Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
Norman Kasper, Jochen Strobel (Hg.)
Praxis und Diskurs der Romantik 1800 –1900
Norman Kasper, Jochen Strobel (Hg.)
Praxis und Diskurs der
Romantik 1800 –1900
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung:
Moritz von Schwind: Genoveva in der Wildnis (nach 1833),
Öl auf Holz (19,5 cm × 0,44 cm), Museum Oskar Reinhart (Winterthur)
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© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78427-8
INHALT
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
Zugänge zur historischen Romantik im Spannungs- und
Synthesefeld von Diskurs und Praxis. Einleitung ......................................
7
JÜRGEN JOACHIMSTHALER
Romantik als poetische Praxis (in) der Aufklärung ...................................
23
STEFFEN DIETZSCH
Bild und Bilden als romantische Praxis. Oder: „das ächte Denken
scheint, wie ein Machen – und ist auch solches“ .......................................
41
BURKHARD MEYER-SICKENDIEK
Der narrative Zeigarnik-Effekt: Zu einem Wirkungsprinzip
frühromantischer Kunstmärchen ................................................................
61
LUDWIG STOCKINGER
‚Romantisches‘ und ‚Romantik‘ im Lexikon-Wissen des
19. Jahrhunderts. Das Conversationslexikon von Brockhaus
als Beispiel .................................................................................................
83
MAIKE OERGEL
‚Germanisierung‘ als romantisches Kulturmuster in der englischen
Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ...............................................
99
BARRY MURNANE
Romantische Doppelgänger: Hoffmann, Scott und die Konstituierung
der phantastischen Literatur in Großbritannien, Frankreich und
Deutschland im 19. Jahrhundert .................................................................
117
INHALT
WERNER NELL
Fixierungen und Phantasmata. Sinn-Zerstörung im romantischen
Dispositiv bei Ludwig Tieck und Théophile Gautier .................................
141
TOBIAS HERMANS
Das Unsagbare als Sagbares: Die Musikkritik als Entlarvung der
romantischen Musikästhetik. Betrachtungen zu E. T. A. Hoffmann,
Robert Schumann und Richard Wagner .....................................................
159
JOCHEN STROBEL
Erben, postromantisch (Tieck, Eichendorff) ..............................................
177
MONIKA SCHMITZ-EMANS
Wolkenkunst und romantischer Diskurs: Über Malergeschichten
als programmatische Texte der Romantik ..................................................
203
NORMAN KASPER
Dramaturgien der Romantik. Die Epochen-Diskurse der
nationalliberalen Kunst- und Literaturgeschichte im Vergleich ................
221
SASKIA PÜTZ
Geschichten vom Anfang. Zur Rezeption der romantischen
Landschaftsdarstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert .......................
241
Die Autor*innen des Bandes ......................................................................
261
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK IM SPANNUNGSUND SYNTHESEFELD VON DISKURS UND PRAXIS.
EINLEITUNG
I. Romantik: Epoche – Diskurs – Praxis
Will man das Verhältnis von Romantik und 19. Jahrhundert näher bestimmen,
so ergeben sich mindestens drei Positionen. Die erste Position deutet das
19. Jahrhundert im Licht der Entfaltung frühromantischer Ideen;1 die zweite
im Fokus der Romantikritik;2 und eine dritte Position, die die frühromantischen Ideen gegenüber dieser historischen Kritik verteidigen will, möchte mit
der Kritik gleich das gesamte 19. Jahrhundert entsorgen, um der Frühromantik
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.3 Nun haben alle Positionen etwas für sich
und die Frage ist nicht so sehr, welche richtig ist, sondern welche Fragen man
hat; denn je nachdem, was für Fragen man beantworten möchte, kann eine jede dieser Positionen in systematischer Hinsicht gewinnbringend vertreten
werden. Schwierigkeiten bekommt man allerdings, wenn man z.B. wissen
möchte, warum sich das 19. Jahrhundert, wie es etwa Helmut Schanze formuliert hat, zugleich als das Jahrhundert der Romantik und der Romantikkritik
verstehen lässt.4 Denn in diesem Zugleich von Affirmation und Kritik werden
unterschiedliche Begriffssemantiken sichtbar, die, wie sich mit Joseph Vogl
sagen lässt, „über Äußerungsweisen verschiedener Ordnung und Art“5 organisiert sind – und sich mit keiner der drei Positionen befriedigend erschließen
lassen.
Die Zeit scheint günstig, diese disparaten Äußerungsweisen des Romantischen genauer zu untersuchen; günstig deshalb, da sich mit der wissenspoeto1
2
3
4
5
Vgl. Bernd Auerochs/Dirk von Petersdorff (Hgg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn u.a.: Schöningh 2009.
Vgl. Karl Heinz Bohrer: Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a. M. 1989.
Vgl. Dieter Bänsch (Hg.): Zur Modernität der Romantik, Stuttgart: Metzler 1977 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 8); Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hgg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn u.a.: Schöningh 1987; Bärbel Frischmann/Elizabeth MillánZaibert (Hgg.): Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie, Paderborn u.a.: Schöningh 2009.
Vgl. Helmut Schanze: Realismus und Romantikkritik im 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.):
Romantik-Handbuch, 2., durchgesehene und aktualisierte Aufl., Stuttgart: Kröner 2003,
S. 166–177, hier S. 166.
Joseph Vogl: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens, München 1999, S. 7–16,
hier S. 11.
8
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
logisch orientierten Diskursanalyse in den letzten Jahren ein methodischer Zugang zu Fragen der historischen Semantik etabliert hat, der in epochentypologischer Hinsicht von kaum zu überschätzender Bedeutung sein dürfte – bisher
jedoch von der Romantik-Forschung nicht aufgegriffen wurde. Literarische
und philosophische, aber auch begriffs- sowie kunst-, musik- und literaturgeschichtliche Texte sind Teil einer (impliziten) Poetologie des Epochenwissens,
das es zu erschließen gilt. Demnach muss es darum gehen, das 19. Jahrhundert
als Romantik-Archiv in seiner Vielgestaltigkeit zu rekonstruieren. Doch welche Kontexte lassen sich für einen Roman, eine musikkritische Abhandlung
oder einen kunstgeschichtlichen Überblick in epochentypologischer Hinsicht
geltend machen? Kulturpoetisch gefragt: Wie lassen sich die jeweils interessierenden syntagmatischen Einzeltexte so mit möglichen Kontexten und Kontext-Texten korrelieren, dass man tatsächlich ein zur Entstehungszeit verbindliches Paradigma des Romantischen erhält? Welches Bild entsteht von der
Romantik, wenn man versucht, die häufig ex post auf den historischen Diskurs
rückprojizierten Logiken disziplinär konturierter Entwicklungsmuster genauso
auszublenden wie die Anschlussfähigkeit historischer Deutungs- und Erkenntnisansprüche an unser heute ‚gültiges‘ Wissen von der Romantik?
Die Frage nach der ‚Romantik‘ oder dem ‚Romantischen‘ ist alles andere
als neu. Deshalb ist es sinnvoll, zunächst einen Blick darauf zu werfen, von
welchen auf Romantik-‚Bilder‘ des 19. und 20. Jahrhunderts bezogenen Romantikbegriffen wir uns absetzen, wenn wir, wie hier unternommen, Romantik
als ‚Praxis‘ und ‚Diskurs‘ verstehen. Typologisch wären unseres Erachtens
folgende Optionen voneinander zu unterscheiden: In jedem Fall wollen wir
uns erstens nicht dem schon fast ein Jahrhundert alten Verdikt Arthur Lovejoys von der völligen Beliebigkeit und folglich Bedeutungslosigkeit von
‚Romantik‘ beugen.6 Obsolet ist allerdings gleichermaßen zweitens die 1969
von Theodore Ziolkowski vertretene Auffassung von einer „typologische[n]
Romantik“, einer angeblichen Geisteshaltung, die vielleicht aber am ehesten
als Summe des über das 20. Jahrhundert hinweg tradierten bildungsbürgerlichen Kernwissens gelten darf.7
Ein von Anja Hagen um die Jahrtausendwende herum verfochtener hier an
dritter Stelle zu nennender Ansatz nimmt sich dann schon konkreter Formen
der Intertextualität als nun sprachlich-zitativ festzumachender Substrate von
6
7
Vgl. Arthur O. Lovejoy: On the Discrimination of Romanticism. In: Publications of the Modern Language Association 39 (1924), S. 229–253.
Die Auflistung der angeblichen Merkmale darf nicht nur aus heutiger Sicht als eklektisch gelten: „Die typologische Romantik kennzeichnet sich erstens dadurch, dass sie die Dichtung als
Hauptmittel der menschlichen Erkenntnis betrachtet. Sie fasst zweitens die Natur als eine organische Einheit auf, in der die Dualität von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt restlos
aufgehoben ist. Und die Dichtung, wodurch diese organische Einheit erfasst und erkannt
wird, ist drittens eine Dichtung des Mythos und des Symbols.“ (Theodore Ziolkowski: Das
Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Methodologische Überlegungen, in: Wolfgang Paulsen (Hg.): Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen
Literatur, Heidelberg: Stiehm 1969 (Poesie und Wissenschaft 14), S. 15–31, hier S. 17.)
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
9
Rezeptionsakten an, das hieße: ‚Romantik‘ nach 1830 wäre zu begreifen als
ein die Summe intertextueller Bezüge bildender ‚Gedächtnisort‘.8 Und schließlich möchten wir uns auch weder einfach – viertens – auf eine an der Ideengeschichte entlang konzipierte begriffsgeschichtliche Summenbildung beziehen,
wie sie die Ästhetischen Grundbegriffe vorschlagen,9 noch – fünftens – auf das
ein sehr breites Textkorpus abdeckende Lexikon Zentralbegriffe der klassischromantischen ‚Kunstperiode‘ (1760–1840).10
Demgegenüber sei im Folgenden auf zwei aktuelle Ansätze verwiesen: ein
modellhaftes und ein problemgeschichtlich konturiertes Epochenverständnis.
Das modellhafte Verständnis von ‚Romantik‘ beschränkt sich weder allein auf
Begrifflichkeiten noch auf Modi der Darstellung, sondern fokussiert zudem,
wie auch von uns favorisiert, eine praxeologische Blickrichtung (I.1). Die
problemgeschichtliche Sicht argumentiert hingegen ideenanalytisch. Einer
Diskurs- und Praxisgeschichte der Romantik kann sie jedoch, wie wir zeigen
möchten, eine wichtige Orientierungshilfe sein (I.2).
I.1 Modell Romantik
Die von einer Jenenser Forschergruppe um Stefan Matuschek, Sandra Kerschbaumer und Dirk von Petersdorff entwickelte These, die Romantiken des 19.,
20. und 21. Jahrhunderts ließen sich als selektive Zugriffe auf eine historische
Kern-Romantik beschreiben, rückt das Modell-Konzept in den Mittelpunkt der
Argumentation.11 Die historische (Früh-)Romantik erfährt demnach im Rahmen ihrer modellhaften Abbildung je unterschiedlicher Eigenschaften und
durch das Weglassen anderer immer neue Aktualisierungen. In ihrer Vielfalt
bekunden diese Aktualisierungen die Zugehörigkeit zur Romantik als einem
Teil der Moderne, insofern sie die modernecharakteristischen spannungsgeladenen Synthesebildungen der philosophisch-poetischen Frühromantik – Sinnstiftung und transzendentalphilosophischer Vorbehalt, Wahrhaftigkeitsanspruch und romantische Ironie, Komplexitätssteigerung und Reduktionssehnsucht, Transzendenz und Immanenz – fortführen. Der Modellcharakter betont
das Prozesshafte, Reduktive und Intentionalistische der Aneignung. Drei Aspekte der Modellbildung werden unterschieden, „je nachdem, ob das Romantische (1) begrifflich/semantisch, (2) darstellerisch/ästhetisch oder (3) prak8
9
10
11
Vgl. Anja Hagen: Gedächtnisort Romantik. Intertextuelle Verfahren in der Prosa der 80er
und 90er Jahre, Bielefeld: Aisthesis 2003.
Vgl. Ernst Müller: Romantisch/Romantik, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 315–344. Ernst Müller unterscheidet für das
19./20. Jahrhundert u.a. Romantik als „Kampfbegriff“ (S. 330) und als „ahistorische[n] Typen- und Wesensbegriff“ (S. 337).
Vgl. www.zbk-online.de (5.2.2016).
Vgl. Stefan Matuschek/Sandra Kerschbaumer: Romantik als Modell, in: Daniel Fulda/Sandra
Kerschbaumer/Stefan Matuschek (Hgg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen,
München: Fink 2015 (Laboratorium Aufklärung 28), S. 141–155.
10
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
tisch/handlungsleitend auftritt. Nach dieser Unterscheidung kann man Romantik als (1) Deutungs-, als (2) Darstellungs- und als (3) Handlungsmodell verstehen.“12 Im ersten Fall geht es um ausgewiesene Verhandlungen der Romantik in epochentypologischer oder programmatischer Hinsicht; typisch ist hier
der Zugriff von literaturgeschichtlicher Seite. Von Romantik als Darstellungsmodell kann hingegen z.B. dann die Rede sein, wenn eine modellbildende Instanz bestimmte Schreibverfahren der historischen Romantik bei späteren
Autoren als mustergültig (modern oder postmodern) und aktualisierungsfähig
ausweist. Romantik als Handlungsmodell beschreibt schließlich das weite Feld
der Aktualisierungen nur schwer bestimmbarer Romantikeigenschaften. Die
Stärken einer modellhaften Konzeption bestehen darin, dass sie zum einen explizite – d.h. historiographisch oder programmatisch intendierte; begriffsgeschichtlich oder historisch-semantisch orientierte – Bezugnahmen auf die
Romantik erfassen kann. Zum anderen tritt das Modell als Heuristik auf, das
in all den Fällen nützlich ist, „wo Romantisches in Erscheinung tritt, ohne als
solches expliziert zu werden […]“: „Das Modellhafte begegnet also zum einen
schon auf der Gegenstandsebene selbst und zum anderen in der Heuristik, mit
der man sie bearbeitet.“13
Hier ergeben sich Überschneidungen mit dem, was im Rahmen dieses Bandes als ‚Praxis‘ und ‚Diskurs‘ der Romantik intendiert wird. Auf einer ersten
Ebene lassen sich jegliche Modellierungen der Romantik einem konstruktiven
Praxisbegriff zuordnen, da sie das, was sie als ‚romantisch‘ verhandeln oder
was die Heuristik ihnen als typisch ‚romantisch‘ attestiert, hervorbringen müssen. Nicht nur das praktisch-handlungsleitende Romantikmodell ist damit gemeint. Bereits auf der Ebene der begrifflich-semantischen Modellierung lässt
sich der (historiographische) Zugang zur Romantik als diskursive Praxis beschreiben. Dies kann z.B. hinsichtlich einer historiographiegeschichtlich orientierten Perspektive auf die Romantik-Bilder des 19. Jahrhunderts wichtig
sein. Die Erzählungen von der Romantik entstehen ja in dem Bemühen, unterschiedliche Facetten in eine kohärente Abfolge zu bringen: Fragen der Gattungsmischung im romantischen Roman, der Einfluss der Idee von 1789,
gruppenkonstellative Verschiebungen (‚Berliner Spätaufklärung‘ – ‚Berliner
Romantik‘ – ‚Jenenser Frühromantik‘) und noch viele weitere Elemente müssen in eine plot-Struktur gebracht werden, die alle diese Facetten, für sich betrachtet, nicht aufweisen. Das modellhafte ‚Abbilden‘ ist also – wissenspoetologisch betrachtet – narrative Schwerstarbeit. Besonders interessant scheint
uns auf einer weiteren Ebene die Unterteilung in ‚Gegenstandsebene‘ und an
diese heranzutragende ‚Heuristik‘ zu sein. Denn sie hilft bei der Entlastung
der historischen Diskursgeschichte von dem Vorwurf, lediglich im bereits abgesteckten Rahmen begriffsgeschichtlich verbürgter Romantikentwürfe zu
agieren. Tatsächlich kann es einer wissenshistorisch breit aufgestellten Dis12
13
Ebd., S. 155.
Ebd.
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
11
kursgeschichte nicht allein darum gehen, entlang diverser historiographiegeschichtlich nachweisbarer ‚Romantik‘-Konnotationen zu argumentieren. So
richtig interessant wird es doch vermutlich gerade dort, wo der heuristische
Zugriff bestimmte Muster – z.B. des Erzählens oder der Motivgestaltung –,
womöglich noch in unterschiedlichen Textsorten, als typisch ‚romantisch‘
herausstellt, ohne dass dieser Zuschreibung bereits in signifikanter Weise epochentypologische Geltung zukommen würde. In dieser Hinsicht setzt das
Romantik-Modell der Jenenser Forschergruppe wichtige Impulse.
Diskussionswürdig ist allerdings die Original-Abbild-Beziehung. Jedes Abbild braucht ein Original, und je gefestigter die Vorstellungen sind, die man
sich von diesem Original macht, desto besser ist die Abbildung hinsichtlich ihrer Referenzbeziehung zu analysieren. Gleichzeitig scheint das Original statisch und von der Dynamik der Modellierungen ausgenommen zu sein. Aufgeladen mit möglichst viel symbolischem Kapital – historische Romantik als
ideelle Arbeit an der Sinneinheit unter den Bedingungen der beginnenden
Moderne (Differenzierung, Pluralisierung, Perspektivierung) –, ist es von der
Konstruktivität und dem selektiven Charakter der Abbildungen ausgenommen.
Hier kann man sicherlich fragen, ob jene Sonderstellung des Originals nicht
vielmehr selbst zum Gegenstand einer diskurshistorischen Epistemologie zu
machen wäre, anstatt diese gleichsam ontologisch festzuschreiben und zum
Ausgangspunkt einer nahezu endlosen Kette epochentypologischer Brechungen zu nehmen.
Die Problemgeschichte hat zwar ein vergleichbares Problem mit ideellen
Festschreibungen, doch liefert sie für die teilweise selektionsblinde Praxisund Diskursgeschichte wichtige Orientierungs- und Beschränkungshilfen.
I.2 Die Problemgeschichte im Deutungshorizont der Diskurs- und
Praxisgeschichte
Der literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte geht es darum, einzelne literarische Texte oder ganze Korpora als Ausdruck eines epochenspezifischen
Problembewusstseins und möglicher Lösungsstrategien zu deuten.14 Die Fragen, auf die es dabei Antworten zu geben gilt und die im Mittelpunkt der Rekonstruktion stehen sollen, ergeben sich aus der Problematisierung übermittelter Wissens- und Lösungsansprüche, wobei sowohl neue Lösungen für alte
Probleme – das ist der Regelfall – als auch neue Lösungen für neu identifizierte
14
Vgl. Dirk Werle: Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Jahrbuch
der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 478–498. Ders.: Für eine Literaturgeschichte
semantischer Einheiten, in: Matthias Buschmeier/Walter Erhart/Kai Kauffmann (Hgg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken, Berlin/Boston: de Gruyter 2014 (Studien
und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 138), S. 63–85. Ders.: Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie, in: Scientia Poetica 13 (2009), S. 255–303.
12
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
Probleme denkbar sind. Dirk Werle, der das problemgeschichtliche Denken in
den letzten Jahren durch zahlreiche Arbeiten maßgeblich mit vorangetrieben
hat, verortet sein Ziel in einer „Weiterentwicklung der ‚intellectual history‘“:
Die Ergänzung des eingliedrigen Konzepts der Idee zu einem zweigliedrigen
Konzept: Frage und Antwort beziehungsweise Problem und Lösung, resultiert
gewissermaßen in einer ‚transzendentalen‘ Konzeption der Ideengeschichte: Ideengeschichte wird ‚tiefergelegt‘, die Bedingungen der Möglichkeit von Ideen
werden in die Geschichte mit einbezogen.15
Diese Erweiterung der Ideengeschichte kommt auch der historischen Wissensforschung zugute. Solange der „diskurshistorische[..] Wissensbegriff – Wissen
als jegliche Form einigermaßen artikulierter, institutionalisierter und systematisierter Meinung, die immer in ihrer historisch-variablen Verfaßtheit gedacht
wird“ – dieses Wissen als „entproblematisierte, statische Kategorie“16 fasse, so
Werles Vorwurf, werden die flexiblen Deutungsmuster, in denen es verhandelt
wird, ausgeblendet. Dass eine bestimmte diskursive Wissensformation als
Antwort auf ein wahrgenommenes Problem gilt, liegt nicht im artikulierten
Wissen selbst, sondern innerhalb der diskursiven Konstellation, in der es aufgerufen wird (Formuliert es eine Frage? Reagiert es auf eine Frage?), begründet. Diese Konstellation ist deshalb für die Problemgeschichte so entscheidend, da sich hier die Bedingungen der Möglichkeit, sozusagen die diskursive
Existenzberechtigung dieses Wissens zeigt. Erst die Ermittlung der Wissensfunktion oder besser gesagt -funktionalisierung gibt Auskunft über dessen tatsächlichen argumentativen Status.
Neuere Arbeiten zum Verhältnis von Aufklärung und Romantik haben den
problemgeschichtlichen Zugang mit Blick auf eine Analyse konkreter epochentypologischer Verknüpfungs- und Absetzungsprobleme fruchtbar gemacht. Die (Früh-)Romantik arbeitet in dieser Perspektive an Problemen weiter, die sie aus der Aufklärung übernommen hat; wobei meist ein impliziter
Diskurstransfer die Argumentationen strukturiert: Auf philosophiegeschichtlich deduzierte Probleme gibt es ‚poetische‘ Antworten.17 Auch wenn eine
‚aufgeklärte‘ literaturwissenschaftliche Problemgeschichte keinesfalls mehr
von überzeitlich konstanten Problemlagen ausgeht, so fällt doch hinsichtlich
einer Bestimmung des Frage- und Antworthorizontes die Zurückhaltung gegenüber der sprachlichen, diskurshistorisch bestimmbaren Vermittlungsdimension auf. Matthias Löwe spricht sich gar für eine Abkehr von der „Objekt15
16
17
Werle, Frage und Antwort, S. 256–257.
Ebd., S. 257.
Vgl. Ludwig Stockinger: „Romantik“ und „Aufklärung“ – einige Überlegungen zum Gebrauch dieser Begriffe, insbesondere des Begriffs „Aufklärung“, in: Fulda/Kerschbaumer/Matuschek (Hgg.): Aufklärung und Romantik, S. 23–43, s. zu Stockingers ‚Bekenntnis‘
zur Problemgeschichte S. 33; vgl. auch – prononcierter problemgeschichtlich orientiert als
Stockinger –: Matthias Löwe: Epochenbegriff und Problemgeschichte: Aufklärung und Romantik als konkurrierende Antworten auf dieselben Fragen, in: Fulda/Kerschbaumer/Matuschek (Hgg.), Aufklärung und Romantik, S. 45–68.
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
13
sprache“ aus; nur so könne eine „metasprachliche Beschreibung“ des Verhältnisses von Aufklärung und Romantik gelingen. So richtig und notwendig der
Hinweis ist, dass eine bloße Reformulierung historischer Problemwahrnehmungen den Analysespielraum einer „Literaturgeschichte als Problemlösungskonkurrenz“18 verstelle, so problematisch ist doch die Forderung nach
einer Abwendung von objektsprachlich orientierten Narrativen. Denn die Lösungsansätze, die miteinander um die beste Antwort konkurrieren, sind nicht
anders als in der Duplizität von epistemischem Anspruch und sprachlicher Realisation zu haben. Oder anders gesagt: Probleme und Problemwahrnehmungen ändern sich mit ihren sprachlichen Fassungen in gleichem Maße, wie sich
komplette Wissensformationen innerhalb unterschiedlicher Deutungssysteme
ändern. Will man also – wie innerhalb der problemgeschichtlichen Literaturwissenschaft intendiert – Fragen und Antworten in ihren funktionellen Rollen
behandeln, so sollte man die sprachlichen Rollen nicht einem homogenisierenden Reformulierbarkeitsapriori opfern. Denn dieses neigt nicht nur seinerseits zur Konstruktion statischer Problemlagen, mehr noch: Die Modellierung
von Frage- und Antworthorizont muss sich ohne das objektsprachliche Korrektiv den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen. Zudem besteht die Gefahr
eines Rückfalls in einen sprachindifferenten Ideen-Platonismus, den die Problemgeschichte einer ‚starren‘ Wissensforschung vorwarf und zu dessen Überwindung sie doch eigentlich angetreten war.
Gleichwohl bleibt die Problemgeschichte ein wichtiger Gesprächspartner
einer diskurs- und praxisgeschichtlich orientierten Epochenforschung. Zum
einen stiftet sie da, wo der Diskurshistoriker in der Fülle des Materials zu ertrinken droht oder zu verengt mikrologischen Betrachtungsweisen neigt, Orientierung. Zum anderen hilft sie bei der Strukturierung historischer Problemlagen. Bei welchen Problemen und Lösungen ist es ratsam, eine Diskursgeschichte des Wissens als Poetologie des Wissens zu rekonstruieren? Und –
mindestens genauso wichtig – in welchen Fällen ist der narrative impact eher
gering zu veranschlagen? Auch hinsichtlich der Diskussionen, inwiefern eine
Erweiterung eines bestimmten begriffsgeschichtlichen Aspektes hin zu einer
umfassenden historischen Semantik empfehlenswert ist, ab welchem Punkt
sich Diskursgeschichte mit Gewinn als Kulturpoetik betreiben lässt oder ob
der Ausgangspunkt einer Untersuchung erfolgversprechender beim Text oder
besser doch bei einer (textbasierten) sozialen Praxis anzusetzen sei, kann die
Problemgeschichte wichtige Hinweise geben. Während die Diskursgeschichte
vom textuellen (Einzel-)Phänomen zum dadurch vermittelten Wissensanspruch geht, setzt die Problemgeschichte schon immer voraus, dass sich zusammengehörige Erkenntnisprobleme und Erkenntnislösungen von der konkreten Diskurssituation abstrahieren lassen. Helmut Hühns Plädoyer für eine
„Romantik-Forschung im Horizont einer Problem- und Konfliktgeschichte“
der Moderne, die eine „makrohistorische[] Perspektive mit mikrologischen
18
Löwe, Epochenbegriff und Problemgeschichte, S. 47, Anm., vorhergehendes Zitat gleichfalls.
14
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
Untersuchungen der einzelnen Werke und Konstellationen“19 verbindet, liegt
auf dieser Vermittlungslinie. Inwiefern hierbei allerdings die große makrohistorische Erzählung von der „Einheit einer plural verfassten kulturellen Moderne“ hilfreich ist, um den heterogenen Diskursformationen gerecht zu werden,
ob sich also die Verbindung von Diskurs- und Problemgeschichte ganz auf die
Erarbeitung einer „Konfliktgrammatik der Moderne“ konzentrieren sollte,
bleibt freilich fraglich, überschreitet eine solche Fokussierung der Romantik
doch den historischen Problemhorizont, innerhalb dessen diese Grammatik
überhaupt erst ihre allerersten Konturen gewinnt.
Entscheidend für eine gelungene problemgeschichtliche Fundierung der
Praxis- und Diskursgeschichte ist die Betrachtung einzelner Bestandteile im
Lichte einer genau umrissenen Praxis- und Diskurskartographie. Eine solche
Kartographie formuliert dabei nichts anderes als den Problemhorizont, innerhalb dessen historische Semantik betrieben werden soll. Die Praxis- und Diskurskartographie stellt sicher, dass artikulierte Meinungen und Handlungen als
Puzzle-Teile im Deutungshorizont eines erkennbaren Puzzle-Ganzen zu analysieren sind. Dass gleiche Puzzle-Teile zu ganz unterschiedlichen Puzzlen zusammengesetzt werden können, verweist auf den kartographischen Spielraum,
d.h. auf die Vielzahl möglicher Kontexte, auf die Äußerungen und Praxen bezogen werden können. Im Grunde geht es hier in methodischer Hinsicht um
die immer wieder neu auszutarierende Balance von ideellem Problemhorizont
und objektsprachlichem Einzelbefund: Zwischen der Scylla ahistorischwesensmäßiger Festschreibungen und der Charybdis der selektionslosen Aufmerksamkeit eines radikalen Historisierens erfolgreich hindurch zu schiffen,
kann als das erklärte Ziel gelten.
II. Eine praxeologische Perspektive
Die Begriffe Diskurs und Praxis sollen bei der Profilierung disparater Äußerungsweisen des Romantischen helfen. Dabei scheint es uns weniger notwendig, den in der Literaturwissenschaft bestens eingeführten Diskursbegriff einmal mehr zu reformulieren; unabdingbar ist es hingegen, aus einer in den Kulturwissenschaften seit etwa zwei Jahrzehnten geführten praxeologischen Debatte die für die weitere Diskussion zentralen definitorischen Kriterien vorab
darzulegen. Es wird sich zeigen, dass mit einer wie auch immer konstellierten
Korrelation von Diskurs und Praxis ein anderes Konzept von Romantik verbunden ist als es die gängige Semantik einer sich der Romantik-Rezeption
widmenden literaturwissenschaftlichen Forschung implizit oder explizit voraussetzt.
19
Helmut Hühn: Deutungskonflikt ‚Romantik‘. Problemgeschichtliche Überlegungen, in:
Ders./Joachim Schiedermair (Hgg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven
der Forschung, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 17–34, hier S. 33.
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
15
Der Soziologe Andreas Reckwitz bezeichnet Praktiken als „sozial geregelte,
typisierte, routinisierte Form[en] des körperlichen Verhaltens“20 und schärfte
damit einen Praxisbegriff, der Alltagsnähe, Körperlichkeit, Kontingenz impliziert: „Praktiken sind Handlungsmuster, die kontingente Mechanismen sind, die
der Mensch gleichzeitig schafft, wie er wiederum von ihnen geschaffen wird.“21
Auch die Soziologie, die sich namentlich auf Pierre Bourdieus Forderung nach
einer theoretischen Durchdringung der Beobachtung von Praktiken sozialer Akteure beruft,22 wertet bereits die Praxeologie als „erkenntniskritisches Projekt“,
d.h. schließt eine „kritische Reflexion der Praktiken des Forschens und der Theoriebildung […] ein“.23 Dass nun „durch soziale Praktiken organisierte[] Kollektive“ und deren im Handeln sich gleichsam objektivierende Subjektivität in den
Blick geraten, schließt gerade nicht das Nachdenken über das je geteilte praktische Wissen aus, das jene Kollektivität erst möglich macht.24 Wissensprozesse
werden nicht, wie üblich, schlicht auf „private, innerliche Vermögen und Vorgänge“ zurückgeführt, sondern sie sollen nun „von ihrer öffentlichen, performativen Seite her“25 erschlossen werden. Die Kollektivität von Praktiken muss sich
allerdings nicht notwendig öffentlich zeigen, man denke nur an die Routinen
des Gelehrten am häuslichen Schreibtisch oder im Archiv.
Durch Sven Reichardt wurde der Begriff der ‚Theorie sozialer Praktiken‘ in
die Geschichtswissenschaft eingeführt. Es gilt, nun unter Berücksichtigung
zeitlicher Differenz, „körperlich tätige Akteure in dem Vollzug ihrer Handlungen zu untersuchen.“26 Verwiesen wird gern auf die Materialität von Praktiken – umgekehrt verweise die Materialität von Überlieferung auf die Praktiken der einst mit den Materialien befassten Menschen zurück.27 Im Grunde
wird hier auf mögliche Wechselwirkungen, Kontrastierungen oder auch
Schnittmengen zwischen Praxis und Diskurs angespielt, denn auch wenn die
Materialität von Überlieferung nun zu berücksichtigen ist, wird man nicht die
mit dem Überlieferten verknüpften Diskurse ignorieren wollen. So heißt es in
einem 2015 von Historikern herausgegebenen Sammelband, Praktiken regelten das Machbare und zeugten vom Sagbaren.28 Und so hat die aus der Sozio20
21
22
23
24
25
26
27
28
Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 36.
Lucas Haasis/Constantin Rieske: Historische Praxeologie. Zur Einführung, in: Dies. (Hgg.):
Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn u.a.: Schöningh
2015, S. 9–54, hier S. 15–16.
Vgl. neben späteren Texten grundsätzlich Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis
auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, aus dem Französischen von
Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976.
Robert Schmidt: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen,
Berlin: Suhrkamp 2012, S. 12–13.
Ebd., S. 12.
Ebd., S. 265.
Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22,3 (2007), S. 43–65, hier S. 44.
Vgl. Haasis/Rieske, Historische Praxeologie, S. 27.
Vgl. ebd., S. 38.
16
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
logie kommende Praxeologie in den vergangenen Jahren ihre wesentlichen
Impulse aus der Wissens- und Wissenschaftsforschung empfangen,29 die die
epistemische Relevanz von Praktiken seit den 1980er Jahren ernst nimmt und
im Ausgang von Ian Hacking von einer nicht geringfügigen Orientierung der
Theorie an vorgängiger Praxis überzeugt ist.30 Exemplarisch sei Marian Füssels Monographie zur Kultur des frühneuzeitlichen Gelehrten „als symbolische Praxis“ erwähnt, ein System von Bedeutungen, das sich über die Rekonstruktion des Handelns erschließen lasse.31 Auch die germanistische Literaturwissenschaft versucht mittlerweile aus den Spuren, die die Überlieferung enthält, Praxis und Alltäglichkeit germanistischer Forschung zu rekonstruieren.32
III. Zur Korrelation von ‚Praxis‘ und ‚Diskurs‘
Mit dem Gebrauch der Begriffe ‚Diskurs‘ und ‚Praxis‘ ist noch nichts über die
Möglichkeiten, sie zueinander in Bezug oder voneinander abzusetzen, gesagt.
Eine erste durch die bisherige Begriffsverwendung gestützte Option besteht
darin, beide Begriffe als relational disjunkt aufzufassen; so markiert die Präposition ‚und‘ die intendierte Differenz. Man argumentiert hier im Fahrwasser
einer kulturwissenschaftlichen Grundsatzdebatte, die dem Problem gilt, ob
sich „Kultur in erster Linie auf der Ebene von Diskursen (oder Texten oder
Symbolsequenzen) oder auf der Ebene (körperlich verankerter) routinisierter
sozialer Praktiken“33 analysieren lässt. Jene Spannung von Diskurs und Praxis
ließe sich hinsichtlich einer Rekonstruktion der Romantik reformulieren; etwa
bei der Diskussion der Frage, ob die vom 19. Jahrhundert ausgeprägte Erinnerungskultur sich besser anhand literarisch vermittelter Gedenk- und Weihemuster analysieren lässt – z.B. in der Auswertung der Textsorte Ehrengedächtnis –, oder ob der Rückgriff auf die Aneignungsdimension von (kunst-)
29
30
31
32
33
Vgl. Marian Füssel: Die Praxis der Theorie. Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, S. 21–33, hier S. 26.
Vgl. Margarete Vöhringer: Praktiken, in: Roland Borgards u.a. (Hgg.): Literatur und Wissen.
Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 45–50.
Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der
Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 28
(Symbolische Kommunikation in der Vormoderne).
Vgl. Carlos Spoerhase/Steffen Martus: Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen
Praxeologie der Philologie. Einleitung, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 23 (2013),
S. 221–225, sowie die sich anschließenden thematisch einschlägigen Beiträge. – Siehe aber
auch: Michael Kämper-van den Boogaart: Literaturdidaktik und Praxeologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 40,1 (2015), S. 207–221.
Andreas Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien
und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen
(Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 1–20, hier S. 15.
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
17
historischem Wissen und nationaler Geschichte in sinnstiftenden sozialen (Erinnerungs-)Praxen (‚Dürerfeiern‘) erfolgversprechender ist.
Nun zeigt dieses Beispiel aber auch, dass die Entscheidung für eine Option
keinesfalls notwendig ist. Ohne Wackenroders Ehrengedächtniß unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers (1796/97), dessen Nachdruck im Umfeld
der Feiern zum 400. Todestages des Künstlers 1828 nachgewiesen werden
kann,34 lassen sich die Gedenkveranstaltungen in Nürnberg, Mainz, Bremen,
Rudolstadt, Dresden, München, Berlin, Bamberg und Breslau nur unvollständig verstehen.35 Die praktische Dimension des Literarischen ist also unübersehbar. Genauso unübersehbar ist jedoch auch die diskursive Dimension des
Praktischen, d.h. – um bei unserem Dürer-Beispiel zu bleiben – die partiale literarische Imprägnierung der konkreten, von Ort zu Ort je neu zu leistenden
kollektiven Erinnerungspraxis. Praxis und Diskurs verhalten sich demnach wie
zwei Seiten einer Medaille zueinander. Man könnte hier auch – um den chiastischen Charakter zu betonen – von einer symbolischen Textur des Performativen und einer Performativität der literarisch-symbolischen Textur sprechen.
In den letzten Jahren wurde für diese zweite Option der Kopplung das Konzept des ‚Kulturmusters‘ vorgeschlagen und vor allen Dingen für die Erforschung der Aufklärung erprobt.36 Ein Kulturmuster liegt dann vor, wenn bei
der Erforschung eines Phänomens gleichermaßen interpretative und sozialpraktische Dimensionen Berücksichtigung finden. Der analytische Fokus liegt
also gleichermaßen auf dem Handlungs- und dem Deutungssystem. In diesem
Sinne muss ein Kulturmuster immer im Spannungsfeld von Diskurs- (z.B.
Foucault) und Sozialpragmatikanalyse (z.B. Bourdieu) identifiziert werden.37
Deutlich erkennbar ist dabei das Bemühen, den Graben zwischen textbasierter
Hermeneutik und historischer Soziologie – ein Graben, der das oben beschriebene Kulturerforschungsproblem ziemlich genau abbildet – methodisch zu
schließen und damit aus der Differenzierungsnot eine Synthese-Tugend zu
machen. Dass sich das Kulturmuster-Konzept gewinnbringend auch für die
Romantik-Forschung nutzen lässt, kann mit einem kurzen Blick auf das uns
34
35
36
37
Silvio Vietta/Dirk Kemper: Wilhelm Heinrich Wackenroder im Spiegel der Quellenforschung
und Editionsgeschichte. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Hildesheim vom
28. April bis 28. Mai 1993, Lamspringe: Quensen 1993, S. 7.
Vgl. Margot Blumenthal: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz.
Egelsbach u.a.: Hänsel-Hohenhausen 2001.
Zu nennen sind hier vor allen Dingen die Arbeiten von Daniel Fulda. Vgl. z.B. Daniel Fulda:
Kultur, Kulturwissenschaft, Kulturmuster – Wege zu einem neuen Forschungskonzept aus
dem Blickwinkel der Aufklärungsforschung, in: Ders. (Hg.): Kulturmuster der Aufklärung,
Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2010 (Kleine Schriften des IZEA 2), S. 7–33; Ders.: Kulturmuster. Umrisse eines Forschungsprogramms in den Text- und Sozialwissenschaften, in:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36,2 (2011), S. 61–79;
Ders.: Historicism as a Cultural Pattern: Practising a Mode of Thought, in: Journal of the
Philosophy of History 4 (2010), S. 138–153; Ders.: Die Aktualität der Aufklärung als Aktualisierung der von ihr geprägten Kulturmuster, in: Olaf Breidbach/Hartmut Rosa (Hgg.): Laboratorium Aufklärung, München: Fink 2010 (Laboratorium Aufklärung 1), S. 37–50.
Vgl. Fulda, Kulturmuster. Umrisse eines Forschungsprogramms.
18
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
vertraute Dürer-Beispiel einsichtig gemacht werden. Die Dürer-Feiern von
1828 als romantisches Kulturmuster zu bezeichnen, verdeutlicht, dass sich
hermeneutische und pragmatische Aspekte nicht trennen lassen. Hermeneutische Fragen nach der Wirkungsgeschichte, nach Interpretationsparadigmen,
aber auch nach der Lenkung der Lektüre durch die editionsphilologischen
Prinzipien der Ausgaben des Ehrengedächtniß-Textes gehören hierher. Zu
fragen ist in pragmatischer Hinsicht: Wer nahm an den Feiern teil? Wie waren
diese strukturiert? War der Rückbezug auf Wackenroders Historiographie implizit oder explizit? Und welche Kriterien lassen sich für Implizität und Explizität geltend machen?
In der Beziehung von Diskurs und Praxis kann darüber hinaus ein drittes
Bedeutungsmoment geltend gemacht werden, das beide Elemente mehr als
Komponenten denn als Paare eines Gegensatzes erscheinen lässt. Man könnte
diese Relation auf die Formel Diskurs als Praxis bringen. Gemeint ist damit
die praktische Dimension des Diskursiven, die zu vermittelnde Vorstellung
von Romantik zuallererst herzustellen und gegenüber konkurrierenden diskursiven Praxen zu verteidigen. Sichtbar wird hier die Parallelität unterschiedlicher Romantik-Konzeptionen: So gerät z.B. die ‚Romantische Schule‘ durch
die Literaturgeschichtsschreibung ab den 1830er Jahren unter Beschuss, während im gleichen Zeitraum der Beginn einer spezifisch historischen Transzendenz als einer höheren Ebene des Erinnerns (etwa im Denkmal oder der
Denkmal-Kirche) ohne die literarische Romantik und deren breite Rezeption
kaum denkbar wäre. Augenscheinlich wird unter dem Sigel des Romantischen
auf unterschiedliche Aspekte rekurriert. Entscheidend mit Blick auf das hier
zur Diskussion Stehende ist: Diese Parallelität unterschiedlicher RomantikKonzeptionen bildet keinen Einzelfall. Sie ist vielmehr in dem Maße in epochentypologischer Hinsicht signifikant und damit für die Rekonstruktionsarbeit an dem historischen Wissen über die Romantik konstitutiv, als dass die
Rede von der Romantik selbst das Produkt der literarisch-künstlerischen
Selbstgenealogisierungsbemühungen um 1800, in erster Linie des SchlegelKreises ist. Bei Tieck etwa zeigt sich dies darin, dass er innerhalb seiner literarischen Werke den Anspruch des modernen romantischen Dichters auf die literaturgeschichtliche Tradition verkündet: So wird im Kaiser Octavianus
(1804) die Verstrickung der gegenwärtigen Poesie in die vergangene als literaturgeschichtliche Selbstermächtigung des romantischen Dichters reflektiert.
Im Prolog gestaltet Tieck den Moment allegorisch, in dem der Dichter sich die
Vergangenheit, verkörpert durch „Die Romanze auf einem Pferde“, aneignet:
Steig von deinem Roß alsbalde / Bist du wohl vom Jagen müde? / Ha! Daß ich
dich endlich schaue, / Das gibt meiner Seele Friede. / Immer war nach dir mein
Sehnen, / Schöne Tochter hoher Liebe, / Edles Kind des sanften Glaubens, / Unvermuthet steigst du nieder.38
38
Ludwig Tieck: Kaiser Octavianus, in: Ders.: Schriften, Bd. 1, Berlin: Reimer 1828, S. 21.
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
19
Die „Romanze“ erscheint dem Dichter als „Wunderherrliches“39, das ihm nach
eigener Auskunft trotz der überraschenden Fremdheit bekannt vorkommt. Im
Duktus inspirationsästhetisch begründeter Schaffensvisionen verpflichtet die
„Romanze“ den begeisterten Dichter auf jene, die ihr bisher „dienten“: „Wer
da will ein Priester heißen, / Muß des Tempels nie vergessen. –“40 Auf diese
Weise wird die Umgestaltung des romantischen Geistes zu einer quasireligiösen Aneignungspraxis erklärt, die die Rezeption als fortschreitenden
Prozess der Neubeseelung und Erweckung begreift. Im mythopoetischen Gewand steckt ein historiographischer Kern. Von Anfang an also sind Programm
und Historisierung innerhalb des Epochen-Diskurses eng aneinander gebunden. Diese Verknüpfung behält noch dort ihre Bindekraft, wo der programmatische Charakter abnimmt (was bekanntlich relativ schnell der Fall war) und
durch einen historiographischen Fokus ergänzt oder gänzlich ersetzt wird.
Auch und gerade hier – innerhalb der unübersichtlichen Verhandlungen des
Romantik-Konzeptes unter unterschiedlichen disziplinären (philosophie-, musik-, kunst- und literaturgeschichtlich) und politischen sowie lexikographischen Vorzeichen – tritt der poietische Charakter des Diskurses sowohl hinsichtlich einer Konturierung dessen, was als romantisch verstanden wird (deskriptiv), als auch dessen, was als romantisch verstanden werden soll (normativ), deutlich hervor.
IV. Die Beiträge des Bandes
JÜRGEN JOACHIMSTHALER konturiert in seinem Eröffnungsbeitrag ‚Romantik
als poetische Praxis (in) der Aufklärung‘. Er vertritt die These, dass zahlreiche
Ideen, die für die romantische Bewegung der späten 1790er Jahre als charakteristisch gelten, nicht in erster Linie durch deren Theorieentwürfe, sondern
vielmehr bereits durch aufklärerische Praxen des Schreibens, der Gattungspluralisierung und der schrittweisen Ästhetisierung genuin sakraler Rede in den
Jahren zwischen 1730 bis 1780 vorbereitet werden. STEFFEN DIETZSCH versteht die frühromantische Bewegung als praxeologische Revolution. Sein Beitrag ‚Bild und Bilden als romantische Praxis‘ fokussiert ausgehend von Novalis die Probleme des Wissens und Verstehens im Deutungshorizont eines
konstruktiven Apriori, das logosförmiges Philosophieren hinter sich lasse und
stattdessen die Kunst des Machens und Bildens, des Herstellens und Schauens
in den Mittelpunkt rücke. BURKHARD MEYER-SICKENDIEK beobachtet in seiner narratologischen Analyse ausgehend von einer zeitgenössischen Codierung des Wortes ‚Grübeln‘ bei Fichte und gestützt auf die Erkenntnisse der
Gestaltpsychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik die Metaphorologie des Eindringens in die Tiefen der Erde in zentralen frühromantischen Kunstmärchen.
39
40
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 33.
20
NORMAN KASPER/JOCHEN STROBEL
LUDWIG STOCKINGER liefert ein Kapitel zur Diskursgeschichte des ‚Romantischen‘ im mittleren 19. Jahrhundert. Entlang begriffsgeschichtlicher Lektüren
in unterschiedlichen Ausgaben des Brockhaus verfolgt er die Verschiebungen
innerhalb der historischen Semantik des ‚Romantischen‘ seit den 1820er bis in
die 1860er Jahre: Von der Romantikaffirmation geht es über die Romantikkritik bis hin zur ‚Hyperromantik‘ Richard Wagners.
MAIKE OERGEL liefert, gestützt auf das Kulturmuster-Konzept, einen Beitrag zur August-Wilhelm-Schlegel-Rezeption in England sowie zur sich verselbständigenden Aneignung nationalstereotyper Zuschreibungen zwischen
Identitätsbildung und Ausgrenzung. Das ‚Germanische‘, so kann sie zeigen,
erfährt durch die Vermittlung Walter Scotts eine breite Resonanz und avanciert recht schnell zum Fixpunkt symbolisch-sozialer Rollen sowie historiografischer Ordnungs- und Selbstvergewisserungsmuster im aufstrebenden
Empire. Auch im Beitrag von BARRY MURNANE steht ein deutsch-britischer
Kulturtransfer im Mittelpunkt; und wiederum ist es Walter Scott, dem eine
Scharnierfunktion zukommt. Murnane skizziert unter dem Titel ‚Romantische
Doppelgänger. Hoffmann, Scott und die Konstituierung der phantastischen Literatur in Großbritannien, Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert‘ die
über die französische E. T. A. Hoffmann-Begeisterung vermittelte Aufnahme
des deutschen Autors in der englischen Literaturkritik und gibt Einblicke in
die Übereinstimmungen und Divergenzen deutscher und englischer Gattungstypologien und Epochenbewertungsmaßstäbe. Im Ergebnis wird der ab dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland geschätzte ‚fantastische‘ Romantiker Hoffmann als Produkt eines transnationalen Aushandlungsprozesses greifbar, dessen diskursive Windungen Murnane detailliert nachzeichnet. WERNER NELL liest in seinem Beitrag Ludwig Tiecks Der Hexensabbat als spätromantische Aktualisierung des frühromantischen Spannungsfeldes von absolutem Sinnverlangen und transzendental begründeter Sinnverweigerung; ein Spannungsfeld, das zur machtpolitisch abgesicherten und gewalttätigen Fixierung verordneter Glaubenssätze tendiere und letztendlich in
die Katastrophe münde.
TOBIAS HERMANSʼ Beitrag ist im Schnittpunkt von Literatur- und Musikwissenschaft angesiedelt. Er verfolgt die Transformation frühromantischer
Musikästhetik in den musikkritischen Arbeiten E. T. A. Hoffmanns, Robert
Schumans und Richard Wagners. Der ‚unendlichen Sprache‘ der Musik, so
Hermansʼ These, korrespondiere eine literarisierte Kritik, die die von ihr vorangetriebene Semantisierung der Musik durch eine eigene, nicht-diskursive
musikalische Poetologie rückgängig zu machen suche. In JOCHEN STROBELs
Beitrag ‚Erben, postromantisch (Tieck, Eichendorff)‘ geht es um zwei hybride
Texte, die exemplarisch für ein populäres Historisieren der großen Romantiker
– jenseits romantischer Konzepte von Autorschaft – nach deren Abtreten von
der literarischen Bühne stehen: um Rudolf Köpkes Gedächtnisbuch für Ludwig Tieck (Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen, 1855) sowie um die von Eichendorffs
ZUGÄNGE ZUR HISTORISCHEN ROMANTIK
21
Sohn Hermann verfasste umfangreiche Einleitung, die die Sämtlichen Werke
(1864) des Autors eröffnet. MONIKA SCHMITZ-EMANS greift in ihrem kunst-,
literatur- und wissensgeschichtlich orientierten Beitrag auf die Ergebnisse der
Konstellationsforschung zurück, um die Rolle, die die Wolkenkunst im romantischen Diskurs spielt – von der Frühromantik bis zum Bild, das sich die
Gegenwartsliteratur von der Romantik macht –, näher bestimmen zu können.
NORMAN KASPER knüpft an ein literatur- und kunstgeschichtlich fundiertes Interesse an der Romantik an. Auf der Grundlage eines wissenspoetologisch bestimmten Epochenkonzeptes vergleicht er die Vorstellungen, die sich Literatur- und Kunstgeschichte zwischen 1850 und 1880 von der Romantik machen.
Abgerundet wird der Band von SASKIA PÜTZ durch einen (gleichfalls wissenspoetologisch imprägnierten) Blick auf die Aufnahme der romantischen
Landschaftsmalerei in der Kunstgeschichtsschreibung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Der Entstehung des Buches ging ein Workshop voraus, der im September
2014 am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen
Aufklärung (IZEA) in Halle an der Saale stattfand. Wir danken Prof. Dr. Daniel Fulda, dem geschäftsführenden Direktor des IZEA, für die ideelle und finanzielle Unterstützung des Workshops. Bedanken möchten wir uns auch bei
Julia Dirlam, Inna Margoulis und Madelaine Stahl, ohne deren Hilfe weder
Workshop noch Drucklegung so erfolgreich verlaufen wären.
Halle an der Saale und Marburg, Mai 2016
JÜRGEN JOACHIMSTHALER
ROMANTIK ALS POETISCHE PRAXIS (IN) DER AUFKLÄRUNG
denn das Schöne soll sein1
Eine Epoche als Projekt
Kein Text über die (Früh-)Romantik kann auf die Begriffe „romantische Poesie“ beziehungsweise „progressive Universalpoesie“2 (Friedrich Schlegel) und
„Romantisieren“3 (Novalis) verzichten. Aus ihnen wird die Programmatik der
Frühromantik abgeleitet, die wiederum an den Beginn vieler Einführungen
und Gesamtdarstellungen der Epoche gestellt wird, so dass romantische Literatur als Verwirklichung der damit als ursächlich und initial gesetzten Programmtexte erscheint. Dies kann in der konkreten Umsetzung jedoch zu eigenartigen Verwerfungen führen wie bei Albert Meier, bei dem die „Herzensergießungen als Realisierung dessen zu begreifen [sind], was Friedrich Schlegel bald darauf ‚Poesie der Poesie‘ nennen wird“.4 Die Realisierung geht demnach dem voraus, was sie doch ‚nur‘ ausführen soll. Rüdiger Safranski
schreibt analog: „Was Friedrich Schlegel theoretisch entwirft, die progressive
Universalpoetik, setzt Ludwig Tieck ins Werk“.5 Eine Seite zuvor hatte es aber
noch geheißen, Tieck habe „unabhängig davon [...] jene Werke geschaffen, die
wirklich so romantisch waren, wie sich die Theoretiker das vorgestellt hatten“.6 Er kannte sie ja zur Zeit der Arbeit etwa am Blonden Eckbert noch nicht,
konnte sich also gar nicht daran orientieren. Gleichwohl kann Ernst Ribbat
schreiben, der Eckbert betreibe eine „Diagnostik der Komplikationen des
Konzepts ‚romantischer‘ Transzendierung der auf Empirie und Vernunft begründeten Literatur“7, und Achim Hölter daraus die Aussage ableiten, dass
1
2
3
4
5
6
7
Friedrich Schlegel: Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das
klassische Alterthum, Bd. I, Neustrelitz: Michaelis 1797, S. III.
Athenäum. Ersten Bandes Zweytes Stück, [Berlin: Vieweg 1798], S. 28, Digitalisat zugänglich unter der URL http://objects.library.uu.nl/reader/index.php?obj=1874-44784&lan=en#
page//19/37/88/19378811388345582290608678648181196608.jpg/mode/1up (Zugriff: 3.11.
2015).
Novalis: Werke, hg. v. Gerhard Schulz, München: Beck 4. Aufl. 2001, S. 384.
Albert Meier: Klassik – Romantik, unter Mitarbeit v. Stephanie Düsterhöft, Stuttgart: Reclam
2008, S. 88.
Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München: Carl Hanser 2007, S. 90.
Ebd, S. 89.
Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Königstein/Ts.: Athenäum 1978, S. 144.
24
JÜRGEN JOACHIMSTHALER
Tiecks Text „implizit die Problematik romantischer Konzeptionen diskutiere“,8 bevor diese noch formuliert beziehungsweise publiziert waren. Wie ist
das möglich?
Unsicherheit in der Darstellung kann etwas mit dem Objekt der Darstellung
zu tun haben. Das Adjektiv ‚romantisch‘ und das Verb ‚romantisieren‘ sind
ursprünglich gar nicht gedacht als Benennungen einer neuen Epoche. Die
Brüder Schlegel bezeichneten damit ja immer auch die gesamte nachantike
christliche Dichtung. Es handelt sich um Arbeitsbegriffe mit Entwurfscharakter. Sie stehen zugleich für eine bestimmte, durchaus schon länger existierende
Art des Dichtens und eine in diese hineinprojizierte Entwicklungstendenz, in
deren Richtung sich Poesie und Kunst weiterentwickeln sollten. Eine deskriptive, Älteres zusammenfassende und eine normative, auf Zukünftiges, erst
noch sein Sollendes verweisende Bedeutungsdimension verschränken sich.
Dabei ist kein Zufall, dass Friedrich Schlegel und Novalis mit Adjektiv und
Verb arbeiten, nicht mit einem Substantiv, denn für sie steht der Bedeutungsgehalt von ‚romantisch‘ beziehungsweise ‚romantisieren‘ noch keineswegs
eindeutig fest. Das Adjektiv ‚romantisch‘ verweist auf eine von der Literatur
erst noch zu erreichende Fülle von Eigenschaften, die sich nicht nur aus der
Entwicklung der ‚progressiven Universalpoesie‘ allein, sondern nur in Verbindung derselben mit Schlegels steter Arbeit am Begriff ‚romantisch‘ ergeben kann. Seinem Bruder schreibt er: „Meine Erklärung des Worts ‚Romantisch‘ kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie − 125 Bogen lang ist.“9 Einer
anderen Bemerkung dieses Briefes zu Folge müssen diese „125 Bogen“ identisch sein mit allem, was er, „seit ich hier bin [...] über Poesie geschrieben“
habe.10 Mit dieser Umfangsangabe markiert Schlegel die Unabgeschlossenheit
und potenzielle Unendlichkeit des Begriffs ‚romantisch‘, der den der ‚Poesie‘
enthält und doch über diesen hinausweist. Er ist dadurch selbst ein Fall angewandter Universalpoesie, darauf angelegt, eines Tages ein auf utopische Weise absoluter, alles umfassender Zentralbegriff (zumindest im Bereich des Ästhetischen) zu werden. Solange er jedoch diesen – als unerreichbar konzeptionierten – Zustand nicht erreicht hat, schiebt er seinen endgültigen Gehalt unerfüllt vor sich her.
Auch bei Novalis ist das Begriffsfeld ‚romantisch‘ in stetem Wandel begriffen. In seiner meistzitierten Verwendung bezeichnet das Verb ‚romantisieren‘
8
9
10
Achim Hölter: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie Tiecks „Blonder Eckbert“
den modernen Leser kreiert, in: Detlef Kremer (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, Bielefeld:
Aisthesis 2005, S. 69–94, hier S. 80.
Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels [1.10.2015]; Schlegel, Friedrich von an Schlegel, August Wilhelm von; ca. 01.12.1797; Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 24. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die
Periode des Athenäums (25. Juli 1797 ‒ Ende August 1799). Mit Einleitung und Kommentar
hg. v. Raymond Immerwahr, Paderborn: Schöningh 1985 (Volltext); URL: http://augustwilhelm-schlegel.de/briefedigital/; Zugriff: 03.11.2015).
Ebd.
ROMANTIK ALS POETISCHE PRAXIS (IN) DER AUFKLÄRUNG
25
eine Art des Poetisierens, die das „Gemeine[]“11 durch Beimischung edler Elemente erhöht und steigert, bis es „einen unendlichen Schein“12 hat. Es enthält –
analog zu Schlegel – die utopische Note einer erst künftig zu erreichenden allumfassenden Synthese. Zugleich soll es, anderen Stellen zu Folge, einen in eine mythische Vergangenheit projizierten verlorenen Sinn restituieren, ohne
doch dessen bloße Wiederholung zu sein.13 Novalisʼ Konzept steht insgesamt
für eine Wiedervereinigung von Natur, Kunst, Staat und Wissenschaft und verspricht Herstellung einer als verloren imaginierten Einheit, deren künftige Inkarnation durch die Erfahrung von Verlust und Entfremdung hindurchgegangen und damit zu neuer Bewusstseins- wie Empfindungshöhe gelangt ist. Herzustellen ist sie im Medium der Poesie durch gezielte Mischung des Gegensätzlichen, „geheimnisvoll und unzusammenhängend [...] vermischt“14 . Die Begriffe ‚romantisch‘ und ‚romantisieren‘ beinhalten eine Aufforderung und sind
durchaus gerichtet an eine Epoche, für deren Besonderheit dank der zeitgleichen Französischen Revolution erhöhtes Bewusstsein bestand, doch sind sie
nicht gedacht als Bezeichnungen dieser Epoche. Sie verweisen von ihr aus voraus in ein noch zu Erreichendes, das sie zugleich ins Unerreichbare projizieren, dem nur in einem Akt unendlicher Annäherung näherzukommen ist.
Dieses Programm enthält das Versprechen, aus ihm ließe sich alles, zumindest alles ‚Romantische‘, ableiten. Jedoch konnte es für die Entstehung früher
romantischer Texte insbesondere Wackenroders und Tiecks nicht maßgeblich
sein, weil es dafür zu spät formuliert und publiziert worden ist. Damit aber
stellt sich für jede Darstellung der Romantik als Epoche die Frage nach dem
Verhältnis dieses Programms zu den als ‚romantisch‘ bezeichneten Phänomenen: Wenn wichtige Texte unabhängig von der Theorie entstanden sind, müssen diese auch unabhängig von ihr erklärt werden können. Womöglich ist die
Fokussierung auf Texte solcher Autoren, die mit dem Jenenser Kreis in Verbindung standen, zu eng, so dass auch von Jena unabhängig entstandene analoge Phänomene mit in den Blick genommen werden sollten als Teile eines
Gesamtbildes, aus dem dann die Programmatik von Novalis und Schlegel als
nur ein Element herausragt.15
Der in die frühromantische Begrifflichkeit eingelagerte Projektcharakter
mit seinen autopoietischen Bezügen scheint auf Teile der Forschung abgefärbt
11
12
13
14
15
Novalis, Werke, S. 385.
Ebd.
Ebd., S. 455.
Ebd.
In je unterschiedlicher Weise versuchen zumindest Klassik und Romantik als Einheit zu sehen Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen
Revolution 1789−1815, München/Wien: Carl Hanser 1987 (Hansers Sozialgeschichte der
deutschen Literatur 4), Meier, Klassik – Romantik und Harald Tausch: Literatur um 1800.
Klassisch-romantische Moderne, Berlin: Akademie 2011, wobei Meier am dezidiertesten
Klassik und Romantik als bloße „Stilvarianten“ (S. 10) desselben kulturellen Gesamtgefüges
behandelt, die es Goethe erlaubten, auch mit „romantischen“ Elementen zu arbeiten und den
Brüder Schlegel mit „klassischen“.
26
JÜRGEN JOACHIMSTHALER
zu haben: Weil in diesem Konzept sich alles auf dieses Konzept bezieht, zugleich von ihm aus alles mit allem in Verbindung gesetzt sein will und dabei
auf ein utopisches telos verwiesen wird, entsteht bei der Rekonstruktion dieses
Programms ein von seiner selbstreferentiellen Anlage ausgehender Sog, der
dazu verführt, tatsächlich möglichst vieles mit ihm in Verbindung zu setzen
und von ihm aus zu deuten. Nur deshalb können frühe Texte Tiecks aus erst
später veröffentlichten Texten anderer abgeleitet werden. Fragmentarisch genug dafür sind die Entwürfe Friedrich Schlegels und Novalisʼ ja verfasst beziehungsweise überliefert, dass sie in schlüssig wirkende Interpretationen eingeordnet werden können, ohne diesen größeren Widerstand entgegenzusetzen.
Im Ergebnis schreibt sich der Projektcharakter der frühromantischen Begrifflichkeit dann in die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr ein. Die Beliebtheit dieses Forschungsfeldes erklärt sich auch daraus: Es ist – wie sein sich
selbst ins Unerreichbare verschiebender Gegenstand – unabschließbar und
damit offen für unterschiedliches Text- und Interpretationsbegehren.
Doch die frühromantischen Programm-Entwürfe markieren nicht nur einen
autopoietisch sich selbst in den Blick nehmenden und ins der Zukunft zugewandte Unendliche verlängernden Denk- und Poetisierungsprozess. Sie beanspruchen, spätestens in dem (nie erreichbaren) Moment, in dem sie zu sich gekommen sein werden, ihren ihnen ständig vorauseilenden Bedeutungskern also erreicht haben, eine Synthese auch alles bisher Gewesenen bieten zu können. Auch das auf einem gedachten Zeitstrahl hinter ihnen liegende Vergangene wollen sie in sich aufheben und aufbewahren – inklusive der ihnen unmittelbar vorausgegangenen und zeitgleichen, in der Forschung teilweise als
‚frühromantisch‘ klassifizierten Literatur. Diese begründen sie nicht, auf diese
greifen sie zurück als auf schon vorhandene Elemente, die in ihr Konzept
künftiger Literatur einfließen. Friedrich Schlegel verarbeitet die poetischen
Vorgaben Tiecks und Wackenroders (und Jean Pauls und Goethes und anderer).16 Unabhängig von ihrem möglichen Innovationspotenzial hat die frühromantische Programmatik damit auch zusammenfassenden Charakter: Sie sucht
die Phänomene des Feldes, innerhalb dessen sie sich platziert, abschließend zu
resümieren, beansprucht also, diesen gegenüber eine Art Metaposition einzunehmen. Doch selbst dieser Versuch, innerhalb des kulturellen und geistigen
Feldes eine solche Metaposition einzunehmen, ist in dem von Literaturkritik
und -beobachtung gezeichneten Feld bereits angelegt. Der ins Unendliche
verweisende progressive Charakter der Transzendentalpoetik ist strukturell
vorbereitet durch das säkulare Fortschrittsbewusstsein der Aufklärung, insbesondere Lessings Konzept von der unabschließbaren Perfektibilität des Menschengeschlechts. Selbst Friedrich Nicolai, der Lieblingsgegner der Frühromantiker, räsoniert mit an die Frühromantik gemahnender, mathematisch inspirierter Begrifflichkeit „Wenn wir durch das Philosophieren ihr [der Wahrheit] zwar näher kommen, aber sie doch nie erreichen könnten? Wenn sie ei16
Vgl. z.B. Athenäum, Ersten Bandes Zweytes Stück, S. 33–34.