicht, doch sei man sich
gewiss, dass Bonhoeffer seinerseits im Himmel für seine Kirche bete. Diakon Pavel
Chramov meint sogar, es stelle sich in der SELC die Frage, warum man nicht
23
Die Predigt fand sich unter www.lutheran.sib.net/rus/liturgy/ditr.html, 26.09.00, ist mittlerweile aber nicht mehr
aufrufbar.
24
So Lytkin mir gegenüber im Gespräch am 17.6.2001 zur Charakterisierung der SELC.
25
Auch hier liegen ‚orthodoxe Anklänge’ vor, da in der Orthodoxie die Initiative zur Erhebung eines Verstorbenen
zum Heiligen von der kirchlichen Basis ausgeht. Vgl. hierzu z.B. anlässlich einer aktuellen Frage Stricker, Gerd: Zar
Nikolaj II. – ein „Neu-Heiliger“. Zu einer umstrittenen Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche, in:
Osteuropa 11/ 2000, S.1187-1196, hier (zur Kanonisierung in der orthodoxen Kirche im Allgemeinen) S.1188-1190.
14
Bonhoeffer oder andere im Kirchenkalender der SELC aufgeführte (altkirchliche,
russische etc.) Heilige im Gebet anrufen solle und greift ein in der orthodoxen Kirche
verbreitetes Argument auf: Wenn man seine lebenden Freunde bitten könne, für
einen zu beten, warum dann nicht auch die verstorbenen? Man sei in diesem Punkte
vorsichtig, schätze die Heiligen auf jeden Fall als Vorbilder und halte sich ansonsten
„an den Buchstaben des Konkordienbuches“ und daran, was Melanchthon schreibe:
Man solle Gott für diese Menschen danken.
Ein weiterer Punkt, an dem sich die Nähe zur orthodoxen Theologie zeigt, ist das
Verständnis von Liturgie und Abendmahl innerhalb der SELC. Die Agende fußt zwar
auf protestantischen Quellen der hochkirchlichen Richtung: auf der russischen
lutherischen vorrevolutionären Agende sowie den Agenden der ELKIR, der LCMS und
der Anglikanischen Kirche – aus dem orthodoxen oder katholischen Umfeld stammen
nur einige Lieder –, das Verständnis der Liturgie sei aber, wie man in der SELC
betont, „östlich“ und unterscheide sich so auch von dem der US-amerikanischen
Dozenten im SELC-Seminar. Den östlichen Zugang zur Theologie bezeichnet
Chramov als synthetisch im Gegensatz zum westlich-analytischen. Etwa unterteile
man die Liturgie nicht in eine „Liturgie des Wortes“ und eine „Abendmahlsliturgie“,
vielmehr sei die Eucharistie der Mittelpunkt und die Kulmination des gesamten
Gottesdienstes und darüber hinaus der gesamten Theologie, auch in Predigt und
Katechese. Für eine streng konfessionalistisch-lutherische Gruppierung überrascht
zudem der Satz, dass nach dem Verständnis der SELC die Predigt zum Abendmahl
hinführen solle und ohne eigenes Gewicht sei!26
Theologisch verficht man selbstverständlich die Realpräsenz, die Abendmahlspraxis
ist
exklusiv
–
es
sind
also
nur
Lutheraner
zugelassen,
wie
die
vor den
Gottesdiensten verteilten Zettel mit den gesamten Texten einschließlich der Lieder
den Gästen mitteilen. Anders als in einigen anderen konfessionalistischen Kirchen
werden
allerdings
auch
die
angeblich
‚liberal’
von
der
lutherischen
Lehre
abweichenden Kirche wie die deutsche VELKD und die ELKRAS anerkannt. Auffällig
ist die Beteiligung von Kindern am Abendmahl, die ebenfalls wieder die Verknüpfung
von orthodoxer und lutherischer Tradition deutlich macht. Der hohen Bedeutung, die
der Eucharistie beigemessen wird, entspricht, dass wie in der Orthodoxie auch
26
Pavel Chramov im Gespräch am 17.6.2001. Die folgenden Aussagen stammen ebenfalls aus den an diesem Tag
geführten Gesprächen mit Chramov und Lytkin.
15
Kinder diese nach Möglichkeit empfangen sollen. Da aber der lutherischen Tradition
gemäß eigentlich nur Konfirmierte das Abendmahl empfangen dürften, versuche
man, die Kinder so jung wie möglich zu konfirmieren. Der bisher jüngste Konfirmand
sei sechs Jahre als gewesen, ein Alter, das als durchaus erstrebenswert für diesen
Passageritus gilt.
Wegen der Wichtigkeit des Abendmahls wird dies an jedem Sonntag gefeiert, wenn
ein Pastor oder ein Diakon anwesend ist, der die Erlaubnis zu seiner Einsetzung
besitzt. Bezeichnend und aussagekräftig für die Sicht des Abendmahls ist es, wenn
Pastor Lytkin der Wisconsin Synod ein „reformiertes Abendmahlsverständnis“
vorwirft. Den Hinweis entkräftend, dass diese doch die altlutherische Dogmatik
einschließlich Realpräsenz verträte, argumentiert Lytkin, man sehe an der Tatsache,
dass dort nur einmal im Monat das Abendmahl gefeiert werde, welch geringe (eben:
„reformierte“) Bedeutung dem Sakrament beigemessen werde.
Allerdings muss auch erwähnt werden, dass gewisse in Russland zu beobachtende
hierarchische Auswüchse in der Praxis die hochkirchliche SELC nicht erreicht haben.
So existiert Berichten zufolge in einigen alten russlanddeutschen Brüdergemeinden
die Vorstellung, man dürfe das Abendmahl nicht von einer in der geistlichen
Rangfolge niedriger gestellten Person gereicht bekommen.27 Dasselbe habe ich in
einem Gottesdienst der ELKIR28 beobachtet, in dem der Pastor (auch hier „Priester“
genannt und mit „Vater“ angeredet) nach der Austeilung an die Gemeinde erst dem
Diakon das Sakrament reichte und dann sich selbst, es sich also nicht reichen ließ.
In dem von mir besuchten Gottesdienst der SELC dagegen empfing Pastor Lytkin
Brot und Wein aus den Händen eines der beteiligten Diakone.
Auch das Amt des Diakons mit bestimmten Aufgaben während der Liturgie zeigt im
übrigen den hochkirchlichen Stil der SELC, auch wenn hier nicht unbedingt
orthodoxer Einfluss vorliegt. Ein solcher wird allerdings wahrscheinlich für die
Beichte. Für diese hat der Pastor wöchentlich vier Stunden reserviert, und bei der
Besichtigung des mittlerweile geweihten und bezogenen neuen Kirchengebäudes der
Nowosibirsker Gemeinde zeigte mir ein Gemeindeglied den für die Kapelle
vorgesehenen Raum, in dem in Zukunft der Pastor die Beichte abnehmen werde.
Anscheinend ist aber auch dies eher eine Einrichtung ‚von oben’. So meint Chramov,
27
Behrens, Eberhard: In Rußland nicht nur Zwiebeltürme. Stationen einer Reise zu christlichen Gemeinden in der
UdSSR, in: Gustav Adolf Kalender 1992, S.78-82, hier S.81.
28
Am 20. August 2000 in St. Michaelis, St. Petersburg (Pfarrer Sergej Prejman).
16
es sei „leider“ noch nicht üblich zu beichten, die Möglichkeit werde aber mehr und
mehr in Anspruch genommen.
Eine deutliche und nicht unbedingt notwendige Distanz zur Orthodoxie besteht
wegen der Verwendung des westlichen Gregorianischen Kalenders. Anders z.B.
halten es russische Baptistengemeinden und auch etwa die Gemeinden der
lutherischen Wisconsin Synod in Russland, die Weihnachten dem Julianischen
Kalender entsprechend am 7. Januar unserer Zeitrechnung feiern. Die Gründe
hierfür sind mir bei der SELC nicht ganz klar, bezeichnend allerdings ist die
Erklärung Chramovs: Dies löse das Problem mit dem Fasten! Denn indem man
Weihnachten vor Neujahr feiere, sei zu diesem Fest, an dem in Russland viel
gegessen (und vor allem auch getrunken) werde, das Fasten beendet. Allerdings
muss gesagt werden, dass die wiederum sehr orthodox anmutende Praxis des
Fasten vor Weihnachten (obwohl dies ja historisch keinesfalls allein orthodox ist)
doch eher einem westeuropäischen ‚Sieben Wochen ohne’ entspricht. Es gebe
nämlich keine verpflichtenden Essensregeln, das Fasten müsse sich überhaupt nicht
auf
die
Nahrungsaufnahme
beziehen,
sondern
könne
auch
andere
Formen
annehmen. Wichtig sei allein der Aspekt der Vorbereitung auf das Fest der
Menschwerdung
Gottes.
Ein
weiteres
Argument
für
die
Begehung
des
25.
Dezembers sei, dass man so in einer besseren Atmosphäre feiern könne als am
orthodoxen Datum, das von der Mehrheit der Russen zum Anlass für Saufgelage
genommen werde.
Wie ist der stark an die Orthodoxie angelehnte Charakter der SELC einzuordnen?
Diakon Pawel Chramov selbst erklärt den Übergang zur Hochkirchlichkeit auf
dreierlei Weisen. Erstens beruhe er auf der kanonischen Herkunft (s.o.) der Kirche
aus der Tradition des skandinavischen Luthertums, zweitens vollziehe sich hierin
eine Abgrenzung von anderen in Russland aktiven Protestanten wie Baptisten oder
Adventisten, und drittens bestehe wegen des „hohen Ausbildungsgrades“ der
Geistlichen
der
SELC
ein
großes
Interesse
an
altkirchlichen
Formen
und
Liturgiegeschichte. Von ihm ebenso wie von Pastor Lytkin wird außerdem ein eher
pragmatisch klingendes Argument genannt: Die Nähe zur Russischen Orthodoxen
Kirche erleichtere die Mission. Die besondere Kleidung der Geistlichen, die häufige
Verwendung von Kerzen und der Einsatz von Weihrauch an Feiertagen entspreche
17
den Vorstellungen von Russen darüber, wie eine Kirche sein müsse. Lytkin fügt noch
hinzu, dass die Kombination der ‚westlichen’ Elemente mit der stark betonten
Liturgie darüber hinaus der westlich ausgebildeten hiesigen Intelligenz entspräche.
Damit zeigt er implizit wiederum seine Sympathie für den ‚Osten’, denn der Liturgie,
dem nach dieser Sichtweise eigentlich Zentralen und Wichtigen, wird das ‚westliche’
eher aus (missions-) taktischen Motiven beigesellt. Man könnte fast davon sprechen,
dass
sich
die
Inkulturation
der
lutherischen
Gemeinde
in
den
russischen
(intellektuellen) Kontext paradoxerweise gerade darin äußert, dass man der
Intelligenzija durch die Hinzunahme lutherischer (‚westlicher’) Elemente in die
stärker ‚östlich’-orthodox geprägte (Ausgangs-) Form entgegenkommt!
Mir scheint die spezifische Verknüpfung von Luthertum und Orthodoxie ein Schlüssel
zum Verständnis der SELC zu sein. Bewusst oder unbewusst folgt die SELC der in
Russland verbreiteten Vorstellung, dass Russentum und Orthodoxie untrennbar
verbunden
seien.
Man
Nationalitätszugehörigkeit,
legt
z.B.
ja
wenn
durchaus
man
im
Wert
Internet
auf
die
betont,
eigene
nie
eine
amerikanische oder amerikanisch-russische Gruppe gewesen zu sein, sondern
immer russisch. Nach Angaben von Sergej Filatov, einem Experte für die
gegenwärtige religiöse Lage in Russland, ist der Pastor der SELC-Gemeinde in
Irkutsk, Vjačeslav Pljaskin, sogar ein ausgesprochener russischer Nationalist und
vertrete die These, Russland stehe auf zwei Säulen: Der Orthodoxie und dem
Luthertum.29
So übernimmt man zahlreiche Elemente der Orthodoxie, sowohl, weil sie den
eigenen Bedürfnissen entsprechen, als auch aus missionstaktischen Gründen.
Gerade weil die Russische Orthodoxe Kirche – gegenwärtig wohl leider nicht zu
Unrecht – im Ruf steht, ritualistisch zu sein, kann man durch die Annäherung in den
Adiaphora ein hervorstechendes Merkmal der Orthodoxie einfangen und dem
Bedürfnis nach Ritus, Feierlichkeit und Emotion, auch nach Mysterium und
Eingebundensein in die nicht allein irdische Kirche nachkommen. Zugleich aber
verbindet man dies mit typisch protestantischen Elementen gerade an den Punkten,
wo von vielen, vor allem Intellektuellen, ein Defizit der Russischen Orthodoxen
29
Filatov, Sergej/ Stepina, Aleksandra: Rossijskoe ljuteranstvo, in: Filatov, Sergej (Hg.): Religija i obščestvo.
Očerki religioznoj žizni sovremennoj Rossii [Religion und Gesellschaft. Skizzen des religiösen Lebens des
modernen Russland], Moskau/ St. Petersburg 2002, S.315-335, hier S.334. Den Leiter der Nowosibirsker Gemeinde,
Vsevolod Lytkin, bezeichnet Filatov als „russischen lutherischen Patrioten“; ebd., S.331.
18
Kirche
gesehen
wird:
Wichtig
ist
hier
vor
allem
die
Verständlichkeit
des
Gottesdienstes, der in der SELC in modernem Russisch gehalten wird und nicht im
schwer oder gar nicht verständlichen Kirchenslawischen wie in der orthodoxen
Kirche. Dies ermöglicht zugleich, dem Verlangen der aus einem atheistischen Umfeld
stammenden Menschen nach Information entgegenzukommen. Das Bildungsdefizit
der orthodoxen Kleriker wie auch der Gemeindeglieder wird oft beklagt. Nach
Mitteilung vieler Beobachter und auch vieler russischer Protestanten, die zuerst in
der Orthodoxie eine religiöse Heimat gesucht hatten, sind dort der ‚richtige’ äußere
Vollzug von Riten und das Wie wichtiger als das Verständnis des Warum. Praktizierte
orthodoxe Frömmigkeit im heutigen Russland stellt eher nonverbale Handlungen
(Sich-Bekreuzigen, Kerzen aufstellen etc.) oder die Wiederholung vorgegebener
Gebete in den Vordergrund, weniger oder gar nicht dagegen wortbezogene
Religiosität wie Bibellektüre oder gar den Austausch und Diskussionen über die
Bibel, theologische Fragen und Kirchengeschichte.30 Menschen mit Hochschulbildung
werden deshalb besonders von protestantischen Gemeinden angesprochen, in denen
es möglich ist, gemeinsam die Bibel und andere wichtige Texte der jeweiligen
Konfession zu lesen, zu fragen und darüber zu sprechen. Diese Möglichkeit besteht
in der SELC mit ihren wöchentlichen Bibelstunden und dem wöchentlichen Unterricht
über Luthers Kleinem Katechismus und die Confessio Augustana, außerdem
selbstverständlich durch die Predigt, die trotz aller Relativierung ein weitaus
größeres Gewicht behält als in orthodoxen Gottesdiensten. (In diesen wird oft genug
überhaupt nicht gepredigt.) Als weiteres Defizit der orthodoxen Kirche wird oft
genannt, dass in ihr die zwischenmenschliche Gemeinschaft zu kurz komme. Wer
einen orthodoxen Priester nach der Größe seiner Gemeinde fragt, bekommt in der
Regel die Anzahl der im Gebiet seiner Pfarrei wohnenden ethnischen Russen gesagt,
auf Nachfrage vielleicht den ungefähren Gottesdienstbesuch. Zu ihm kommen
30
Ein gutes Beispiel hierfür ist das in einer Auflage von 200.000 Exemplaren erschienene und weit verbreitete Buch
„Pravoslavie dlja vsech“ [Orthodoxie für alle], hg. Von Ieromonach Chariton (Prostorov) mit dem Segen von
Erzbischof Aleksandr von Kostroma und Galič, Kostroma 2000. In dieser Einführung in die Orthodoxie für
Menschen ohne Vorwissen begegnet die Bibel im sechs Seiten umfassenden Kapitel „Heilige Schrift.
Kirchenslawische Sprache“, wovon sich drei Seiten mit der Bibel beschäftigen und wo erklärt wird, in der
Russischen Orthodoxen Kirche werde nicht die Fassung in den Ursprachen verwendet, sondern in Kirchenslawisch.
Es folgen drei weitere Seiten Erklärung, warum in der Russischen Orthodoxen Kirche kein modernes Russisch
verwendet wird. Zum Vergleich: Das Unterkapitel über das richtige Verhalten in orthodoxen Kirchbauten ist neun
Seiten lang, das Kapitel über Wundertätige Ikonen der Gottesmutter 15 Seiten, über Fastenvorschriften 17, über
Begräbnis, Trauergottesdienste und Totengedenken 25, über Gottesdienst und göttliche Liturgie 37 und über die
Sakramente gar 90 Seiten.
19
nämlich Menschen, damit – wie es in der Sowjetsprache hieß – ihre ‚religiösen
Bedürfnisse befriedigt’ werden: z.B. durch die Teilnahme an der Liturgie, den
Empfang der Eucharistie oder die Beichte. Ein ausgeprägtes Gemeindeleben, bei
dem
sich
die
Gemeindeglieder
untereinander
kennen
und
unterstützen,
ist
zumindest in den Städten überaus selten. Bezeichnend ist, wenn z.B. in der bereits
zitierten empirischen Erhebung von 1999 nur je 3% der sich als gläubig
Bezeichnenden „oft“ oder „manchmal“ mit einem Priester reden, 61% dagegen
„nie“.31 In der SELC dagegen findet man Gemeinschaft oder die gewünschte
Beachtung
der
eigenen Person:
In
den Kreisen
der
Gemeinde
oder beim
gemeinsamen Teetrinken nach dem Gottesdienst, aber auch, wenn sich sonntags ein
Diakon Gebetsanliegen aus der Gemeinde zurufen lässt und diese unmittelbar
danach in das Fürbittengebet mit aufnimmt.32
Legt man ein religionssoziologisches Marktmodell zugrunde, so kann man sagen,
dass die SELC genau die Nische besetzt, die weder von der orthodoxen Kirche noch
von den ‚radikaleren’ Protestanten wie den Baptisten oder den in den 1990er Jahren
in Russland boomenden Charismatikern bedient wird. Sie verbindet nämlich einige
Vorzüge beider und erreicht damit die Zielgruppe intellektueller Russen, die
gleichzeitig Wert auf religiöses Wissen und die existenzielle Aneignung verbal
explizierbarer religiöser Weltbilder einerseits sowie Form und Ritus andererseits
legen, die als ‚echte Intellektuelle’ also nur schwer einen Zugang zur gegenwärtigen
Orthodoxie
finden33
und
als
‚echte
Russen’
keine
Heimat
bei
anderen
protestantischen Gruppen. Solch ein Modell beinhaltet die Prämisse, dass die
Attraktivität einer religiösen Gemeinschaft nicht nur – und wohl nicht einmal in
hohem Maße – von der fixierten Dogmatik und ihrer Überzeugungskraft ausgeht.
Dies bestätigt Diakon Chramov, wenn er angibt, nur von drei Gemeindegliedern zu
wissen, die sich wirklich aus dogmatischen Gründen gerade der SELC angeschlossen
haben.
Trotzdem bleibt die Frage bestehen: Wie verträgt sich der ja gleichwohl strikte
Konfessionalismus mit der ‚missionstaktisch geschickten’ Verbindung von Luthertum
31
Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.22.
Auch hier übrigens liegt die Parallelität zur orthodoxen Praxis auf der Hand, für Angehörige beten zu lassen. In
der orthodoxen Kirche schreibt man deren Namen allerdings auf und händigt den Zettel zusammen mit einer Spende
einer Mitarbeiterin der Kirche aus.
33
Anders als in den 1970er Jahren ist die orthodoxe Kirche heute vor allem eine Kirche der Rentnerinnen mit wenig
Bildung; vgl. Kääriäinen/ Furman (Hgg.): Starye cerkvi (Anm. 4), S.25-30.
32
20
und Orthodoxie? Dem eigenen Selbstverständnis nach will man ja nicht ein
‚marktkonformes’ Christentum kreieren und damit auf Kundenfang gehen. Im
Gegenteil ist man von der Wahrheit und Richtigkeit der eigenen Konfession ohne
Abstriche überzeugt. Man lebt im Bewusstsein, auch dort in Übereinstimmung mit
dem Konkordienbuch zu sein, wo man sich orthodoxen Einflüssen öffnet. Deutlich
allerdings sind dies nachgeschobene Erklärungen. Man prüft gewiss nicht zuerst,
welche Form von Heiligenverehrung schrift- und bekenntnisgemäß ist und führt
diese dann ein, sondern schaut, ob eine praktizierte oder gewünschte Form dem
Bekenntnis widerspricht oder akzeptabel ist. Trotzdem lässt sich vielleicht sagen,
dass der strenge Konfessionalismus gleichsam die Klammer bildet, die ‚westliche’
und ‚östliche’ (orthodoxe) Elemente zusammenhält. Denn indem man z.B. Ikonen
und
Heilige
theologisch-argumentativ
absichert,
u.a.
mit
Rückgriff
auf
die
Bekenntnisschriften und Melanchthon, werden diese in das lutherische Schema
eingeordnet. Der Bezugspunkt des eigenen Konfessionalismus ist damit nicht die
historische, empirisch entfaltete Konfession, die keine Heiligenverehrung kennt und
die Predigt in das Zentrum des Gottesdienstes stellt, sondern eine unhistorische
Matrix, die das ‚reine Luthertum’ als eine Sammlung von Schriften des 16. und 17.
Jahrhunderts versteht, die nichts von ihrer Reinheit einbüßt, wenn man in sie
Adiaphora einträgt wie eben Ikonen und Weihrauch. Auf der theoretischen Ebene
zeigt sich somit die Priorität des auf die lutherischen Bekenntnistexte bezogenen
Konfessionalismus vor der konkreten praktischen Ausgestaltung des kirchlichen
Lebens und der Theologie, obwohl systematisch-theologisch auch hier Spannungen
konstatiert werden müssten. In der Praxis dagegen scheint der primäre Rahmen
eher eine bestimmte nationale und schichtspezifische Kultur zu sein, trotz aller
Beteuerung, man wolle im Gegensatz zu ELKRAS und ELKIR keine Nationalkirche
aufbauen und sich von partikularen Kultureinflüssen freihalten.
Mordwinisches Luthertum
Wenden wir uns nach dem ‚russischen Luthertum’ Lytkins und der SELC dem
‚mordwinischen Luthertum’ der zwei Saransker ELKIR-Gemeinden zu, so müssen wir
uns noch einmal die wichtigsten Unterschiede in der Ausgangsposition vor Augen
halten. Handelt es sich bei den Nowosibirsker Inkulturationsprozessen um solche in
21
die
hegemoniale
Kultur
hinein,
so
ist
der
Bezugspunkt
in
Saransk
eine
marginalisierte Kultur, die – zumindest bei den hier vorgestellten Akteuren – sich
ihrer selbst bewusst wird und um Anerkennung und eine neue Blütezeit kämpft.
Deshalb erinnern die Rahmenbedingungen eher an postkoloniale Kontexte in Asien,
Afrika oder Amerika. Und bewegt sich die ‚russisch-lutherische’ SELC in einem
kulturellen Umfeld, das von einer ein Jahrtausend alten orthodoxen und einer
jahrzehntelangen atheistischen Prägung bestimmt ist, so handelt es sich im Fall von
Mordwinien um ein Volk, das nur oberflächlich und teilweise unter Einsatz von
Zwangsmitteln christianisiert wurde, wobei Christianisierung und Russifizierung oft
– zumindest langfristig – Hand in Hand gingen.34 So verwundert es nicht, dass die
sowjetische Atheisierung in Mordwinien eine ‚geistliche Verwüstung’ sowohl unter
den russisch-orthodoxen als auch unter den paganen Mordwinen anrichten konnte.
Doch zuerst einige grundlegende Informationen über Mordwinien, die in Deutschland
nicht vorausgesetzt werden können. Mordwinien ist eine Autonome Republik
innerhalb der Russländischen Föderation von einer Größe von ca. 26.000 km2, also
etwas größer als Mecklenburg-Vorpommern, auf dessen Höhe es auch liegt. Die
Hauptstadt Saransk befindet sich so nördlich wie Rostock, allerdings ca. 600 km
östlich von Moskau und damit zwar noch diesseits des Ural, aber schon auf dem
Längengrad Bagdads. In der eigenen Republik bilden die ethnischen Mordwinen eine
Minderheit von nur 32,5%, die Mehrheit sind Russen (60%), die drittgrößte
Volksgruppe stellen mit 5% die Tataren dar. Die Mordwinen sind aber nicht nur die
Minderheit in Mordwinien, es lebt auch nur eine Minderheit dieser Volksgruppe von
gut 300.000 Personen in der eigenen Republik – die übrigen 800.000 Mordwinen
wohnen in den angrenzenden Gebieten der Russländischen Föderation.35
Die Mordwinen gehören wie die benachbarten Udmurten und Mari und andere
kleinere Völker Russlands ebenso wie Finnen, Ungarn und Esten zur finnougrischen
Sprachfamilie. Das Mordwinische gliedert sich wiederum in zwei sprachliche
Untergruppen: In Mokša und Èrzja. Obwohl die Mordwinen seit dem 18. Jahrhundert
offiziell als orthodox gelten, haben sie lange ihren finnougrisch-paganen Glauben
und Ritus bewahrt, der von nichtprofessionellen Priesterinnen oder Priestern
34
Kappeler, Andreas: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 2001, S.35f. und
S.129.
35
N.S. Popov: Art. Mordvy verovanija [Der Glaube der Mordwinen], in: Religii narodov sovremennoj Rossii.
Slovar’ [Religionen der Völker des modernen Russland. Ein Wörterbuch], Moskau 1999, S.246-250, hier S.246f.
22
vollzogen wurde. Immer wieder kam es zu nationalen Bewegungen, die u.a. auch
die Stärkung des Heidentums und die Ablehnung des Christentums propagierten.
Der bekannteste Führer dieser Art war der Bauer Kuz’ma Alekseev, der „der
mordwinische
Gott“
genannt
wurde
und
die
weltweite
Verbreitung
des
mordwinischen Glaubens prophezeite. Die von ihm ausgelöste Bewegung wurde
1810 von der Regierung gewaltsam unterdrückt.36
Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert veranlasste die Russische Orthodoxe Kirche
die Übersetzung der Bibel und einiger Gebetsbücher ins Mordwinische – Ansätze, die
durch die Revolution 1917 zunichte gemacht wurden. In den 1990er Jahren wurden
aufgrund lutherischer Initiative Teile des Neuen Testaments in Stockholm übersetzt
und in Finnland herausgegeben. Eine vom örtlichen orthodoxen Bischof eingesetzte
Kommission zur Übersetzung der Liturgie arbeitet nach Angaben Aleksandr Ščipkovs
bisher ohne greifbare Resultate.37
Gegenwärtig ist Mordwinien von den Nachwirkungen der religionsfeindlichen
sowjetischen Politik bestimmt, obgleich auch hier natürlich einige den Glauben in der
orthodoxen Form oder Reste paganer Volkstraditionen erhalten haben. Dazu kommt
im Zuge der nationalen Renaissance seit der Perestrojka eine stärker werdende
neuheidnische Bewegung, die – im Wesentlichen von mordwinischen Intellektuellen
getragen – seit 1992 wieder öffentliche Anbetungsfeste durchführt und das eigene
Volk durch die Rückkehr zum Heidentum der Vorfahren aus der russischen (und
damit auch christlich-orthodoxen) Dominanz befreien will.
Solche neuheidnischen Strömungen finden sich nicht nur in Mordwinien, sondern
ebenso in den angrenzenden finnougrischen Republiken, in denen sich altes
Paganentum teilweise noch besser erhalten konnte. Auch hier strebt man im
ideologischen Vakuum nach 1991 und auf der Suche nach einer neuen (Volks-)
Identität in einigen Teilen der Bevölkerung zu einer (Re-) Konstruktion einer
spezifischen Volksreligion und -kultur. In stärkerem Maße als für Mordwinien kann
man z.B. im Blick auf die Republik Mari-El bzw. das Volk der Mari noch von einer
gewissen Kontinuität heidnischer Vorstellungen sprechen, obwohl pagane Riten von
den sowjetischen Behörden strafrechtlich verfolgt wurden. Die einzige offiziell
36
Popov: Art. Mordvy verovanija (Anm. 35), S.247f. Ščipkov, Aleksandr: Heidentum in Rußland. Kulturpolitische
Beobachtungen an einigen kleinen Völkern der Wolga-Finnen, in: Glaube in der 2. Welt 5/ 2001, S.18-24, hier S.19.
37
Popov: Art. Mordvy verovanija (Anm. 35), S.249. Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.19f.
23
genehmigte pagane Feier war 1949 ein öffentliches Ritual aus Anlass des Sieges
über Nazideutschland.38
Die
Entstehung
des
mordwinischen
Luthertums
ging
auf
die
Initiative
des
mordwinischen Künstlers Andrej Aleškin zurück, dessen Bruder Alexej amtierender
lutherischer Geistlicher in Saransk und einer meiner Informanten ist. Andrej Aleškin
machte Anfang der 1990er Jahre in St. Petersburg die Bekanntschaft des
ingermanländisch-finnischen
lutherischen
Pastors
Arvo
Survo
und
kam
zur
Überzeugung, dass das Luthertum nicht nur aus religiösen Gründen die wahre
Konfession sei, sondern auch wichtig für die nationale Zukunft der Mordwinen. Nach
den Informationen Aleksandr Ščipkovs und Sergej Filatovs hatte die erste
lutherische Gemeinde in Saransk, die 1991 behördlich registriert wurde, seit ihrer
Anfangszeit zwei „Gegner“: Einerseits die Russische Orthodoxe Kirche, die eine
antilutherische Kampagne startete, andererseits die Lutherische Kirche Finnlands.
Dieser
sei
die
Betonung
mordwinischer
Eigenheiten
und
der
eigenen
Selbstständigkeit ein Dorn im Auge gewesen. Die Mordwinen ihrerseits hätten der
finnischen Kirche Liberalismus vorgeworfen, weil man hier Frauen ordiniere,
„feministische
Theologie“
und
Homosexualität
dulde
und
ein
falsches
Abendmahlsverständnis habe. Die mordwinischen Lutheraner selbst hätten nämlich
laut Ščipkov und Filatov orthodoxe Sakramentsvorstellungen übernommen. So sei
es zur Abspaltung einer Helsinki-hörigen Gemeinde gekommen, während die andere
Gruppe sich als „Mordwinische Christliche Kirche nach dem Bekenntnis von Dr.
Martin Luther“ konstituiert habe, das nationale Moment betonend und das Adjektiv
„lutherisch“ scheuend. Ebenso habe man bei Missionsveranstaltungen auf dem
Lande nicht herausgestellt, dass man eine lutherische Gemeinde sei, sondern
gesagt, man bringe „mordwinisches Christentum“. Ein wichtiges Element dieser
Missionseinsätze
seien
die
Auftritte
eines
zum
Luthertum
konvertierten
Volksmusikensembles gewesen.39
38
Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.19-24. Filatov, Sergej/ Ščipkov, Aleksandr: Povolžskie narody v
poiskach nacional’noj very [Wolgavölker auf der Suche nach einem nationalen Glauben], in: Voroncova, L.M./
Pčelincev, A.W./ Filatov, S.B. (Hgg.): Religija i pravo čeloveka. Na puti k svobode sovesti III. [Religion und
Menschenrecht. Auf dem Weg zur Gewissensfreiheit III.], Moskau 1996, S.256-284, hier S.278f.
39
Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 35), S.19f. Filatov/ Ščipkov: Povolžskie narody (Anm. 38), S.261-264.
Ščipkov: Vo čto verit Rossija (Anm. 3), S.103-106. (Alle drei Aufsätze verarbeiten dasselbe Material.) Zuletzt
veröfentlichte Filatov entsprechendes Material in Filatov / Stepina: Rossijskoe ljuteranstvo (Anm.29), S.333-335.
24
Diese Informationen sind in einigen Punkten zu relativieren oder richtig zu stellen.40
Wenn ich sie dennoch so ausführlich wiedergegeben habe, dann deshalb, weil die
Aufsätze von Aleksandr Ščipkov und Sergej Filatov die meines Wissens einzigen
nicht von der ELKIR selbst für einen kleinen internen Leserkreis herausgegebenen
Informationen z.B. in kirchlichen Zeitschriften sind. Zuerst einmal muss gesagt
werden, dass die mordwinischen Lutheraner Teil der ELKIR sind und damit Teil der
Lutherischen Kirche finnischer Tradition in Russland, die enge Beziehungen zu
Finnland unterhält. In Saransk selbst arbeiten zur Zeit mehrere Finnen aus Finnland,
die mit ihrer Arbeit die örtlichen Gemeinden unterstützen wollen und von diesen
willkommen geheißen werden. Dies erklärt sich damit, dass der Nationalismus in
den Gemeinden die kulturelle Wiedergeburt des eigenen Volkes im Auge hat und
sich höchstens gegen Russland wendet, nicht aber gegen die finnougrischen
Brüdervölker, die vielmehr als Vorbilder gesehen werden. Die Konversion der
einheimischen Führungsriege zum Luthertum geschah gerade deshalb, weil man auf
der Suche nach einer Alternative zur russisch geprägten Orthodoxie sich am Vorbild
Finnlands und Estlands orientierte, wie mir die Geistlichen beider Gemeinden in
Saransk gesagt haben. Wenn man dennoch dem theologischen ‚Liberalismus’ in
Finnland kritisch gegenübersteht, ist dies schwerlich auf die spezifisch mordwinische
Situation zurückzuführen. Die gesamte ELKIR lehnt die Ordination von Frauen ab
und ist im Vergleich zu den westeuropäischen lutherischen Kirchen ausgesprochen
konservativ, was u.a. zu einer immer stärkeren Intensivierung der Beziehungen zur
LCMS geführt hat. So lehnt man selbstverständlich auch Homosexualität als
unbiblisch und sündhaft ab. Auch dies ist aber wiederum typisch für wohl fast alle
Christen in Russland und lässt sich aus der in der gesamten Gesellschaft
verbreiteten Verwerfung und Tabuisierung von Homosexualität erklären. Wenn
dieser Punkt als Unterschied zu Finnland betont wird, so muss zudem betont
werden, dass ja auch in Westeuropa – anders, als in Russland oft angenommen wird
–
alles
andere
als
ein
kirchlicher
Konsens
zugunsten
z.B.
der
Segnung
gleichgeschlechtlicher Paare besteht. Im Kontext der ELKIR wiederum ist Aleksej
Aleškin eher ein Vertreter des ‚linken Flügels’, wenn er mir gegenüber mit Verweis
40
Die Quelle für die folgenden Informationen sind die Notizen meiner zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnten
eigenen teilnehmenden Beobachtung im Juni 2001 sowie die Notizen der Gespräche mit den Pastoren der Saransker
Gemeinden.
25
auf Gal. 3,28 äußert, er selbst habe keine Bedenken gegen die Ordination von
Frauen. Diese werde in Russland letztlich allein aus kulturellen Gründen abgelehnt.
Ähnlich scheint mir auch in Bezug auf die Sakramentstheologie ein Missverständnis
vorzuliegen. Wenn nämlich in lutherischen Gemeinden in Russland – nicht nur in
Mordwinien! – Wert auf die Realpräsenz Christi im Abendmahl gelegt wird, so
entspricht das ja durchaus lutherischer Tradition und ist kein orthodoxer Einfluss. In
Gesprächen mit lutherischen Pfarrern verschiedener russländischer Kirchen habe ich
es nie erlebt, dass man die Realpräsenz mit Verweis auf die Orthodoxie verficht, oft
aber den Verweis auf Luthers Haltung im Marburger Religionsgespräch gehört.
Allerdings findet man in Russland des öfteren die Vorstellung, dass erst das
symbolische Verständnis des Abendmahls den Protestanten zu einem solchen
mache.41
Was die Bezeichnung der Kirche angeht, so erklärte mir Diakon Mikiž, die ELKIR sei
für eine Umbenennung der „Mokša-Èrzja Kirche“ (Mokša-Èrzjanskaja Cerkov’)
gewesen, die Gemeinde habe sich aber in verschiedenen Abstimmungen für die
Beibehaltung
des
Namens
ausgesprochen.
Die
in
der
Anfangszeit
fehlende
Bezeichnung „Evangelisch-lutherisch“ habe man später hinzugenommen, und zwar
nach
Vorwürfen
der
orthodoxen
Kirche
in
Zeitungsartikeln,
die
Gemeinde
„verheimliche“ ihre Konfession. Die Informationen Ščipkovs, der – so Mikiž – „eben
doch ein Orthodoxer“ sei, seien dagegen falsch – man habe sich als Lutheraner nie
verstecken wollen.
In der Darstellung meiner Interviewpartner Diakon Aleksej Aleškin und Diakon Mikiž
(mit bürgerlichem Namen: Vladimir Nikiforovič Mišin) stellt sich die kurze Geschichte
des mordwinischen Luthertums folgendermaßen dar: Diakon Mikiž betont, er sei
bereits 1990 unabhängig von den Aleškin-Brüdern zum Luthertum gekommen. In
einer persönlichen Krise habe er 1987 an seinem damaligen Wohnort in Kasachstan
Interesse am christlichen Glauben bekommen. Da er als Parteifunktionär zu keiner
Kirche gehen konnte, habe er die örtlichen Baptisten zu einem öffentlichen (Streit-)
Gespräch mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei über das Thema ‚Glaube und
Perestrojka’ eingeladen. Vielen der anwesenden Kommunisten seien die Tränen
41
So z.B. bei Guščina, Ekaterina: „Slovo Božie i Ljutera učenie...“. „Svoim blagočestiem i strogost’ju žizni
protestanty mnogo sposobstvovali očiščeniju nravov meždu pravoslavnymi...“ [„Gottes Wort und Luthers Lehr’...“.
„Durch ihre Frömmigkeit und die Strenge des Lebens trugen die Protestanten viel dazu bei, die Sitten unter den
26
gekommen, als sie die Lieder und Bibellesungen der Baptisten gehört hätten. Bei
dieser Gelegenheit habe er auch eine Bibel geschenkt bekommen und die ganze
Nacht darin gelesen. Durch die Bibellektüre sei er zum Schluss gekommen, dass die
Orthodoxe Kirche „vom Menschen, nicht von Gott“ sei, und habe nach einer
Alternative gesucht. Weil er sich an den Brüdervölkern der Mordwinen orientieren
wollte, sei er 1990 in die finnische Botschaft gegangen, wo es aber keinen
Zuständigen für Kirchenfragen gegeben habe. Zur Keimzelle einer lutherischen
Gemeinde in Saransk, wohin er mittlerweile gezogen war, sei dann die Organisation
zur nationalen Renaissance geworden, in der er und der bereits erwähnte
lutherische Ingermanländer Arvo Survo gepredigt hätten. Noch vor der behördlichen
Registrierung der Gemeinde am 5. November 1991, nämlich im Februar desselben
Jahres, habe er mit der Ausbildung zum Diakon begonnen, dem in der ELKIR
zweiten geistlichen Rang vor dem des Katecheten und nach dem des Pastors. Die
Handauflegung und damit Einführung ins Diakonat sei im Januar 1992 erfolgt.
Anscheinend beabsichtigt Diakon Mikiž mit dieser Darstellung, seine eigene
Bedeutung für das mordwinische Luthertum zu unterstreichen, indem er seine
eigene Konversation früher ansetzt als die Andrej Aleškins, den er nicht erwähnt.
Trotzdem scheint das Verhältnis zur anderen, von Aleksej Aleškin geleiteten
lutherischen Gemeinde im Ort nicht schlecht zu sein. Die Gründung einer zweiten
Pfarrei im Ort im Jahre 1994 sei keine Spaltung gewesen, so Mikiž. Es sei doch umso
besser, je mehr Pfarreien es gebe, außerdem setze man verschiedene Akzente und
verwende verschiedene mordwinische Dialekte als Gottesdienstsprache. Aleksej
Aleškin bestätigt, dass es keine Feindschaft zwischen den Gemeinden gebe, betont
aber zugleich stärker die Unterschiede, die der Grund für die Trennung gewesen
seien. So sei etwa das Bildungsniveau der beiden Gemeinden sehr unterschiedlich,
in
seiner
Gemeinde
hätten
80-85
%
Hochschulbildung,
von
30
aktiven
Gemeindegliedern 12 den akademischen Grad eines „Kandidaten“ (d.h., sie haben
nach dem eigentlichen Universitätsabschluss noch eine der Doktor-Dissertation
vorgeordnete Kandidaten-Dissertation verfasst). Darüber hinaus begehe man in
seiner Gemeinde Feiertage wie den Tag der finnischen Sprache, den Tag der
estnischen Kultur oder den Tag der Bachmusik, während Diakon Mikiž nur geistliche
Orthodoxen zu säubern“], in: Nezavisimaja Gazeta – Religii, 27.9.2000; aus: http://religion.ng.ru/confessions/200009-27/4_luterstudy.html, 11.07.01, ohne Seitenzählung.
27
Akzente setzen würde. Aleškin dagegen wolle mit seiner Gemeinde auch dem
Mangel an Geistigem entgegenwirken und verstünden die Kirche als ein Haus, wo
man moralisch und geistig wachsen könne, als eine Familie, die nicht nur zusammen
bete und dann auseinandergehe, sondern die auch darüber hinaus Gemeinschaft
pflege und sich gegenseitig Trost und Hilfe spende. Die andere Gemeinde setze auch
weniger Gewicht auf die Pflege mordwinischer Kultur, wenngleich dort ebenfalls die
mordwinische Sprache benutzt wird.
Obwohl Aleškin den religiösen Akzent der Gemeinde Mikižs betont, ist doch bei
beiden das national(istisch)e Moment stark ausgeprägt. Bei Diakon Mikiž wird dies ja
schon deutlich in seiner Teilnahme an der säkularen Bewegung zur nationalen
Wiedergeburt, aus der heraus seine Gemeinde entstanden ist. Auch sein geistlicher
Name Mikiž, den er bei der Einsegnung zum Diakon angenommen hat, macht dies
deutlich. Sein bürgerlicher Name Vladimir (russ.: Beherrsche die Welt) nämlich sei
heidnisch, Mikiž dagegen [!] mordwinisch. Logisch scheint dies nicht unbedingt,
müsste doch der Gegensatz zu „heidnisch“ „christlich“ sein. Es liegt näher, den
Gegensatz „russisch“ – „mordwinisch“ als eigentliches Motiv der Umbenennung
anzusehen, nicht nur, weil dies die Annahme des neuen Namens erklärt, es macht
auch die Ablehnung des alten Namens plausibler. Denn der nicht nur unter
orthodoxen Russen hochverehrte Fürst Vladimir von Kiew war es, der vor gut
tausend Jahren die orthodoxe Christianisierung des Landes veranlasste.
Hier
zeigt
sich
eine
Verbindung
von
Luthertum
und
Mordwinentum
in
Gegenüberstellung zur abgelehnten Orthodoxie, die auch andernorts deutlich wird.
Etwa spreche doch – so Mikiž – schon die Situation in den orthodoxen Ländern
gegen die Orthodoxie. Denn diese seien arm, ihre Geschichte bestimmt von
Revolution und Blut, Russland im besonderen voll von „Bettlern und Säufern“. Seine
Erklärung: „Wo die Wahrheit Gottes nicht ist, da regiert der Teufel.“ Vergleiche man
die orthodoxen Staaten mit Schweden, Finnland, Deutschland oder Amerika [!], so
sehe man doch gleich, dass es in den lutherisch geprägten Ländern besser gehe.
Ähnlich Aleškin, der diesen Gedanken weiterführt und einen Gegensatz der
Volkscharaktere
konstruiert:
Dort
der
russische
hierarchische
„orthodoxe
Totalitarismus“ einschließlich dem der Sowjetunion, der zu Zerstörung, ökologischen
Katastrophen, Armut und Alkoholismus geführt habe, hier die demokratische, den
Wert des Individuums betonende Tradition der lutherischen Länder einerseits und
28
der mit einigen ‚lutherischen Völkern’ ethnisch verwandten Mordwinen andererseits.
Demokratie und ökologisches Bewusstsein findet er im mordwinischen Charakter,
weil die Mordwinen in der Geschichte ihre (heidnischen) Priester stets gewählt und
die Einheit des Menschen mit der Natur gelebt hätten.
Dass
bei
solchen
Gedankengängen
der
Nationalismus
und
der
nationale
Antagonismus zu Russland den konfessionellen Gegensatz oft überlagert, überrascht
nicht. Aleškin betont immer wieder die „Liebe zum Heimatland, zum heimatlichen
Ofen, zur Heimaterde“ und nicht „zu Moskau, dem Roten Platz oder Nowosibirsk“.
Wohl aus diesem Grund betont er auch das angeblich Großartige in der Geschichte
Mordwiniens dort, wo kein Bezug zu Christentum oder Luthertum herzustellen ist.
So sei z.B. der Name der Mordwinen vom Lateinischen herzuleiten und bedeute
„Todbringer“ [wohl von „mors“ und „dare“]. Sie hätten viel „Wikingerblut“ in sich
und seien gefürchtete Krieger gewesen, die sich im Kampf weder hätten gefangen
nehmen lassen noch Gefangene gemacht hätten. Im Zweiten Weltkrieg sei es sogar
ein Mordwine gewesen, der in den Diensten der Deutschen Wehrmacht die Truppen
bei der Eroberung von Paris befehligt hätte. Dies habe eine Bekannte von ihm in
einem Zeitungsartikel nachgewiesen, der zwar durch die Redaktion solange
überarbeitet wurde, bis die Aussage gegen den mordwinischen Offizier und
ausreichend antinazistisch geworden sei, wer aber „zwischen den Zeilen lesen“
könne, verstehe trotzdem noch die eigentliche Pointe: Es sei eine Lüge der Russen,
dass die Mordwinen immer ein Volk von Sklaven waren. Mir gegenüber gebraucht
Aleškin häufiger den Vergleich eines von China okkupierten Deutschland, in dem die
Menschen chinesische Sprache, Kultur und Literatur übernehmen und ihre eigene
Identität aufgeben müssten oder zumindest ihre Sprache – wenn ihnen deren
Gebrauch erlaubt sei – in fernöstlichen Schriftzeichen schreiben.42
In dieses Weltbild wird nun auch das Luthertum eingebaut, das ja erst seit zehn
Jahren in Mordwinien präsent ist. Rückblickend stellt Aleškin fest, dass in der Zeit
der Stalinschen Repressionen der Zusammenhalt des Volkes gefehlt habe, weil es
keinen
Glauben und keine Bibel in der Muttersprache hatte. Was in der
mordwinischen Geschichte fehlte, war ein Martin Luther. Dieser habe das deutsche
Volk gleichzeitig geeint, indem er durch seine Bibelübersetzung die deutschen
42
Mordwinische Nationalisten setzen sich dafür ein, Mordwinisch mit lateinischen statt mit kyrillischen Buchstaben
zu schreiben.
29
Dialekte in eine gemeinsame Schriftsprache geführt habe, und das Volk religiös
erneuert, indem er ihm eben diese Bibel in der Volkssprache geschenkt habe. Doch
was bisher gefehlt habe, werde Gott dem mordwinischen Volke schenken: Einen
neuen Luther, der zugleich die mordwinischen Dialekte Mokša und Èrzja zu einer
gemeinsamen Schriftsprache vereine, damit das Volk erst zum Volke mache und ihm
zugleich „seine“ Bibel schenke. Hätte man eine solche Bibel in der eigenen Sprache,
so Aleškin, würde man mit ihr auch Sprachunterricht durchführen, sowohl für die
assimilierten Mordwinen, als auch für im Lande lebende Russen u.a. Völker. Auch
hier wird der enge Zusammenhang von Konfession und Nation deutlich, der übrigens
auch bei anderen Völkern Russlands zu beobachten ist.43
Noch ausführlicher vertritt den Gedanken der Volkwerdung durch Reformation der
Kantor der Gemeinde, Aleksandr Sergeevič Kizaev (Pseudonym: Kizaj), der sich
selbst als Musiker, Komponist, Künstler, Philosoph und Reformer der mordwinischen
Sprache vorstellt. Alle diese Talente stellt er in den Dienst der Renaissance seines
Volkes. Er komponiert Nationalopern, geistliche Chorwerke, Filmmusiken und
mordwinische Musik für Gitarre und Panflöte, die auch im Gottesdienst zum Einsatz
kommt, er schreibt kleine literarisch-philosophische Texte in einer von ihm
geschaffenen Literatursprache, die die beiden mordwinischen Dialekte vereine (und
für die er auch Wörterbücher erstellt), und er hat bereits ein Buch „Predigt in
Graphiken“ herausgegeben. Diese Graphiken seien finnougrisch nicht nur, weil sie
traditionelle Formen finnougrischer Volkskunst aufnähmen, sondern auch, weil sie
konkret seien wie etwa auch die deutsche Kunst eines Lukas Cranach und nicht wie
die „slawische Kunst“ aus Andeutungen und Schmuck bestünden, hinter denen der
Inhalt „verborgen“ sei. Mit dieser Kunst wolle er das Gute im Menschen wecken, was
nur konkrete Kunst könne. Sei Malerei unklar, wie eben z.B. die „slawische“, dann
wecke sie Unklares und damit Gutes wie Schlechtes.
Auch Kizajs Weltbild stellt Mordwinien und Russland in einen klaren Gegensatz. Noch
ausgeprägter als meine anderen Gesprächspartner scheint er in Russland den
bedrohlichen Feind zu sehen, der mit großem Interesse die Entwicklungen in
43
In einigen lutherischen Gemeinden der ELKRAS z.B. gibt es Deutschunterricht mit der Lutherbibel als
‚Lehrbuch’. Dabei ist aber eher der Deutschunterricht das ‚Lockmittel’, um Menschen an die Bibel heranzuführen –
ähnlich der Strategie vieler amerikanischer Missionare, die mit kostenlosen Englischkursen werben –, nicht wie im
Falle von Mordwinien anscheinend umgekehrt: Die Menschen sollen zur mordwinischen Sprache geführt werden.
Ähnliche Versuche, Luthertum und ein ursprünglich nichtlutherisches finnougrisches Volk zusammenzubringen,
werden im übrigen aus der Republik Komi berichtet; Filatov / Stepina: Rossijskoe ljuteranstvo (Anm.29), S.333.
30
Saransk verfolge. So meint er etwa, in Moskau werde „nichts mehr gefürchtet als
die Vereinigung der beiden mordwinischen Sprachen“ zu einer gemeinsamen
Schriftsprache. Wenn Kizaj betont, der notwendige „mordwinische Luther“ müsse,
um eine gute Übersetzung der Bibel erstellen zu können, wie der deutsche Luther
zugleich Schriftsteller, Philosoph und Komponist – und natürlich ein gläubiger
Mensch – sein, so fragt man sich, ob sich Kizaj selbst in dieser Rolle sieht. Das aber
weist er von sich: Die Reform der Sprache, an der man zur Zeit arbeite, sei nur die
notwendige Voraussetzung für eine behelfsmäßige Übersetzung. Diese solle dann die
bisherigen Versuche von „atheistischen Professoren“ ablösen, die sich zudem eng an
die seiner Meinung nach fehlerhafte offizielle russische Übersetzung hielten.
So wird also Martin Luther beinahe zu einer soteriologischen Gestalt. Er, der ‚Erlöser’
der Deutschen von Rom, der ein neues (Volks-) Leben geschaffen hat, wird als
Luther redivivus in Mordwinien erwartet, wo er das Volk ebenfalls schaffen und von
der (russischen) Fremdherrschaft zumindest kulturell und religiös befreien soll
(politische Unabhängigkeit des Landes fordert in meinem Beisein niemand). Diese
Interpretation wird gestützt durch mehrere mehr oder weniger mythologische
Erzählungen, auf die man Wert zu legen scheint und die alle von der Struktur sind,
dass „Weiße“ (Mittel-/ Westeuropäer) ihre Verwandten, die Mordwinen, von den
„Schwarzen“ (Tataren, Russen, also ‚Ostler’) befreien helfen. Solch eine „weiße“
westliche Rettergestalt wäre nach dieser Sicht dann auch Martin Luther.
Welche Position nimmt in der Sicht der Vertreter des örtlichen Luthertums in
Saransk aber die russische Bevölkerung ein, die ja immerhin die Mehrheit in der
Republik bildet? Aleškin betont, in seiner Gemeinde seien auch Russen, Tataren,
Juden und Angehörige anderer Völker. Im Glauben seien alle Brüder und Schwestern
und somit eine große Familie. Diakon Mikiž erzählt, zu Beginn hätte man die
Gottesdienste
ausschließlich
auf
Mordwinisch
gehalten,
sei
aber
dann
dazu
übergegangen, auch Russisch zu verwenden. Schon wenn nur ein Russe anwesend
sei, übersetze er alles, um verstanden zu werden. Damit sich die neuen Besucher
seiner Gottesdienste am Gottesdienst beteiligen können, hängen im Bethaus
großformatig das Apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in Russisch
und Mokša. Die Spannung zwischen der Offenheit für Nichtmordwinen einerseits und
der starken Betonung des Nationalen andererseits scheint dem Führungspersonal
der Gemeinden nicht bewusst zu sein. Bei Gesprächen mit Gemeindegliedern nach
31
dem Gottesdienst dagegen war ich überrascht, wie wenig Wert vor allem junge
Menschen auf das mordwinische Moment legen. Für sie stehen Glaube und
Gemeinschaft eindeutig im Vordergrund. Vielleicht ermöglicht die Tatsache, dass in
der Praxis das Gewicht nationalistischer Politik in den Hintergrund tritt, die Lösung
der theoretisch bestehenden Spannung.
Andererseits bleibt das vordergründig zuweilen propagierte Miteinander mit den
Russen zumindest außerhalb der eigenen Gemeinde durchaus ambivalent. Deutlich
wird dies etwa, wenn Diakon Aleškin im Gottesdienst nicht nur für die Obrigkeit und
den ELKIR-Bischof, sondern auch für den örtlichen orthodoxen Bischof betet. Auf
Nachfrage erklärt er dann, man solle ja auch für die Feinde beten – nicht, dass er
den Bischof als Feind betrachte, zumindest hoffe er, dass dieser kein solcher sei,
trotz der massiven verbalen Angriffe auf die Lutheraner (aber, so scheint er sagen
zu wollen, sicher könne man sich nicht sein). Überhaupt müsse man beten, dass alle
Kirchen näher zu Gott kämen, auch die orthodoxe (die – so hier wohl die suggerierte
Pointe – augenscheinlich noch einen weiteren Weg vor sich hat). Und wenn sie „Gott
in Wahrheit predigen“, dann (aber anscheinend auch erst dann) „sind sie auch
unsere Brüder“.
Die Rede von der Überwindung der nationalen Gegensätze in Christus wird auch
relativiert, wenn Aleškin von seinem guten Verhältnis zur neuheidnischen Bewegung
erzählt und diese der Orthodoxie gegenüberstellt. Mit vielen Vertretern der
Neopaganen sei er befreundet, und es gebe gemeinsame Treffen. Die Vertreter einer
revitalisierten traditionellen mordwinischen Religion interessierten sich dafür, wie die
Lutheraner in Mordwinisch predigten, und er nehme mit seiner Frau im Gegenzug an
deren heidnischen Opferfesten teil. Trotz der religiösen Unterschiede bewundere er,
dass diesen Menschen das Schicksal des Volkes am Herzen liege und es ihnen,
anders als der orthodoxen Kirche, „nicht egal“ sei, „wenn nebenan jemand [=das
mordwinische Volk] stirbt.“
Zukunftsaussichten der Sibirischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und
des mordwinischen Luthertums
32
Wagen wir einen Blick nach vorn. Welche Zukunftsaussichten sind für die SELC und
für das mordwinische Luthertum wahrscheinlich?44
Die SELC hat m.E. ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft. Da sie eine
‚Marktnische’ besetzt, wird sie sicher in allen Städten, in denen sie Missionen
aufbaut,
Anhänger
finden
–
ungeachtet
der
für
westliche
Augen
nicht
spannungsfreien Verknüpfung von Luthertum und Orthodoxie, oder besser gesagt:
gerade wegen dieser Verknüpfung. Wie oben dargestellt, macht wohl besonders
diese Verbindung von ‚Vorteilen’ beider Konfessionen die SELC für eine bestimmte
Zielgruppe (intellektuelle Russen) attraktiv. Potentielle Mitglieder werden den
konfessionalistischen Zug ebenfalls weniger als in Spannung zur ‚synkretistischen’
Praxis stehend empfinden, vielmehr wird dieser einem latenten (postsowjetischen)
russländischen Fundamentalismus und seinem Wunsch nach Eindeutigkeit und
ideologischer Klarheit entsprechen.
Auch die lutherischen Gemeinden in Mordwinien haben gewiss noch eine große
potentielle Klientel. Dabei muss aber bedacht werden, dass die mordwinischen
Lutheraner in den 1990er Jahren im Unterschied zur SELC keine Wachstumsraten zu
verzeichnen hatten. Laut Diakon Mikiž haben in der Anfangszeit, also 1991/ 1992,
22 Menschen durch Unterschrift ihre Gemeindezugehörigkeit bestätigt und so die
behördliche Registrierung ermöglicht. In den Gottesdiensten seien aber bis zu über
300 Personen (an Feiertagen) gewesen. Heute kämen sonntags 30 bis 50 Menschen
(am 25. Juni, als ich mit ihm gesprochen habe, seien nur 18 da gewesen, der harte
Kern). Im Gottesdienst von Diakon Aleškin habe ich 18 Leute gezählt, darunter
einen finnischen Missionspastor mit Frau und eine weitere finnische Missionarin. Von
einem Wachstum der Gemeinden in Saransk kann also kaum gesprochen werden.
Auch die Mission auf den umliegenden Dörfern scheint – anders als die der SELC –
nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein. Zwar predigt Mikiž hier und „viele“
44
Nicht berücksichtigt werden hier ethische Fragen, die sich aus der Tätigkeit lutherischen Kirchen in Russland
ergeben. Wie auch im Westen mittlerweile weithin bekannt ist, fühlt sich die Russische Orthodoxe Kirche durch die
Arbeit anderer Kirchen im Lande bedroht, zumal, wenn diese aus Menschen traditionell orthodoxer Völker bestehen
und unter solchen missionieren. Das Argument, dass nichtorthodoxe Christen faktisch eine momentane Position der
Schwäche nach jahrzehntelanger sowjetischer Herrschaft ausnutzen und damit die Russische Orthodoxe Kirche
schädigen, mag dies den Akteuren bewusst sein oder nicht, ist nicht von der Hand zu weisen. Da der vorliegende
Aufsatz keine ethischen Wertungen intendiert, sollen nicht Argumente der lutherischen Kirche für ihr Wirken mit
denen aus orthodoxen Kreisen konfrontiert und abgewogen werden. In einem Aufsatz, der Deskription und
verstehende Interpretation der beobachteten Phänomene verbindet, ist aber darauf hinzuweisen, dass eine
Verschärfung zwischenkonfessioneller Spannungen eine Folge des Wachstums der untersuchten lutherischen
Gemeinden sein kann.
33
Leute wollten auch eine Kirche und einen Prediger, würden aber selbst nichts
aufbauen und nur auf die Initiative von anderen warten. Auch Aleškin bestätigt zwar
die Information von Ščipkov und Filatov, dass es Missionskonzerte einer zum
Luthertum konvertierten Folklore-Gruppe gebe, aber auch diese scheinen keine
großen Erfolge bewirkt zu haben.
Darüber hinaus zeigt die gesamtrussländische Entwicklung, dass insgesamt kein
gutes Klima für verbindliche Religiosität besteht, sondern der Trend eher zu
‚Patchwork’-Religiosität ohne institutionelle Anbindung geht. Gemessen an der
Gesamtzahl der Einwohner sind deshalb die mit ihrer Kirche verbundenen Gläubigen
aller Konfessionen in einer Minderheitenposition. Daher ist für sogar für die SELC
von keinen herausragenden Wachstumsquoten auszugehen, obwohl sie die im
Vergleich zu den mordwinischen Gemeinden besseren Chancen besitzt. Mir scheint
dennoch die Prognose realistisch, dass sich die SELC stabilisieren kann und die Zahl
ihrer
Gemeinden
und
Mitglieder
weiter
steigern
wird.
Aus
den
Missionsanstrengungen werden wahrscheinlich intellektuelle Großstadtgemeinden
von einigen Duzend bis wenigen hundert Mitgliedern hervorgehen. Abhängig von der
finanziellen Lage der Kirche kann sich dieses Wachstum schneller oder langsamer
vollziehen. Hierfür ist vor allem die zukünftige Missionsstrategie der Missouri Synod
für Russland sowie die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort entscheidend. Wird sich
ein Mittelstand herausbilden – zur Zeit gehören Akademiker in ihren typischen
Berufen wie Lehrerinnen oder Ärzte zum unteren Ende der sozialen Leiter! –, so wird
auch die finanzielle Ausstattung für den Unterhalt und Ausbau der Gemeinden nicht
fehlen. Für die nahe Zukunft allerdings ist davon nicht auszugehen.
Erst recht werden die Zukunftsaussichten des mordwinischen Luthertums vom
religionssoziologischen Makroklima negativ beeinflusst werden. Wenn Ščipkov die
Frage stellt, ob „dieses Luthertum in Mordwinien ein modischer Renner ist oder aber
Zukunft hat“,45 so scheint die Antwort nicht in dieser Alternative zu liegen. Von
einem „modischen Renner“ kann unter den oben skizzierten Bedingungen nicht die
Rede sein. Trotzdem ist anzunehmen, dass die Kirche Zukunft hat, da auch ihr
Potential
noch
nicht
ausgeschöpft
ist.
Allerdings
wird
die
Betonung
des
Mordwinischen eher ein Wachstumshemmnis sein, da damit die Zielgruppe stark
eingegrenzt wird – anders als im Falle der SELC, die mit ihrem ‚russischen
45
Ščipkov: Heidentum in Rußland (Anm. 36), S.20.
34
Luthertum’ die Mehrheitsbevölkerung anspricht und das nationale Moment darüber
hinaus auch weniger explizit betont. Außerdem kommt man sich beim Werben um
die in absoluten Zahlen ja auch nicht sehr zahlreichen religiös interessierten und
zugleich nationalbewussten Mordwinen mit den ansässigen Neuheiden in die Quere.
Ebenfalls zu beachten bleibt auch hier wieder, dass in Mordwinien wie in der übrigen
ehemaligen Sowjetunion die beliebtesten religiösen Varianten immer noch (wenn
nicht Atheismus so doch zumindest) Agnostizismus und religiöse Indifferenz oder
‚postmodern’ synkretistische Religiosität sind, nicht aber institutionalisierte Formen
von Glauben.
Da die Beobachtung andererseits zeigt, dass jede Kirche im gegenwärtigen Russland
wächst, die einladendes Christentum praktiziert und ein lebendiges Gemeindeleben
vorweisen kann, besteht gleichwohl die Möglichkeit, dass man mit entsprechender
Arbeit auf den bislang religiös unterversorgten Dörfern durchaus noch Potentiale
ausschöpfen kann. Allerdings fehlen bisher die notwendigen sprachkundigen
Mitarbeiter und Gelder. Zumindest erstere fehlen – anders als in der SELC – und
können den Mordwinen kaum von der Missouri Synod oder anderen ausländischen
Organisationen bereitgestellt werden. So scheint die Stärke und Attraktivität des
mordwinischen
Luthertums,
das
erstmals
der
einheimischen
Bevölkerung
Christentum in der Muttersprache bringt und das den Wert der mordwinischen
Kultur betont, zugleich das größte Wachstumshindernis zu sein. Will man sich nicht
von Erfolg oder Misserfolg der nationalen Bewegung im Ganzen abhängig machen,
müsste man, wie es in der Praxis zumindest an der Basis ja anscheinend schon
geschieht, die nationale Rhetorik zurücknehmen und stärker auf alle in der Republik
lebenden Menschen eingehen.
Spezifika lutherischer Inkulturation im postsowjetischen Russland
Überspitzt könnte man die beiden behandelten Kirchen durch folgende Bilder
charakterisieren:
In
Nowosibirsk
steht
der
lutherische
Priester
Weihrauch
schwenkend vor der Ikonostase und betet zum Heiligen Dietrich (Bonhoeffer),
während
sein
Saransker
Amtskollege
in
den
mordwinischen
Wäldern
den
mordwinischen Göttern opfernd die Wiederkehr Luthers in das heilige Land
Mordwinien erwartet.
35
Deutlich wird durch diese Karikaturen meines Erachtens die Besonderheit der beiden
Kirchen.
Bedingt
durch
die
historisch
gesehen
‚unzeitgemäße
Geburt’
des
Luthertums in Nowosibirsk und Saransk unterscheidet sich die konkrete Ausprägung
in hohem Maße von der in Mittel- und Westeuropa. Man geht intensiv auf kulturelle
Besonderheiten ein, was zu Formen führt, die den übrigen Lutheranerinnen und
Lutheranern in Europa mindestens fremd sind, und man ist sich dessen auch
bewusst.
Dies
betrifft
weltanschauliche
im
Falle
Dimension
der
von
Saransk
Religion.
vor
allem
die
ideologische/
Dabei ist zu beachten, dass der
Verknüpfung von Luther- mit Mordwinentum ebenso wie der von Luther- mit
Russentum spezifische Konstruktionen zugrunde liegen: So schätzt man in Saransk
Luther als den Nationalhelden und Freiheitskämpfer und verbindet diese partikulare
Sicht mit der Konstruktion eines ‚seinem Volkscharakter nach’ demokratischen,
ökologischen, nüchternen und das Individuum hochachtenden Mordwinien. Auch in
der SELC erscheinen einige zentrale Anliegen Luthers allenfalls am Rande, z.B. die
Bedeutung der Predigt oder des allgemeinen Priestertums. Luthertum bedeutet in
erster Linie eine in den Bekenntnisschriften fixierte Lehre, die auch hier wiederum
mit zum (diesmal russischen) ‚Volkscharakter’ gehörenden Elementen verbunden
wird. Dabei steht der ‚Orthodoxität’ des ‚Volkscharakters’ entsprechend die rituelle,
nicht die ideologische Dimension im Vordergrund: Man betont Ritus, Liturgie und
Sakrament, wie man es aus der orthodoxen Umwelt gewohnt ist. In beiden Fällen
also rezipiert man Luthertum in der Form, wie sie dem eigenen Kontext kompatibel
erscheint,
und
Selbstdefinition
bekommt
im
wegen
Endeffekt
der
zwei
Unterschiede
Formen
einer
der
eigenen
Konfession,
ethnischen
die
sich
in
entscheidenden Punkten unterscheiden, wenn nicht gar widersprechen.
Kann
man
trotz
dieses
Befundes
von
einem
typischen
Zug
der
Inkulturationsprozesse im gegenwärtigen russländischen Luthertum sprechen? Ich
denke, ja. Denn es wird deutlich, wie sehr man nicht nur vom mordwinischen bzw.
russischen Kontext bestimmt ist, in den hinein die Inkulturation bewusst geschehen
soll, sondern darüber hinaus (und vielleicht vor allem) von der postsowjetischen
Situation. Diese ist gekennzeichnet durch ein ideologisches Vakuum und durch die
Versuche, sich in der Umbruchzeit seiner selbst zu vergewissern auf dem Wege der
Verortung in der jeweiligen nationalen Kultur. Seit die Sowjetideologie als zu sandig
für ein Identitätsfundament gilt, gräbt man historisch tiefer in der Hoffnung, auf
36
vorrevolutionären (orthodoxen, muslimischen oder sogar heidnischen) Fels zu
stoßen, oder man reichert – um im Bild zu bleiben – den weiterhin sichtbaren
sowjetischen Sand mit festigenden Versatzstücken unterschiedlichster politischer,
philosophischer, nationalistischer oder religiöser Ideologien an. Ein wichtiges dieser
Elemente ist dann durchaus auch das ‚westliche’ (Parlamentarismus, Demokratie,
Individualismus etc.), das ja ebenfalls in der russländischen Geschichte verankert ist
– man denke nur an die Westorientierung unter Peter I. oder Katharina der Großen,
an die Diskussionen zwischen ‚Westlern’ und ‚Slawophilen’ oder den gleichfalls
‚westlichen’ Marxismus. Das ‚westliche’ an der russländischen ‚Präsidialdemokratie’
im Unterschied zu Zarismus oder Sowjetsystem ist heute weitgehender Konsens.
Doch zuerst einmal beziehen Russen sich auf ‚echt Russisches’, etwa auf die
Orthodoxe Kirche (oder auch auf alte slawische Götter), auf Puschkin, Pasternak –
oder Gorkij – oder auf die Geschichte der russländischen Staatlichkeit und seine
herausragenden Protagonisten. Als solche gelten dann, wobei je nach Standpunkt
verschiedene Akzente gesetzt werden können: Großfürst Vladimir, Peter der Große,
die letzte Zarenfamilie, Lenin, Stalin u.a. Dass man sich bei der Mischung der jeweils
bevorzugten Ingredienzien nicht an die überkommene politische Unterteilung in
‚rechts’ und ‚links’ halten muss, zeigen z.B. die Großprojekte, die in den letzten
Jahren unter Moskaus Bürgermeister Lužkov entstanden sind: Der Wiederaufbau der
prunkvollen Christ-Erlöser-Kathedrale, ein völlig überproportioniertes Denkmal
Peters
I.
als
Zar
und
Zimmermann
auf
einem
Segelschiff
stehend,
der
gigantomanische Siegespark, gebaut aus Anlass des 50. Jahrestages des Triumphes
im ‚Großen Vaterländischen Krieg’.46
Als Variante einer derartigen postsowjetischen Selbstdefinition kann man m.E. auch
das
‚russische
Strukturmerkmal
Luthertum’
der
gegenwärtiger
SELC
deuten,
russländischer
da
auch
hier
das
Identitätsfindung
zentrale
erscheint:
Rückgriff auf alte russische (d.h. auch: orthodoxe) Tradition, verbunden mit
‚westlichen’ Elementen. Den Erfolg der SELC scheint es ja gerade auszumachen,
dass
man
die
Vorteile
des
Protestantismus
in
seiner
am
stärksten
‚orthodoxiekompatiblen Form’, der lutherischen, beibehält, um diese mit Elementen
der eigenen (religiösen) Volkstradition anzureichern. Dabei erklärt sich auch die
46
Vgl. Hierzu de Keghel, Isabelle: Die Moskauer Erlöserkathedrale als Konstrukt nationaler Identität. Ein Beitrag
zur Geschichte des „patriotischen Konsenses“, in: Osteuropa 2/ 1999, S.145-159.
37
Attraktivität der ‚lutherischen’ Elemente aus der Umbruchsituation: Religiös nicht
sozialisierte Intellektuelle verlangen nach Verständlichkeit des Gottesdienstes, nach
Unterricht und Information über Glaube, Religion und Bibel; Bewohner verfallender
Städte und zerfallener sozialer Strukturen suchen menschliche Gemeinschaft;
beteiligte
Beobachter
einer
trostlosen
ökonomischen
Situation
suchen,
vom
marxistisch-leninistischen Rationalismus enttäuscht, das Mysterium der Realpräsenz
im Abendmahl.
Für die russländischen Minderheitenvölker liegt wie für die ethnischen Russen
zumeist
die
Wiederbelebung
der
alten,
in
der
Sowjetunion
unterdrückten
Volksreligion nahe, will man Halt im Strudel nach dem Untergang der UdSSR finden.
Hieran halten sich vor allem diejenigen fest, die wenig russisch assimiliert sind oder
ihre Assimilierung rückgängig machen wollen, was einfacher ist, je größere
Bedeutung der Nationalkonfession faktisch noch zukommt. Sonst muss eine solche
erst (re-) konstruiert, ähnlich wie in den verschiedenen Revitalisierungsbewegungen
außerhalb
Europas,
in
denen
kolonialisierte
Völker
zu
ihrer
vermeintlich
traditionellen Kultur und Religion ‚zurückkehren’, in der Praxis aber eher künstliche
synkretistische Neureligionen schaffen. Eine andere Möglichkeit ist es, dass eine
Volksreligion – wie im Falle der mordwinischen Lutheraner intendiert – ganz neu
geschaffen wird. Dabei treten nationalistische Momente in den Vordergrund, die in
den ursprünglichen Religionen von eher nachgeordneter Bedeutung oder zumindest
einer größeren Selbstverständlichkeit waren, so dass man gelassener mit ihnen
umgehen konnte und sie nur in Krisenzeiten zur Abgrenzung von den ‚Anderen’
hervorheben musste. Vor allem aber ist, will man eine andernorts schon bestehende
Konfession zur Volksreligion machen, die Hervorhebung von nationalen Momenten
unvermeidbar, die natürlich vorher auf keinen Fall Teil der Konfession gewesen sein
konnten.
Daher
wird
man
sich
eine
Religion
suchen,
die
einerseits
als
zukunftsträchtig gilt und andererseits möglichst viele Anknüpfungspunkte an die
eigene nationale Ideologie bietet bzw. eine Abgrenzung von den ‚Anderen’ möglich
macht. Alle diese Kriterien erfüllt in den Augen der mordwinischen Lutheraner das
Luthertum: Kein Schritt zurück zum Heidentum, stattdessen Abgrenzung von den
Russen und Annäherung an die finnougrischen Brüdervölker; eine demokratische
und nichthierarchische, individualistische Religion, dem Wesen der Mordwinen
38
gemäß; Luther, der Erneuerer von Christentum, Sprache, Volk und Gesellschaft als
Identifikationsfigur für ein Volk, das all dies auch für sich erhofft.
Mordwinische wie russische Lutheraner also zeigen trotz aller Unterschiede zwei
Varianten
einer
Entwicklung:
Religiöse
Selbstvergewisserung
durch
nationale
Selbstverortung. Dies ist sowohl in Saransk als auch in Nowosibirsk auf zweierlei
Wegen möglich: Der erste Weg ist der ideologische, auf dem sowohl Konfession als
auch Nationalität ideologisiert, als unveränderlich fixiert und damit vergötzt werden.
Der zweite Weg führt durch die Religion und die Nationalität hindurch zum Grund
der Rechtfertigung. Das hieße, dass man sich nicht auf dem als gegeben geltenden
‚Volkscharakter’ oder einer bestimmten, in lutherischer Terminologie formulierten
Wahrheit ausruht und damit zufrieden gibt, sondern dass man diese wie sich selbst
immer wieder vom lebendigen Wort Gottes in Frage stellen lässt. Dieser Weg ist
zumal in Umbruchzeiten gewiss der unbequemere. Inkulturation, die lutherisch sein
will, kann trotzdem nur auf ihm gelingen. Denn der erste Weg führt bestenfalls zu
einem Widerspruch in sich: zu lutherischer Ideologie.
Welcher Weg in Russland beschritten werden wird, bleibt abzuwarten.
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