Masterarbeit Fischer - Jean

Transcription

Masterarbeit Fischer - Jean
Text- und Hypotextanalysen zum Realitätsbezug
der Protagonisten in Romanen
Jean-Philippe Toussaints
Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
einer Magistra der Philosophie
an der Karl-Franzens-Universität Graz
vorgelegt von
Michaela FISCHER
am Institut für Romanistik
Begutachter: O.Univ.-Prof. Dr. phil. Werner Helmich
Graz, 2009
Für meine Großmutter
Mein Dank gilt:
Herrn O.Univ.-Prof. Dr. phil. Werner Helmich
für die umsichtige Betreuung und die wertvollen Ratschläge, die mir immer neue Impulse
lieferten und zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen haben.
Meinen lieben Eltern
für ihre Unterstützung in allen Belangen und ihren unerschütterlichen Glauben in meine
Fähigkeiten.
Angela
für die konstruktiven Gespräche und die aufmunternden Worte.
2
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................... 5
2 Theoretische Einführung ....................................................................... 8
2.1 Reale Wirklichkeit oder wirkliche Realität? .......................................................... 8
2.1.1 Onomasiologische Reflexionen ................................................................................ 8
2.1.2 Von Watzlawicks Sinn oder Unsinn der Wirklichkeit ............................................. 10
2.1.3 Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ...................................................................... 12
2.1.4 L’expérience de Schrödinger .................................................................................. 13
2.2 Hypotextualität .............................................................................................................. 14
2.2.1 Genettes Transtextualitätskategorien ................................................................... 14
2.2.2 Was ist nun ein Hypotext? ..................................................................................... 17
3 Analytischer Teil .................................................................................. 19
3.1
La Salle de bain (1985) ................................................................................................ 21
3.1.1 Die Bedeutung des Raumes ................................................................................... 21
3.1.1.1
3.1.1.2
3.1.1.3
Das Badezimmer........................................................................................................ 21
Das Hotelzimmer ....................................................................................................... 24
Das Krankenzimmer .................................................................................................. 25
3.1.2 Wahrnehmung der Zeit .......................................................................................... 26
3.1.3 Der Protagonist und seine Mitmenschen .............................................................. 28
3.1.3.1
3.1.3.2
3.1.3.3
3.1.3.4
Zur Person des Protagonisten ................................................................................... 28
Die weibliche Figur .................................................................................................... 29
Die polnischen Maler ................................................................................................ 32
Weitere Nebenfiguren .............................................................................................. 33
3.1.4 Die Bedeutung der Kunst ....................................................................................... 35
3.1.5 Ästhetik des Stillstandes ........................................................................................ 37
3.1.5.1
3.1.5.2
3.1.5.3
Das Streben nach Immobilität ................................................................................... 38
Mondrian als Inbegriff der Immobilität..................................................................... 39
Das Gedankenexperiment Zenons von Elea.............................................................. 41
3.1.6 Conclusio ................................................................................................................ 43
3.2 Monsieur (1986) ............................................................................................................ 45
3.2.1 Der Protagonist und seine Mitmenschen .............................................................. 45
3.2.1.1
3.2.1.2
3.2.1.3
Zur Person des Protagonisten ................................................................................... 45
Les gens tout de même ............................................................................................. 51
Die zweite Figur ......................................................................................................... 53
3.2.2 Die Bedeutung des Raumes ................................................................................... 55
3.2.2.1
Die berufliche und private Umgebung des Protagonisten ........................................ 55
3
3.2.2.2
Der Himmel ............................................................................................................... 56
3.2.3 La vie, pour Monsieur, un jeu d’enfant. ................................................................. 57
3.2.4 Tout est selon ......................................................................................................... 59
3.2.5 Conclusio ................................................................................................................ 60
3.3 L’appareil-photo (1988) ............................................................................................. 62
3.3.1 Bedeutung des Fotoapparates ............................................................................... 62
3.3.2 Ästhetik des Stillstandes ........................................................................................ 67
3.3.3 Fatiguer la réalité ................................................................................................... 68
3.3.3.1
3.3.3.2
Das Olivengleichnis.................................................................................................... 69
Die Umsetzung des Oliven-Gleichnisses ................................................................... 71
3.3.4 Der Protagonist und seine Mitmenschen .............................................................. 74
3.3.4.1
3.3.4.2
Zur Person des Protagonisten ................................................................................... 74
Die weibliche Figur .................................................................................................... 76
3.3.5 Bedeutung des Ortes.............................................................................................. 79
3.3.6 Conclusio ................................................................................................................ 82
3.4 Ein vergleichender Blick auf La télévision (1997).............................................. 84
3.4.1 Der Protagonist aus La Télévision im Vergleich mit seinen Vorgängern ............... 84
3.4.2 Die Bedeutung des Mediums Fernsehen ............................................................... 89
3.4.3 Die Wechselbeziehungen zwischen TV und Realität ............................................. 91
3.4.4 Conclusio ................................................................................................................ 93
4 Schlussbetrachtung ............................................................................. 94
Bibliographie ............................................................................................. 96
4
1
Einleitung
In der vorliegenden Masterarbeit bearbeite ich den Realitätsbezug der Romanprotagonisten
Jean-Philippe Toussaints. Durch die Beschäftigung mit der französischen und französischsprachigen Literatur hat sich mein Interesse für die Darstellung des Motivs der Realität
entwickelt. Meine Themenwahl ist vor allem auf Flauberts Madame Bovary (1857) rückführbar, da die Thematisierung der Realitätsflucht meine Suche nach ähnlichen Phänomenen der Realitätsbegegnung in literarischen Werken ausgelöst hat. Über verschiedene Epochen der französischen Literaturgeschichte gelangte ich zu den Romanen des belgischen
Autors, wobei mein Fokus immer den Aspekten des Realitätsbezuges galt. Da ich im Zuge
der Themenfindung auf viele Autoren gestoßen bin, die sich mit der Realitätsbegegnung
ihrer Protagonisten auseinandersetzen, kam ich zu dem Entschluss, einige literarische Vorläufer vergleichend beizuziehen. Die Spezialisierung auf Toussaint ist dahingehend begründbar, dass an der Grazer Romanistik noch keine Arbeiten zu ihm vorliegen und der
Roman der achtziger Jahre im Allgemeinen weniger bearbeitet wurde.
Für diese Arbeit habe ich vier Romane Jean-Philippe Toussaints herangezogen, von
denen drei, La salle de bain (19851), Monsieur (1986) und L’appareil-photo (1988) eingehend analysiert werden. Der vierte Roman, La télévision (1997), wird vergleichsweise zu
den drei ersten Werken des belgischen Autors in Beziehung gesetzt. Die ersten drei Romane habe ich ausgewählt, da sich markante Parallelen zwischen den dargestellten Verhaltensweisen der Protagonisten ergeben und weil diese 'Wahrnehmungsromane' (vgl. u. a.
Flügge 1989: 1116) den besten Ansatzpunkt für die Herausarbeitung des Realitätsbezuges
der Figuren bieten. In der Romananalyse des Werkes aus dem Jahre 1997 lege ich die Unterschiede zu den Erstproduktionen dar. In La réticence (1991) finden sich durchaus Ansätze hinsichtlich des Verhaltens des Protagonisten zum behandelten Thema, welche allerdings keine ebenmäßige, beziehungsweise gut vergleichbare Analyse zulassen. Die Spezialisierung liegt auf Toussaints’ Frühphase. Die spätere Japanphase Autoportrait (à
l’étranger) (2000), Faire l’amour (2002) und Fuir (2005), sowie seinen letzten Roman La
mélancholie de Zidane (2006) lasse ich außer Acht. Der Grund für den Ausschluß der
letztgenannten Werke ist, dass deren Protagonisten in ihrem Verhalten keine Vergleichsba1
In der Analyse werden die Romane Toussaints mit einfacher Seitenzahl zitiert.
5
sis zu ihren Vorläufern bieten und auch eine Konzentration auf die Hauptfigur nicht gleichermaßen evident ist.
Den Mittelpunkt meiner Untersuchungen bilden die Romanhelden Toussaints, beziehungsweise deren Wahrnehmung der Realität, ihr Umgang mit dieser, welcher sich zu
großen Teilen in zwischenmenschlichen Interaktionen verdeutlicht. Aber auch die räumliche Umgebung spielt eine große Rolle, da sie sich auf das Innenleben der Protagonisten
auswirkt.
Die in der theoretischen Einführung vorweg angestellten Überlegungen zum Realitätsbegriff werden im analytischen Teil wieder aufgegriffen und vor allem auf ihre Anwendbarkeit überprüft. Die Auseinandersetzung mit Realität fußt vorwiegend auf Paul
Watzlawicks Werken Vom Unsinn des Sinnes oder vom Sinn des Unsinns (1992) und Wie
wirklich ist die Wirklichkeit (1979), sowie dem Essay Friedhelm Schneiders Die Wahrnehmung der Wirklichkeit (1992), da dieser Raum- und Zeitbezüge bespricht, die in den
Werken Toussaints eine Rolle spielen.
Weiters ist die Existenz von Hypotextualität nachzuweisen, wofür eine theoretische
Darlegung zuträglich ist. Da Genette den Terminus des Hypotextes aufgreift, wird mit ihm
einer der bekanntesten Wissenschafter auf dem Gebiet der Intertextualitätstheorie eingebunden, ohne ihre Begründerin Julia Kristeva unberücksichtigt zu lassen. Genette wurde
deshalb ausgewählt, weil sich seine Transtextualitätskategorien – zumindest in Ansätzen –
auf Toussaint umlegen lassen.
Die Thematisierung des Realitätsbezuges wird durch die Einbindung hypotextueller
Verweise auf eine literarhistorische Ebene gehoben. Die verwendeten Hypotextstellen dienen als Beweis, dass dieses Thema keineswegs ein Einzelphänomen darstellt.
Toussaint war auch im cineastischen Bereich tätig. La salle de bain wurde 1991
verfilmt, auch Monsieur wurde vom Roman zum Drehbuch entwickelt, sogar unter der
Regie Jean-Philippe Toussaints. In der Betrachtung der Realitätsverhältnisse der Protagonisten wäre natürlich die Miteinbeziehung der Leinwandhelden interessant, dies würde sich
allerdings vom Fokus meiner Masterarbeit entfernen. An dieser Stelle möchte ich dennoch
Pécheur (1986: 20) zitieren:
Jean-Philippe Toussaint récidive dans le genre éloge de l’immobilité mais en prenant bien
garde que son écriture ne soit pas, elle, redondante : il y a, dans cette dernière, un sens de la focalisation, une construction des plans, un art du montage qui renvoient irrésistiblement au cinéma.
6
Diese hier angesprochene Thematik der Immobilität wird im Verlauf dieser Arbeit gegenständlich und das Zitat macht auch deutlich, warum der Zusammenhang mit Jean-Philippe
Toussaint, dem Cineasten, eine nicht völlig beiläufige Hintergrundinformation ist.
Jean-Philippe Toussaint steht im Mittelpunkt einer neuen literarischen Tendenz, einer Strömung eher als einer Schule, für die mehrere Etikette im Umlauf sind: l’autre roman, minimalisme littéraire, roman impassible (Flügge 1989: 1112), roman déguisé. Die
letzte Bezeichnung meint den Verzicht auf 'Histoire' und Psychologisierung. Die Frage,
inwiefern einer dieser Überbegriffe Toussaints Romane adäquat benennt, soll hier nicht
geklärt werden. Die Erwähnung der literarischen Tendenzen, welchen Toussaint vermeintlich angehört, ist nur insofern von Bedeutung, als es die Andersartigkeit seiner Arbeit betont.
7
2 Theoretische Einführung
In diesem theoretischen Teil wird zunächst der Begriff 'Realität' besprochen. Eine Klärung
des Begriffes ist nicht nur schwierig, sondern unmöglich und soll hier auch nicht angestrebt werden. Außer Frage steht weiters die Behandlung der beiden Gegenpole Realität
und Fiktion, da dies nicht zur Erarbeitung des Themas förderlich ist.
Neben der Diskussion einiger Erklärungsansätze zur Realitätsthematik wird auch ein
Aspekt der Quantenphysik angesprochen, den Toussaint in seinem zweiten Roman aufgreift. Der Fokus liegt auf Watzlawick und Schneider, da Jean-Philippe Toussaints Wirklichkeitsgriff anhand der Arbeiten dieser beiden Autoren erklärbar ist. Da es sich keineswegs um eine psychoanalytische oder eine rein philosophische Analyse des Realitätsbezuges der Protagonisten handelt, wurden diese beiden Theoretiker ausgewählt, um von einem
einseitig wissenschaftlichen Ansatz Abstand zu nehmen. Anhand der Betrachtungen von
Friedhelm Schneiders philosophisch-theologischem Essay Die Wahrnehmung der Wirklichkeit (1992) wird eine philosophische Herangehensweise an die Realitätsthematik dargelegt und durch die beiden Werke Paul Watzlawicks Vom Unsinn des Sinnes oder vom Sinn
des Unsinnes (1992), Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (1979) umfassen neben dem philosophischen Aspekt weiters Bereiche der Soziologie und der Kommunikationswisschenschaft.
Für die Besprechung des Hypotextbegriffes wurde Genette ausgewählt, da seine Kategorisierung im Hinblick auf Toussaints Werke interpretierbar ist. Seine Kategorien werden unterschiedlich genau besprochen, eben nur insoweit eine Miteinbeziehung der Analyse zuträglich ist.
2.1 Reale Wirklichkeit oder wirkliche Realität?
2.1.1 Onomasiologische Reflexionen
Die grundsätzlich einfachste Vorgehensweise zur Klärung einer Begriffsfrage besteht in
der Konsultation eines einschlägigen Wörterbuches. Der Blick in den Duden verrät die
8
kurzen und prägnanten Bedeutungen von Realität: Die erste Bedeutung ist schlicht "Wirklichkeit". Als zweite Alternative wird "reale Seinsweise" angeboten und schließlich findet
sich die dritte Möglichkeit: "tatsächliche Gegebenheit, Tatsache". (DUDEN 1994: s.v.) So
einfach ist es jedoch nicht und weitere Reflexionen sind angebracht, doch eine eingehende
Auseinandersetzung mit diesem Thema führt den Interessierten zu einer beinahe unüberschaubaren Flut an Material zum Begriff Realität. Gegen die dritte Möglichkeit eines der
gängigsten Nachschlagewerke spricht grundsätzlich nichts. Das Wort Realität hängt mit
res, der Sache, zusammen (vgl. zur LIPPE 1996: 20), daher ist Realität als Tatsache nicht
weit hergeholt. Hartmann (1949: 54) betrachtet die Gleichsetzung von Wirklichkeit und
Tatsächlichkeit und erklärt letztere als unmittelbare Gegebenheit in der Erfahrung, als einen Modus der Erkenntnis. Allerdings sollte der Begriff nicht aufs Tatsächliche beschränkt
werden. Auch die Bedeutung 'reale Seinsweise' ist wenig hilfreich, zumal wieder der Begriff real ins Treffen geführt wird und nicht zur Erklärung beiträgt.
Natürlich empfiehlt sich die Erklärung, dass Wirklichkeit eine Bedeutungsmöglichkeit von Realität ist, doch es gibt durchaus gegenteilige Ansichten, so unterscheidet beispielsweise Schärer (1978: 200) zwischen Realität und Wirklichkeit, Realität ist der Bereich des Außen, das Leben, die anderen, die Dinge, wogegen Wirklichkeit ausschließlich
die psychischen Erfahrungen umfasst. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass diese
Vorgehensweise nicht einer ausgereiften Theorie folgt, sondern von diesem Theoretiker
vorgeschlagen wird. Diese Erwägung soll nur verdeutlichen, dass ein Begriff verschiedenartig ausgelegt werden kann. In dieser Arbeit wird diese Unterscheidung gleichfalls nicht
getroffen, die beiden Termini werden als semantisch gleichwertig betrachtet.
Bense (1971: 23) trifft eine überaus interessante Unterscheidung zwischen der Außenwelt der Texte, das, worüber sie sprechen und der Eigenwelt der Texte, also das, was sie
von sich selbst her sind, ihre selbstständige sprachliche Wirklichkeit. Eben diese Feststellung bringt auf den Punkt, aus welchem Blickwinkel Realität in dieser Arbeit betrachtet
werden soll. Es geht nicht um die tatsächliche Realität, in der die Leserschaft lebt, sondern
um jene, wie sie in den Werken dargestellt und von den Figuren wahrgenommen und gelebt wird. Hier handelt es sich um die sprachliche Wirklichkeit, die jene der Protagonisten
ist.
Bereits nach diesen ersten Gegenüberstellungen beziehungsweise Überlegungen
bezüglich des Realitätsbegriffes stellt sich schon die Frage, inwiefern überhaupt noch festgesetzt werden kann, was nun Realität ist und wie diese untersucht werden kann.
9
Die philosophische Frage, ob der Mensch mit seinen Erkenntnismöglichkeiten überhaupt einen
direkten Zugang zur Welt außerhalb seiner selbst hat und damit eine gesicherte Aussage über
deren Existenz und Aussehen machen kann, ist so alt wie die Philosophie selbst. (FRÜH 1994:
21)
Die Suche nach einer gesicherten Aussage über die Wirklichkeit kann niemals zu einem
Ziel führen, da jeder Mensch einen anderen Zugang zu sich selbst und zur Außenwelt hat
und jeder Mensch nimmt sich selbst anders wahr, als dies seine Mitmenschen tun. Die Frage nach dem Vorhandensein ausgereifter Erkenntnismöglichkeiten stellt sich im Zusammenhang dieser Arbeit ebensowenig, wie einer philosophischen Frage dieser Tragweite
nachgegangen wird. Einzig und allein der Zugang des Protagonisten zu seiner eigenen
Welt und zur Außenwelt steht im Mittelpunkt der Betrachtungen.
Bense (1971: 7) untersucht die Realität der Literatur selbst, die in der vorliegenden
Arbeit nicht behandelt wird, aber der Begrifflichkeit wegen sind seine Darlegungen interessant: "Wirklichkeit […] ist also nicht feststellbar, sondern nur interpretierbar; sie fixiert
keine Einzelheit, sondern einen Zusammenhang, einen Nexus, keine Singularität, einen
Kontext, kein Fakt." Wirklichkeit ist vage, eine Annahme, jedenfalls ein Abstraktum und
kann vor allem deswegen nicht endgültig definiert werden, weil es keine Norm gibt.
Grundsätzlich orientiert sich Normalität an einem Durchschnittsmenschen, der jene Eigenschaften auf sich vereinigt, die der Großteil der Menschen als 'normal' erachtet, dennoch
deuten Abweichungen von dieser doch vagen Normalität nicht eo ipso auf einen kranken
Geisteszustand hin.
2.1.2 Von Watzlawicks Sinn oder Unsinn der Wirklichkeit
Der Autor Paul Watzlawick, ein Vertreter des Konstruktivismus, hat in den Natur- sowie in
den Geisteswissenschaften ein neues Weltbild formuliert. "Es gehört heute zum Allgemeinwissen breiterer Schichten, dass die Welt, wie wir Menschen sie mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, nicht objektiv so ist, wie wir sie sehen, hören, riechen, fühlen."
(WATZLAWICK 1992: 11) Von Objektivität in der Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung
kann keinesfalls ausgegangen werden, weshalb Watzlawick (1992: 41 f.) – beziehungsweise der Radikale Konstruktivismus – auch zwischen zwei Wirklichkeiten unterscheidet.
Zunächst gibt es die Wirklichkeit, die uns unsere Sinnesorgane vermitteln. Auf diese direk10
te Wahrnehmung oder Wirklichkeit erster Ordnung folgt die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung und Wert an diesen Wahrnehmungen, worunter wiederum die Wirklichkeit zweiter Ordnung verstanden wird. Dem Theoretiker zufolge ist die Annahme einer wirklichen
Wirklichkeit nicht haltbar, obwohl in der Psychiatrie daran festgehalten wird. "Das Kriterium menschlicher, geistiger und seelischer Normalität ist die Wirklichkeitsanpassung eines
Menschen." (ebd. 45) In dieser Arbeit wird nicht nach der wirklichen Wirklichkeit gesucht
und auch kein Bezug zu Ansichten aus der Psychoanalyse angestrebt. Die Thematik der
Wirklichkeitsanpassung betrifft hingegen sehr wohl Toussaints Protagonisten und das
Ausmaß ihrer Anpassung an die Wirklichkeit bildet einen Teil der Analyse. Die Grundthese seines Werkes aus 1979 beschreibt die beiden Ordnungen der Realität ähnlich. Zunächst
steht unumstößlich fest, dass es keine absolute Wirklichkeit gibt, sondern nur teilweise
widersprüchliche Wirklichkeitsauffassungen. Auf der Suche nach einem Gradmesser der
Normalität bieten sich zwei Begriffe der Wirklichkeit an, eben die Wirklichkeit erster und
zweiter Ordnung. Der erste Begriff bezieht sich auf rein objektiv feststellbare Eigenschaften von Dingen, der andere beruht auf der Zuschreibung von Sinn und Wert an diese Dinge
und daher auf Kommunikation (vgl. WATZLAWICK 1979: 142). Eine objektive Wirklichkeit ist somit nicht auf Ebene der Sinneswahrnehmung erfahrbar, nur Eigenschaften
können Dingen objektiv zugeschrieben werden und diese Dinge werden von allen Menschen gleichermaßen erfasst. Erst durch die kommunikative 'Aushandlung' der Eigenschaften kommt es zur Wirklichkeit zweiter Ordnung, welche den Gradmesser der Normalität
verkörpert.
Nun stellt sich im Zusammenhang mit Toussaint die Frage, inwieweit es sich in
seinen Romanen um die Schaffung, Betrachtung, Beschreibung eines Weltbildes handelt.
Handelt es sich bei seinen Protagonisten tatsächlich um Figuren, die ein anderes Weltbild
vertreten? Grundsätzlich kann diese Frage außer Zweifel gestellt werden, denn der Bezug
zur Realität steht jedenfalls im Zusammenhang mit einer bestimmten Weltanschauung, die
jeder für sich bewusst oder unbewusst wählt. Watzlawick hat sich mit der Relativität der
Wirklichkeit befasst und dieser Aspekt ist im Hinblick auf den Roman Monsieur (1986)
und dessen Credo Tout est selon sehr interessant.
"Die Erkenntnis, dass Wirklichkeiten immer Konstruktionen sind, gibt dem Individuum die
Möglichkeit, frei zu sein, sich für eine Wirklichkeit zu entscheiden, sich diese selbst auszusuchen." (WATZLAWICK 1992: 14) Über diese Wahlfreiheit verfügen auch die Protagonisten Toussaints und die verschiedenartige Inanspruchnahme wird in die Analyse mitein11
bezogen. Watzlawick (1979: 60 f.) schreibt einem Menschen, der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, drei besondere Eigenschaften zu. Zunächst ist ein Mensch dieser
Art frei, da er weiß, dass er sich seine eigene Wirklichkeit schaffen und diese auch wieder
verändern kann. Zweitens ist so ein Mensch im tiefsten ethischen Sinn verantwortlich,
denn dieser Mensch hat begriffen, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist,
ihm steht das Ausweichen in Sachzwänge und in die Schuld der anderen nicht mehr offen.
Drittens ist ein solcher Mensch konziliant. Können Toussaints Helden diese drei Eigenschaften zugeschrieben werden? Sind sie frei in Gedanken, konziliant in ihrer Art zu handeln und Konstrukteure ihres Daseins?
In seinem Werk Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (1979: 7) will Watzlawick zeigen,
dass Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Der Autor vertritt die These, dass
wir die Verdrehung von Tatsachen in Kauf nehmen, damit sie unseren Alltagsauffassungen
der Wirklichkeit nicht widersprechen, anstatt unsere Weltschau den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen.
2.1.3 Die Wahrnehmung der Wirklichkeit
Schneider widmet sich in seinem Essay Die Wahrnehmung der Wirklichkeit (1992) unter
anderem der Wahrnehmung der Dinge, des Raumes und der Zeit.
Die Welt in der wir leben, ist eine Welt der Dinge, ihnen begegnen wir, mit ihnen gehen wir
um, sie sind unser Anhalt an der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit der Dinge. Raum und Zeit sind demgegenüber sehr viel unauffälliger, sie kommen nicht vor in der
Welt, wie die Dinge vorkommen. (SCHNEIDER 1992: 19)
Dinge sind wahrnehmbar, wogegen Raum und Zeit als nicht im selben Sinne merkbare
Konstanten auftreten. Es sind die Dinge, auf die jeder Mensch Einfluss nehmen kann, die
als greifbar beschrieben werden, Gegenstände sind bestimmbar und anhand vertrauter Eigenschaften allgemein bekannt. Raum und Zeit ist jeder Einzelne ausgeliefert. (vgl. ebd.
19)
Schneiders Erörterungen betreffen weiters die Erfahrbarkeit der drei Faktoren (vgl.
ebd. 20): Im Raum ist alles nebeneinander gegenwärtig, auch unbetroffen voneinander und
gleichgültig gegeneinander, der Raum bedrückt durch seine Richtungslosigkeit. Kann im
12
Raum der Aufenthalt frei gewählt werden, ist dies in der Zeit nicht möglich, sie hat eine
Richtung, ist nicht gleichgültig und doch ängstigt sie durch die Leere ihrer Richtung. Raum
und Zeit machen durch ihre Unbestimmtheit die Unbestimmbarkeit der Wirklichkeit deutlich. "Raum und Zeit verbürgen uns die Wirklichkeit unseres Daseins […]. Alles, was ist,
ist […] in Raum und Zeit." (1992: 75)
Um einen Raum zu erfassen, muss er dennoch gedacht werden, wodurch er sich vor
unseren Augen zur Wirklichkeit entwickelt. Die Wirklichkeit eines Sinnes, entsteht gewissermaßen durch 'Übertragung' auf die Dinge, wie auf unser Denken und Sprechen von
Dingen (vgl. ebd. 27). Durch Begriffe alleine ist der Raum also nicht bestimmbar.
Die Zeit ist dasselbe, das vergeht, dauert und kommt, nicht ein Gleiches in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn sie haben nichts gemeinsam, sie unterscheiden sich
auch durch nichts, es gibt keinen Begriff über ihnen, der zwischen ihnen vermittelte, sie
sind das Ereignis der Zeit selbst, dies, dass die Zeit ist und nicht ist (vgl. ebd. 51). Beim
Nachdenken über die Zeit lassen sich immer neue Widersprüche zu Tage fördern, wenngleich auch zunächst der Eindruck entsteht, die Zeit in ihrer verborgenen Wirklichkeit
deutlicher bemerkt zu haben und in einem Ding selbst zu Gesicht zu bekommen, so entstehen doch nur wieder neue Fragen (vgl. ebd. 48).
Weiters spricht Schneider (1992: 124) von einer Doppeldeutigkeit des Wirklichen,
demnach gibt es eine Wirklichkeit der Dinge neben einer Wirklichkeit des Denkens, und
somit wird die Erfahrung der Wirklichkeit gleichfalls doppeldeutig.
2.1.4 L’expérience de Schrödinger
Der Protagonist Monsieur unternimmt im gleichnamigen Roman einen gedanklichen Ausflug in die Quantenphysik (1986: 26 f.). Dazu bedarf es vorweg einer theoretischen Erläuterung, die zur Erklärung der Ausführungen des Protagonisten dient. Die Vorgänge in der
Quantenwelt werden unter dem Namen 'Kopenhagener Deutung' zusammen gefasst, da sie
hauptsächlich von dem dänischen Physiker Niels Bohr entwickelt wurde, welcher vorwiegend in Kopenhagen tätig war (vgl. GRIBBIN 1996: 26). Bei der Kopenhagener Deutung
handelt es sich um das Doppelspaltexperiment, welches hier nicht in seinen Einzelheiten
erläutert werden kann. Bedeutsam ist die vom Österreicher Erwin Schrödinger aufgestellte
Wellengleichung, die angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir ein Photon (ein Elektron
13
oder dergleichen) an einem bestimmten Ort vorfinden (vgl. ebd. 27). Um diese Wahrscheinlichkeit zu beweisen, kam es zu folgendem Gedankenexperiment: Eine Kiste enthält
nur ein Elektron, und solange niemand in diese Kiste schaut, ist im Sinne der Kopenhagener Deutung die Wahrscheinlichkeit überall gleich groß, das Elektron irgendwo in der Kiste zu entdecken, "d.h., die mit dem Elektron verbundene Wahrscheinlichkeitswelle füllt die
Kiste gleichförmig aus." (ebd. 39) Würde die Kiste nun in der Hälfte durch eine Wand getrennt, könnte angenommen werden, dass sich das Elektron nun in einer Hälfte befindet.
Dieser Annahme widerspricht die Kopenhagener Deutung allerdings, derzufolge die Wahrscheinlichkeit, das Elektron in einer der beiden Hälften zu finden, noch jeweils 50 Prozent
beträgt. Erst ein Blick in die Kiste klärt über den Aufenthaltsort des Elektrons auf, erst in
diesem Moment wird es 'wirklich'. Nach Schrödinger ist der Beobachter für das Wirklichwerden des Elektrons in einer der beiden Kistenhälften verantwortlich (vgl. GRIBBIN
1996: 39 f.). Der österreichische Physiker stellt nun dem Elektron eine Katze zur Seite, die
sich in einer Hälfte einer Kiste aufhält. Außerhalb der Kiste befindet sich ein Elektronendetektor, der so mit dieser Kiste verbunden ist, dass Giftgas ausströmt, sobald er das Elektron aufspürt (vgl. ebd. 40). Zusammenfassend bedeutet das, dass es sich um eine "Überlagerung von Zuständen" handelt, denn in dem Raum sei, so lange niemand hineingeschaut
hat, eine weder tote noch lebendige, gleichsam in einem Schwebezustand verharrende Katze (vgl. ebd. 42). Schrödinger spricht nicht von einer Überlagerung von Zuständen, sondern vom "Verschmieren" (ebd.). In Monsieur (1986) wird dieses Experiment zwar nur
kurz – im Umfang weniger Seiten – angesprochen, dennoch soll die Bedeutung, die in dieser theoretischen Darlegung versteckt ist, eingebunden werden.
2.2 Hypotextualität
2.2.1 Genettes Transtextualitätskategorien
Nach Genette (1982: 7ff.) ist Gegenstand der Transtextualität "tout ce qui le (le texte)
[meine Anmerkung] met en relation, manifeste ou secrète, avec d’autres textes". Diese
verschiedenen Verbindungen der toussaintschen Primärtexte zu anderen Romanautoren
umfassen einen Teil der Romananalyse. Die Einbindungen sind teilweise auf Toussaint
14
selbst rückführbar, denn er baut Texte anderer Autoren in seine Erzählungen direkt ein
oder verweist in Interviews auf ihre Bedeutung. Nach Genette sind derartige Verbindungen
als offenkundig zu qualifizieren, während sich Verweise zu anderen Autoren aus auffälligen Parallelen zwischen den Protagonisten ergeben und daher als geheime Relationen zu
interpretieren sind.
Der Literaturtheoretiker unterscheidet fünf Typen transtextueller Beziehungen: Para-, Meta-, Archi-, Inter- und Hypertextualität. Obgleich den letzten beiden Kategorien,
respektive der Hypertextualität, im hier zu behandelnden Zusammenhang eine bedeutendere Rolle zukommt, erscheint eine Erläuterung der übrigen Kategorien sinnvoll, zumal diese
Begrifflichkeiten sich einerseits gegenseitig bedingen und andererseits nicht als starre Bedeutungen anzusehen sind. Die genettschen Bezeichnungen weichen zwar von jenen anderer Literaturwissenschafter ab, trotzdem soll ihre Anwendbarkeit auf das Werk besprochen
werden.
Den Paratext (vgl. ebd. 9) bildet all jenes, welches sich nicht auf der Ebene des Textes befindet: Titel, Unter- und Zwischentitel, Vor- und Nachworte, Hinweise an den Leser,
Einleitungen, Fußnoten, Anmerkungen u. dgl. Diese Kategorie trägt zur Erläuterung des
Realitätsbezugs der toussaintschen Protagonisten bei, da nach Rebollar (2003: 99) die Titel
den Kerninhalt des Romans verraten, welcher jeweils einen Aspekt der Realität thematisiert. Es werden zudem Interviews von Toussaint in die Analyse miteinbezogen, die als
paratextuelles Element bezeichnet werden können. Ebenfalls unter Paratextualität fällt die
äußerliche Seite des Textes: der Abdruck in Fragmenten, ob nummeriert oder nur durch
Absätze markiert. Auch die in Klammern gesetzten Kommentare Toussaints fallen in diesen Bereich und werden nicht rein zufällig vom übrigen Text optisch abgesetzt. Abschließend kann zur Paratextualität noch hinzugefügt werden, dass auch die Zwischentitel in La
salle de bain (1985): "Paris - L’Hypothénuse - Paris" nicht bedeutungsleer sind. Asholt
(1994: 333) meint, Toussaint wolle den Leser mit dieser Dreiteilung nur irreführen. Der
Leser versuche vergebens, die jeweiligen Abschnitte als Werte in die Dreiecksformel des
pythagoreischen Lehrsatzes einzusetzen. Mathematische Kenntnisse sind allerdings bei der
Lektüre nicht vonnöten, denn Toussaint schwächt die starr wirkende Ordnung ab: "[…] ce
qui compte, c’est de donner l’illusion d’une logique." (AMMOUCHE-KREMERS: 30) In
diesem Sinne kommt die Vermutung der Irreführung nicht von ungefähr, denn seine Aussage lässt darauf schließen, dass die vermeintlich radikale Ordnung eine Art Hinweis an
den Leser darstellt. Der Autor strebt eine gewisse Irreführung des Lesers an, um eine ge15
wisse Vorstellung entstehen zu lassen – auch bezüglich der dargestellten Protagonisten –
welche er durch diverse Hinweise (Klammernsetzung, Absätze, u. ä.) wieder abschwächt.
Eine zweite transtextuelle Kategorie ist die Metatextualität, die Genette (1982: 10) la
relation critique tauft und folgendermaßen beschreibt: "[…] la relation, on dit plus couramment de «commentaire», qui unit un texte à un autre texte dont il parle, sans nécessairement le citer, […], sans le nommer […]".
Den dritten Typ bezeichnet der Theoretiker als Architextualität, die als Gesamtheit
jener allgemeinen oder übergreifenden Kategorien verstanden wird, denen jeder einzelne
Text angehört (vgl. ebd. 7).
Einen wichtigen Platz der Genetteschen Kategorien nimmt die Intertextualität ein. Er
verweist zunächst auf Julia Kristeva, denn schließlich hat die Literaturwissenschafterin den
Begriff eingeführt. Sie vertritt die Ansicht, dass alles Intertext ist (KRISTEVA 1969: 146)
[…] tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle
d’intertextualité, et le langage poétique se lit au moins, comme double.
Jeder Text setzt sich aus anderen Texten zusammen, basiert also auf einem oder mehreren
anderen Texten, kein Text steht für sich allein. Dies kann im Hinblick auf die bearbeiteten
Hypotexte und deren potenzielle Vorläuferqualität oder aber Modellqualität ins Treffen
geführt werden.
Genette (1982: 8) folgt einer restriktiveren Auffassung von Intertextualität: "[…] une
relation de coprésence entre deux ou plusieurs textes, […] la présence effective d’un texte
dans un autre." Genette lässt keine versteckten Hinweise auf andere Texte zu, er plädiert
für das Offensichtliche. Eine effektive Präsenz eines Textes findet sich in La salle de bain
(1985: 93):
70) But when I thought more deeply, and after I had found the cause for all our distress, I
wanted to discover its reason, I found out there was a valid one, which consists in the natural
distress of our weak and mortal condition, and so miserable, that nothing can console us, when
we think it over (Pascal, Pensées).
Diese Stelle aus der englischen Version der Pensées von Blaise Pascal fügt Toussaint nicht
ohne Hintergedanken an. Er spielt auf einen Satz des Philosophen an, welcher in der Analyse des ersten Romans aufgegriffen wird. Toussaint meint zu diesem Zitat (DEMOULIN
16
2005: 28): "[…] j’ai préféré le citer en anglais, ça évitait de faire trop sérieux." Durch diesen Autorkommentar im Paratext wird Toussaints Poetik deutlich, wonach er der Beliebigkeit und der Uneigentlichkeit in seinen Beschreibungen huldigt. Der Leser soll zunächst
den Eindruck gewinnen, sämtliche Wendungen wären ernst gemeint, jedoch belehrt er ihn
im Text oder eben im Paratext eines Besseren. Mit der angeführten Passage haben wir
gleichfalls ein Beispiel für eine der drei Formen, die die Präsenz eines Textes in einem
anderen ausdrücken können (vgl. GENETTE 1982: 8): Das Zitat mit Autor- und Werkangabe als die expliziteste Form. Daneben gibt es die weniger explizite Form des Plagiats,
welches eine ebenfalls wörtliche, aber nicht wie das Zitat deklarierte Entlehnung darstellt.
Ergänzend dazu kommt die Anspielung als dritte Form.
Den letzten Typus betitelt Genette (1982: 11) mit Hypertextualität: "J’entends par là
toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte antérieur A (que
j’appellerai, bien sûr, hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du
commentaire." Ein Hypotext ist nach diesem Verständnis ein wie auch immer gearteter
Prätext, der vom aktuellen Text aufgenommen wird. Genette spricht hier (ebd.) von einem
"texte au second degré ou texte dérivé d’un autre texte préexistant." Eben dieser letzte Typ
der von Genette erörterten Transtextualitätskategorien bildet den Ausgangspunkt und
zugleich einen Schwerpunkt des analytischen Teils dieser Arbeit. Es werden einige Hypotexte herangezogen, auf deren Figurenkonzeption jene Toussaints rückführbar ist.
Bei einem Vergleich der Intertextualität Kristevas und der Hypertextualität Genettes
kann mitunter eine gewisse Äquivalenz festgestellt werden. Der Hypertext ist ein Text, der
einen anderen Text, den Hypotext überlagert. Überlagerung könnte durchaus unter Absorption (im Sinne Kristevas) subsumiert werden.
2.2.2 Was ist nun ein Hypotext?
Die Literaturwissenschafterin Sophia Petronella Shoots bespricht in ihrem Werk unter anderem die Bedeutung des Zitierens im minimalistischen Roman. Sie unterscheidet zwischen citation fictive und citation réelle, welche ihr zufolge die selbe Wirkung auf der
Ebene der Erzählung haben: der Text wird klar als fiktive Konstruktion entlarvt (vgl.
SHOOTS 1997: 79). Handelt es sich nun um ein fiktives oder ein reales Zitat, es wird je-
17
denfalls etwas in der Fiktion wiedergegeben und in die Fiktion eingefügt, wodurch der
Charakter der Erzählung klar wird.
A condition de ne pas prendre à la lettre le mot ‘texte’, le jeu citationnel est une forme
d’intertextualité. Il comprend non seulement des livres mais aussi d’autres modes de représentation: tableaux, films, musique et bandes dessinées. (SHOOTS 1997: 61 f.)
Shoots nimmt den Audruck jeu citationnel Baudrillards wieder auf, wobei es schlicht um
die Repräsentation von anderen Künsten im Roman geht. Das Wort Text wird weit ausgelegt und erfasst damit alle Arten der Künste. In der vorliegenden Arbeit wird Shoots‘ Interpretation von Intertextualität angewandt und die Analyse greift, neben einigen Exkursen
in die Musik und die Malerei, vorwiegend die Repräsentation in Form von Büchern auf.
In Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie wird zwar auch auf die geläufige Auslegung Genettes verwiesen, allerdings findet sich auch noch eine andere Auslegung, die nicht von einer Überlagerung der Texte spricht: Hypotext bezeichnet einen in
sich kohärenten Text, der in einen anderen Text eingebettet und diesem untergeordnet ist.
(vgl. NÜNNING 1998: s.v.) Die Tatsache, dass ein Hypotext in einem Subordinationsverhältnis zum Hypertext steht, verweist auf Genette und ist zudem unbestritten. Als Hypotext
wird in dieser Arbeit demnach nicht nur ein expliziter Verweis auf einen anderen Text angesehen, sondern auch implizite oder potenzielle Verweise gelten als Hypotexte. Die Parallelen zu anderen Autoren, die im analytischen Teil etabliert werden, beziehen sich ganzheitlich auf den Realitätsbezug der Protagonisten. Die Auswahl der Hypotexte beruht einerseits auf Hinweisen aus der Sekundärliteratur und andererseits auf eigenbestimmten
Anhaltspunkten, die eine Verbindung zwischen den jeweiligen Werken, beziehungsweise
den Protagonisten erlauben.
18
3 Analytischer Teil
In diesem Kapitel wird die allgemeine und toussaint-spezifische Sekundärliteratur herausgearbeitet, in welcher der Realitätsbezug der Romanhelden erkennbar wird. Sie soll in Folge als Grundlage einer Untersuchung der einzelnen Romane dienen. Bei Patrick Rebollar
(2003: 99) wird der Schwerpunkt auf die Aussagekraft des Titels gelegt. Das Wissen um
den Autor habe also einen gewissen aufklärenden Charakter hinsichtlich der Wahl des Titels. Diese 'l’homme-et-l’oeuvre-Ansicht' Rebollars ist wenig glaubwürdig, denn allein
vom Namen eines Autors oder durch gewisse Kenntnis seiner Person lässt sich sein Schaffen nicht erschließen, zumal er zuletzt einen Roman mit dem Titel La Mélancholie de Zidane (2006) veröffentlicht hat, der auf ein aktuelles tages- und sportpolitisches Geschehen
Bezug nimmt. Weiters sind Autoportrait (à l’étranger) (2002), Faire l’amour (2002) und
Fuir (2005) schon rein thematisch kaum vergleichbar mit den früheren Romanen. Interessant ist die Besprechung des Titels oder vielmehr das dort referierte Thema insofern, als
darin ein Schwerpunkt des Werkes enthalten ist, der auch einen Ansatz für Aspekte der
Realitätswahrnehmung bietet.
Hinsichtlich der Person des Helden gibt es in der Literaturtheorie verschiedene Ansichten, wie ein Protagonist à la Toussaint bezeichnet, charakterisiert oder analysiert werden kann. Schärer (1978: 129) beispielsweise spricht von einer psychischen Strategie, die
die Helden bei Broch, Svevo und Musil verfolgen. Die Helden Svevos nutzen die psychische Strategie als Mittel, sich am Leben zu erhalten, sich im Leben zu behaupten. Indem
diese Art von Held seine Schwäche geltend macht, schützt er sich ursprünglich nur vor der
feindlichen Realität. Nach Schärer benützen die von ihm besprochenen Protagonisten ihre
Schwächen, um sich in der Welt zu behaupten. Ist eine Charakterisierung der Protagonisten
Toussaints als schwache Helden möglich?
Asholt (1994: 22) spricht davon, dass sich Toussaints namenlose Anti-Helden in einem gewissen Immobilismus ähneln, denn sie sind introvertiert und zurückhaltend. Ist
demnach Intoversion als Charakteristik zu sehen?
Im Interview in Les Inrockuptibles (BOURMEAU/GABRIEL 1997: 2) wird auf die
Wesensart der toussaintschen Protagonisten hingewiesen: "[…] personnages, qui sont obsédés par l’idée du self-control, de l’autodiscipline, de la maîtrise du corps." Demnach
handelt es sich bei Toussaints Helden vielmehr um Meister der Selbstdisziplin, die nach
19
außen hin gefasst wirken. Oder zeichnen sich Toussaints Helden doch durch Verhaltensanomalien auf, da sie zwanghaft und neurotisch agieren?
Shoots (1997: 137) spricht den Realitätsaspekt in einer allgemeinen Betrachtung
des minimalistischen Romans an, ohne dabei einzelne Autoren, wie Toussaint, hervorzuheben. "[…] les romans minimalistes mettent en question la représentation traditionnelle
de la réalité." Eben diese In-Frage-Stellung der konventionellen Wirklichkeitsdarstellung
tritt bei Toussaint in den Vordergrund.
Winter (2002: 202f.) sieht zwischen La salle de bain (1985), L’appareil-photo
(1988), La télévision (1997) und Autoportrait (à l’étranger) (2002) eine weitere Gemeinsamkeit. Diese Romane ließen sich "unter den Vorzeichen der skizzierten raum-zeitlichen
Verschiebungen und medial gesteuerten Wahrnehmungsperspektiven" als neuartige Reiseromane lesen. Sie spricht davon, dass Toussaint mit einem "Schwindel der beschleunigten
Bilder und Realitäten" arbeitet und weiters die äußeren Bewegungen verlangsamen will. Er
beginnt "ein Spiel des Denkens, des Sehens und der Medialität". Zwar stellt sich nicht die
Frage nach einer möglichen Klassifizierung der Werke als Reiseromane, aber danach, ob
die Wahrnehmungsperspektiven medial gesteuert werden, beziehungsweise ob Toussaint
mit Bewegungen arbeitet. Weiters ergibt sich daraus die Frage, ob er die Darstellung des
Protagonisten zu dessen besserer Fokussierung verlangsamt? Die Literaturwissenschafterin
(WINTER 2002: 203) spricht von einer Hervorhebung "medialer Apparate, Einschreibungen und Bilder (Kunst, Literatur, Photographie, Fernsehen und auch Fahr- und Flugzeuge),
die den Romandiskurs strukturieren, rhythmisieren und Anzeichen für eine neue medienreflektierte und wahrnehmungsästhetisch geprägte Literarität formulieren". Damit spielt sie
unter anderem auf intertextuelle Bezüge an – und im Sinne Shoots (1997: 61) ist Text nicht
wörtlich zu verstehen – wonach festgehalten werden kann, dass inter-/hypotextuelle Einflechtungen in den Erzähldiskurs eine Erklärung für die Wahrnehmung des Protagonisten
bieten. Der Verweis auf andere Autoren dient vorwiegend zur Verdeutlichung, dass eine
Auseinandersetzung mit dem Realitätsbezug von Romanprotagonisten keineswegs einer
literarhistorischen Basis entbehren muss.
20
3.1 La salle de bain (1985)
Der erste Roman Jean-Philippe Toussaints präsentiert einen namenlosbleibenden IchErzähler, der – in Stanzel-Terminologie – als 'Reflektorfigur' (vgl. STANZEL 1979: 16)
fungiert und seine Wahrnehmung der Welt vermittelt. Die Handlung setzt in einem bestimmten Raum ein: dem Badezimmer. Mit diesem Ort eröffnet die Analyse und führt weiter über die Bedeutung der beiden Sphären Raum und Zeit, das Verhalten des Protagonisten bis hin zum Einfluss der Kunst auf die Hauptfigur.
3.1.1 Die Bedeutung des Raumes
3.1.1.1 Das Badezimmer
Weshalb wählt der Protagonist diesen Raum zu seinem bevorzugten Aufenthaltsort? Warum zieht er sich nicht in einen gemütlicheren Raum zurück und verbringt einen großen
Teil seiner Zeit in der Badewanne anstatt auf einem Bett oder Sofa? Die ersten Zeilen weisen bereits darauf hin, dass das Badezimmer womöglich willkürlich ausgewählt wurde:
Lorsque j’ai commencé à passer mes après-midi dans la salle de bain, je ne comptais pas m’y
installer ; non, je coulais là des heures agréables, méditant dans la baignoire, parfois habillé,
tantôt nu. (1985: 11)
Der Protagonist findet sich zunächst nur nachmittags im Badezimmer ein, ohne sich dort
einzurichten. Seine Affinität zu diesem Raum entsteht möglicherweise aus der angenehmen Erfahrung eines entspannenden Bades. Für ihn stellt die Badewanne im Speziellen,
beziehungsweise der gesamte Raum, einen idealen Ort des Rückzuges dar.
4) Un matin, j’ai arraché la corde à linge. J’ai vidé tous les placards, débarrassé les étagères.
Ayant entassé les produits de toilette dans un grand sac-poubelle, j’ai commencé à déménager
une partie de ma bibliothèque. Lorsque Edmondsson rentra, je l’accueillis un livre à la main,
allongé, les pieds croisés sur le robinet. (12)
21
Dieser 'Einzug' oder 'Umzug' ins Badezimmer ist keine vorübergehende Lösung. Der Raum
wird entgegen seiner ursprünglichen Bestimmung benützt. Trotz Zweckentfremdung des
Feuchtraumes lässt die Beschreibung die Situation gemütlich wirken. Schneider (1992: 19)
sieht die Dinge als etwas allgemein Bekanntes, Wahrnehmbares. Der Raum hingegen gilt
als undefinierbares Abstraktum. Obgleich ein Raum in einer Wohnung nichts Abstraktes
darstellt, entsteht doch der Eindruck, etwas Realitätsfernes zu beobachten. Der Raum 'Badezimmer' wirkt durch die Entziehung seiner ursprünglichen Bestimmung mitunter abstrakt und dient zur Abgrenzung des Protagonisten und seiner Welt von der Außenwelt.
Neben der Lektüre hört sich der Ich-Erzähler Sportsendungen im Radio an: "Deux
fois par semaine j’écoutais le compte rendu radiophonique du déroulement de la journée de
championnat de France de football." (13) Sowohl Lesen als auch das Interesse für Sportnachrichten gelten als verbreitete und gewöhnliche Freizeitbeschäftigungen. Der dafür gewählte Ort referiert allerdings auf eine keineswegs gewöhnliche Wahrnehmung dieses
konventionellen Zeitvertreibes. Verdeutlicht wird dies durch die Art und Weise, wie der
Protagonist die Radiosendungen aufnimmt: "Bercé par de chaudes voix humaines,
j’écoutais les reportages la lumière éteinte, parfois les yeux fermés." (14) Die Stimmen der
Radiosprecher erfüllen den Protagonisten. Im Grand Larousse (1971: s.v.) findet sich unter
bercer
eine
sehr
passende
Entsprechung:
"Produire
une
impression
agréable
d’engourdissement." Diese zusätzliche Bedeutung von bercer lässt den Eindruck entstehen,
dass sich der Protagonist in einem Zustand der Benommenheit befindet und es scheint, als
ob er einen Ausstieg aus der realen Welt gefunden hätte, beziehungsweise hat er eine Möglichkeit entdeckt, der Außenwelt für eine gewisse Zeit zu entfliehen.
Nach seinem Venedigaufenthalt wieder angelangt in seiner Pariser Wohnung, führt
ihn sein erster Weg abermals ins Badezimmer:
Mais c’était dans la salle de bain que je me sentais le mieux. Pendant les premiers temps, je lisais assis dans un fauteuil, puis – parce que l’envie me prenait de lire couché sur le dos – allongé dans la baignoire. (129)
Die Badewanne gilt als die ideale Einfassung für seinen Körper und möglicherweise trägt
die Härte des Emails noch dazu bei, dass er die Umgebung als so angenehm empfindet. Er
spürt die Wirklichkeit, seine Existenz. Diese Erfahrung der Existenz erinnert an Sartres
Antoine Roquentin, der die Kontingenz seines Daseins erkennt, was den Blick auf die
Wirklichkeit ganzheitlich verändert (vgl. COENEN-MENNEMEIER 2001: 145). Obgleich
22
es sich bei dieser Verhaltens-Analogie nicht um eine unumstößliche Tatsache handelt, so
ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Romanfiguren durchaus erkennbar, zumal der Ich-Erzähler sich intensiv mit sich selbst, beziehungsweise mit seinen Gedankengängen beschäftigt, als wäre er auf der Suche nach Erkenntnis. Diese Suche ist auch bei
Roquentin merkbar, welcher dem Gefühl des être de trop auf den Grund gehen will. Insofern streben beide Helden nach einem neuen Zugang zur äußeren Wirklichkeit, der eine
sucht zunächst im Badezimmer, also in einem bestimmten Raum, wogegen der andere eher
unvermittelt auf neue Eindrücke stößt, sei es beim Spazierengehen oder beim Essen in einem Lokal.
Patrice Bollon (1989) spricht in seinem Artikel vom Individualismus, welchen auch
der Protagonist lebt, beziehungsweise vom 'Cocooning', dem sich Verpuppen, und das trifft
begrifflich genau die Taktik, die der Protagonist verfolgt. Auch die Form der Badewanne
unterstützt und erleichtert das Verpuppen gewissermaßen, da mit dem Rückzug in einen
Raum der Strategie nicht Genüge getan wäre. Nach Anke Wortmann (1993: 135) lassen
sich das verbreitete Bedürfnis nach Sicherheit und Bequemlichkeit, der Wunsch nach
Rückzug ins Private und immer mehr Individualismus unter dem Begriff 'Cocooning' zusammenfassen. Wortmanns Auslegung von 'Cocooning' kann auf zwei verschiedene Arten
verstanden werden. Entweder ist schlicht das Verlangen nach mehr Privatsphäre, nach
mehr Zeit für Familie und Freunde fern von gesellschaftlichen Zwängen angesprochen,
oder Individualismus zielt auf eine Isolation und eine nicht bloß vorübergehende, temporäre Exklusion aus der Gesellschaft ab. Der Protagonisten wünscht sich wohl auch Privatsphäre, aber sein Rückzug geht weit darüber hinaus. Er strebt mehr nach Isolation, es mangelt ihm an der Fähigkeit, einem normalen Leben nachzugehen. Wie eingangs erwähnt, ist
der Gradmesser für Normalität das Maß der Wirklichkeitsanpassung jedes Einzelnen. Diesem Verständnis zufolge bedient sich der Ich-Erzähler eines geringen Maßes der Anpassung. Er flüchtet sich vor den nicht beeinflussbaren Umständen seines Lebens in einen
durch Fliesen klar strukturierten Raum. Diese klaren Formen dienen ihm als Rückhalt, er
fühlt sich sicher und befriedigt im weitesten Sinne damit das Bedürfnis nach Sicherheit.
Dem Bild des sich Verpuppens treu bleibend, vollzieht der Ich-Erzähler dieses durch das
Einbetten seines Körpers in die Badewanne.
23
3.1.1.2 Das Hotelzimmer
Sein überstürzter Aufbruch nach Venedig (53) ändert nichts an seinem Verhalten. Er lässt
auch das dortige Leben mehr oder weniger spurlos an sich vorüberziehen und verlässt sein
Hotelzimmer kaum. Nach Asholt (1994: 22) "reagieren die toussaintschen Helden auf unbekannte Konstellationen mit eher noch größerer Zurückhaltung und Introvertiertheit."
Dies äußert sich unter anderem durch seine anti-touristische Verhaltensweise: "Lorsque je
sortais de l’hôtel, je m’éloignais rarement. Je restais dans les rues avoisinantes." (64) Er
nimmt den Touristenrummel überhaupt nicht wahr und zieht sich abermals zurück – es hat
sich trotz Ortswechsel nichts geändert. Wieder kann Furcht als Grund für seine Zurückgezogenheit gesehen werden. Da er seine eigene Wohnung bereits aus Angst vor den polnischen Malern (vgl. 33) verlassen hat, meidet er auch in Venedig die Gesellschaft anderer
Menschen. Weiters stellt sich die Frage, weshalb er in Venedig nicht ebenfalls das Badezimmer zum Rückzugsort wählt. Da es sich um ein Etagenbad handelt, schreckt er vor unerwünschten Zusammentreffen mit anderen Hotelgästen zurück. Demnach will er zunächst
seinen neuen Aufenthaltsort kennenlernen:
Couché sur mon lit, je regardais le jour gris qui traversait la fenêtre. La chambre commençait à
devenir sombre. Les meubles s’estompaient, s’amenuisaient dans la pénombre. […] mon pied
en chaussette, sur l’édredon, bougeait en rythme imperceptiblement. (59 f.)
In der hereinbrechenden Dunkelheit fühlt er sich in diese neue Umgebung ein, lässt den
Raum auf sich wirken und hört Musik. Die Situation erinnert an seine Nachmittage in der
heimischen Badewanne. Wieder will er eins werden mit etwas zunächst Unbekanntem. Ein
Hotelzimmer als solches repräsentiert etwas Greifbares, aber die Dunkelheit und die lediglich schwachen Umrisse, die erkennbar bleiben, deuten eine verschwommene Wahrnehmung an. Diese Art der Wahrnehmung hat der Protagonist bewusst gewählt, um sich gewissermaßen einzuleben.
Schließlich findet der Protagonist mit der neuen Umgebung auch eine neue Beschäftigung und widmet sich intensiv einem Dartspiel. Der Stadt Venedig zum Trotz befestigt er
mit Genugtuung sein Spiel am Kasten (vgl. 64) und inszeniert sogar einen Wettkampf: "La
finale opposa la Belgique à la France. Dès la première série de lancers, mon peuple, très
concentré, prit facilement l’avantage sur ces maladroits de Français." (89 f.) Der Protagonist wirkt wie ein Kind, welches in Ermangelung eines Spielkameraden gezwungen ist,
24
sich selbst zu beschäftigen und auf diese Weise offenbar Erfüllung seines Spieltriebs findet. In dieser Verhaltensweise bestätigt sich eine Art der Realitätsbegegnung. Als wollte
der Erzähler sich ablenken, gibt er sich einer banalen Beschäftigung hin. Weiters ist hier
eine Einschaltung der Erzählinstanz merkbar, da von mon peuple die Rede ist. Da JeanPhilippe Toussaint gebürtiger Belgier ist, wird hier geschickt ironisch auf die seit langem
bestehende Rivalität zwischen Franzosen und Belgiern angespielt.
3.1.1.3 Das Krankenzimmer
Einen weiteren Raum 'missbraucht' der Protagonist gewissermaßen für seine Zwecke: ein
Zimmer in einem venezianischen Hospital, in welches er sich zudem mehr oder weniger
selbst einweist. Nach einer Untersuchung, die eine Stirnhöhlenentzündung ergeben hat,
bittet er ohne ärztliche Einweisung um ein Zimmer (vgl. 102 f.).
10) Depuis mon installation, deux jours plus tôt, la chambre portait la marque de ma présence,
des journaux reposaient en ordre sur la table de nuit, […], le verre à dents était rempli de
cendres, de mégots. Il m’arrivait parfois de sortir une des radiographies de l’enveloppe pour
regarder mon crâne ; je l’examinais de préférence devant la fenêtre, en transparence, les bras
tendus devant moi. (105)
Installation kann in diesem Zusammenhang vielmehr als Einzug verstanden werden, denn
von Einweisung aufgrund einer Erkrankung kann kaum gesprochen werden. Der ‚Patient‘
verhält sich vielmehr wie ein Hotelgast, verzichtet allerdings auf die kostenlosen Mahlzeiten und verlässt das Hospital wann immer es ihm beliebt. Auch der Umstand, dass er in
seinem Zimmer raucht, deutet auf seine rücksichtslose Einstellung dieser Institution gegenüber hin. Auch den Mahnungen der Oberschwester "Vietato fumare" (106) schenkt er
keine Beachtung. Schärer zufolge (1978: 129) nützt der Held seine (inszenierte) Schwäche
aus, um sich über allgemein geltenden Regelungen hinwegzusetzen. Er setzt ganz bewusst
seine vorgetäuschte Krankenstellung und seine vermeintliche Unkenntnis der Landessprache zu seinem Vorteil ein. Allerdings verhält er sich an diesem Ort keineswegs so, als wäre
er eine Zufluchtsstätte, allerdings bewirkt sein unangemessenes Verhalten abermals eine
Zweckentfremdung des Raumes. Dieser Raum kann als eine Art Zwischenstation interpretiert werden: "Le monde est une salle d’attente où il n’y a rien à attendre, sauf à laisser
s’écouler le temps." (BOLLON 1989: 83) Das Krankenzimmer ist, ähnlich einem Warte25
zimmer, eine Station im Leben des Ich-Erzählers, die weder gesundheitlich noch in seiner
Persönlichkeitsentwicklung einen Fortschritt erwarten lässt. Der Scheinpatient setzt auch
keine Erwartungen in seinen Aufenthalt, er erwartet womöglich nur, dass die Zeit weniger
merklich vergeht…
Sein urlaubsähnlicher Aufenthalt im venezianischen Krankenhaus nimmt schließlich ein jähes Ende, da sich der Protagonist an der Anwesenheit eines anderen Menschen in
seinem Zimmer stößt. Dieser ist zudem tatsächlich krank und der Ich-Erzähler erträgt dessen Nähe nicht und zieht eine Rückkehr nach Paris vor. Der Auslöser für seinen Ortswechsel ist ein anderer Mensch. Dieses Phänomen wird im Laufe der Analyse näher ausgeführt
werden.
3.1.2 Wahrnehmung der Zeit
Mit dem Beobachten eines Risses in der Wand des Badezimmers beschäftigt sich der Protagonist über Stunden hinweg: "Le mur qui me faisait face, parsemé de grumeaux, présentait des craquelures; […]. Pendant des heures, je guettais ses extrémités, essayant vainement de surprendre un progrès." (12) Durch das Fortschreiten des Risses will er das Verrinnen der Zeit bemerken, das erfahrungsgemäß langsam fortschreitet. Schneider setzt sich
mit der Erfahrung der Zeit auseinander und setzt es mit den Dingen in Verbindung: "Was
das Ding verzehrt, ist die Dauer der Zeit selbst. Es ist kein Ereignis in der Zeit, es ist das
Ereignis der Zeit selbst." (SCHNEIDER 1992: 48) Das Verharren in ein und derselben
Position und das Starren auf ein und dieselbe Stelle ermöglicht weder, Einfluss auf das
Verrinnen der Zeit zu nehmen, noch dieses wahrzunehmen. Obgleich Zeit mittels einer Uhr
messbar und durch das Altern jedes Menschen merkbar und sichtbar ist, so ist sie neben
dem Raum doch ein weiteres Abstraktum, welches der Sphäre der Unbestimmbarkeit angehört.
Der Protagonist zeigt noch eine weitere Eigenart der Zeitwahrnehmung: "Je surveillais la surface de mon visage dans un miroir de poche, et parallèlement, les déplacements
de l’aiguille de ma montre. Mais mon visage ne laissait rien paraître. Jamais." (12) Diese
belanglose, obgleich etwas eigenartige Beschäftigung des Ich-Erzählers lässt eine hypotextuelle Verbindung zu Georges Simenons Protagonisten Kees Popinga aus L’homme qui
regardait passer les trains (1938) zu: "Et, parlant ainsi, il se regardait dans la glace pour
26
s’assurer que son visage était rigoureusement imperturbable. Cela l’amusait!" (SIMENON
1938 : 41)
Beide Protagonisten haben gemeinsam, dass sie die Unveränderlichkeit ihres Gesichtsausdruckes bewundern, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Kees Popinga
erfreut sich daran, dass seine Mimik keine Gemütsregung verrät, während das Gesicht des
toussaintschen Protagonisten das Verstreichen der Zeit nicht erkennen lässt. Weiters teilen
die beiden die Eigenschaft, dass sie ihre Umwelt scheinbar teilnahmslos wahrnehmen: sei
es der Ich-Erzähler aus La salle de bain, den die Risse an der Wand mehr interessieren als
andere Menschen, oder Simenons Popinga, der sich an seiner neuen Lebensweise erfreut,
die er sich angeeignet hat, nachdem er aus seinem biederen, mittelmäßigen Leben ausgebrochen ist: "Il continuait à se comprendre, à s’amuser tout seul, à se délecter de ses
propres paroles, de ses gestes, de son visage qu’il voyait dans une glace." (SIMENON: 65)
Es muss allerdings betont werden, dass im Übrigen die Charakterzüge der beiden Helden
nicht vergleichbar sind, da sich Kees Popinga zu einem kaltblütigen Verbrecher entwickelt,
wogegen sich der toussaintsche Held kaum vorsätzlich oder potenziell gefährlich verhält.
Die Thematik des Spiegels kommt außerdem bei zahlreichen anderen Autoren vor.
An prominenter Stelle findet sich diese Thematik bei Jean-Paul Sartre, dessen Protagonist
Antoine Roquentin sein Spiegelbild anders als Toussaints Ich-Erzähler einschätzt:
C’est le reflet de mon visage. Souvent, dans ces journées perdues, je reste à le contempler. Je
n’y comprends rien, à ce visage. Ceux des autres ont un sens. Pas le mien. Je ne peux même
pas décider s’il est beau ou laid. (SARTRE 1938: 33)
Im Gegensatz zu Popinga sieht Roquentin im Spiegel keine Erklärung, er erkennt in seinem Abbild nicht sein Inneres wieder. Eins haben diese drei Protagonisten aber unbestritten gemeinsam: ihre Miene bleibt nach außen hin geheimnisvoll und verrät nichts von dem,
was in ihrem Inneren vorgeht.
Eine weitere Art der Zeitwahrnehmung des Protagonisten, ist jene, den Regen zu
beobachten: "Il y a deux manières de regarder tomber la pluie." (37) Er beobachtet den
Regen entweder, indem er einen Punkt fokussiert und damit sozusagen den Regen als Ganzes beobachtet, oder indem er einen Tropfen fixiert und diesem folgt, bis er auf dem Boden
verschwindet (vgl. ebd.). Der Regen regt ihn auch zu philosophischen Überlegungen an:
27
[…] je me disais que les gens ne redoutaient pas la pluie; […] la craignaient, mas nul n’avait
vraiment peur qu’elle ne s‘arrêtât jamais, écoulement continu faisant tout disparaître – abolissant tout. C’est moi qui, […] avais eu soudain peur du mauvais temps, alors que c’était
l’écoulement même du temps, une fois de plus, qui m’avait horrifié. (33)
Es ist also die Zeit, beziehungsweise ihr Dahinrinnen, welches ihm Angst bereitet, weil er
es nicht beeinflussen kann, ebensowenig wie er den Regen kontrollieren kann oder generell
das Element Wasser. Vielleicht ist darin eine weitere Begründung für die Wahl seines Aufenthaltsortes zu sehen: Solange er in der Badewanne sitzt, kann er beeinflussen, ob dort
Wasser fließt oder nicht. Er kann dort Einfluss auf dieses Element nehmen, was ihm das
Gefühl der Macht – auch über die Zeit – verleiht.
Zudem gilt der Regen als Metapher für den Lauf der Zeit, und das Beobachten des
Regens verdeutlicht die Haltung des Protagonisten seiner Umwelt gegenüber. Die Realität
prallt von ihm ab, wie die Regentropfen von der Fensterscheibe abprallen, hinter der er
sich befindet (vgl. BOLLON 1989: 83).
3.1.3 Der Protagonist und seine Mitmenschen
Der Protagonist vergisst gelegentlich auf sein Umfeld: An einem bestimmen Ort oder in
verschiedenen Situationen seines Lebens ist er sich seines Daseins in der Wirklichkeit seiner Mitmenschen nicht mehr bewusst, denn wenn er seiner Gedankenwelt entrissen wird,
benötigt er einige Augenblicke, um sich auf die Anwesenheit eines Menschen einzustellen.
Dies geschieht entweder durch die direkte Ansprache einer anderen Figur oder es erfolgt
ein Bruch, wenn er sich in ein anderes Umfeld, z.B. in einen anderen Raum, begibt (vgl.
EBERLEN 2002: 180). Die Wahrnehmung der Realität zeigt sich nicht ausschließlich in
der Wahrnehmung eines Raumes, eines Ortes, sondern auch darin, wie der Protagonist sich
verhält, vor allem im Umgang mit anderen Menschen.
3.1.3.1 Zur Person des Protagonisten
Toussaint benennt in La Salle de bain den österreichischen Botschafter als ‚Eigenschaften‘
(vgl. 30), was natürlich die Frage aufwirft, ob er Musils Mann ohne Eigenschaften
28
(1931/32) zum Vorbild seines Protagonisten ohne Namen genommen hat. Weiter oben
wurde der Protagonist als schwacher Held im Sinne Schärers bezeichnet, als jemand, der
seine Schwächen, wie etwa sein Unvermögen, in der Welt zu bestehen und dem Leben zu
begegnen, ausnützt, um der Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen. Ulrich kann in dieser
Hinsicht nicht als Vorläufer für den Ich-Erzähler aus La salle de bain angesehen werden,
denn Schärer (vgl. 1978: 184) betont, dass Ulrich sich seine Realitätsverleugnung selbst
wieder verdirbt. Ulrichs psychische Strategie ist vielmehr eine Flucht nach vorne.
Die Tatsache, dass Ulrich für seine Fähigkeiten und Eigenschaften, die er unzweifelhaft doch
hat, keine Anwendung findet und sich nicht wie gewünscht durchsetzen kann, erklärt er kurzerhand für 'Eigenschaftslosigkeit'. […] Seine Wertelosigkeit, den Mangel, sich für nichts entscheiden zu können, deutet er um in Möglichkeitsfülle. Der drohenden Schwäche, die ihn früher oder später ohnehin ereilen müßte, entgeht Ulrich gerade dadurch, dass er sie aufsucht.
(SCHÄRER 1978: 186)
"Und eines Tages hörte Ulrich auf, eine Hoffnung sein zu wollen." (MUSIL 1931/32: 45)
Ulrich setzt sich zudem damit auseinander, ob er nun eigenschaftslos oder voll von Eigenschaften ist. Die Frage stellt sich der Erzähler hier nicht, wie auch Toussaint in einem Interview verrät: "[…] le narrateur de La Salle de bain pouvait être un homme sans qualités,
un Ulrich qui ne parlerait pas." (KAUSS 2008: II) Aber bezüglich der Wirklichkeitsbeziehung können keine Parallelen zwischen den beiden Helden etabliert werden. Ein großer
Unterschied ist beispielsweise, dass im Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1931/32)
der Wirklichkeitssinn direkt angesprochen wird (vgl. MUSIL 1931/32: 16). Neben diesem
soll es auch einen Möglichkeitssinn geben. Der toussaintsche Protagonist stellt sich selbst
nicht vor die Wahl einer möglichen Wirklichkeit, denn es wird nur seine Wirklichkeit präsentiert.
3.1.3.2 Die weibliche Figur
Den Bereich des Zwischenmenschlichen teilt der Protagonist vorwiegend mit seiner Lebensgefährtin mit dem wenig eingängigen Namen Edmondsson, zu der er ein eher unkonventionelles Verhältnis unterhält.
29
2) Edmondsson pensait qu’il y avait quelque chose de desséchant dans mon refus de quitter la
salle de bain, mais cela ne l’empêchait pas de me faciliter la vie, subvenant aux besoins du
foyer en travaillant à mi-temps dans une galerie d’art. (11)
Anstatt ihn mit Vorwürfen hinsichtlich seines weltverneinenden Verhaltens zu überhäufen,
toleriert und unterstützt sie ihn. Das ganze Zusammenleben und Sozialleben des Paares
wird von der weiblichen Hälfte organisiert, dies zeigt sich beispielsweise an der Situation
beim Abendessen mit den Malern.
Kabrowinski […], me demanda ce que je pensais d’une laque glycéro bâtiment. […] Ne voulant pas m’exclure de la conversation, je répondis que, personnellement, je n’en pensais rien.
Edmondsson, elle, était formellement contre. (19)
Der Ich-Erzähler legt eine erstaunliche Gleichgültigkeit an den Tag, als würden ihn jegliche Belange des alltäglichen Lebens nicht tangieren. Nicht nur in Angelegenheiten des
Zusammenwohnens, auch im partnerschaftlichen Miteinander verhält er sich völlig teilnahmslos:
[…]
Elle voulait faire l’amour
14) Maintenant.
15) Faire l’amour maintenant? Je refermai mon livre posément, laissant un doigt entre deux
feuilles pour me garder la page. (17)
Die Tatsache, dass die Situation formell mit Absätzen, beziehungsweise Leerzeilen wiedergegeben wird, untermauert die Zurückhaltung und Trägheit, die der Protagonist in intimen Angelegenheiten vorlebt. Sein Verhalten deutet auf einem Zustand ähnlich der Abulie
hin, wobei die Willens- oder Entschlusslosigkeit des Protagonisten keine krankhafte ist. Er
zeigt neben seinem wenig initiativen Sexualverhalten weiters noch das Gegenbild eines
zuvorkommenden Menschen, eines 'Gentleman':
Tandis qu’on sonnait pour la troisième fois, elle finit par m’avouer qu’elle n’avait pas le courage d’ouvrir. Conciliant, je proposai de l’accompagner; y aller tous les deux était, à mon sens,
le juste compromis. (23)
30
Beim Vernehmen der Türklingel verhält sich der Ich-Erzähler gleichermaßen zurückhaltend, auch diese banale Tätigkeit nimmt er seiner Partnerin nicht ab. Hier kann Watzlawicks (1992: 60f.) Theorie vom Konstrukteur der Wirklichkeit aufgegriffen werden, der
frei, verantwortlich und konziliant sein soll. Doch auf den toussaintschen Helden umgelegt,
ist dieser nur in Bezug auf sein eigenes Wohlergehen konziliant – im Sinne von gefällig,
kulant, hilfsbereit, zuvorkommend oder umgänglich. Diesen Umstand verdeutlichen die
weiteren Textstellen zum Umgang mit seiner Lebensgefährtin.
Auch während seines Venedig-Aufenthaltes bleibt er Edmondsson gegenüber zurückhaltend, er will nicht nach Paris zurückkehren, drängt umgekehrt seine Lebensgefährtin in zahllosen und unendlichen Telefonaten, ihm nachzufolgen. Sie befolgt seinen
Wunsch schließlich tatsächlich und er bringt zum Empfang nicht wenigstens ein Mindestmaß an menschlicher Wärme auf: "Elle accourut à ma rencontre, je l’attendais." (74) Widersprüchlich erscheint sein oftmals doch zuvorkommendes Benehmen ihr gegenüber. So
beschenkt er sie etwa mit einer Uhr (vgl. 75 f.), deckt sie zu (vgl. 78) und erstmals wird
auch eine seiner Gefühlsregungen beschrieben: "[…] j’étais heureux. […] je me mis à sauter des marches. […] Edmondsson? dis-je, elle est belle hein?" (76) Doch diese Hochstimmung nimmt ein rasches Ende: Nachdem sie ihm keine Beachtung schenkt, als er ihr seine
Vorschläge über ein gemeinsames Tennisspiel unterbreitet, weil sie in eine Lektüre über
italienische Malerei vertieft ist (vgl. 81/82), zeigt er sich enttäuscht und die Freude über
ihre Anwesenheit in Venedig schwindet mehr und mehr dahin.
[…] nous ne disions plus rien. Nous nous étions tout dit, nous n’étions pas d’accord. Edmondsson, pour profiter du temps ensoleillé, voulait aller flâner dans les rues, se promener, visiter les musées. Selon elle, nous jouerions aussi bien au tennis en fin d’après-midi, si ce n’est
mieux, disait-elle, car nous n’aurions pas le soleil dans les yeux. Devant tant de mauvaise volonté, je n’avais rien à dire ; non, je ne disais plus rien. (82)
Dieser lächerliche Interessenkonflikt reicht aus, um die Harmonie zwischen den beiden zu
zerstören. Der Ich-Erzähler erweckt den Eindruck eines beleidigten Kindes, welches nicht
jeden Wunsch erfüllt bekommt. Dies macht sich weiter bemerkbar, als Edmondsson
schließlich alleine von Besichtigungen zurückkehrt und ihm von dem Gesehenen berichtet:
"[…] elle me demanda ce que je pensais de l’œuvre de ce peintre […] je lui avouai que je
n’avais plus envie de porter de jugement sur la peinture." (84) Auch die restliche Szene ist
mit diesem bitteren Beigeschmack behaftet: "Elle […] cherchait sa jupe de sport […].
31
J’ajoutai que je n’avais plus envie de jouer au tennis, non plus." (84) Das Verhalten eines
trotzigen Kindes ist nebst dem fragwürdigen Eindruck, den es auslöst, zudem unangebracht
in einer funktionierenden, ausgeglichenen Partnerschaft. Wieder ist er es, der keine Kompromissbereitschaft an den Tag legt. Verläuft nicht alles wunschgemäß, droht er mit Introversion und fällt in sein bisheriges Verhaltensmuster zurück. Dieses Muster wird durch den
beinahe permanenten Aufenthalt im venezianischen Hotelzimmer und das Spiel mit den
Pfeilen bemerkbar. Auslöser für seinen erneuten Rückzug ist vor allem Edmondssons
Drängen zur Heimreise.
[…] je sentais sur moi le regard d’Edmondsson. Je continuais à manger en silence. Mais j’avais
envie de remonter dans ma chambre, de m’isoler. Je ne voulais plus sentir de regard posé sur
moi. Je ne voulais plus être vu.
74) Je n’avais plus envie de parler. (93/94)
Das schon bekannte Bestreben nach Isolation, wie er es im heimischen Paris im Badezimmer vollzogen hat, kehrt in vollem Ausmaß wieder. Schließlich gipfelt das abstoßende
Verhalten seiner Lebensgefährtin gegenüber in einem besonders merkwürdigen Vorfall,
der an späterer Stelle eingehender besprochen wird.
Als Edmondsson die Heimreise alleine antritt, zeigt er sich sichtlich erleichtert:
"Edmondsson (mon amour) rentra à Paris." (101) Sie jedoch lässt sich zum Abschied nicht
mehr umarmen (vgl. ebd.), wodurch erkennbar wird, dass ihre Toleranzgrenze endgültig
überschritten wurde.
3.1.3.3 Die polnischen Maler
In seiner Wohnung stört sich der Protagonist an der Anwesenheit der polnischen Arbeiter
Witold Kabronski und Jean-Marie Kovalskazinski, welche die Küche neu streichen sollen.
Dass diese ihm auch noch Fragen stellen, ist Grund genug, sich wieder ins Badezimmer
zurückzuziehen (vgl. 25). Obgleich er sich mit den beiden Malern in der Wohnung aufhält,
reagiert er keineswegs auf deren Handlungen. Schließlich beschäftigen diese sich, anstatt
die Küche zu streichen, mit dem Enthäuten und Ausnehmen eines Tintenfisches. Der Protagonist zeigt darauf keine Reaktion, der Anblick prägt sich ihm insofern ein, als er auf die
regennasse Straße blickt und die Menschen in einem Aquarium glaubt: "[…] j’eus soudain
32
l’impression que tous ces gens se trouvaient dans un aquarium. Peut-être avaient-ils peur ?
L’aquarium lentement se remplissait." (32) Dieses Betrachten des fiktiven Aquariums,
beziehungsweise die Position des Ich-Erzählers am Fenster erklärt Eberlen (2002: 175) als
"bezeichnend für die gesamte Beobachtungswarte bzw. den Fokus, die er in der Erzählung
einnimmt." Demnach wird die Realität von außen wahrgenommen, der Protagonist steht
außerhalb, ist selbst nicht ins Geschehen involviert. Daher rührt auch seine Unfähigkeit zur
aktiven Beteiligung an banalen Dingen, wie der Auseinandersetzung mit den Malern. Sobald er den Status des passiven Beobachters verliert und in eine aktive Rolle treten soll,
wird er von einer Art Panik ergriffen, die in Introversion mündet. "[…] j’avais le sentiment de me trouver devant un lieu inconnu. Qui étaient ces hommes ? Que faisaient-ils
chez moi?" (33) Diese Reaktion degradiert den Protagonisten zum Anti-Helden, nach Asholt (1994: 22), den Immobilität und Zurückhaltung auszeichnen. Der Anti-Held verfolgt
schließlich eine noch radikalere Strategie: Eskapismus. Er flieht förmlich vor der Belagerung der Wohnung durch die Maler: "Je partis brusquement, et sans prévoir personne. Je
n’avais rien emporté. J’étais vêtu d’un costume sombre et d’un pardessus bleu." (53) Dieser überstürzte Aufbruch aus der eigenen Wohnung ist eine klare Flucht aus dem Alltag,
aus der täglichen Realität.
3.1.3.4 Weitere Nebenfiguren
Der Ich-Erzähler empfängt im Badezimmer seine besorgte Mutter (13) und auch einen
Freund seiner Eltern (14), doch keiner der Besucher veranlaßt ihn dazu, seine Situation
oder sein Verhalten in irgendeiner Weise zu ändern. Seine Lebensgefährtin kritisiert ihn
deshalb nicht, einzig seine Mutter macht sich Sorgen: "Maman m’apporta des gâteaux."
(13) So als wäre er noch ihr kleiner Junge, besucht sie ihn und behandelt ihn, als wäre er
krank. "Tu devrais te distraire." (13) Diese naive Aussage verdeutlicht, dass sie das Verhalten ihres Sohnes weder zu beurteilen noch zu verstehen vermag.
Der Ich-Erzähler bleibt seinem ausgeprägten Individualismus treu und verteidigt
seine frei gewählte Wirklichkeitssphäre auf verschiedene Art und Weise. Generell verhält
er sich wenig umgänglich gegenüber anderen Menschen. Er bemüht sich weder um ein
Gespräch noch versucht er ein guter Gastgeber zu sein. Mitmenschen erscheinen ihm als
unzulänglich, er fühlt sich ihnen überlegen, was sich beispielsweise im Gewinn eines Ge33
sellschaftsspieles ausdrückt: "Après le dîner, nous avons fait une partie de Monopoly. […]
J’allai me coucher après les avoir écrasés (il n’y a pas de secret, au Monopoly)." (47)
Daraus kann geschlossen werden, dass sein Rückzug aus der Welt seiner Mitmenschen
nicht aus Angst, sondern aus Geringschätzung ihnen gegenüber vollzogen wird. Der Protagonist betrachtet seine Existenz als sublim und jegliche banale Angelegenheit des täglichen
Lebens als seiner unwürdig. Um diese Haltung gegenüber seiner Umwelt nicht direkt offenbaren zu müssen, spielt er den Unbeholfenen, der sich scheinbar im Leben nicht zurechtfindet.
Obgleich sich der Protagonist in Venedig in sozialer Isolation übt, tritt er schlussendlich doch mit dem Barkeeper des Hotels in Kontakt, der ihm jeden Tag bereits unaufgefordert seinen Kaffee serviert. Sie führen die thematisch typischen Gespräche zweier sich
nicht näher bekannter Männer: Unterhaltungen über Sport. Da sie nicht die gleiche Sprache
sprechen, unterhalten sie eine Konversation über den Radsport durch wechselseitige Aufzählung von Namen bekannter Radfahrer. Auch hier muss unser Held seine Überlegenheit
demonstrieren:
[…] il m’a dit Gimondi. Van Springel, répondis-je. Planckaert, ajoutai-je, Dierieckx. Willems,
Van Impe, Van Looy, de Vlaeminck, Roger de Vlaeminck et son frère. Éric. Que pouvait-on
répondre à cela ? Il n’insista pas. Je payai le café et remontai dans ma chambre. (66 f.)
Durch diese verbale Demonstration von Überlegenheit wird erneut die Unzulänglichkeit
der Menschheit betont, derer der Protagonist überdrüssig ist.
Ein weiteres Mittel, den Menschen entgegenzutreten, ist die Art des Protagonisten,
nach dem Weg zu fragen: "Je […], demandai le chemin de la poste à un homme qui courait
(j’ai toujours pris plaisir à demander des renseignements à des gens pressés)." (68) Er mokiert sich über die Hast, der die Menschheit ausgeliefert ist, die er als eine weitere Unart im
Alltag jedes Menschen hinstellt.
Sein rätselhaftes Verhalten äußert sich auch noch in weiteren zwischenmenschlichen Situationen: vor einem Stadtplan fühlt er sich von einer Dame gestört: "[…] une dame déplaçait un doigt sur la carte, n’en terminait pas de suivre le tracé d’une rue avec
l’index. Elle m’agaçait, je ne voyais rien. Je lui donnai des petites claques sur la main."
(87) Zu diesen Belegen für das Verhaltensmuster des Protagonisten meint Toussaint in
einem Interview (JOURDE: 1992):
34
Il y a toujours un côté faussement innocent. Par exemple, avec la vieille dame et le plan, […] il
y a un côté enfantin mais renversé, comme on donnerait des petites tapes à un enfant qui mettrait ses mains, […]. Et sur les gens pressés, c’est une question du regard. C’est que lui, le narrateur, n’est pas pressé ; il fait l’innocent, de façon un peu goujate certainement, mais il trouve
ça rigolo.
Toussaint selbst weist auf die kindliche Seite im Verhalten des Erzählers hin. Dieser negiert zwar für sich selbst die Rahmenbedingungen eines simplen menschlichen Daseins,
betrachtet jedoch diese Facetten der menschlichen Natur mit Humor. Das Verhalten des
Protagonisten ist zweifelsohne als merkwürdig zu charakterisieren, allerdings kann er nicht
einfach als ein Verrückter bezeichnet werden, er bedient sich nur gewisser Verhaltensweisen, um sich über seine Mitmenschen lustig zu machen. Er ist weder geisteskrank, noch
leidet er an sonstigen psychischen Krankheiten, einzig und allein seine von der Normalität
abweichenden Handlungen heben ihm von dem ab, was allgemein als normal bezeichnet
wird.
3.1.4 Die Bedeutung der Kunst
Shoots (1997: 75) definiert Toussaints Erstlingswerk folgendermaßen: "La salle de bain est
un livre sur l’art." Diese Aussage bedarf eingehender Betrachtungen, um festzustellen, ob
ihr entsprochen werden kann oder nicht. Vorweg ist allenfalls festzuhalten, dass La Salle
de bain nicht derart restriktiv erfasst werden kann, es bedarf eines entre autres, um dieses
Argument zu entkräften. Bereits auf der ersten Seite findet sich ein Hinweis darauf, dass
die Kunst im Werk durchaus von Bedeutung ist, mit der Erwähnung, dass die Lebensgefährtin des Protagonisten in einer Kunstgalerie arbeitet (vgl. 11).
In zahlreichen weiteren Situationen ist der Einfluss der Kunst spürbar, so verstehen sich
die beiden Maler nicht nur aufs Anstreichen: "Avec un fin sourire, citant Soutine, il parlait
de viande crue, de sang, de mouches, cervelles, tripes, boyaux, abats entassés regroupés
dans des caisses ; […]" (25) Eine ähnliche Stelle findet sich kurz später (27) :
Kabrowinski avait vu la rétrospective à Londres. Il trouvait que ce n’était pas mal, Raphaël. Il
nous parla de ses goûts, nous confessa qu’il avait de l’estime pour Van Gogh, qu’il admirait
Hartung, Pollock.
35
Der Umstand, dass jemand, der nur eine Wohnung streichen soll, so versiert in Sachen
Kunst ist, macht deutlich, dass es sich bei den beiden Herren nicht um simple Anstreicher
handeln kann. Früher ist auch die Rede davon (vgl. 16/17), dass in der Galerie, wo Edmondsson arbeitet, artistes polonais ausstellen und sie engagiert zwei dieser Künstler (!),
um ihre Wohnung auszumalen.
Auch weitere Nebenfiguren unterhalten sich über Kunst, beispielsweise ein Paar im
venezianischen Hotel: "L’homme parlait d’émotion véritable, de sensation pure. Il se disait
touché par les tableaux de Véronèse, sincèrement touché, indépendamment, disait-il, de
toute culture picturale" (58). Diese Situation beinhaltet weiters zwei heitere Aspekte: In
Klammer führt Toussaint an: "(ce sont sûrement des Français, me dis-je)" (ebd.) Erneut
spielt der Autor mit dem Verhältnis zwischen Belgiern und Franzosen und dem Vorurteil,
dass sich letztere betont eloquent und gewählt auszudrücken pflegen. Zusätzlich wird der
Protagonist Zeuge dieser Unterhaltung, als er gerade aus dem Badezimmer kommt, nur
ausgestattet mit Unterhose und Handtuch, und sich vor den beiden versteckt (vgl. ebd.).
Diese beiden Nebenaspekte, gepaart mit sehr kundigen Erläuterungen über Tizian lassen
die Kunstdiskussion eher lächerlich wirken und verweisen auf den Standpunkt des Protagonisten, der nicht gewillt ist, über Kunst zu urteilen, beziehungsweise sich darüber zu
unterhalten (vgl. u. a. 84).
Entgegen dieser Einstellung sieht der Protagonist aber in den Werken Mondrians
einen tieferen Sinn für seine eigene Existenz. Dieser beeinflusst sogar sein Unterbewusstsein maßgeblich: "Mes cauchemars étaient rigides, géométriques […]" (ebd.) In dieser
Manier lassen sich auch Mondrians Werke beschreiben: streng, geradlinig, geometrisch, in
den Grundfarben blau, rot und gelb gehalten. Der Hintergrund ist weiß und die Linien
schwarz. Keine Improvisationen, nur eine Alternation dieser fünf Elemente. Die abstrakte
Kunst Mondrians mischt sich nach der Traumwelt schließlich auch in die Alltagswelt des
Protagonisten: "Déplaçant lentement le rasoir, je retirais des rectangles de mousse, et la
peau réapparaissait dans le miroir, tendue, légèrement rougie." (26) Er setzt gewissermaßen die Werke Mondrians im Alltag um. Nach Zeltner (1995: 249) sieht der Romanheld in
den Werken Mondrians so etwas wie die Figurationen jener 'ganzen und nackten' Präsenz
ohne Bildtiefe, bloße Strukturen, die der Betrachter mit den eigenen Imaginationen beleben
muss. Allerdings ist dem entgegenzuhalten, dass unser Held womöglich nicht danach
strebt, 'seine' Mondrians zu beleben, er mag die dargestellte Immobilität, wie im nächsten
Kapitel gezeigt wird.
36
Doch nicht nur die Malerei ist von Bedeutung, sondern auch die Kunstform des
Schreibens wird thematisiert. Der Protagonist übersiedelt mit einem Teil seiner Bibliothek
ins Badezimmer (vgl. 12), diese Tatsache lässt an den dekadenten Des Esseintes denken,
der sich eine eigene Bibliothek in seinem Haus einrichten lässt und alle Klassiker der
(vorwiegend französischen) Literatur hortet und gewissermaßen verinnerlicht: "[…] mais à
force de les relire, de s’être saturé de leurs œuvres, de les savoir, par cœur, tout entières, il
avait dû […] les oublier et les laisser […] au repos." (HUYSMANS 1884: 229)
Wortmann (1993: 138) sieht in einer bestimmten Textpassage eine Metapher für
das Schreiben, als Anstrengung, die Realität zu bewältigen, und zwar in der "ekelerregenden Beschäftigung mit dem Kopffüßer": "L’encre ne se libéra pas tout de suite, quelques
gouttes d’abord, extrêmement noires, émergèrent à la surface, puis d’autres gouttes et enfin
un filet, qui glissa lentement sur la planche." (48) Diese Tatsache erinnert abermals an einen anderen Literaten, der die Überwindung eines unangenehmen Zustandes durchs
Schreiben erreichen will: Roquentin. "La vérité, c’est que je ne peux pas lâcher ma plume:
je crois que je vais avoir la Nausée et j’ai l’impression de la retarder en écrivant. Alors
j’écris ce qui me passe par la tête." (SARTRE 1938: 243) Sartres Ich-Erzähler schreibt in
seinem Tagebuch alles nieder, was ihm in seinem täglichen Dasein begegnet, um dem
empfundenen Ekel zu entkommen. Wortmann scheint allerdings vielmehr auf Toussaint
selbst anzuspielen, da sich im Roman keine Hinweise auf Schreibtätigkeiten des Protagonisten finden. Dieser empfindet gleich Roquentin ein gewisses Unwohlsein, unter anderem
beim Anblick der Tintenfische überkommt ihn das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Er
wendet sich auch der Kunst zu, allerdings als Rezipient, sei es in lesender oder in nachdenkender Weise. Toussaint spricht in einem Interview über den Einfluss der Kunst: "La réalité n’est pas multiple, non, mais l’art oui. On transforme et on crée à partir de certains éléments de la réalité." (AMMOUCHE-KREMERS 1994: 31). Um dem Alltag und mit ihm
der Realität zu entfliehen, kommt es zur Beschäftigung mit der Kunst, die als etwas Sublimes angesehen wird, etwas über der Ebene der Realität Liegendes.
3.1.5 Ästhetik des Stillstandes
"La recherche de l’immobilité est primordiale dans l’œuvre de Toussaint, au niveau thématique autant qu’au niveau stylistique." (SCHOOTS 1997: 77) In stilistischer Hinsicht fällt
37
dem Leser zugleich die fragmentarische Struktur des Werkes ins Auge. In La salle de bain
sind diese Fragmente sogar nummeriert. Nach Oliver Eberlen (2002: 209) erwecken die
nummerierten Instantanés den Eindruck einer strengen und einheitlichen Strukturierung.
Doch die Variationsbreite der Abschnitte von einem Wort bis über eine Seite machen deutlich, dass die Instantanés weniger in homogene Elemente gegliedert sind, sondern eher
eine 'Zergliederung' der Durchgängigkeit und des Zusammenhanges des Erzähldiskurses
zur Folge haben (vgl. ebd.). In diesem paratextuellen, formalen Element wird zugleich die
Bedeutung der Immobilität offengelegt. Zur Schreibweise selbst meint Shoots (1997: 88):
"Les descriptions dans La salle de bain cherchent notamment l‘équilibre en mouvement."
Es wird wohl etwas erzählt oder beschrieben, aber von einem Fortgang der Geschichte
kann nicht gesprochen werden. Es geschieht kaum etwas, ein kumulativer Punkt im Erzählstrang wird nur durch den 'Pfeil-Unfall' erreicht, welcher völlig überraschend die Diegese unterbricht.
3.1.5.1 Das Streben nach Immobilität
Das gesamte Werk hindurch versucht der Protagonist einen für ihn idealen Zustand zu erreichen: Stillstand. Diesem versucht er in seinem Tun oder vielmehr in seiner Untätigkeit
näher zu kommen, sei es in der Badewanne, wo die Bewegungsfreiheit auf ein Minimum
eingeschränkt ist, oder in bewegungsloser Lage im Bett des venezianischen Hotelzimmers.
Auch das andauernde Beobachten eines Risses in der Wand oder der Regentropfen verweist auf dieses Bestreben. Das zuvor angesprochene équilibre en mouvement (SHOOTS
1997: 88) im Erzählvorgang wird auch thematisch eingearbeitet: Im Zug erreicht der IchErzähler eine Art körperlichen Stillstand in äußerer Bewegung.
J’avais passé la nuit dans un compartiment de train, seul, la lumière éteinte. Immobile. Sensible
au mouvement, uniquement au mouvement, au mouvement extérieur, manifeste, qui mi déplaçait malgré mon immobilité, […] (55).
Jede Bewegung gleicht er mit seinem Körper aus, er wird eins mit der monotonen Fortbewegungsart des Zuges. Durch Anpassung an äußere Einflüsse versucht er sein Dasein zu
schützen und glaubt sich etwaigen Gefahren gar nicht erst ausgeliefert. Diese bewegte Immobilität nimmt seine Gedankengänge vollständig ein und stellt für ihn eine mögliche Lö38
sung für den Umgang mit seinen Ängsten dar. Obwohl die Zeit, sowie der Raum im Sinne
Schneiders (1992) nicht beeinflussbar sind, begegnet er diesen beiden Größen mit der Strategie der Immobilität.
3.1.5.2 Mondrian als Inbegriff der Immobilität
Die Vorliebe des Protagonisten für Piet Mondrian wird an mehreren Stellen deutlich. In
seine Reflexionen mischt sich ein eigentlich unscheinbares Dessert aus Vanilleeis und heißer Schokolade, welches dame blanche heißt:
Depuis quelques semaines, j’y réfléchissais. D’un point de vue scientifique (je ne suis pas
gourmand), je voyais dans ce mélange un aperçu de la perfection. Un Mondrian. Le chocolat
onctueux sur la vanille glacée, le chaud et le froid, la consistance et la fluidité. Déséquilibre et
rigueur, exactitude. Le poulet, malgré toute la tendresse que je lui voue, ne soutient pas la
comparaison. Non. (15)
Er stellt sich vor, wie die flüssige Schokolade rigide Linien Mondrians zeichnet und die
Konsistenz des Eises scheinbar in mehrere Teile zerteilt. Obgleich das Gesamtobjekt nicht
fest ist, erweckt es durch die Schokoladelinien einen starren Eindruck und die warme Masse mischt sich kaum merklich mit der kalten, wodurch ein Sinnbild für die Bewegung im
Stillstand entsteht. Die Überlegungen zu dieser Nachspeise wirken befremdlich, da er die
Wissenschaftlichkeit seiner Gedankengänge betont. Aus dem bloßen Gedankenexperiment
wird schließlich ein praktischer Versuch:
Je regardais la dame blanche fondre devant moi. […] Je regardais le mouvement, immobile, les
yeux fixés sur la soucoupe. Je ne bougeais pas. Les mains figées sur la table, j’essayais de
toutes mes forces de garder l’immobilité, de la retenir, mais je sentais bien que, sur mon corps
aussi, le mouvement s’écoulait. (86)
Das Ergebnis dieses Experiments führt zu der Ernüchterung, dass ein schmelzendes Eis
nicht aufgehalten werden kann, obgleich der Vorgang so langsam vor sich geht. Mit den
Worten le mouvement s’écoulait wird bereits die Erkenntnis dieses Versuches ausgedrückt,
dass die Zeit nicht aufzuhalten ist. Wortmann (1993: 143) sieht in dem banalen Eisdessert
den Zusammenhang zwischen Mondrian, Bewegungslosigkeit und Tod versinnbildlicht.
Die Verknüpfung dieser drei Elemente fasst die Ästhetik des Stillstandes bei Toussaint
39
ideal zusammen, da der Protagonist Mondrian als den Meister der Darstellung von Bewegungslosigkeit einschätzt und diesen Zustand selbst anstrebt, da er auf diese Weise den
unaufhaltsamen Tod hinauszuzögern versucht. Der Protagonist erkennt aber nicht nur im
Dessert die Kunst Mondrians und darin die Repräsentation des Phänomens bewegter Immobilität, sondern er verehrt Mondrian generell wegen seiner Darstellungstechnik.
Ce qui me plaît dans la peinture de Mondrian, c’est son immobilité. Aucun peintre n’a voisiné
d’aussi près l’immobilité. L’immobilité n’est pas l’absence de mouvement, mais l’absence de
toute perspective de mouvement, elle est mort [sic]. La peinture, en général, n’est jamais immobile. […] Chez Mondrian, l’immobilité est immobile. (90)
Eberlen (2002: 193) zufolge sehnt sich der Protagonist nach festen, eindeutig erkennbaren
Strukturen, wie sie in dieser Malerei zu finden sind. Als Ideal stehen sie unerreichbar dem
formlosen, unaufhaltbaren Fluss der Zeit gegenüber, der zum Tode führt. Die Überlegungen zur Immobilität macht er zum Mittelpunkt seines Daseins, als könne er tatsächlich einen Zustand wie in Zeitlupe erreichen, der die Realität verändern kann. Faktisch erreicht er
durch dieses Verharren in seinen Gedankengängen einen äußeren Stillstand und verlangsamt nach außen hin zumindest sein Leben. Auch stilistisch wird die Technik Mondrians
im Werk wiedergegeben, eben durch die Zergliederung des Erzählstranges in abgegrenzte
Stücke. Durch die Zerlegung in regelmäßige Formen soll die selbe Ästhetik des Stillstandes erzeugt werden, wie dies Mondrian in seinen Werken tut (vgl. FLÜGGE 1989: 1113).
Der Versuch einer Umlegung der Kunst in die Wirklichkeit lässt an Joris-Karl
Huysmans denken. Sein Protagonist Des Esseintes (À rebours 1884) strebt danach, seine
Vorstellung von der Realität an die Stelle der Realität zu setzen. Erkennbar ist dies beispielsweise an folgender Textstelle: "[…] il voulait des fleurs naturelles imitant des fleurs
fausses. Il dirigea ses pensées dans ce sens." (HUYSMANS 1884: 130) Der Protagonist
sucht im Bereich der Botanik nach Künstlichem. Auch er verharrt in Reflexionen über die
Umgehung der unzulänglichen Realität, weshalb er nach dem perfekten Ort des Rückzuges
strebt, fernab von Menschen, inmitten fantasievoll eingerichteter Räume und auch er befasst sich mit mehreren Facetten der Kunst.
40
3.1.5.3 Das Gedankenexperiment Zenons von Elea
Der Zeitvertreib des Dartspiels hat neben der rein ludischen Seite noch eine weitergehende
Bedeutung. Der Protagonist kann sich dabei entspannen und sich geistig von der Welt zurückziehen, indem er in tiefe Konzentration sinkt:
J’étais très concentré lorsque je jouais aux fléchettes. Immobile contre le mur, j’en serrais une
entre mes doigts. Tout mon corps était tendu, mes yeux étaient intenses. Je fixais le centre de la
cible avec une détermination absolue, faisais le vide dans ma tête – et lançais. (64)
Die komplette Ausschaltung der Umwelt ist nur durch mentale Fixierung des Zieles möglich. Die Wurfpfeile können im Sinne des Gedankenexperimentes des Pythagoräers Zenon
von Elea interpretiert werden, in dem der fliegende Pfeil nie sein Ziel erreicht. Der Pfeil ist
in jedem Augenblick in völliger Ruhe (vgl. Flügge 89: 1113). Die Pfeile sind neben
Mondrian und dem 'Dame-Blanche-Gleichnis' ein weiteres Symbol seines Strebens nach
Stillstand, beziehungsweise scheinbarer Immobilität. Wortmann (1993: 147) verweist auf
die Charakteristik des Zen-Buddhismus, welcher auf einen schmerzlosen Zustand hinarbeitet. Der Ich-Erzähler strebt nach der Erreichung dieses Zustandes, wodurch er vorübergehend die unveränderlichen Größen Zeit und Raum zu überwinden vermag. In dieser tranceartig anmutenden Konzentrationsübung will er nicht gestört werden, diesen Wunsch
übergeht seine Lebensgefährtin jedoch:
Debout devant la fenêtre, Edmondsson me regardait fixement. Elle me demanda une nouvelle
fois d’arrêter. Je lui envoyai de toutes mes forces une fléchette, qui se planta dans son front.
Elle tomba à genoux par terre. Je m’approchai d’elle, retirai la fléchette (je tremblais). Ce n’est
rien, dis-je, une égratignure. (94)
Diese Wendung im Erzählfluß trifft den Leser völlig unerwartet. Lernt er doch den Protagonisten als zurückgezogen, nachdenklich, womöglich etwas merkwürdig, aber bestimmt
nicht als aggressiv und jähzornig kennen. Durch die genauere Betrachtung dieser Episode
entsteht die Vermutung, der Pfeilwurf könnte unter den Begriff des Acte gratuit subsumiert
werden. Um dieser Vermutung auf den Grund zu gehen, sollte zunächst eine Szene aus
André Gides Les Caves du Vatican (1914) vergleichend herangezogen werden:
41
- Qui le verrait? pensait Lafcadio. […] une petite poussée suffirait; il tomberait dans
la nuit comme une masse ; même on n’entendrait pas un cri… Et demain, en route
pour les îles !... Qui le saurait ? (1914: 234)
Fleurissoire ne poussa pas un cri. Cous la poussée de Lafcadio et en face du gouffre
brusquement ouvert devant lui, il fit pour se retenir un grand geste, sa main gauche
agrippa le cadre lisse da la portière, tandis qu’à demi retourné il rejetait la droite en arrière par-dessus Lafcadio, envoyant rouler sous la banquette, à l’autre extrémité du
wagon, la seconde manchette qu’il était au moment de passer.
Lafcadio sentit s’abattre sur sa nuque une griffe affreuse, baissa la tête et donna une
seconde poussée plus impatiente que la première ; les ongles lui raclèrent le col; et
Fleurissoire ne trouva plus où se raccrocher que le chapeau de castor qu’il saisit désespérement et qu’il emporta dans sa chute.
- A présent, du sang-froid, se dit Lafcadio. Ne claquons pas la portière: on pourrait
entendre à côté. (1914: 235 f.)
Im Unterschied zum toussaintschen Protagonisten wird Lafcadios Willkürakt vorgeplant
präsentiert. Der Pfeilwurf in La salle de bain findet völlig unvorhergesehen statt. Der Leser
Toussaints wird nie erfahren, ob der Protagonist aus einer bestimmten Motivation heraus
gehandelt hat oder ob es sich wirklich um eine sogenannte Kurzschlussreaktion handelt. Es
kann aber davon ausgegangen werden, dass der Ich-Erzähler vielmehr im Affekt handelt
und auch keine vorsätzlichen Mordgelüste hegt. Der Acte gratuit entstammt dem literarischen Werk André Gides und zeichnet sich daher durch seinen fiktionalen Charakter aus
(vgl. RATHER 1980: 11). Insofern kann auch die Tat des toussaintschen Helden als Acte
gratuit interpretiert werden, denn der fiktionale Charakter ist zweifelsohne zutreffend, allerdings drängt sich Lafcadio in seiner Auflehnung gegen die Welt in die Rolle, die Gott
vorbehalten blieb: die Rolle des Schicksalsbringers (vgl. ebd. 127). Der Held aus Toussaints erstem Roman will nicht das Schicksal beeinflussen und ebensowenig in die Rolle
Gottes schlüpfen, zumal der gefährliche Pfeilwurf – es gibt zumindest keine Anzeichen für
dessen Eintreten – unvorbereitet in den Diskurs eingeflochten wird. Der Ich-Erzähler in La
salle de bain strebt auch nach "der idealen Reglosigkeit" (FLÜGGE 1993: 67), somit nach
etwas menschlich unmöglich Erreichbarem und achtet dabei nicht darauf, ob jemand verletzt werden könnte. Dem Lauf der Zeit ist nur auf übermenschlicher Ebene beizukommen
und mit der Durchführung des Gedankenexperiments versucht der Protagonist das "Zenon’sche Paradoxon statt einer Lösung durch den Geist realiter zu erfahren" (SCHMIDT
2003: 19), dies führt zur Erkenntnis der Unmöglichkeit. Die Umsetzung des Gedankenex42
perimentes führt zu einer Enttäuschung und der erstrebte Zustand der Reglosigkeit verliert
an Bedeutung. "Der Kopf als Ort, der das Malheur in Form der um Stillstand in Bewegung
kreisenden Reflexionen hervorbringt, wird verletzt." (SCHMIDT 2003: 19) Somit wird
eine Ironie des Schicksals ausgedrückt. Der Erzähler verletzt seine Lebensgefährtin ausgerechnet in dem Bereich, in dem sich sein eigenes Leben abspielt und dies ist Ausdruck dafür, dass seine zwei Seinsebenen verschwimmen und er nicht mehr Herr seiner Taten ist.
Er ist unfähig, die Konsequenzen seiner Handlungen einzusehen.
Auch Camus arbeitet mit dem Acte gratuit in L’Étranger. Der Mord am Araber kann
als solcher interpretiert werden. Vor allem, da dieser Willkürakt als Revolte des Einzelnen
gegen die Gesellschaft betrachtet wird (RAETHER 1980: 97) und sich durch Motiv- und
Grundlosigkeit auszeichnet (vgl. ebd. 118).
J’ai compris que j’avais détruit l‘équilibre du jour, le silence exceptionnel d’une plage où
j’avais été heureux. Alors j’ai tiré encore quatre fois sur un corps inerte où les balles
s’enfonçaient sans qu’il y parût. Et c’était comme quatre coups brefs que je frappais sur la
porte de malheur. (CAMUS 1942: 72)
Die Protagonisten sind allerdings nur insoweit vergleichbar, als ein derartiges Verhalten
von keinem zu erwarten war. Obgleich Toussaint Camus zu seinen bevorzugten Autoren
zählt, distanziert er sich von dessen Ausdrucksformen: "Il y a certes une proximité thématique mais je voulais m’éloigner tout à fait du sérieux de L’étranger qui, par ailleurs, continue à me fasciner ; […]." (AMMOUCHE-KREMERS 1994: 34)
3.1.6 Conclusio
Der Protagonist führt ein Leben der Belanglosigkeiten, um seiner persönlichen Realität zu
entfliehen, außerdem hat er Angst vor Menschen und vor dem Verrinnen der Zeit, denn am
Ende steht unweigerlich der Tod. Die Konzentration auf das Erreichen eines immobilen
Zustandes ist ein Versuch der Gegensteuerung, ein Versuch, die Zeit zu bremsen. Eberlen
(2002: 188) sieht hinter dem Interesse für das eigene Antlitz eben diesen Wunsch nach
Stillstand, Erstarrung, Unbeweglichkeit verbildlicht.
Der im Theorieteil erwähnte intertextuelle Einschub der englischen Ausgabe von Blaise
Pascals Pensées gibt den Anstoß, um die Bedeutung des Raumes für den Protagonisten
43
klarzulegen. Kurz vor der zitierten Passage in La salle de bain findet sich die Referenzstelle für die Bedeutung des Ortes im Text Pascals: "[…] tout le malheur des hommes
vient d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre."
(PASCAL 1904: 109) Dieses Unglücks ist sich der Protagonist bewusst und will diesem
durch seine Aufenthalte im heimischen Badezimmer entgegenwirken, denn er will beweisen, dass er der "condition faible et mortelle" (ebd.) entfliehen kann.
In einem Interview mit Laurent Demoulin (2005: 25) spricht Toussaint einen Satz aus La
salle de bain an, der zweimal vorkommt (16 bzw. 131): "Je devais prendre un risque, le
risque de compromettre la quiétude de ma vie abstraite pour. Je ne terminai pas ma phrase." Dieser Satz kann als eine Art Leitsatz für Toussaints Schaffen gesehen werden:
Cette phrase interrompue était comme une consigne secrète que je me donnais. […] Si j’avais
dû terminer la phrase, cela aurait pu être : […] de ma vie abstraite pour parler de moi, du présent, de mon époque. (DEMOULIN 2005 : 25)
Die Wiederholung deutet aber vor allem auf den Kreislauf des Lebens hin. Die Zeit vergeht unaufhaltsam und die Menschen begleiten sie immer nur ein kleines Stück auf ihrem
Weg.
44
3.2 Monsieur (1986)
Der Protagonist des zweiten in dieser Arbeit analysierten Werks Jean-Philippe Toussaints
fungiert nicht zugleich als Ich-Erzähler, da die Erzählung heterodiegetisch angelegt ist.
Gleich seinem Vorgänger bleibt der Protagonist ohne Namen und wird den ganzen Roman
hindurch als 'Monsieur' bezeichnet. Dem zuvor verwendeten Analysesystem von La salle
de bain folgend, steht an erster Stelle die Thematik des Titels, der Protagonist und im Anschluss dessen Verhältnis zu anderen Figuren. Die Ästhetik des Raumes umfasst den
nächsten Teil der Analyse. Strebte der Ich-Erzähler in Toussaints Erstlingswerk nach Immobilität, so verfolgt Monsieur andere Ziele, betreffend den Umgang mit der Realität.
3.2.1 Der Protagonist und seine Mitmenschen
Der Wechsel der Perspektive führt zu weniger tiefen Einblicken in die inneren Vorgänge.
Im Unterschied zu La salle de bain, dessen Held deutlicher der Wirklichkeit entrückt beschrieben wird, legt der zweite Held Toussaints ein anderes Verhalten an den Tag. Freitag
(1990) bezeichnet den Protagonisten als gefühlskalt und teilnahmslos. Kann Monsieur als
gefühlskalter und teilnahmsloser Held charakterisiert werden? Oder bleibt dem Leser seine
Anteilnahme bloß verborgen? Im Grunde führt diese Definition zu Asholts (1994: 22) Ansicht der toussaintschen Anti-Helden, die introvertiert und zurückhaltend sind. Die folgenden Kapitel dienen der Klärung, inwiefern diese Eigenschaften auf die Figur Monsieurs
zutreffen.
3.2.1.1 Zur Person des Protagonisten
Sämtliche Informationen, die der Leser über den Protagonisten, sein Privat- oder Berufsleben erfährt, werden gleichermaßen eingeleitet: "Monsieur, un soir par semaine pratiquait le
football en salle, […]" (14). Dieser Herr, die Hauptfigur des Romans, geht einer allgemein
verbreiteten und beliebten Freizeitbeschäftigung nach, was wenig aussagekräftig im Hinblick auf die Figurenkonzeption ist. Eine durchaus aussagekräftige Einzelheit wird allerdings gleichermaßen beiläufig eingeführt: "Monsieur était, à cette époque-là, fiancé." (15)
Auch diesem Satz ist ein eigenes Fragment gewidmet, wodurch seine Bedeutung hervorgehoben wird. Der Leser hofft vergebens auf nähere Erläuterungen zur Liebesbeziehung, der
45
Beisatz à cette époque-là betont den vermeintlich temporären Charakter der Liaison. Dieses Fragment dient als Erklärung dafür, weshalb Monsieur sich in die Wohnung der Familie seiner Verlobten begibt, um sich pflegen zu lassen, da er an einer Bushaltestelle von
einem Fremden angerempelt wurde und sich dabei das Handgelenk verletzt hat. Diese Verletzung verdankt er einer Verhaltensweise, die ihn überheblich und abweisend wirken lässt.
Er reagiert nicht auf die Frage eines Passanten, da er in die Zeitungslektüre vertieft ist und
dem Fragesteller nur mit einem musternden Blick antwortet. Diese Reaktion führt zu einem starken Aggressionsausbruch seines Gegenübers (vgl. 15). Monsieur setzt sich nicht
zur Wehr und lässt die körperliche Attacke über sich ergehen, er unternimmt weder einen
Erklärungsversuch, noch startet er eine Gegenoffensive. Die Situation wird als Beispiel für
eine seiner Wesensarten vorgeführt. "Monsieur n’aimait pas tellement tout ce qui, de près
ou de loin, lui ressemblait." (15) Womöglich erkennt er in dem Fremden sein alter ego
wieder und schreibt diesem Mann ähnliche Wesenheiten zu, wie jene, die er an sich selbst
festgestellt hat.
Die Präferenzen Monsieurs werden an jeder Stelle besonders hervorgehoben, entweder durch Absätze oder durch Klammernsetzung: "(Monsieur n’aimait pas tellement les
hôpitaux)" (19) Vermittelt die Hervorhebung durch Absätze den Eindruck der Bedeutsamkeit, so bewirkt die Klammer das genaue Gegenteil. Die Tatsache, dass Monsieur Krankenhäuser nicht mag, wirkt nebensächlich. Eine Antipathie empfindet die Hauptfigur nicht
nur gegenüber einer lebensnotwendigen Institution, sondern auch gegenüber einem zivilisatorisch-notwendigen Instrument des täglichen Lebens: "Monsieur n’aimait pas tellement
le téléphone." (20) Da der Aussage abermals ein eigener Abschnitt gewidmet wird, ist zu
konstatieren, dass sowohl mithilfe der Klammern als auch der Absätze der gleiche Effekt
erzielt wird. Präferenzen, oder vielmehr Antipathien werden beiläufig angeführt, um die
Banalität des Daseins Monsieurs zu betonen. Das Adverb tellement fördert den Eindruck
der Unwesentlichkeit und Unwichtigkeit der Lebenseinstellungen der Hauptfigur. An späterer Stelle erfährt der Leser: "(Monsieur n’aimait pas tellement, non, qu’on le contredise)"
(86) Die Tatsache, dass sich der Erzähler ein und derselben Formulierung bedient, um diese verschiedenen Facetten der Persönlichkeitsstruktur Monsieurs zu beschreiben, trägt zur
Charakterisierung auf formaler Ebene bei. Sein gesamtes Dasein lässt sich unter dem terme
générique 'Monsieur' (HANSON: 1998) zusammenfassen und dieses Dasein ist von Eintönigkeit geprägt, welche durch die repetitive Erwähnung des Begriffes 'Monsieur' besonders
betont wird.
46
Zu Beginn des Romans wird an erster Stelle in Monsieurs Berufsleben eingeführt:
"Le jour où, voici trois ans, Monsieur entra dans ses nouvelles fonctions, […]" (7). Er arbeitet bei Fiat-France als directeur commercial, wie aus einem Gespräch mit seinen potentiellen Schwiegereltern hervorgeht (vgl. 21). Die Reaktion Monsieurs auf die Aussage seiner Verlobten "Ma foi, dit Monsieur" (ebd.) lässt die Information unglaubwürdig wirken
und Monsieur stellt sich selbst in die Rolle eines Beobachters. Asholt (1994: 24) spricht in
diesem Zusammenhang von einer Emanzipation des Protagonisten, der anstelle des Erzählers das ihn betreffende Geschehen kommentiert. Dieser Interpretation kann insofern beigepflichtet werden, als Monsieur durch derartige Aussagen weniger teilnahmslos erscheint
und sich von seinem sonst so stoischen Verhalten distanziert. Jedoch emanzipiert er sich
nicht dergestalt, dass er in der Rolle des Erzählers gesehen werden kann, zumal er die
meisten Kommentare zu seiner Person oder Angriffe auf seine Person über sich ergehen
lässt, ohne dass er den Leser an einer Gefühlsregung teilhaben lässt.
Die Berufsbezeichnung directeur commercial klingt ebenso austauschbar, wie es die
Betitelung 'Monsieur' ist. Die geschilderten Lebenssituationen lassen an die Wendung
Monsieur tout le monde denken. Aber nicht nur sein Beruf mutet stereotyp an, auch die
Tätigkeiten, denen er nachgeht, könnten durchschnittlicher nicht sein: "Monsieur passa
l’essentiel de ses matinées à mettre de l’ordre dans le bureau." (ebd.) Obgleich er directeur
ist, ist er nicht zu beschäftigt, um Ordnung zu schaffen oder aber er geht einer neuen Verantwortung aus dem Weg, da er sich dieser nicht gewachsen fühlt. Baumgart (1989: 15)
sieht Monsieur als einen Meister der Integration, der alles "cool, unengagiert, geräuschlos,
effektvoll, vollkommen unbeteiligt, unter Ausschaltung seiner Person erledigt." Er verkörpert den unauffälligen Mitmenschen, an den sich wohl niemand erinnern wird. Er ist tatsächlich ein Meister der Integration und schießt sogar über sein Ziel hinaus, da der Eindruck einer zu starken Integration im Sinne einer vollständigen Unterordnung entsteht.
Seine Arbeitswoche ist mit monotonen Beschäftigungen gefüllt, ähnlich der Beschreibung, die mit immer wiederkehrenden Wortwendungen gespickt ist. In der Beschreibung selbst ist der Eindruck der unendlichen Langeweile erkennbar, die Monsieur in der
Erledigung seiner sinnleeren Tätigkeiten zu empfinden scheint. Das Spannendste an einem
seiner austauschbaren Tage ist der Ausflug in die Cafeteria, auf den er sich gleich zweimal
pro Tag begibt. "Au milieu de l’après-midi, ma foi, Monsieur redescendait à la cafétéria."
(10) Die Beifügung ma foi kann als sarkastischer Einwurf Monsieurs selbst interpretiert
werden, der die Unbedeutsamkeit seines Vorgehens selbst einschätzt. In der Cafeteria
47
schlägt er einen Teil seiner Zeit tot, indem er die Fische betrachtet: "De sa table, il voyait
le grand aquarium, où des êtres tranquilles allaient et venaient dans l’eau claire." (ebd.)
Dieses Bild erinnert nicht nur an den Protagonisten aus La salle de bain, den an einem verregneten Tag die Straße an ein Aquarium erinnert. Das Aquarium in der Cafeteria kann
gleichfalls als eine Metapher für die Wahrnehmung des Protagonisten interpretiert werden.
Monsieur nimmt seine Umgebung verschwommen war und dies in einem übertragenen
Sinn: Die Bewegungen scheinen wie durch das Wasser gebremst, ähnlich sinnlos, wie Fische in einem Aquarium immer und immer wieder hin und herschwimmen und die gleiche
Fläche erkunden, in Ermangelung eines Ausweges. Diese Situation kann auf den Alltagstrott, wie ihn auch Monsieur verfolgt, umgemünzt werden (vgl. ACAR 2003: 55). Wie
ferngesteuert führt Monsieur tagtäglich dieselben Handlungen aus, ohne jegliche Abwechslung, es könnte fast von einem täglichen Stumpfsinn gesprochen werden, dem jeder
Mensch nolens volens zum Opfer fallen kann.
"Monsieur, oui, en toutes choses, son mol acharnement." (60) Diese, in einem eigenen Fragment gefasste Aussage definiert sehr passend das Verhalten Monsieurs. Er verbringt sein Leben mit dem Erfüllen von Aufgaben, denen er mit Desinteresse nachgeht.
"Monsieur ist einfach nicht zu fassen und gestaltlos, weil er selbst nichts gestaltet."
(WIECKHORST: 1990) Durch sein halbherziges Tun wird er auch nur zur Hälfte wahrgenommen, er ist gestaltlos, austauschbar. Monsieur begnügt sich damit, zu existieren und
strebt nicht danach, selbst aktiver zu agieren. "[…] seine gesamte Existenz verharrt im Zustand einer gleichförmigen Indifferenz, die er hinnimmt, mehr noch: die als sein Fixpunkt
erscheint." (FREITAG: 1990) Er befindet sich selbst in einem Zustand, den der Protagonist
des ersten toussaintschen Roman herbeigesehnt hat: Immobilität. Monsieur erreicht den
unbewegten Zustand durch seine permanente Gleichgültigkeit, die er allen Dingen des Lebens entgegenbringt. Er ist leidenschaftslos und starr in seinem gesamten Dasein und auch
das ist ihm gleichgültig. Monsieurs Wirklichkeitswahrnehmung kann mit jener eines Fisches im Aquarium verglichen werden, dieser kann nicht hinausblicken und hat daher auch
kein Interesse an der Außenwelt. Diese Position nimmt auch Monsieur ein, der seine Außenwelt zwar bemerkt, aber vor äußeren Einflüssen zurückweicht, sobald jemand hinter
seine neutrale, teilnahmslose Fassade blicken will. Im Unterschied zu seinem toussaintschen Vorläufer scheut er die Gesellschaft anderer Menschen nicht und sucht die soziale
Isolation, ist aber obgleich nicht ein zurückgezogener, doch ein zurückhaltender Mensch.
48
Eine Wesensart, die Monsieur auszeichnet, ist seine Unfähigkeit 'Nein' zu sagen. Er
kann nicht ausschlagen, seine Nichten zu hüten (68), er tippt stunden- und tagelang Texte
über Mineralogie (u.a. 36) für seinen Nachbarn Kaltz und gibt dem Sohn seiner Vermieter
Nachhilfe in Physik (43). Anstatt seinen eigenen Bedürfnissen den Vorrang einzuräumen
versucht er vielmehr, sich durch Abwesenheit aus der Affäre zu ziehen. "[…], non, il ne
pouvait pas savoir qu’il n’aurait jamais dû repasser chez lui ce soir-là […]." (68) Und so
wird er zum Opfer seiner Gutmütigkeit und wechselt zwischen seinem neuen Appartement
und seinem Zimmer auf Untermiete bei den Leguens hin und her, immer auf der Flucht vor
ungewollten Aufträgen.
Et, pendant que, regardant par la fenêtre, Ludovic répétait que la durée c’était l’intervalle de
temps qui s’écoulait entre le début et la fin et que la date, c’était le moment où cela avait lieu,
Monsieur, sans faire du bruit, sortit de la pièce et quitta l’appartement sur la pointe des pieds.
(77)
Unten auf der Straße angekommen, amüsiert er sich mit les gens, tout de même darüber,
dass Ludovic immer noch stur seinen Stoff wiederholt (vgl. 78). Er erkennt in seinem unbeholfenen Nachhilfeschüler Züge seiner selbst wieder: das strikte Befolgen von Anweisungen, ohne jegliches Hinterfragen. Da sich Monsieur während des Vortrages zurückzieht, müsste Ludovic diesen eigentlich unterbrechen und somit das befolgen, was er gerade referiert, doch er agiert ähnlich leidenschaftslos wie sein Lehrer und scheint sich nicht
beirren zu lassen.
Eine weitere Situation soll die Problematik des folgsamen, widerspruchsloshandelnden Monsieurs verdeutlichen. Er verweigert, seinen Stift zu verleihen : "[…] c’est une
règle que je me suis fixée (Monsieur s’en fixait peu, mais s’y tenait)." (80) Doch dieser
Vorsatz wird ihm zum Verhängnis, da er dem enttäuschten Bittsteller versöhnlich seine
Schreibdienste anbietet. Und wieder ist er in einer auswegslosen Situation gefangen.
So mehren sich, wenn auch zart, unscheinbar eingesetzt, die Zeichen einer absurden Welt, in
der alles funktioniert, aber nichts mehr Sinn macht, die jeden Erklärungsversuch lähmt. Unverhofft erinnert diese Prosa nun an so weit auseinanderliegende Erzählwelten wie die von Flaubert oder von Camus, […] also an die unterschwellig geladenen, doch reglosen Notate in 'Der
Fremde', […] vor allem aber doch an den Meister der impassibilité und der 'Madame Bovary',
dessen Sätze sich noch über ihre kristalline, pedantische Schönheit zu mokieren scheinen.
Auch Toussaint, ein junger Spät-Flaubertianer, erbarmt sich mit herzzerreißendem Takt und
49
unhörbarem Gelächter der Banalität zeitgenössischen Lebens, durch dessen öde Rituale sich
seine Pariser Figuren mit dem bald anmutigen, bald gravitätischen Ernst von Zootieren bewegen. Und wie im Zoo beginnen wir uns zu fragen: Was geht hier eigentlich in ihnen vor? Wirklich nichts? Oder nichts Wirkliches? (BAUMGART 1989: 15)
Baumgart verweist auf literarische Vorläufer Toussaints, die den belgischen Autor möglicherweise beeinflusst haben. Dem Verweis auf Camus kann insofern beigepflichtet werden, als der Protagonist einen homme absurde verkörpert, allerdings nicht im Sinne Mersaults, der eine Straftat begeht, aber die beiden Protagonisten ähneln sich in ihrer leidenschaftslosen Daseinsweise. "Aujourdhui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais
pas." (CAMUS 1942: 3) Dieselbe Gleichgültigkeit vermittelt Monsieur nach der Trennung
von seiner Verlobten: "Monsieur, à vrai dire, aurait été bien incapable de dire pourquoi sa
fiancée et lui avaient rompu." (30) Einen Unterschied zwischen den beiden bilden die diegetisch dargebrachten Gefühlsregungen. Meursault wird als gefühllos dargestellt und rangiert durch die fehlende Anteilnahme am Tod seiner Mutter in der Gunst des Lesers gleich
am Romanbeginn an unterster Stelle, wogegen eine klare Sympathiesteuerung der Figur
des Monsieurs fehlt. Dieser wirkt unbeholfen, aber seine apathischen Handlungen rufen
beim Leser weder Sympathien noch Antipathien hervor. Der etwas radikale Vergleich
Monsieurs mit Zootieren scheint nicht so weit hergeholt, schließlich verhält sich Monsieur,
als hätte er keine Willens- und Wahlfreiheit und könne nicht über sich selbst bestimmen.
Von Individualismus ist nichts zu merken, wie er von Monsieurs Vorläufer in La salle de
bain vorgelebt wird. Semsch (2006: 144) spricht von "existentieller Bedrängtheit" des Protagonisten, welcher dieser nur durch Flucht zu entkommen vermag. Anders als Emma Bovary allerdings wird er nicht von der tatsächlichen Realität enttäuscht, sondern hat sich
gewissermaßen mit ihr abgefunden. Gemein ist diesen beiden Figuren wiederum ihre
Durchschnittlichkeit, wobei Emma nach Höherem strebt und sich von ihrer Heirat mit
Charles einen gesellschaftlichen Aufstieg verspricht, der in ein besseres, aufregenderes
Leben mündet. Monsieur stagniert in seinem Dasein und findet sich mit seinen Lebensumständen ab. Emmas Flucht ist eine mentale, psychische, die im seelischen Zusammenbruch
endet. Monsieur hingegen sieht die aktive Evasion als einzigen Ausweg.
50
3.2.1.2 Les gens tout de même
Diese Phrase taucht im Werk mit mehreren Reprisen auf, entweder als eigenes Fragment
(vgl. 14) oder in Klammern (vgl. 23) gesetzt, und kann als Leitmotiv (KAPLAN 1990: 10)
interpretiert werden, da dies Teil der Gesellschaftskritik im Werk Toussaints ist. Obgleich
Monsieur auf seine eigenen Handlungen gleichermaßen lakonisch mit der Bemerkung les
gens tout de même reagieren könnte, wird doch auf seine Einschätzung der Menschheit
verwiesen und schließlich ist auch er ein Teil davon. Durch die mehrmalige Erwähnung
dieser Phrase im Diskurs verschafft er sich eine gewisse Distanz zu seinen Mitmenschen,
obwohl er sich in seinem Verhalten nicht offensichtlich distanziert oder abhebt (vgl. ASHOLT 1994: 24). Seine Unterordnungsstrategie verfolgt er sowohl auf privater, wie auf
beruflicher Ebene: "Monsieur se trouvait à l’ascenseur avec le directeur général, il lui demandait à quel étage il devait se rendre, de manière de pouvoir lui appuyer sur le bouton
correspondant." (11) Auch Monsieur bedient sich der menschlichen Eigenart des Antichambrierens gegenüber Vorgesetzten, doch mit wenig Erfolg: "Le directeur général écoutait Monsieur attentivement, les bras croisés, tout en ayant toujours l’air de se demander
qui il pouvait bien être." (ebd.) Der Protagonist gilt als unauffälliger Angestellter, so unauffällig, dass er weder positives noch negatives Aufsehen erregt. Auch bei Besprechungen
platziert er sich seinem stereotypen Verhalten gemäß:
[…] il avait remarqué que la présence passait le plus inaperçue, à côté de Mme Dubois-Lacour,
qui, […] répondait à la plupart des questions qui lui étaient posées, […], Monsieur veillait
scrupuleusement à rester dans l’axe de son corps, reculant lorsqu’elle reculait, avançant lorsqu’elle se penchait en avant, de manière à n’être jamais trop directement exposé. (12)
Diese Passage lässt zunächst den Eindruck entstehen, Monsieur sei kein ernstzunehmender
Angestellter, er wirkt angstvoll, arbeitsscheu und sogar provokativ. Seine Arbeitskollegin
Mme Dubois-Lacour gibt ihm zu verstehen, wie er von seiner Umwelt wahrgenommen
wird: "Vous avez toujours l’air de ne rien foutre, vous, […] que c’était là le signe auquel
on reconnaissait les vrais grands travailleurs." (13) Seine mangelnde Kompetenz kann es
nicht sein, die den Ausschlag für sein verklemmt-anmutendes Verhalten gibt. "Lorsque le
directeur général prononçait son nom à voix haute, Monsieur […] répondait aussitôt d’une
manière sèche, précise, technique, professionnelle. Hip, hop." (12) Trotz seines zurückhaltenden Auftretens antwortet er eloquent, seiner beruflichen Stellung angemessen, nur ei51
geninitiative Einbindung in die Unterredung widerstrebt seiner Wesensart. Hip, hop. Dieses Onomatopoetikum, welches ähnlich ma foi der Aussage beiläufig angefügt wird, verleiht der Passage eine paradoxe Bedeutung, denn une manière séche, précise, technique,
professionnelle würde den Schein der Inkompetenz nicht aufrecht erhalten können. Hip,
hop weist schon auf die Lebensphilosophie Monsieurs voraus, die an späterer Stelle thematisiert wird.
Obwohl Monsieur nicht aktiv in soziale Isolation tritt, weicht er doch vor näheren
Kontakten zurück, wie nach dem allwöchentlichen Fußballtrainig (vgl. 14) beispielsweise,
wo er sich zu anderen auf Distanz hält und einer Strategie passiver Unauffälligkeit folgt.
Durch die auktoriale Erzählweise entsteht der Eindruck der permanenten Gleichgültigkeit,
da dem Leser keine Einblicke ins Gefühlsleben der Figur gewährt werden. Die folgende
Stelle zieht diese Einschätzung allerdings in Zweifel: "Mme Parrain […] avait passé une
large petite culotte par-dessous, […] Monsieur ne voyait plus que ses seins, dont il se contenta en buvant son café." (19) In Anbetracht dieser Antithese, die sich herauskristallisiert,
kann die Kophenhagener Deutung, beziehungsweise Schrödingers Deutung herangezogen
werden. Obgleich eine quantenphysikalische Erklärung für das Verhalten Monsieurs an
sich paradox erscheint, so ist der Grundgedanke hinter dem Gedankenexperiment einer
Interpretation doch zuträglich. Schrödingers Katze ist weder tot, noch lebendig, sie befindet sich in einem Schwebezustand, eine klare Aussage über Leben oder Tod kann erst nach
dem Öffnen der Kiste getätigt werden. Monsieur ist gleichermaßen leidenschaftslos wie
leidenschaftlich, nur kann der Leser an der leidenschaftlichen Seite nicht teilhaben und
erhält nur Hinweise – wie die obige Stelle beispielsweise – darauf, dass es eine andere Seite der Figur Monsieur gibt, die keinesfalls teilnahmslos ist. Der Schein der Teilnahmslosigkeit soll gewahrt bleiben; er wird von seinen Mitmenschen als unauffällig und unkompliziert wahrgenommen: "Monsieur, lui, continuait d’entretenir avec tout le monde les
meilleures relations." (31) Oder an anderer Stelle : "De Monsieur, au seizième étage, personne n’avait à se plaindre. […] c’était un jeune remarquable, ce Monsieur, centralien,
calme, sérieux, ponctuel." (89) Er ist ein durchschnittlicher Kollege, Angestellter und Zeitgenosse. Doch dahinter verbirgt sich noch eine andere Seite, die Monsieur nicht immer
unter Kontrolle hat, etwa als ein Arzt ihn wegen seines verletzten Handgelenkes untersucht: "[…] il le toisa discrètement du regard pour évaluer mentalement s’il était, ou pas,
plus grand que lui (les gens, tout de même)." (23) Diese unangenehme Situation tut er wieder mit seinem Leitsatz ab und begegnet der Musterung gewissermaßen in gewohnter Ma52
nier. Schließlich stellt ihm der Arzt auch einige private Fragen bezüglich seiner Arbeit,
woraufhin Monsieur antwortet: "Je pense que je gagne plus d’argent que vous, […]. Dès
lors, le docteur Douvres ne dit plus rien (c‘était peut-être par là que Monsieur aurait dû
commencer)." (24) Diese mißbilligende Reaktion lässt Parallelen zum Protagonisten aus
La salle de bain erkennen, der der menschlichen Unzulänglichkeit ähnlich begegnet (s.o.).
Das 'Verschmieren' von Zuständen, wie es Schrödinger bezeichnet, wird hier abermals
deutlich. Der Protagonist unterhält mit seinen Mitmenschen die besten Relationen und wird
von allen deswegen geschätzt, zumal er kein Aufsehen erregt. Neben dieser Seite oder diesem unauffälligen Zustand, in dem sein Dasein verharrt, gibt es noch den ungeduldigen,
launischen Monsieur, der von seinen Mitmenschen genervt ist.
Ein weiteres Paradoxon ergibt sich aus Monsieurs Verhältnis zu Kindern. Einerseits
versteht er sich ausgezeichnet mit seinen Nichten und fühlt sich ihnen gleichwertig (vgl.
71f.), andererseits sieht er sich diesen gegenüber klar in der dominanten Rolle und spielt
diese den Mädchen gegenüber aus (vgl. 73). Hier überlagern sich zwei Seiten seiner Persönlichkeit, da er als Strategie der Weltbegegnung einer gewissen kindlichen Leichtigkeit
in seinem Tun anheimgefallen ist und im Gegenzug aber seine Vormachtstellung gegenüber Kindern deutlich macht. Er will seine sechsjährigen Nichten aufs Leben vorbereiten
(vgl. 72), erweckt aber selbst nicht den Eindruck, als sei er seinem Leben tatsächlich gewachsen.
3.2.1.3 Die zweite Figur
Die Verlobte Monsieurs wird nur kurz angesprochen, ebenso wie später Anna Bruckhardt,
die erst gegen Ende des Werkes eingeführt wird. "Er geht keine Liebesbeziehungen und
Freundschaften ein, sondern gerät in sie hinein, […]" (ACAR 2003: 49) Und so gerät auch
die zweite Figur in sein Leben, die eben nicht eine Frau verkörpert, sondern einen Herrn
namens Kaltz. Ihr erstes Zusammentreffen wird von Monsieur folgendermaßen wahrgenommen: "C’était un homme qu’il ne connaissait pas, qui, de profil dans l’ombre du palier,
lui apprit qu’ils étaient voisins, ce qui parut égayer ce type (les gens, tout de même)." (33)
Das Leitmotiv wird wieder angeführt, um zu verdeutlichen, wie wenig Bedeutung Monsieur einer Nachbarschaft beimisst und wie lächerlich er Menschen einschätzt, die das Gegenteil empfinden. Monsieur amüsiert die übertriebene Freude Kaltz’ über das Kennenler53
nen eines neuen Nachbarn, dieser ist sehr offen und überhäuft ihn mit Informationen, die
über den durchschnittlichen Konversationsgehalt des Kennenlernens hinausgehen.
[…] il lui fit part de son projet d’écrire un traité de minéralogie […] il lui présentait sa méthodologie, il commença de vouloir le convaincre de travailler avec lui, […] il ne lui restait plus
que le texte à écrire, […] il serait heureux de s’attacher ses services. Si tu es d’accord, ajouta-til. Monsieur le regarda. (34 f.)
Monsieur ist ob dieses Angebots ohnmächtig und klagt über Zeitmangel, doch Kaltz übergeht jegliche Ausflüchte und spricht nach kurzer Zeit von leur livre (36). Weiters fällt auf,
dass Kaltz nicht den Umweg über den Kennenlernprozess geht, um Monsieur das Du-Wort
anzubieten, sondern ihn gleich direkt mit tu anspricht. Der Nachbar verkörpert gewissermaßen das Gegenbild Monsieurs, zumindest hinsichtlich seines Verhaltens. "Monsieur ne
savait rien refuser." (ebd.) Monsieurs Unfähigkeit, Non! zu sagen, lässt ihn seine Wochenenden damit verbringen, Texte über die Mineralogie zu tippen (vgl. 37), welche an mehreren Stellen in das Werk eingebaut sind (u. a. 36). Er berät sich mit seiner Arbeitskollegin
Mme Dubois-Lacour, die das Ausmaß seiner Problematik nicht zu begreifen vermag. "[…]
elle conclut, agacée, qu’il pouvait quand même se débrouiller tout seul, non?" (39) Doch in
einem eigenen Fragment wird Monsieurs Einschätzung seiner Situation hervorgehoben:
"Non. La situation était bloquée." (39) Darauf folgt erneut ein Fragment mit mineralogischen Ausführungen (vgl. ebd.).
Dean (1989) bezieht sich auf die Verbindung zwischen Monsieur und der Mineralogie, die ihn unbewusst zu faszinieren scheint. Monsieur fühlt sich zu Steinen wegen ihrer
inneren Ordnung, ihrer makellosen Härte und ihrer vollkommenen Unbewegtheit hingezogen. Dieser Aspekt gleicht dem Streben nach Immobilität, worauf sein toussaintscher Vorläufer hinarbeitet. "Monsieur liebt es, stundenlang in einem Zustand zu verharren, in dem
die Abwesenheit von Schmerz der Lust gleichkommt." (DEAN 1989) Solange er sich mit
mineralogischen Fakten auseinandersetzt, bleibt er vor der Außenwelt geschützt, dennoch
ist er im Grunde nicht gewillt, seine Freizeit diesem Projekt zu opfern: "Le plus sage apparut à Monsieur de déménager." (40) Den einzigen Ausweg sieht er in der Flucht, doch auch
sein Zimmer in Untermiete ist an eine Gegenleistung geknüpft. Er soll dem Sohn des Vermieters Nachhilfe geben (vgl. 44).
54
Non
Monsieur avait dit non. (45)
Monsieur hat gelernt, Nein zu sagen, allerdings mit einer Vehemenz, die in diesem Zusammenhang unhöflich wirkt. Da es sich um eine Änderung im Verhaltensmuster des Protagonisten handelt, wird dies auch durch Fragmentierung besonders hervorgehoben und
erweckt zudem den Eindruck, als erschräke Monsieur über seine eigene Reaktion.
3.2.2 Die Bedeutung des Raumes
3.2.2.1 Die berufliche und private Umgebung des Protagonisten
So wie der Titel des Romans und der Name der Hauptfigur, wird gleichermaßen sein Arbeitsplatz allgemeingültig und austauschbar beschrieben:
[…] un bureau personnel, […]. Une grande baie vitrée, en verre bleuté, […]. La table de travail, située à portée de main de deux armoires métalliques, identiques, comptait six tiroirs, de
part et d’autre, et était recouverte d’une plaque épaisse, en verre fumé. Le fauteuil, Monsieur
s’en assura négligemment, pivotait. (7)
Als wenig aussagekräftig wird die Umgebung beschrieben, der wichtigste Gegenstand für
Monsieur ist der Drehsessel und dies verweist abermals auf den Aspekt der Kindlichkeit in
seinem Verhalten. Acar (2003: 58) spricht in diesem Zusammenhang von einer metonymischen Verlagerung der Persönlichkeitsbeschreibung auf die Aufzählung der Gegenstände
auf seinem Schreibtisch. Eine metonymische Verlagerung ist vordergründig im Schreibtischsessel erkennbar, weniger in anderen Gegenständen. Der Sessel kann sich drehen,
gleich Monsieur, der sich immer so präsentiert, wie es die jeweilige Situation oder die
Menschen erfordern, ohne von seinem grundsätzlich unauffälligen Verhalten abweichen zu
müssen.
Auch seine neue Wohnung spiegelt seine Lebensart wider, da er sie nicht einrichtet
und einfach alles so lässt, wie es ist.
55
Le nouvel appartement de Monsieur, qui comptait trois grandes pièces, était quasiment vide et
sentait la peinture. Dans sa chambre seule se trouvaient un ou deux meubles, quelques sièges
de camping. Toutes les autres pièces étaient désertes, à l’exception du vestibule, où il avait entreposé ses valises, ainsi que deux caisses de revues, une machine à écrire portative. (32)
Er betrachtet diese Räume nicht als sein Zuhause und ist sich offensichtlich dessen bewusst, dass nichts von Dauer sein kann und dass er abermals fliehen muss. Winter (2002:
204) verwendet den Begriff 'Passierort‘ und obgleich sie sich auf die Orte in L’appareilphoto bezieht, scheint der Terminus in diesem Werk insofern passend, als alle Orte, die der
Protagonist aufsucht, nur Zwischenstationen darstellen. Er bleibt an keinem dieser Orte
wirklich lange. Ein Ort dient zum Rückzug aus der Realität eines anderen Ortes, Monsieur
ist ständig auf der Flucht von einem Ort zu einem anderen und wieder zurück, er ist ruheund rastlos und fühlt sich nirgendwo heimisch.
Wie in La salle de bain reist der Protagonist, nur ist diesmal das Ziel von Monsieurs
Reise nicht Venedig, sondern Cannes und ähnlich seinem Vorgänger verhält auch er sich
untypisch für diese touristisch attraktive Stadt.
Monsieur, à Cannes, descendit dans le premier hôtel venu, non loin de la gare. […] jouait aux
courses. Et tout à l’avenant. En fin d’après-midi, par exemple, […], il jouait au billard dans
l’arrière-salle enfumée d’un café […]. (25)
Diesmal spielt der Held nicht Dart, sondern sucht sich ein anderes Spiel aus, doch der Sinn
dahinter ist derselbe: ein Rückzug aus der Realität und eine spielerische Begegnung mit
der Banalität des Alltages und dem Stumpfsinn der Menschen.
3.2.2.2 Der Himmel
Der Protagonist findet ähnlich seinem toussaintschen Vorläufer Zuflucht an einem ganz
bestimmten Ort, allerdings lässt sich dieser Raum nicht so leicht festmachen wie ein Badezimmer. Nach Schneider (1992: 19) ist jeder Einzelne Raum und Zeit ausgeliefert. Monsieur liefert sich seinen Mitmenschen aus und lässt sein Umfeld als unbeherrschbare Konstante über sein Leben bestimmen, wie dies nur Raum und Zeit vermögen. Er ist nicht frei
in der Wahl seiner persönlichen Lebensbedingungen, fügt sich den Konventionen des Lebens und sucht daher die Weite des Sternenhimmels auf, denn dort kann er seinen Aufent56
halt frei wählen. Monsieur blickt in die Sterne, um aus dem Alltag, beziehungsweise vor
Menschen, die diesen dominieren, zu fliehen (vgl. u. a. 59). Er begnügt sich zunächst damit, die Sterne von seinem Fenster aus zu betrachten, doch bald fühlt er sich zu stark eingeschlossen in seiner Wohnung und begibt sich aufs Dach des Hauses. Nachdem alles ruhig ist und keine unerwünschten Aufgaben auf ihn warten, kann er sich selbst einer Macht
aussetzen, über die weder Kaltz noch sonst jemand herrschen kann. Diese Ruhe und Kraft
des Universums kann er nur in völliger Einsamkeit genießen: "[…] il refermait la porte
derrière lui sans faire de bruit pour ne pas attirer l’attention de Kaltz." (87) Wie ein Strafgefangener auf der Flucht entfernt er sich aus dem Einwirkungsbereich seines Nachbarn.
Un soir, après le dîner, Monsieur monta sur le toit […] considéra le ciel au hasard, pur et dégagé par l’averse, dans les parages d’Orion. Debout à côté de la chaise, Monsieur resta longtemps
ainsi à regarder le ciel, et, à mesure qu’il s’en pénétrait, ne distinguant plus maintenant qu’un
réseau de points et les lignes des constellations, le ciel devint dans son esprit un gigantesque
plan de métro illuminant la nuit. (92 f.)
Um den Anblick tatsächlich genießen zu können, nimmt er sich eine Sitzmöglichkeit aufs
Dach mit, damit er so lange wie möglich diese Ungestörtheit genießen kann. Der Raum
muss erst gedacht werden, damit er wirklich wird, so meint Schneider (1992: 27) in seinem
Essay. Die Tatsache, dass Monsieur einen Metroplan in den Sternen erkennt, ist ein Zeichen dafür, dass der Himmel für ihn beherrschbar wird, er kann mithilfe seiner Gedanken
steuern, was er erkennen will. Die Sterne stellen für ihn dar, was er darin sieht, was er sehen will. Somit entzieht er sich vorübergehend der Fremdbestimmtheit seines Daseins. Er
wählt sich seine Wirklichkeit zweiter Ordnung (vgl. WATZLAWICK 1979, bzw. 1992),
für die er verantwortlich ist und die er selbst ändern kann.
3.2.3 La vie, pour Monsieur, un jeu d’enfant.
Der Aspekt der Kindlichkeit wurde bereits angesprochen und wird hier weiterentwickelt
und näher ausgeführt. Da der Satz: "La vie, pour Monsieur, un jeu d’enfant." (111) am Ende des Romans steht, kann er als rückwirkende Aufklärung des Verhaltens Monsieurs gesehen werden. Diese Aussage stellt eine Lebensphilosophie dar, eine Strategie, der Welt zu
begegnen, die an mehreren Stellen zum Vorschein kommt: entweder direkt durch aktives
57
Spielen: Schach, Billard, Tischtennis (s. o.) oder durch Basteln: "Monsieur, couché sur son
lit, épluchait décorativement des oranges, les travaillait avec un canif suisse pour en faire
des plantes aquatiques, nénuphar ou lis d’eau" (74) oder aber im Erzählfluss versteckt,
denn Onomatopoetika wie hip, hop (u. a. 78) und pom, pom (103) setzen im Text um, wie
Monsieur das Leben wahrnimmt. Sie nehmen den Aussagen, denen sie angefügt sind, ihre
Ernsthaftigkeit und es wird klar, dass die Fremdbestimmung, welcher Monsieur ausgesetzt
sein soll, womöglich nichts Persönlichkeitsraubendes an sich hat. Der Text drückt somit
aus, dass das Leben ein Kinderspiel ist, zumindest der Ansicht Monsieurs zufolge. Um der
Wirklichkeit – und damit dem Leben – begegnen zu können, ist es zielführend, ihr mit einer gewissen Leichtigkeit und kindlicher Naivität entgegenzutreten. Darin ist ein gewisser
Fatalismus erkennbar, welcher schließlich auch Monsieur zugeschrieben wird (vgl. 38).
Seine kindliche Weltbegegnung zeigt sich vor allem in seinem Verhalten Damen
gegenüber. Dafür spricht vor allem, dass er sich in Gesellschaft seiner Nichten am wohlsten fühlt und die Art und Weise, wie er mit seiner neuen Bekanntschaft, Anna Bruckhardt,
umgeht. Zunächst aber gibt er sich ihr gegenüber offen und sympathisch (vgl. 94 ff.), er
erzählt ihr sogar Geschichten und das widerspricht gänzlich seiner bislang zurückhaltenden
und passiv-verschlossenen Haltung in Gesprächen. Diese Ironie wird durch ein eigenes
Fragment hervorgehoben: "Monsieur, un puits d’anecdotes." (101) Die Einführung dieser
Dame auf den letzten zwanzig Seiten des Werkes stellt weiters eine gewisse Änderung im
Erzählstrang dar. Monsieur wird näher beschrieben, da der Leser eine andere Seite an ihm
kennenlernt, aber der ironische Unterton ist derselbe. In einem Gespräch über Malerei und
Literatur mit Anna Bruckhardt wird eine neue Seite seiner Persönlichkeit offenbart: "[…]
un des rares trucs qui lui aurait bien plu, ça, à Monsieur, peintre, […] ou écrivain, […]
(c’était peut-être là son côté ouvert, oui, tourné vers la vie)." Damit wird klar, dass die verspielte Seite nicht sein ganzes Leben betrifft, denn er ist verschlossen und hat sich tatsächlich vom Leben zurückgezogen und versucht mit dem Motto: "Alles ein Kinderspiel" seine
Verschlossenheit nicht sein Leben bestimmen zu lassen.
Die dominante Rolle in der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Anna und
Monsieur wird nicht von ihm eingenommen. Er wirkt abermals unbeholfen, versucht aber
nicht mehr unauffällig zu bleiben:
Au moment où on leur apporta l’addition, Monsieur demanda à Anna Bruckhardt si elle désirait qu’il l’invite ou si elle préférait partager. […] Anna Bruckhardt, le rassurant, lui dit qu’il
n’y avait pas de règle en matière. […] Monsieur, ne s’en sortant pas, suggéra de diviser
58
l’addition en quatre et payer lui-même trois parts (c’est le plus simple, dit-il, d’une assez
grande élégance mathématique en tout cas.) (107 f.)
Dieses Szenario zaubert dem Leser ein Schmunzeln auf die Lippen und bestätigt die Unbeholfenheit des Protagonisten, die dieser nun nicht mehr zu verhüllen sucht. Ähnlich humoristisch ist auch die erste 'körperliche' Annäherung zwischen den beiden: "Monsieur, les
yeux baissés, finit par lui soulever un doigt, prudemment, puis un deuxième, et finalement
lui prit la main entière." (110) Darin kann kaum eine initiative Annäherung gesehen werden, daher muss Anna diesen Part übernehmen: "Anna Bruckhardt lui toucha la joue, alors,
doucement, l’embrassa dans la nuit. Hip, hop. Et voilà, ce ne fut pas plus difficile que ça.
(111) Dieses Ereignis zeigt, dass Monsieur sich seines Unvermögens im Umgang mit einfachen Belangen des alltäglichen Lebens bewusst ist.
3.2.4 Tout est selon
Dies kann als weiteres Lebensmotto des Protagonisten gesehen werden. Zu dieser charakteristischen Devise führt ihn das Paradox von Schrödingers Katze, das naturgemäß unlösbar bleibt (vgl. ALBERT 1994: 357).
In der theoretischen Einführung wurde bereits auf dieses Gedankenexperiment verwiesen,
ergänzend seien hier Monsieurs Ausführungen erwähnt:
Monsieur […] raconta à Louis l‘expérience de Schrödinger, une expérience idéalisée, […] le
détecteur actionnerait un mécanisme qui briserait la fiole et tuerait le chat (les gens tout de
même) […] selon l’interprétation de Copenhague, le simple fait de le regarder altérait de façon
radicale la description mathématique de son état, le faisant passer de l’était de limbes à un nouvel état, où il était soit positivement en vie, soit positivement mort, c’était selon.
Tout était selon.
Auf diesen 'Exkurs' wird in der Folge nicht näher eingegangen. Das Ergebnis des Experimentes allerdings steht symbolisch für die Beschreibung des Protagonisten. Gribbin (1996:
42) spricht von einer Überlagerung von Zuständen, erst das Beobachten führt zur Gewissheit, ob nun der eine oder der andere Zustand eingetreten ist. In diesem Sinne kann auch
Monsieurs Dasein interpretiert werden. Er wirkt auf der einen Seite wie ein gleichgültiger,
59
einverstandener, diskreter Mensch und auf der anderen Seite bricht dieser Mensch aus, will
sich zurückziehen, flieht von einem Ort zum anderen. Dieser Mensch begegnet der Realität
mit kindlichen Verhaltensmustern. Erst durch genaues Betrachten kann sich der Leser für
die eine oder die andere Seite entscheiden, da im Roman selbst keine klaren Hinweise erkennbar werden, die darüber Aufschluss geben, wie Monsieur wirklich ist. Kann er mit der
Wirklichkeit nicht umgehen und zeigt sich diese Resignation in seinem konkludenten Verhalten? Oder versucht sich Monsieur an die ihn umgebende Wirklichkeit anzupassen, um
dem allgemeinen Verständnis von Normalität möglichst nahe zu kommen? Da alles im
Leben relativ ist, kommt es auch darauf an, wie den einzelnen Ereignissen begegnet wird,
daher strebt Monsieur nicht nach der absoluten Erfassung des Lebens und nach einer individuellen Betrachtungsweise, er fügt sich den jeweiligen Umständen in für ihn angemessener Weise.
Das Experiment mit der Katze wird abermals mit Les gens tout de même kommentiert, verdeutlicht die Grausamkeit des fiktiven Unterfangens und verweist kritisch auf die
häßlichen Gedanken, zu denen nur Menschen fähig sind. Weiters veranschaulicht der
Kommentar, dass hinter dem Gedankenexperiment verzweifelt ein Sinn gesucht wird. Der
Mensch verbringt seine Zeit mit der Sinnsuche, auch mit der Suche nach der Wirklichkeit.
Nicht so Monsieur, denn er ist nicht auf der Suche, er findet sich mit seinem Leben ab, in
der Gewissheit, dass er daraus temporär fliehen kann.
3.2.5 Conclusio
Der Protagonist Monsieur unterscheidet sich deutlich von seinem Vorgänger aus La Salle
de bain, zumal sein Realitätsbezug nicht in gleichem Maße erkennbar ist. Allerdings bestehen Parallelen im Hinblick auf den Isolations- und Evasionswunsch der Helden, obgleich
diese beiden Wünsche auf unterschiedliche Art vollzogen werden. Der Ich-Erzähler aus La
Salle de bain macht keinen Hehl daraus, dass ihm seine Mitmenschen im Allgemeinen zuwider sind, Monsieur hingegen äußert diese Abneigung mit einem lakonischen les gens
tout de même. Flügge (1989: 1114) spricht von einem "verbalen Comic", welchen Toussaint mithilfe eines "Erzählstils gespielter Gleichgültigkeit" (ebd. 1115) ausdrückt. "Gespielte Gleichgültigkeit" trifft auch auf das Verhalten des Protagonisten zu, sein Auftreten
ist von Gleichgültigkeit geprägt und der banalen Realität begegnet er mit spielerischer
60
Leichtigkeit. Da neben dem Erzähler auch das Innenleben der Figur zurücktritt, wird der
Protagonist zu einer Art Schablone für die Protagonisten der anderen Romane (vgl. ACAR
2003: 49).
Im Hinblick auf die Figurenkonzeption, die nicht viel über die Eigenschaften Monsieurs verrät, kann die Frage aufgeworfen werden, ob womöglich eine Parallele zu Musils
Mann ohne Eigenschaften (1931/32) besteht. Schärer (1978: 187) meint über Ulrich, dass
dieser zu spüren beginnt, dass die Strategie der präventiven Eigenschaftslosigkeit die erhoffte Überwindung der Schwäche nicht zu leisten vermag. Dieser versucht also nicht seine Schwächen auszunützen, wie dies der Protagonist des ersten Romans Jean-Philippe
Toussaint vorzeigt. Und auch Monsieur nützt nicht aus, sondern wird ausgenützt, sei es
von Kaltz, seinen Vermietern oder seinem Bruder. Er erträgt alles und insofern beweist er
dadurch Stärke. Toussaint selbst sagt über Monsieur in einem Interview (HANSON 1998):
"[…] je n’ai jamais eu le désir ou l’envie de raconter une histoire." Insofern wird er der
Bezeichnung als Spät-Flaubertianer (vgl. BAUMGART 1989: 15) gerecht, da das Vermeiden einer Histoire an Flauberts l’art pour l’art-Vorstellungen erinnert.
61
3.3 L’appareil-photo (1988)
Auch die Analyse des dritten Werks Toussaints beginnt mit der Diskussion des Titels. Wie
in den beiden bereits besprochenen Romanen verweist der Titel im Sinne von Genettes
Paratextualitätskategorie bereits auf den Gegenstand des Werkes. Einen wichtigen Teil der
Untersuchung umfasst die Lebensphilosophie des Protagonisten: Fatiguer la réalité. Diese
Ideologie kann als thematischer Schwerpunkt dieses Werkes und womöglich aller hier untersuchten Romane Toussaints betrachtet werden. Im Weiteren folgt ähnlich den vorangehenden Romananalysen die Besprechung der Ästhetik des Stillstandes, der Bedeutung des
Ortes und des Protagonisten und seines Umfeldes.
3.3.1 Bedeutung des Fotoapparates
Bis Seite 102 bleibt dem Leser der Grund für den Romantitel verborgen, da nie ein Fotoapparat erwähnt wird. Die minimalistische Handlung beschränkt sich auf den Versuch eines abermals namenlosen Ich-Erzählers, sich in einer Fahrschule anzumelden. Es soll aber
bei einem Versuch bleiben, von Erfolg gekrönt sind nur die Avancen, die er der FahrschulAngestellten macht. Auf der Rückfahrt von einem Londonaufenthalt mit eben dieser Dame
stößt er auf der Fähre auf den titelstiftenden appareil-photo: "Je […], à côté de moi, sur un
siège vide, remarquai un appareil-photo abandonné, […]." (102) Dieser Entdeckung wird
allerdings erst durch die Aneignung des Fotoapparats durch den Protagonisten Bedeutung
verliehen: "[…], dans ma poche, à côté des divers papiers qui s’y trouvaient, je sentais
maintenant le contact rigide du petit appareil-photo. Je n’avais pas eu l’intention de le voler, non." (102) Die Möglichkeit, den Fotoapparat unbemerkt andernorts am Schiff zu deponieren, nimmt er nicht wahr und behält den Fund in seinem Gewahrsam. Darin, dass
dieses Verhalten der gesamten Handlung eine Wendung gibt, beziehungsweise auch den
Kulminationspunkt im Erzählstrang stellt, liegt womöglich die Begründung für diesen
Titel. Dieser Ansicht folgend, müsste der erste Roman aber beispielsweise La Fléchette
heißen. Die Wahl des Titels orientiert sich somit nicht an den Wendungen des Erzählstrangs – was auch der Roman Monsieur beweist – sondern am thematischen Schwerpunkt.
Gemeinsam ist den Helden aus La salle de bain und aus L’appareil-photo, dass ihr abwei62
chendes Verhalten zunächst nicht beabsichtigt war, wie der erste toussaintsche Erzähler
vor seinem definitiven Einzug ins Badezimmer betont: "[…] je ne comptais pas m’y installer; […]" (1985: 11). In L’appareil-photo hat sich der Leser mit der eher belanglosen
Handlung abgefunden und lernt einen toussaint-typisch gleichgültigen Helden kennen – bis
dieser plötzlich zum Täter wird. Diese Unterschlagung des Photoapparates ist auch als typisch zu werten, da sie stark an den Übergriff des Protagonisten aus La salle de bain auf
seine Lebensgefährtin erinnert.
Die Kamera wird zum zentralen Gegenstand der 'Fatiguer-la-réalité-Philosophie':
[…] je commençai à faire des photos en toute hâte pour terminer la pellicule, des photos au hasard, des marches et de mes pieds, tout en courant dans les escaliers l’appareil à la main, appuyant et réarmant pour achever le plus vite possible le rouleau. (103)
Die Schockiertheit über sein eigenes Verhalten äußert sich in einem ziellosen Ablichten,
denn er betätigt wie panisch immer und immer wieder den Auslöser. In letzter Konsequenz
entledigt er sich sogar dieses zentralen Gegenstandes und löscht dessen Existenz aus,
nachdem er den Film herausgenommen hat: "Parfois, oui, la mort me manquait. Regardant
les vagues en contrebas, je sortis l’appareil de ma poche et, presque sans bouger, je le laissai tomber par-dessus bord, […]" (106) Er 'ermordet' den Apparat symbolisch, was stellvertretend für seine eigene Todessehnsucht gewertet werden kann. Diese Sehnsucht nach
einem Scheiden aus dieser Welt entspringt dem Unvermögen des Protagonisten mit seiner
Lebensrealität umzugehen. Er scheint seiner alltäglichen Wirklichkeit überdrüssig zu sein
und versucht deshalb auch, dieser auf seine Art zu begegnen.
Es stellt sich im Rückblick auf den ersten Roman Toussaints nun die Frage, ob diese
Handlung dem Acte gratuit des ersten Helden vergleichbar ist. Dies ist allerdings zu verneinen, da der Protagonist hier nicht in die Rolle Gottes schlüpfen will und das Schicksal
zu verändern gedenkt. Raether (1980: 85) spricht – im Zusammenhang mit Dostojewskij –
von der Tat, die nicht nur vernichtend für das Opfer, sondern auch für den Täter ist, denn
nicht die Tat ist ziellos, sondern der Mensch, der sie begeht. Wenn nun der Kreis der Opfer
nicht auf Menschen eingegrenzt bleibt und auf die Art der Tat Bezug genommen wird –
unter Ausblendung des Aspektes, die Hand Gottes zu ersetzen – kommt dies in die Nähe
eines Acte gratuit. Es bleibt also festzuhalten, dass diese Zerstörung des Objekts willkürlich geschieht und Symbolcharakter hat, da sie die Ziellosigkeit des Protagonisten ausdrückt und dahingehend als Acte gratuit im weitesten Sinne interpretiert werden kann.
63
In Momenten, in denen der Ich-Erzähler seiner Realitätsbegegnungsphilosophie nicht
folgen kann, sieht er den einzigen Ausweg in einer ideellen Flucht, die von einer gewissen
Lebensverweigerung begleitet ist. Deshalb vernichtet er jenen Gegenstand, welcher für ihn
eine Art der Wirklichkeitsbegegnung realisiert. "Grâce à la photo, le narrateur espère fixer
son état idéal qui consiste à rester hors de l’influence du temps." (SHOOTS 1997: 174 f.)
Er will einen bewegten Zustand festhalten – worauf im Detail an späterer Stelle eingegangen wird – um den Zeitverlauf zumindest im Moment der Aufnahme scheinbar zu bremsen. Der selbsterwählte Tod wäre das einzige Mittel, welches der Einzelne dem Lauf der
Dinge entgegenbringen kann, denn nur auf diese Weise kann sich jeder Mensch dem Einfluss der Zeit entziehen. Der Ich-Erzähler bringt die Kamera zunächst im Affekt an sich
und schießt auch die Fotos keineswegs absichtlich. Von einem Wunsch nach dem Festhalten seines derzeitigen Zustandes im Zeitpunkt des Photographierens kann demnach nicht
gesprochen werden. Einige Seiten weiter hinten erst kann von einem Wunsch nach dem
idealen Foto gesprochen werden, welches der Protagonist hätte erstellen können, wäre er
noch im Besitz des Apparates: "[…] une seule photo, quelque chose comme un portrait, un
autoportrait peut-être, mais sans moi et sans personne, seulement une présence, entière et
nue, […]." (112) Der Protagonist strebt nach Abwesenheit, sowie danach, die Leere festzuhalten, nicht nur, um der verrinnenden Zeit zu entkommen, sondern um seine gefühlte
Existenz darzustellen. Der Wunsch nach dem Abbild seiner leeren Hülle, seines gewissermaßen leeren Körpers verdeutlicht den Bezug des Ich-Erzählers. Die Tatsache, dass sein
Name nie verraten wird und somit auch eine Leerstelle darstellt, lässt an die Existenzthematik in La Nausée (1938) denken, die sich beispielsweise in folgender Textstelle zeigt:
"Mon existence commençait à m’étonner sérieusement. N’étais-je pas une simple apparence?" (SARTRE 1938: 127) Dieser Verweis ist insofern von Bedeutung, als auch Präsenz
Teil einer Existenz ist und in diesem Sinne ist der Held aus L’appareil-photo einen Schritt
weiter, denn ihn überrascht seine Existenz nicht, sondern er strebt danach, nur seine Erscheinung abzubilden, um seiner Vorstellung vom idealen Porträt nahe zu kommen. Die
Realitätsauffassung Roquentins ist jener des hier untersuchten Protagonisten insoweit vergleichbar, als beide von einem kaum zu beschreibenden Gefühl erfüllt sind, welchem sie
schwer zu entfliehen vermögen. Das Gefühl der Kontingenz ist jedenfalls bei beiden spürbar, es wird nur auf unterschiedliche Weise merkbar und die Art, diesem Gefühl zu begegnen, ist eine andere. Während Antoine Roquentin dem Ekel durchs Schreiben entflieht
(vgl. SARTRE 1938: 243), behält sich sein toussaintsches Pendant eben die Strategie der
64
Realitätsermüdung vor. Allein die Tatsache, dass der Held Toussaints ein fotografisches
Porträt ohne ihn erstellen will, lässt darauf schließen, dass er sein Dasein als reine Präsenz,
als beinahe unsichtbare Anwesenheit einschätzt und in gewisser Weise als entbehrlich und
banal erlebt.
Mit dem Fotoapparat können Momente eingefangen werden, dies steht außer Frage,
doch der Ich-Erzähler vermeidet nicht nur, typische Erinnerungsfotos zu schießen, sondern
verfolgt auch ohne Kamera eine bestimmte Strategie: "[…], j’allai regarder dehors par la
vitre, commençai à dessiner pensivement des rectangles avec mon doigt sur le carreau, des
[…] photos imaginaires, […]." (110) Er will nicht nur ein Selbstporträt ohne sich selbst
schaffen, sondern auch Fotos, die nur leere Objekte abbilden: den gegenüberliegenden Gebäudekomplex, ein vorbeifahrendes Auto oder einen Passanten (vgl. ebd.). Mit sinnleeren
Abbildungen glaubt er die Wirklichkeit seines Daseins darstellen zu können.
Der Protagonist in L’appareil-photo ist nicht auf der Suche nach einem Bild, das einem anderen Bild entspricht. Sein Anspruch zielt auf die Möglichkeit ab, etwas von sich selbst im Bild
wiederzufinden, eine Spur aus seiner inneren Welt in der äußeren zu entdecken. (SCHOLLE
2003: 68)
Er empfindet eine innere Leere, ausgelöst durch die äußere Realität, an der er sich stößt.
Daher könnte auch ein Passfoto nie abbilden, was in seinem Inneren Spuren hinterlassen
hat. Die französische Bezeichnung photo d’identité bringt diesen Widerspruch noch besser
zum Ausdruck (vgl. WORTMANN 1993: 142). Die wahre Identität bleibt der Erkenntnis,
die sich aus einem Foto gewinnen lässt, ohnehin verborgen, aber diese Art von Bild dient
ausschließlich der äußerlichen Wiedererkennung der Person, zum Zwecke der Identifizierung in einem Ausweis oder einer Urkunde.
Der Ich-Erzähler ist sich der Wirkung seiner im Affekt erstellten Abbildungen
durchaus bewusst, auch schon vor deren materieller Existenz auf Fotopapier:
C’était comme la photo de l’élan furieux que je portais en moi, et pourtant elle témoignait déjà
de l’impossibilité qui le suivrait, du naufrage de ses retombées. Car on me verrait fuir sur la
photo, je fuirais de toutes mes forces, mes pieds sautant des marches, mes jambes en mouvement survolant les rainures métalliques des marches du bateau, la photo serait floue mais immobile, le mouvement serait arrêté, rien ne bougerait plus, ni ma présence ni mon absence, il y
aurait là toute l’étendue de l’immobilité qui précède la vie et toute celle qui la suit, à peine plus
lointaine que le ciel que j’avais sous les yeux. (113)
65
Die Möglichkeit, Gemütszustände bildlich festzuhalten, ist sehr eingeschränkt und allein
an einem Gesichtsausdruck wäre wohl der innere Drang des Protagonisten, der Ohnmacht
gegenüber der Realität entgegenzutreten, nicht erkennbar. Doch die Flucht vor dieser
Ohnmacht wird durch die Darstellung seiner Füße am Schiffsboden bestmöglich dargestellt. Der Protagonist nähert sich mit diesen Bildern zugleich der im nächsten Kapitel behandelten Ästhetik des Stillstandes an, denn wo kann ein Moment der Bewegung besser
festgehalten werden als auf einem Foto? Die Bewegung seines Lebens wird darauf zum
Erstarren gebracht, er ist weder richtig abwesend noch tatsächlich ganzheitlich anwesend
und somit dem Zustand des Todes, also dem ewigen Stillstand, nahe.
Die entwickelten Fotos verkörpern genau die Idealvorstellung des Protagonisten
von seinem Selbstporträt: "[…] la pellicule était uniformément sous-exposée, avec ça et là
quelques ombres informes comme d’imperceptibles traces de mon absence." (116) Spuren
seiner Existenz sind noch verblieben und er ist bereits auf der Flucht. Somit ist sein Evasionsdrang abgebildet, den er zu verspüren beginnt, sobald er der Realität nicht mit seiner
Ermüdungstaktik entgegentreten kann. "Eine Möglichkeit, sich der übermächtigen häßlichen Wirklichkeit zu entziehen, besteht im Ausweichen vor der Auseinandersetzung, in der
Flucht." (RAETHER 1980: 46) Von den zwei Arten des Eskapismus, der Flucht in Illusionen oder in Zerstreuung (vgl. BROCKHAUS 2004: s.v.), wählt der Protagonist die Illusion, er meint der Realität durch die Abbildung seiner Abwesenheit begegnen zu können und
dies ist vom Standpunkt eines neutralen Beobachters gesehen ebenso eine Illusion.
Die Bilder der ursprünglichen Eigentümer des Fotoapparates hingegen sind keineswegs unterbelichtet und verkörpern das exakte Gegenteil der seinen:
Ce qui me paraissait troublant, dans ces photos apparemment anodines, outre le fait que j’étais
confronté là à une intimité à laquelle je n’aurais jamais dû avoir accès, c’était la sorte
d’indécence involontaire qui se dégageait de ces photos. (119 f.)
Die Fotos erscheinen ihm deshalb anstößig, da es sich vorwiegend nicht um Schnappschüsse handelt, sondern um Fotos von unnatürlich posierenden Menschen, wie dies auf
Erinnerungsfotos eines Urlaubs mitunter üblich ist. Die abgebildeten Personen posieren
ausschließlich für den Zweck der Ablichtung. Den erwähnten Eindruck der Anstößigkeit
erweckt demnach die Modifizierung der Wirklichkeit. Puff-Trojan (1991) interpretiert die
fremden Fotos als ein Porträt des Protagonisten selbst, sowie seines Alltags. Die Alltäglichkeit ist zu einem Leben minimiert, in dem das Denken nichts ausrichtet. Die typisch
66
sterilen Bilder dieser Fremden führen dem Protagonisten schmerzlich die Banalität und
Absurdität des Alltags vor Augen. Der Umgang mit der Realität kann nicht darin bestehen,
vor ihr zu fliehen und das Unwohlsein des Helden gegenüber seinem Dasein in der Welt ist
schwer abzulichten. Winter (2002: 206) betont die Unglaubwürdigkeit der fotographischen
Momentaufnahme als technisches Medium einer Repräsentation von Identität und Realität.
Der Glaube der Menschen, reale Momente oder wahre Identität fotografisch festzuhalten,
gilt längst als überholt, und dieser Tatsache ist sich der Protagonist durchaus bewusst,
weshalb er nach einer anderen Form der fotografischen Porträtierung sucht.
3.3.2 Ästhetik des Stillstandes
Wie in La Salle de bain und in Monsieur wird auch in L’appareil-photo vom Protagonisten
eine bestimmte Strategie verfolgt. Hier ist es neben der schon erwähnten 'Fatiguer-laréalité-Philosophie' gleich wie in Toussaints Erstlingswerk das Anstreben eines bestimmten Zustandes, der auf den Fotos festgehalten werden soll. Neben der dargestellten Abwesenheit auf den Fotografien zeigt sich der Protagonist zudem fasziniert von der Tatsache,
dass Bewegung durchaus starr abgebildet werden kann. Genau dies wird durch die Fotografie ermöglicht und kann zugleich wieder als Beitrag zu seiner Philosophie gesehen werden. Der ideale Zustand für den Helden ist jener der bewegten Immobilität, welcher an die
Zeitlupeneinstellung visueller Medien erinnert. Diesem Zustand kommt der Protagonist auf
der Fähre nahe:
Nous avancions irrésistiblement, et je me sentais avancer aussi, fendant la mer sans insister et
sans forcer, comme si je vivais peut-être, je ne savais pas, c’était simple et je n’y pouvais rien,
je me laissais entraîner par le mouvement du bateau dans la nuit et, regardant fixement l’écume
[…]. (95)
Einen interessanten Vergleich bietet l’écume, dessen Konsistenz sich vorwiegend als metaphorisch bedeutsam erweist. So wie der Schaum auf der Welle getragen wird, ist er selbst
zunächst nicht in Bewegung, diese wird allein von der Welle erzeugt, außerdem hört er
beim Aufprall zu existieren auf. In diesem Sinne symbolisiert der Schaum neben dem be-
67
wegten Immobilismus, den unbeeinflussbaren Lauf der Zeit beziehungsweise des Lebens
und die harte Begegnung mit der Wirklichkeit.
Auch im Flugzeug stellt sich das Gefühl des Stillstandes ein: "L’avion semblait immobile dans les airs, rien ne bougeait à proximité, et, penché à mon hublot, je noyais mes
pensées dans ces masses d’air illisibles et accueillantes […]" (112) Fern von allen Zwängen der Gesellschaft und der alltäglichen Wirklichkeit wird der Protagonist von einem intensiven Freiheitsgefühl erfasst und kann seinen Gedanken freien Lauf lassen. Scarlett
Winter (2002: 201) spricht von einem Paradoxon von Bewegung und Stillstand, welches
sich körperlich manifestiert, da der unbewegte Körper in Bewegung versetzt ist. Dieses
Paradoxon erlebt auch der Protagonist des ersten Toussaintschen Romans, allerdings auf
einer Zugfahrt (s.o.). Doch dieser scheinbare Zustand der Immobilität dauert nur an, solange sich das Flugzeug in der gleichen Höhe befindet. Der Ich-Erzähler hätte diesen Zustand
gerne mit dem Medium Kamera eingefangen.
[…] j’aurais pu prendre quelques photos du ciel à présent, cadrer de longs rectangles uniformément bleus, translucides et presque transparents, de cette transparence que j’avais tant recherchée [...]. (112)
Die unendlichen Weiten des Horizonts bedeuten für den Protagonisten Klarheit und Uneingeschränktheit, exakt wonach er in seiner Welt verzweifelt sucht. Seine Wahrnehmung
der Wirklichkeit sieht er von den Konventionen des menschlichen Zusammenlebens beeinflusst.
3.3.3 Fatiguer la réalité
Der Protagonist hat eine gewisse Vorstellung davon, wie die Realität mürbe gemacht werden kann. Diese 'Fatiguer-la-réalité-Philosophie' zieht sich durch alle Bereiche seines täglichen Lebens, daher benötigt er auch so viel Zeit um die grundsätzlich unkomplizierte
Aufgabe der Erstellung von Passfotos zu erledigen. Seine Taktik, der Wirklichkeit zu begegnen, entstammt der Beschäftigung mit einer Olive:
68
[…] ma méthode, à mon avis, ne comprenant pas que tout mon jeu d’approche, assez obscur en
apparence, avait en quelque sorte pour effet de fatiguer la réalité à laquelle je me heurtais,
comme on peut fatiguer une olive par exemple, avant de la piquer avec succès dans sa fourchette, et que ma propension à ne jamais rien brusquer, bien loin de m’être néfaste, me préparait en vérité un terrain favorable où, quand les choses me paraîtraient mûres, je pourrais cartonner. (14)
Durch Beharrlichkeit und äußere Gelassenheit widersteht er der Realität (vgl. EBERLEN
2002: 250), wobei er ruhig bleibt, nichts forciert und Geduld und Ausdauer beweist. Der
angestrebte immobile Zustand fördert die äußere Gelassenheit, da sich die Welt sozusagen
im Zeitraffer dreht.
Die erwähnte Schwierigkeit der Erbringung der Passfotos signalisiert nach Winter
(2002: 203) ein zentrales Leitmotiv des Romans: die Fragwürdigkeit der eigenen Identität
und Realität und ihrer möglichen medialen Fixierung und visuellen Reproduktion. Solange
er die Erfüllung dieser Pflicht hinauszögert, rollt er sinnbildlich die Olive vor sich am Teller, bis er sie aufspießen kann. Durch das Hinauszögern der Aufgabenerledigung glaubt er
der Realität etwas entgegenzubringen, sie einzubremsen. In diesem Sinne könnten auch die
Passfotos, beziehungsweise deren Beschaffung, die Wirklichkeit symbolisieren.
Der erste Anlauf den Führerschein zu machen scheiterte daran, dass dem Protagonisten die geforderten Aufgaben zu eintönig wurden: "Je ne sais si je progressais dans la
maîtrise de la conduite du reste, mais, au bout de quelques séances, commençant à me lasser un peu de la monotonie itérative de l’exercice […]." (41 f.) Seine Fahrstunden langweilen ihn und er überzeugt deshalb seinen Lehrer, bei jeder Einheit eine kleine Pause einzulegen, um einen Kaffee (vgl. 42), einen petit calva (43) oder auch ein Bier (ebd.) zu trinken. Bereits die gewöhnliche Notwendigkeit, einen Führerschein erlangen zu müssen, ruft
ich ihm Überdruss hervor und er tut alles, um dieser 'Pflichtübung' zu entgehen.
3.3.3.1 Das Olivengleichnis
Der Olive kommt eine besondere Bedeutung zu, denn sie wird zum Sinnbild eines strategischen Umgangs mit der Realität (vgl. WORTMANN 1993: 136 f.), nach Albert hingegen
(1994: 356) zu einem Sinnbild der ungreifbaren Zeit. Neben der Hinauszögerung der banalsten Erledigungen des Alltages verweist der Protagonist auf die Olive selbst und die
Beschäftigung mit selbiger:
69
Et, tandis que je continuais de m’attarder dans cette cabine en suivant tranquillement le cours
de mes pensées, je sentais confusément que la réalité à laquelle je me heurtais commençait peu
à peu à manifester quelques signes de lassitude ; elle commençait à fatiguer et à mollir oui, et
je ne doutais pas que mes assauts répétés, dans leur tranquille ténacité, finiraient peu à peu par
épuiser la réalité, comme on peut épuiser une olive avec une fourchette, si vous voulez, en appuyant très légèrement de temps à autre, et que lorsque exténuée, la réalité n’offrirait enfin plus
de résistance, je savais que plus rien ne pourrait alors arrêter mon élan, l’élan furieux que je savais en moi depuis toujours, fort de tous les accomplissements. Mais, pour l’heure, j’avais tout
mon temps : dans le combat entre toi et la réalité, sois décourageant. (50)
In seinen Gedanken versunken, bemerkt er den unaufhaltsamen Lauf der Zeit und will diesen eindämmen, indem er in sinnbildlich anhand der Olive gedanklich greifbar macht. Der
hier angestellte Vergleich des Umgangs mit der Wirklichkeit mit dem Ausquetschen einer
Olive lässt sich folgendermaßen deuten: Um die Wirklichkeit 'müde' zu machen, muss sie
so lange bearbeitet werden, bis sie erschöpft ist. Die Steinfrucht steht als Symbol für die
Zeit und für die Wirklichkeit, auch letztere gibt schließlich den Widerstand auf und kann
genauso beherrscht werden, wie die Olive aufgespießt werden kann. Fatiguer l’olive, nennt
der Ich-Erzähler diese Strategie, die zugleich seine generelle Lebensregel ist. Fatiguer la
réalité bedeutet, die Wirklichkeit zur Ermüdung bringen, zum Nachgeben, die Wirklichkeit
weich zu machen und sie dann, überraschend, aufzuspießen. Flügge (1992: 64) bezeichnet
die Ermüdung der Wirklichkeit als Kampf, der in der Entmutigung der Wirklichkeit enden
soll, dies bezeichnet ihmzufolge Jean-Philippe Toussaints Poetik. Der Autor selbst sieht in
dieser Strategie seines Helden eine Metapher des Schreibens, mit dessen Hilfe die Realität
und die Sprache bearbeitet werden, um daraus etwas entstehen zu lassen (vgl. JOURDE:
1992). Damit kann Flügges Ansicht zur Poetik des Autors entsprochen werden, denn dieser
selbst gesteht den metaphorischen Charakter der Ermüdungsstrategie seines Helden ein.
Auf eben diese Art begegnet der Ich-Erzähler allen Gegebenheiten, mit denen er konfrontiert wird, und seine Taktik zieht er im Umgang mit Menschen heran:
Je n’écoutais plus les propos d’Il Signore Gambini que d’une oreille distraite du reste, et, concentrant toute mon attention sur l’olive que je continuais de fatiguer nonchalamment dans mon
assiette, lui imprimant de petites pressions régulières avec le dos de ma fourchette, je sentais
presque physiquement la résistance de l’olive s’amenuiser. (23)
Hier treffen die zwei Welten gewissermaßen aufeinander. Er ignoriert seinen Geschäftspartner (das ist zumindest anzunehmen) und geht ganz und gar in der Beschäftigung mit
70
der Olive auf, so als würde ihn sein Gegenüber langweilen oder gleichgültig sein. Er empfindet die Situation als zu ernst und zu alltäglich und will ihr deswegen durch Ablenkung
entfliehen.
3.3.3.2 Die Umsetzung des Oliven-Gleichnisses
Die Gasflaschenepisode kann als Inbegriff für das 'Müde-Machen' der Realität angesehen
werden und stellt damit eine mögliche Form der Realisierung des Olivengleichnisses dar.
Zunächst bemerkt die Angestellte der Fahrschule, dass die Gasflasche, welche den Heizofen betreiben soll, leer ist (vgl. 25). Der Weg, eine neue Gasflasche zu besorgen, gleicht
einer Odyssee und wird im Erzählstrang unnatürlich in die Länge gezogen. Dem Leser
erscheint alles Tun, welches beschrieben wird, wie eine unglaubliche Anstrengung. Alles
geht sehr langsam und zäh vor sich, vor allem ab dem Zeitpunkt, wo der Protagonist und
seine Begleiterin am dépôt de gaz ankommen. Er begibt sich dort in ein Geschäft, um
Chips zu kaufen und danach auf die öffentliche Toilettenanlage (vgl. 28ff.). Dies allein
würde wohl kaum als außergewöhnlich oder besonders merkwürdig gelten, doch die Art
und Weise des Agierens des Protagonisten ist ein Beweis für seine Taktik. Es kommt zu
einem Art Spannungsfeld zwischen Realitätsflucht und Realitätsannäherung (vgl. ASHOLT 1994: 30). Der Protagonist erbietet sich freiwillig, an der Beschaffung der Gasflasche teilzunehmen, sorgt aber nicht dafür, die Suche zu beschleunigen. Das Verhalten erinnert abermals an sein Unvermögen zur Beschaffung der Passfotos. Er ist es leid, alltägliche Angelegenheiten zu erledigen und begegnet diesen, ähnlich der Olive, mit einer Verzögerungstaktik, so als könnte er tatsächlich die Zeit durch sein Verhalten verlangsamen,
wo doch außer Frage steht, dass der Mensch darauf tatsächlich einwirken kann (vgl.
SCHNEIDER: 19). Er nähert sich also durch die versprochene Hilfe bei der Beschaffung
der Realität an, als dies sich allerdings unnötig in die Länge zieht, zieht er sich aus der Sache zurück und flieht auf diese Art wieder vor der Annäherung an die Realität.
Die Heranbringung der Gasflasche gestaltet sich zusehends schwieriger, denn an
der Tankstelle werden die Suchenden woandershin verwiesen und müssen wieder von
Neuem mit der Suche beginnen (vgl. 54). Und somit wird das Bestreben des Protagonisten
gewissermaßen durch äußere Umstände in die Tat umgesetzt. Deutlich wird die Lebensphilosophie des Protagonisten, als er auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aus der Rea71
lität den herkömmlichen Akt des Ankaufes einer Gasflasche zum Sinnbild seiner persönlichen Suche macht:
[…] je somnolais sur la banquette arrière en songeant que la réalité à laquelle je me heurtais,
bien loin de marquer le moindre signe d’essoufflement, semblait s’être peu à peu durcie autour
de moi et, me trouvant désormais dans l’incapacité de m’extraire de cette réalité de pierre qui
m’entourait de toutes parts, je voyais à présent mon élan comme un surgissement de forces arrachantes à jamais prisonnier de la pierre. (56)
Die Unmöglichkeit der Realisierung seiner Philosophie wird ihm an dieser Stelle plötzlich
bewusst. Auf seiner ständigen Suche nach einem Konterpart gegen die beängstigende Realität sieht er einem möglichen Scheitern ins Auge. Er fasst sich aber wieder und bleibt seiner Strategie treu. So absurd wie die Suche nach der Gasflasche erscheint, so absurd verhält sich auch der Ich-Erzähler. Er nutzt zum Beispiel die Wartezeit, um sich im Büro des
Tankstellenbesitzers zu rasieren. Auch dieser Herr vertreibt sich seine Zeit auf merkwürdige Weise, indem er alleine Mikado spielt und seine Kundschaft warten lässt (vgl. 60 f.).
Claudia Albert (1994: 352) spricht vom Tankwart als 'alter ego des Erzählers'. Im Vergleich mit den Verhaltensmustern der hier analysierten toussaintschen Helden ist dies insofern zutreffend, als der Tankwart gleichermaßen mit sich selbst beschäftigt ist und seine
Zerstreuung im Spiel findet. Darin steckt wiederum ein Hinweis auf den Evasionsdrang
des Helden, der sich in der alternativen Zerstreuung äußert.
Die beste Art, die Wirklichkeit weich zu machen, ist vor allem das Nachdenken. Dazu zieht sich der Protagonist an bestimmte Orte zurück, wie an jenen Ort, der für jeden
Menschen einen Hort der Ruhe darstellt, zumal er an diesem für gewöhnlich allein ist: die
Toilette.
Assis là depuis un moment déjà, le regard fixe, ma foi, je méditais tranquillement, idéalement
pensif, pisser m’étant assez propice je dois dire, pour penser. Du moment que j’avais un siège,
moi, du reste, il ne me fallait pas dix secondes pour que je m’éclipse dans le monde délicieusement flou et régulier que me proposait en permanence mon esprit, […]. Il n’y avait pas de
raison de se hâter de mettre fin à cette entéléchie. (31 f.)
In Momenten der völligen Isolation von anderen Menschen stellt sich bei ihm eine Art meditativer Zustand, ein Gefühl der Vollkommenheit, ein. An diesem Ort braucht er sich auf
nichts anderes zu konzentrieren und kann sich einzig seiner Gedankenwelt widmen.
72
S’éclipser deutet bereits an, dass er sich von der gegenwärtigen Wirklichkeit zurückzieht
und in seine eigene Welt flieht. Im Sinne des Eskapismus gibt er sich in diesem Fall gleichermaßen der Zerstreuung wie der Illusion hin. Nach der Ankündigung seines mentalen
Ausstieges aus der Welt, erläutert der Protagonist weiters, wie dieser Ausstieg am besten
vonstatten geht:
La pensée, me semblait-il, est un flux auquel il est bon de foutre la paix pour qu’il puisse
s‘épanouir dans l’ignorance de son propre écoulement et continuer d’affleurer naturellement en
d’innombrables et merveilleuses ramifications qui finissent par converger mystérieusement un
point immobile et fuyant. (32)
Der Ich-Erzähler erfreut sich daran, dass seine Gedanken frei sind und dass sie von niemandem beeinflusst werden können, bis sie selbstständig zu einem Endpunkt gelangen.
Nach Watzlawick (1992: 14) sind Wirklichkeiten immer Konstruktionen und dem Menschen steht es frei, sich für eine Konstruktion zu entscheiden. Der Protagonist lässt sich für
diese Entscheidung von seinen Gedanken leiten. In der Konzentration auf einen Fixpunkt
findet sich abermals ein Gleichnis der Olivenmetapher. Die Gedanken gleiten eine ganze
Weile in verschiedene Richtungen, bis sie sich schließlich auf einen Punkt konzentrieren,
der dem Zeitpunkt des Aufspießens der Olive gleicht. Die Entscheidung für eine Wirklichkeit entsteht in diesem Sinne im Moment des Aufspießens, des Fassens eines konkreten
Gedankens. Passend scheint hier der Vergleich von Schmidt (2003: 23), wonach das Denken als Gabel dient.
[…] isoler une pensée, une seule, et, l’ayant considérée et retournée dans tous les sens pour la
contempler, que l’envie nous prenne de la travailler dans son esprit comme de la pâte à essayer
de la formuler est aussi décevant, in fine, que le résultat d’une précipitation, où, autant la floculation peut paraître miraculeuse, […]. Non, mieux vaut laisser la pensée vaquer en paix à ses
sereines occupations et, faisant mine de s’en désintéresser, se laisser doucement bercer par son
murmure pour tendre sans bruit vers la connaissance de ce qui est. Telle était en tout cas, pour
l’heure, ma ligne de conduite. (32)
Die Möglichkeit, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren und diesen weiterzuentwickeln, lehnt der Protagonist gleichermaßen kategorisch ab, wie er die Beschäftigung mit
alltäglichen Angelegenheiten verweigert. Dergestalt ist seine ligne de conduite, seine Art
sich zu verhalten und durchs Leben zu gehen. In diesem Sinne wählt er selbst die Be73
zeichnung für seine Begegnungsweise der Wirklichkeit. Aus dieser Aussage erklärt sich
auch der Ausdruck école de conduite anstelle von voiture-école und die "intendierte Doppeldeutigkeit" (ASHOLT 1994: 22) des Begriffes. Die Fahrschule dient also gleich der
Olive nur als Metapher für die gewählte Lebensphilosophie des Protagonisten, in diesem
Fall vertritt sie die ligne de conduite, welcher der Protagonist folgt. Diese 'Verhaltenslinie'
kann er vorwiegend durch Denkprozesse verfolgen, wodurch er ein anderes Leben simuliert, welches abseits seines physischen Daseins, eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht (vgl.
EBERLEN 2002: 244). Der Prozess des Denkens ermöglicht ihm die mentale Flucht, die er
auf physische Weise nie vollführen könnte. Er definiert sich auch selbst als Denker: "(je
serais plutôt un gros penseur, oui)" (50) Die Klammernsetzung dient hier der Hervorhebung einer vom Erzähler gefundenen Lösung. Für ihn besteht der einzige Ausweg aus der
biederen Realität in der Reflexion über selbige.
Ähnlich La salle de bain und L’homme qui regardait passer les trains (1938) tritt
auch in L’appareil-photo das literarhistorisch verbreitete Motiv des Spiegels in Erscheinung, etwa als der Ich-Erzähler vor dem Spiegel in der Position des Denkers posiert:
Je m’étais mis une main devant la bouche, dans une pose qui me semblait avantageuse, et considérais dubitativement l’air impénétrable que j’avais cru bon d’affecter pour me regarder (regard dur, expression implacable) […] (51)
Hier ist der Spiegel das Abbild der Wirklichkeit, welches sich durchaus verändern lässt.
Der Ich-Erzähler legt – ähnlich Simenons Kees Popinga – wert auf eine ausdruckslose
Miene. Seine Miene soll einerseits seinem eisernen Willen Ausdruck verleihen, andererseits will er mit der andauernden Veränderung seines Gesichtsausdruckes abermals seine
Zermürbungsstrategie verfolgen und zwar solange, bis die Realität endlich ermüdet ist.
3.3.4 Der Protagonist und seine Mitmenschen
3.3.4.1 Zur Person des Protagonisten
C’est à peu près à la même époque de ma vie, vie calme où d’ordinaire rien n’advenait, que
dans mon horizon immédiat coïncidèrent deux événements qui, pris séparément, ne présentaient guère d’intérêt, et qui, considérés ensemble, n’avaient malheureusement aucun rapport
74
entre eux. Je venais en effet de prendre la décision d’apprendre à conduire, et j’avis à peine
commencé de m’habituer à cette idée qu’une nouvelle me parvint par courrier : un ami perdu
de vue, dans une lettre tapée à la machine, une assez vieille machine, me faisait part de son mariage. Or, s’il y a une chose dont j’ai horreur, personnellement, c’est bien les amis perdus de
vue. (7)
Dies ist das erste Fragment des Romans, worin der Leser über die derzeitige Lebenssituation des Protagonisten informiert wird. Diese Art der Einführung der Hauptfigur unterscheidet sich von Toussaints ersten beiden Romanen. Der Ich-Erzähler lässt den Leser Teil seiner Selbstcharakterisierung, beziehungsweise seiner Selbsteinschätzung werden. Obwohl
dieser sein Leben als ruhig bezeichnet, scheinen zwei gewöhnliche Begebenheiten sein an
sich ereignisloses Leben zu erschüttern. Entsprechend der Lebensphilosophie, welcher der
Erzähler treu bleiben will, macht er keine genauen Angaben, sondern deutet nur zwei Elemente an. In Ermangelung einer eindeutigen deiktischen Zeitreferenz sowie einer Ereigniskohärenz (vgl. SEMSCH 2006: 145) wird der Realitätsbezug des Protagonisten gleich
zu Beginn des Romans fokussiert und somit dessen Bedeutung im Hinblick auf das Gesamtwerk untermauert. Die reduzierte Handlung wird durch d’ordinaire rien n’advenait
angekündigt und die Angst vor Freunden erscheint als "semantischer Bruch" (vgl. ebd.).
Durch die Gegenüberstellung von Ereignislosigkeit und den zwei angekündigten Ereignissen wird auf die innere Uneinigkeit, die den Helden im Laufe der Erzählung martert, vorgegriffen.
Eine Aufklärung über die Ursachen der Angst vor Freunden wird vom Leser vergebens erhofft. Es können nur Vermutungen über die Bedeutung dieses Elementes angestellt
werden: Der Protagonist wird durch die Begegnung mit der Vergangenheit auf den Boden
der Realität zurückgeholt, da dieser Freund ein Teil seiner früheren Realität zu sein
scheint. Diese andere Realität steht im Widerspruch zu seiner jetzigen Sicht der Wirklichkeit. An dieser Stelle kann abermals auf Watzlawick (1992: 15) rekurriert werden, der Monade und Kollektiv gegenüberstellt. Der Protagonist ist durch seine Lebensstrategie des
Müde-Machens der Realität zum Zeitpunkt der Erzählung teil der monadischen, individualistischen Weltsicht und hat Angst davor, mit seiner früheren, kollektiv orientierten Weltsicht konfrontiert zu werden.
Das zweite Ereignis von Belang begleitet den Leser durch den Roman, beginnend
mit dem Anmeldungsversuch in der Fahrschule (vgl. 8), wobei das Ziel 'Führerschein'
nicht erreicht wird. In einem Rückblick auf frühere Fahrstunden beschreibt der Ich75
Erzähler seinen damaligen Fahrlehrer, mit dem er während der Übungszeit Kaffee (vgl. 42)
und auch Bier (vgl. 43) trinken ging. "J’aurais pu le trouver parfait, cet homme, si un jour
qu’il sommeillait à côté de moi dans la voiture […], ne lui était venue l’idée désolante de
me faire faire des manœuvres." (44) Die Eigenschaft des Fahrlehrers Fulmar (vgl. 42), in
seiner Dienstzeit dem Müßiggang zu frönen, machte ihn für den Ich-Erzähler sehr sympathisch, doch dass er doch von seinen Pflichten nicht vollständig ablassen kann, enttäuscht
seinen Fahrschüler:
[…] un pull-over neuf, noir et cintré, dont l’étiquette pendait à un fil derrière sa nuque ainsi
qu’un suivez-moi-jeune-homme [Meine Hervorhebung], il m’avait guidé avec ses lunettes à
travers le parking d’un supermarché […]. (44)
Ironisch betrachtet er nun seinen Fahrlehrer als ein weiteres Zahnrad im sich immer
gleichbewegenden Uhrwerk des Alltags. Nur das gemeinsame Schwänzen der Fahrstunden
hat ihn von der Masse abgehoben, folgt er jedoch seiner beruflichen Pflicht, wird er uninteressant und nur zu einer weiteren Marionette, die der Fremdbestimmung ausgeliefert. Dieser Eigenschaft eines suivez-moi-jeune-homme will der Protagonist mit seiner 'Fatiguer-laréalité-Strategie' begegnen. Im Sinne Schärers (1978) kann dieser toussaintsche Held zwar
nicht als schwach bezeichnet werden, aber er verfolgt zweifelsohne eine psychische Strategie, um sich vor der Realität zu schützen. Nur handelt es sich im Falle des Ich-Erzählers
aus L’appareil-photo nicht um Schwäche, die er ausnützt, sondern es kann vielmehr von
einer ausdauernden Gleichgültigkeit gesprochen werden, mit welcher er die Wirklichkeit
zu zermürben und den Lauf der Zeit zu verzögern versucht.
3.3.4.2 Die weibliche Figur
Die erste Begegnung des Protagonisten mit der weiblichen Protagonistin findet statt, als er
sich in eine Fahrschule begibt, um seinen Führerschein zu machen. Er braucht unnatürlich
lange, um die notwendigen Unterlagen für die Anmeldung zu organisieren (vgl. 8ff.).
Schließlich zeigt er der Dame in der Fahrschule Kinderfotos:
Je vais vous les montrer d’ailleurs, dis-je en sortant l’enveloppe de la poche de ma veste, et,
faisant le tour du bureau, je les lui présentai une par une, me penchant au-dessus de son épaule
pour m’aider du doigt dans mes commentaires. (10)
76
Handelt es sich hierbei um einen Annäherungsversuch des Ich-Erzählers gegenüber der
Angestellten? Vermutlich ist dies nur eine simple Verzögerungstaktik, weil er die Dokumente nicht parat hat und ihm die Erbringung des Identitätsbeweises eines Passfotos widerstrebt. Die Tatsache, dass er einen so intimen Bereich seines Lebens mit einer ihm zunächst fremden Frau teilt, ist abermals ein Zeichen für seine Art der Wirklichkeitsbegegnung. Er beabsichtigt, mit derartigen Verhaltensweisen die Wirklichkeit zu überraschen
und im Zuge dessen zu ermüden.
Generell verhält er sich dieser Dame gegenüber mehr als unangemessen. Er 'belagert' sie durch seine tägliche Präsenz in der Fahrschule, liest Zeitung und nützt schließlich
das Angebot für einen Kaffee unhöflich aus: "(prenez des croissants aussi, dis-je, tant que
vous y êtes)" (12). Diese Dreistigkeit kann als weiterer Überraschungseffekt interpretiert
werden, mit welchem er die Realität erweichen will. Die Klammernsetzung des zitierten
Diskurselementes kann verschiedentlich begründet und interpretiert werden. Zunächst
handelt es sich um eine direkte Rede, allerdings ist die Hervorhebung durch eine Klammer
nicht der Regelfall und somit kann als Begründung nur die Betonung dieser Aussage ins
Treffen geführt werden. Eine ähnliche Wirkung hat die eigenmächtige Schließung des Büros, die der Protagonist ohne zutun der Angestellten vornimmt (vgl. ebd.).
Die weibliche Figur nimmt all seine Verhaltensweisen hin und erinnert insofern an
Edmondsson, mit dem einen Unterschied, dass die Figuren aus L’appareil-photo nicht von
Anbeginn in einer Partnerschaft leben. Die Beiden verbringen von den ersten Momenten
ihres Zusammentreffens an ihre Zeit miteinander. Bis zur Mitte des Werkes bleibt auch die
weibliche Figur namenlos, denn dem Namen wird – von den Figuren, sowie vom Erzähler
– keine Bedeutung beigemessen: "Vous vous appelez comment, à propos? Pascale, elle
s’appelait Pascale Polougaïevski." (54) Die Art der Fragestellung verdeutlicht erneut die
Verweigerung des Protagonisten, den 'normalen' Konventionen des menschlichen Zusammenlebens zu folgen. Die späte Erkundigung nach ihrem Namen ist somit ebenfalls Teil
seiner Verzögerungstaktik. Am meisten fasziniert den Protagonisten, dass sie offenbar
ständig müde und verschlafen ist: "[…] elle opposait à la vie une fatigue aussi sensationelle." (84) Auch während sie über den möglichen beruflichen Werdegang ihres kleinen Sohnes spricht, behält sie ihren müden Zustand bei: "Dans les affaires, précisa-t-elle en bâillant
(elle était adorable), dans les affaires." (15) Nach Asholt (1994: 344) fungiert ihre Müdigkeit als Schutzmechanismus gegen die Widerstände, die ihr die Realität bietet. Diese Annahme bestätigt sich insofern, als der Protagonist wohl eben diese Schläfrigkeit als Strate77
gie interpretiert und sie deshalb so sehr anbetet. Neben der Gleichgültigkeit, welche sie
dem merkwürdigen Verhalten des Protagonisten entgegenbringt, begegnet sie jeglichen
Belangen des Alltages, wie beispielsweise der Zukunft ihres Sohnes, mit übermäßiger
Schläfrigkeit. Diese Eigenschaft wird mit mehreren Reprisen erwähnt und geht sogar soweit, dass ihr Name adverbialisiert wird: "[…] Pascale qui dormait des plus pascalement
en face de moi, […]." (91) Ihre Müdigkeit steht im kompletten Gegensatz zur hohen Geschwindigkeit, mit der sie Auto fährt, ein weiteres Faktum, welches den Protagonisten an
dieser jungen Frau fasziniert (vgl. 15). Er hat in dieser Dame eine Gleichgesinnte gefunden, obgleich es sich in ihrem Fall wohl um eine unbewusste Strategie der Weltbegegnung
handeln dürfte.
Die beiden verstehen sich gut, denn sie vertraut ihm – trotz seines seltsamen Verhaltens – offensichtlich in allen Belangen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass sie ihn
anleitet, Schlüssel in ihrer Handtasche zu suchen: "J’ouvris le sac sur mes genoux et commençai à chercher. C’est quoi ça, dis-je en sortant une grande enveloppe. Laissez, c’est
rien, dit-elle, c’est un frottis." (27) Neben der Erlaubnis, ihre Tasche zu durchsuchen, wird
ihm noch ein äußerst intimes Detail ihres Lebens offenbart, obwohl sie sich noch siezen.
Wieder wird mit der Lesererwartung gespielt, denn dieser eigentlich peinliche Vorfall wird
banalisiert und erhält durch die Verwendung der Höflichkeitsform einen paradoxen Charakter. Doch im Sinne der Realitätsbegegnungsstrategie des Paares muss von Leserseite
mit allem gerechnet werden, wie auch das weitere Verhalten in dieser Passage beweist. Der
Protagonist betrachtet neben ihr im Auto seine schmerzenden Zehen, worüber die beiden
sich wie beiläufig unterhalten:
[…] ce qui me semblait être une manière de rhumatismes, dus vraisemblablement à de la mauvaise circulation, […]. Ou un peu d’arthrite, […] vous avez peut-être la goutte, […]. Oui, oui,
dit-elle, la goutte, et nous rîmes. On s’entendait assez bien, allez, elle et moi. (28)
Diese Unterhaltung repräsentiert eine weitere Ausprägung der Realitätsbegegnung, denn
"Kommunikation kann auch als Widerstand gegen die Realität eingesetzt werden" (ASHOLT 1994: 343). Das Element allez drückt die Zufriedenheit des Protagonisten aus, ein
weibliches Pendant gefunden zu haben, welches seine Verhaltensmuster duldet und mit
eigenen Strategien aufwarten kann. Der Stellenwert der Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen wird ironisch überhöht: "Je bâillais moi aussi, […], le bâillement étant communicatif, et nous sautillions sur place sur le trottoir, serrés dans les bras
78
l’un de l’autre, frigorifiés et bâillant." (74) Gleichsam ironisch ist die Einschätzung, beziehungsweise die Definition ihrer Beziehung: "(c’était peut-être l’amour déjà, qui sait, cet
état grippal)." (28) Der Status ihres Verhältnisses ist noch nicht geklärt, der Vergleich mit
Krankheitssymptomen mindert aber dessen Bedeutung für den Helden. Auch in dieser Angelegenheit ist er nicht gewillt, sich endgültig festzulegen, denn damit würde er abermals
der Realität nachgeben. Dieser Einstellung entspricht auch das Liebesgeständnis des IchErzählers: "Je vous aime." (108) Wieder wird der Leser verwirrt, da die beiden sich – trotz
gemeinsamen Londonaufenthalts – noch siezen. Wieder wird ein Überraschungseffekt erzielt, da das vous in diesem Kontext den Eindruck der Absurdität im Verhalten des Erzählers noch verstärkt.
Auch der Liebesakt wird nicht in traditionell leidenschaftlicher Art und Weise ausgeführt: "[…], dormant encore l’un et l’autre, nous nous unîmes dans le sommeil,[…]."
(85) Liebe ist gleichfalls der täglichen Realität zuzurechnen und daher ist die Szene nicht
leidenschaftlich oder gar romantisch, sondern vielmehr müde im Sinne der Realitätsbegegnung ausgeführt.
3.3.5 Bedeutung des Ortes
Auch in seinem dritten Roman bedient sich Jean-Philippe Toussaint einiger bekannter
Städte, um die verschwommenen Wahrnehmung des Protagonisten von der Realität darzustellen. Verschwommen deshalb, weil auch in diesem Werk der namenlose Ich-Erzähler
die Stadt nicht im traditionellen Sinne wahrnimmt. In L’appareil-photo begibt sich der
Held zunächst alleine nach Mailand. Der genaue Grund für seine Reise bleibt im Unklaren,
vermutlich reist er aus geschäftlichen Gründen: "[…] Il Signore Gambini m’entretenait de
la conférence à laquelle nous avions assisté la veille, […]." (22) Der Terminus conférence
ist wenig aussagekräftig, zumal nicht auf den Inhalt selbiger eingegangen wird. Generell
wird in diesem Werk auf berufliche Details keinerlei Wert gelegt.
Dans les jours qui suivirent, je dus faire un bref déplacement à Milan. Je passai là deux journées interminables, si je me souviens bien, où, entre deux rendez-vous, j’occupais mon temps à
parcourir la ville à la recherche de journaux anglais et français, que je lisais à peu près intégralement dans divers parcs, […]. A part de cela, n’ayant rien de particulier à faire à Milan […].
(17)
79
Der Ich-Erzähler selbst gibt an, dass er nichts Bestimmtes in Mailand zu tun hat und diese
Aussage bestätigt sich, als eine genaue Beschreibung einer Sitzung in einem Fußpflegesalon folgt (vgl. 19-21). Ähnlich seinen Vorgängern wird der Lektüre zentrale Bedeutung
beigemessen. Interessant ist dieser Aspekt vor allem, da Zeitungen immer reale Begebenheiten aus aller Welt wiedergeben und diesen weicht der Protagonist nicht aus. Er 'bekämpft' nur seine eigene, individuelle Realität.
In Folge besucht der Ich-Erzähler eine weitere bekannte Stadt, diesmal mit der Dame aus der Fahrschule: London. Scheinbar unvermittelt wird der Leser von dieser Reise in
Kenntnis gesetzt. Ein Übergang wird vergeblich gesucht, da das Fragment beginnt, als ob
kein Ortswechsel stattgefunden hätte: "Le lendemain soir, Pascale et moi dînions en tête à
tête dans un restaurant indien." (70) Erst auf der nächsten Seite wird eingefügt, dass die
beiden am selben Nachmittag in London angekommen sind (vgl. 71). Der Aufenthalt in
dieser Weltstadt gleicht dem Erstlingswerk Toussaints insofern, als der Protagonist aus La
salle de bain (1985) gleichfalls kaum die Vorzüge seines Urlaubsortes auskostet. Pascale
und der Ich-Erzähler verbringen ihre Tage mit Fernsehen, gehen essen und in ein Pub (vgl.
70-78). Die Zeit in London wird gleichfalls totgeschlagen und damit die Wirklichkeit mürbe gemacht. Alles zieht sich unnatürlich in die Länge, vor allem, als die beiden auf ihren
Tisch im Restaurant warten, wo sie vom Kellner lange vertröstet beziehungsweise ignoriert
werden, obwohl sie einen Tisch reserviert hatten (vgl. 77).
Der Ich-Erzähler wird von bestimmten Orten wie magisch angezogen. Winter
(2002: 202) spricht von einem Ort außerhalb der Orte, an dem sich die Bezüge von Nähe
und Ferne, Innen- und Außenwelt auflösen. Diese Orte sind klein, eng und bieten nur Platz
für eine Person: "Il y avait là des cabines téléphoniques, […]" (92). In einer Telefonzelle
kann er sich zumindest vor der gegenwärtigen Realität verschließen, wenn er ihr schon
nicht entfliehen kann. "Die äußere Realität wird in weiten Teilen des Romans als unwirtlicher und kalter Ort präsentiert." (EBERLEN 2002: 244) Und eben aus der unwirtlichen
äußeren Realität zieht er sich in kleine, überschaubare Räume zurück, die er selbst beherrschen kann und darin besteht auch die eminenteste Verbindung zu seinem Pendant aus La
salle de bain.
[…] j’avisai une cabine de photomaton à côté des bureaux de la douane, une vieille cabine en
métal […] j’avais le nombre de pièces nécessaires pour faire les photos et entrai dans la cabine,
refermai le rideau derrière moi. (92 f.)
80
Eine Verbindung seiner Suche nach dem idealen Zustand, der in Form einer Fotografie
wiedergegeben werden soll und seinem Verlangen danach, sich in winzigen Räumen aufzuhalten, wird durch das Betreten der Fotokabine hergestellt. An diesem Ort, der durch
eine sehr kurze Verweildauer gekennzeichnet ist, wäre es ihm möglich une photo d’identité
zu erstellen, da er sich in diesem abgegrenzten Raum sicher fühlt und nicht von der unwirtlichen Realität bedroht wird. Ähnlich einer öffentlichen Toilette findet er in dieser Fotokabine den idealen Ort, um nachzudenken. "Toutes les conditions étaient réunies maintenant,
me semblait-il, - pour penser." (93) Er kann sich an diesem engen, geschlossenen Raum
von seiner offensiven Begegnung der Wirklichkeit etwas erholen und sich Reflexionen
hingeben:
C’était la nuit maintenant dans mon esprit, […], les moments où la pensée se laisse le plus volontiers couler dans les méandres réguliers de son cours, […] seul dans un endroit clos, seul et
suivant le cours de ses pensées dans le soulagement naissant, on passe progressivement de la
difficulté de vivre au désespoir d’être. (94)
An diesem Ort der Einsamkeit erreicht er jenen Zustand der Passivität, der nur beim Nachdenken erreicht werden kann. Kristevas Ansicht folgend, wonach alles Intertext ist, führt
diese Passage über La salle de bain abermals zu Pascal und seinen Pensées. Vor allem, da
der Protagonist aus L’appareil-photo sich selbst als Denker sieht und nur in Reflexionen
versunken seine Existenz als lebenswert erachtet. "[…] tout le malheur des hommes vient
d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre." (PASCAL 1904: 109) Diese Worte thematisieren die Unfähigkeit des Menschen, an einem geschlossenen Ort auszuharren, ohne sich mit etwas anderem als dem eigenen Geist zu beschäftigen. Erst in diesem Stadium kann der Mensch sich seiner selbst bewusst werden. Im
Zusammenhang damit stehend findet sich in der Sekundärliteratur folgende Feststellung:
"Pour le narrateur de L’appareil-photo, se 'déterritorialiser' consiste non pas à se déplacer
mais à 'épuiser la réalité'. (SHOOTS 1997: 160) Da im Alltag die Zermürbung der Realität
nicht erreicht werden kann, verfolgt er die Verwirklichung dieses Zieles in seinen Gedanken. Um diesem Vorgang leichter nachzukommen, kann Shoots Kommentar unterstützt
werden, denn der Ortswechsel des Helden hat ausschließlich Symbolcharakter.
Gegen Ende des Werkes wird die Bedeutung der Telefonkabine abermals angeführt. Der Protagonist befindet sich auf einer Straße und will zu Fuß von Freunden nachhause gehen. Auf dem Weg sieht er eine Telefonzelle, in die er sich begibt um seine
81
Freundin anzurufen. Da es mitten in der Nacht ist, weckt er sie auf und deshalb scheint sie
seine Bitte, ihn zurückzurufen, nicht wahrzunehmen (vgl. 122 ff.). Also wartet er vergebens auf den Anruf seiner Freundin in dieser Telefonzelle. Damit wird ihm die so sehr bewunderte Müdigkeit seiner Freundin als Realitätsbegegnungsstrategie zum Verhängnis. Er
wird sich in diesem Moment seiner Einflusslosigkeit auf die übermächtige Realität bewusst.
3.3.6 Conclusio
Das Ende des Romans bietet eine Art Zusammenfassung dessen, was in diesem Kapitel
analysiert wurde:
Je pensais oui et, lorsque je pensais, les yeux fermés et le corps à l’abri, je simulais une autre
vie, identique à la vie dans ses formes et son souffle, sa respiration et son rythme, une vie et
tous points comparable à la vie, […] une vie détachée qui s’épanouissait dans les décombres
exténués de la réalité extérieure, et où une réalité tout autre, intérieure […], et ce n’était guère
des mots qui me venaient alors, ni des images, peu de sons si ce n’est le même murmure familier, mais des formes en mouvement qui suivaient leur cours dans mon esprit comme le mouvement même du temps […]. (125)
[…] je regardais le jour se lever et songeais simplement au présent, à l’instant présent, tâchent
de fixer encore une fois sa fugitive grâce – comme on immobiliserait l’extrémité d’une aiguille
dans le corps d’un papillon vivant.
Vivant. (127)
In dieser Telefonzelle kann er nun – auch in Ermangelung einer Alternative – seinen Gedanken freien Lauf lassen, sich ihnen zur Gänze hingeben und ein besseres Leben denken.
Ein Leben, welches es nur in seinem Inneren geben kann, das zu beschreiben die Sprache
nicht vermag. Die Telefonzelle vereint alle Bedingungen, die nötig sind, damit sich die
Realität des Erzählers entfalten kann: durchsichtige und doch undurchdringliche Wände
(vgl. SHOOTS 1997: 161). Diese Wände reichen aus, um ihn von der äußeren Realität
abzuschirmen und ihn unbeeinflusst seine Realität entwickeln zu lassen. Die ganze Nacht
verbringt er damit, nur den Moment wahrzunehmen, denn nur auf die Gegenwart kann er
Einfluss nehmen, genauso wie er nur auf sein Inneres einwirken kann. Er will die Zeit an82
halten, indem er nur an den gegenwärtigen Moment denkt. Diesen Versuch vergleicht er
mit dem Fixieren einer Nadel in einem Schmetterling. Scholle (2003: 75) vergleicht den
Akt des Photographierens mit dem Aufspießen des Schmetterlings: "Das Objektiv bannt,
gleich der Nadel, den Schmetterling in einen ewigen Moment" mit dem Unterschied, dass
auf eine Fotographie nicht der Tod folgt. Der Schmetterling wird in einem Moment, der
noch mit Leben, also mit Bewegung erfüllt ist, aufgespießt. Ebenso plötzlich, wie die Olive
aufgespießt wird, nachdem sie lange auf dem Teller gerollt wurde.
Der Protagonist hat zwar sein Ziel nicht tatsächlich erreicht, dazu ist seine Lebensphilosophie zu abstrakt, aber in dieser Nacht konnte er zumindest in seinem Inneren den
Zustand herstellen, den er anstrebt. Das Beispiel des Schmetterlings verdeutlicht aber wieder, dass ein tatsächlicher Stillstand in der Bewegung nur durch Tod erfolgen kann. Eine
Olive hört kurz nach dem Aufspießen mit der Gabel zu existieren auf, ebenso wie der Moment, den die Kamera einfängt, deswegen nicht andauert. Dieses Unvermögen des Apparates hat der Protagonist auch mit dem 'Tod' bestraft.
83
3.4 Ein vergleichender Blick auf La télévision (1997)
In diesem Kapitel wird Jean-Philippe Toussaints fünfter Roman analysiert, der Zugang ist
allerdings ein anderer, denn es handelt sich vielmehr um einen Ausblick auf den Roman
aus 1997, der das mittlerweile am meisten verbreitete Medium dieser Zeit zum Titel hat.
Dieses Werk wird bewusst deswegen herangezogen, da es unterschiedliche Ansätze hinsichtlich des Realitätsbezuges des Protagonisten bietet. Die Vorgehensweise beschränkt
sich im Großen und Ganzen auf zwei thematische Schwerpunkte: der Protagonist im Vergleich mit seinen toussaintschen Vorläufern und der veränderte Realitätsbegriff, beziehungsweise Bezug, jeweils unter Miteinbeziehung des Mediums Fernsehen.
3.4.1 Der Protagonist aus La télévision im Vergleich mit seinen Vorgängern
Wortmann (1993: 136) bespricht die Gemeinsamkeiten der Protagonisten aus La salle de
bain, Monsieur und L’appareil-photo:
Die Disparität zwischen ihnen (den Protagonisten) [meine Anmerkung] und ihrer Umgebung
konkretisiert sich in den häufigen, unmotivierten Ortswechseln, die vor allem ihr inneres Verharren unterstreichen, ihre Bewegungslosigkeit gegenüber der äußeren Bewegung.
Das Kriterium des Ortswechsels als entscheidendes Element für das Verhalten des Protagonisten ist im Werk aus 1997 hingegen nicht analysebedürftig. Der Protagonist hält sich
zwar gleich seinen Vorgängern ein Jahr lang für Forschungszwecke in einer Weltstadt –
diesmal Berlin – auf, aber von einem unmotivierten Ortswechsel kann hier nicht die Rede
sein. Unmotiviert sind womöglich seine häufigen Ausflüge in Schwimmbäder oder zu einem Badesee, die zwar Ortswechsel darstellen, aber nur von kurzer Dauer sind. Der Protagonist bleibt nicht völlig bewegungslos, sondern strebt auch nach äußerer Bewegung, indem er schwimmen geht. Dadurch distanziert sich der gleichfalls namenlos bleibende IchErzähler von seinen Vorgängern, die sich dem Sport im äußersten Fall nur in passiver
Form widmen.
84
Die passive Aneignung von Welt, die als etwas Fremdes, dem Individuum Äußerliches verstanden wird, geschieht allein durch den Filter von Medien. Zeitungen, Fernsehen und Radio
sind die ständigen Begleiter der Protagonisten. (ebd.)
Toussaint setzt mit La télévision den Schwerpunkt direkt auf ein Medium, zuvor begnügte
er sich mit der Einbindung der oben zitierten Medien in den früheren Werken: Den Protagonisten aus La salle de bain lässt er in der Badewanne Radio hören und im venezianischen Hotel Sportübertragungen ansehen und der Ich-Erzähler aus L’appareil-photo verbringt einen großen Teil seines Mailand-Aufenthaltes damit, Zeitung zu lesen.
Der Ich-Erzähler beschäftigt sich nicht nur zeitweise mit dem Medium Fernsehen,
sondern es nimmt einen großen Teil seiner Lebens- und Gedankenwelt ein. Dies geht bis
hin zur Feststellung, dass der von ihm zu untersuchende Maler Tiziano Vecellio die Initialen T.V. hat (vgl. 248). Das Erleben der Realität durch einen medialen Filter erinnert doch
an eine sehr bekannte Romanpersönlichkeit und ihre Lektüreleidenschaft des 19. Jahrhunderts: Madame Bovary. Denn schließlich nimmt sie die Realität zwar nicht gefiltert, wohl
aber verklärt und verschwommen wahr.
"Das televisuelle Schauen stellt dabei in verschiedenen Situationen jene Wahrnehmungsmuster bereit, mit denen der Protagonist seine Umwelt erfährt." (SCHLÜNDER
2002: 215) Der Begriff der Wahrnehmungsmuster erscheint durchaus adäquat, da die Art,
wie er andere beinahe schamlos beobachtet, dem televisuellen Schauen gleicht: "[…] dans
l’encadrement d’une des fenêtres du grand immeuble moderne qui me faisait face, […] une
jeune femme apparut à poil dans son appartement." (45) Da das Fenster die selbe geometrische Form hat wie der Fernseher, wird es vom Protagonisten als gleichwertig verwendet.
Den Mangel, den er durch die Fernseh-Abstinenz – sofern tatsächlich von Abstinenz gesprochen werden kann – verspürt, kompensiert er durch das voyeurhafte Ausspionieren
anderer Menschen.
Eberlen (2002: 232) bezeichnet die Protagonisten Toussaints von La salle de bain bis La
télévision als "männliche Personen, die sich bei ihrer alltäglichen Auseinandersetzung mit
der Realität von grundsätzlichen Strategien bzw. Prinzipien leiten lassen". Sei es das Streben nach Immobilität, das Bedürfnis nach Rückzug, der ludische Umgang mit dem ernsten
Alltag oder aber das Zermürben der Realität, dies alles sind Strategien, denen die Protagonisten treu bleiben. Der namenlose Erzähler aus La télévision verfolgt eine sehr beliebte
Taktik, seiner Pflicht auszuweichen. Anstatt sich seiner Untersuchung über Tizian zu widmen, zieht er es vor, sauber zu machen und die Wohnung in Ordnung zu bringen (vgl. 18).
85
Den toussaintschen Figuren sei laut Eberlen (2002: 232) eine gewisse ‚Kopflastigkeit‘ gemein, sowie ein synthetischer, lebensferner Charakter, wodurch sie gewissermaßen als
alltagsunfähig erscheinen. Diese Alltagsunfähigkeit zieht sich durch alle Charaktere Toussaints. Von jenem aus La télévision erfährt der Leser, wie dieser selbst seine Unfähigkeit
erlebt. Auch prägt diese Charaktere die ausdauernde Beschäftigung mit der eigenen Gedankenwelt.
Ähnlich seinen Vorläufern erlebt der Protagonist Situationen, die zum Schmunzeln
verleiten, wie beispielsweise das Praktizieren von Tai-Chi-Übungen ohne Bekleidung inmitten einer Liegewiese am Halensee (vgl. 75). Verglichen mit den beiden anderen IchErzählern macht jener aus La télévision ausdrücklich das Eingeständnis, seine Zeit mit
Nichtstun zu verbringen:
Je ne faisais rien, par ailleurs. […] Par ne rien faire, j’entends ne faire que l’essentiel, penser,
lire, écouter de la musique, faire l’amour, me promener, aller à la piscine, cueillir des champignons. Ne rien faire, contrairement à ce que l’on pourrait imaginer un peu vite, exige méthode
et discipline, ouverture d’esprit et concentration. (11)
Darin könnte eine neue Version des Grundsatzes Fatiguer-la-réalité gesehen werden, allerdings müsste dieser Protagonist schon jede einzelne Aktivität ausreizen und dies im
Diskurs widergespiegelt werden, damit von einer tatsächlichen Parallele gesprochen werden könnte. Zum Erzählstil Toussaints passend ist die Beifügung cueillir des champignons,
die ähnlich absurd anmutet wie die Elemente ma foi, hip hop oder olé der Vorläuferwerke.
Die Aussage erhält durch derartige Beifügungen einen ironischen Charakter, die Beschäftigung des Schwammerlsuchens wird auf die gleiche Ebene gestellt wie Denken oder der
Liebesakt.
Der Protagonist aus L’appareil-photo definiert sich vage als gros penseur (vgl.
1988: 50) und auch sein Pendant aus La télévision sieht sich gewissermaßen im selben
Licht: "Je quittai l’appartement, songeur, après m’être assuré que j’avais ma clef et de
l’argent sur moi (quel tempérament inquiet)." (134) Typischerweise wird das aussagekräftigste Element dieser Passage in Klammern gesetzt, abermals zum Zwecke der Hervorhebung und auch, um die Eigenschaft der Selbsteinschätzung zu betonen. Der Protagonist
gewährt dem Leser tiefere Einblicke in sein Innenleben, als dies bei seinen Vorläufern der
Fall war: "L’ignorance, en tout, la méconnaissance, l’inaptitude à être séduit ou à aimer, ne
sauraient être érigées en vertus (voilà une pensée qui m’honorait, en effet, me disais-je,
86
[…])." (224) Zu dieser Einsicht gelangt der Erzähler in einem Museum, welches für ihn
einen der Orte darstellt, an denen er sich in Gedanken verlieren kann.
In jedem Roman stößt der Leser auf stärker (La salle de bain, L’appareil-photo)
oder schwächer (Monsieur) ausgeprägte Wendungen im Erzählstrang. In Monsieur ist dies
der wiederholte und plötzlich einsetzende Drang zur Flucht. Dagegen findet sich in den
anderen beiden Romanen durchaus eine eindeutige Peripetie. In La télévision ist vor allem
eine Situation hervorzuheben, die gewissermaßen den kulminanten Punkt im zweifelsohne
merkwürdigen Verhalten des Ich-Erzählers darstellt:
Je flattai tristement une des frondes de la fougère avec un doigt, sans conviction, soulevant une
feuille et la laissant retomber […] j’eus alors l’idée de la soumettre à une thérapeutique de
choque. Je m’emparai du pot, et j’allai le mettre dans le réfrigérateur, au-dessus du bac à légumes. Je refermai la porte. Je prêtai l’oreille un instant. Aucune réaction, rien, le simple bourdonnement continu du réfrigérateur dans la cuisine. (161)
Von seinen Nachbarn, Inge und Uwe Drescher, wird er ersucht, deren Pflanzen während
ihres Urlaubes zu gießen. Dieser Aufgabe kommt der Protagonist in seiner zerstreuten Art
erst drei Wochen später nach (vgl. 34) und findet die Pflanzen in einem entsprechenden
Zustand vor. Die Behandlung des Farns, den er der drescherschen Liste zufolge zweimal
täglich hätte gießen sollen, kommt einem Hilfeschrei gleich. Er weiß sich nicht anders zu
helfen, als die arme Pflanze einzukühlen. Dies stellt allerdings nur den Vorspann des kumulativen Punktes dar, sozusagen die notwendige Vorinformation. Der eigentliche Akt,
welcher den Leser in Verwunderung versetzt, vollzieht sich erst im letzten Drittel des Romans:
Arrivé aux toilettes, je refermai vivement la porte derrière moi, et je demeurai attentif derrière
la porte, l’oreille à l’écoute, à goutter les moindres bruits dans l’appartement. […] Je me dirigeai vers la cuvette du cabinet, et j’ouvris la petite lucarne qui donnait sur la cour intérieure de
l’immeuble. Lorsque j’avais ouvert la petite lucarne, quelques instants plus tôt, j’avais constaté
qu’il était possible de rejoindre la cuisine en passant par la fenêtre de la salle de bain, cela ne
présentait en principe aucun danger, […] Collé au mur, les deux mains accrochées à la gouttière […] J’escaladai la petite balustrade, et je sautai dans la cuisine, […] je m’avançai à pas de
loup jusqu’au réfrigérateur, ouvris la porte sans faire de bruit, et je sortis la fougère, […] (185188)
87
Nach der Rückkunft seiner Nachbarn begleitet er diese in deren Wohnung und wird erst
wieder an den Farn erinnert, als Uwe Drescher eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank
holen will (vgl. 183). Daraufhin begibt er sich zur Toilette, deren Tür er verschließt, um
mit dieser nicht ungefährlichen Aktion den Farn aus dem Kühlschrank zu bergen. Anstatt
den Dreschers zu gestehen, dass er den Farn vernachlässigt hat, stürzt er sich wagemutig
aus dem Fenster, muss aber wiederum um eine Erklärung dafür verlegen bleiben, weshalb
die Toilettentür von innen verschlossen ist (vgl. 190). Deshalb inszeniert der Protagonist
ein neues Szenario, indem er sich unschuldig gibt und seine Hilfe beim Öffnen der Tür
anbietet: "Je frappai tout doucement. Il y a quelqu’un? Dis-je. Pas de réponse. Uwe me
regardait. Mais vous y étiez à l’instant ? me dit-il. Oui, mais je n’y suis plus, vous voyez
bien, dis-je." (190 f.) In dieser Kommunikation steckt wieder ein Hinweis auf die Begegnungstaktik der Realität, wie sie der Protagonist des Werkes aus 1988 vorgezeigt hat. Allerdings wird die 'Fatiguer-la-réalité-Strategie' viel deutlicher und offenkundiger gezeigt
als im früheren Roman.
Ähnlich dem ersten und dem dritten Werk gibt es in La télévision eine Frau an der
Seite des Ich-Erzählers, die gleich auf der zweiten Seite des Romans eingeführt wird: "Delon, avec qui je vis, a passé les vacances en Italie, avec les deux enfants, mon fils et le bébé
pas encore né que nous attendions, une petite fille à mon avis." (8) Die weibliche Figur ist
noch viel ausgeprägter als Nebenfigur ausgestaltet als in den übrigen analysierten Werken,
sie wird erst auf den letzten zwanzig Seiten aktiv in die Erzählung eingebunden, nachdem
sie von ihrem Urlaub zurückgekehrt ist. Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat der IchErzähler neben einer Lebensgefährtin auch einen Sohn und erwartet weiteren Nachwuchs.
Er verfügt somit über ein Familienleben, was seine sozialen Fähigkeiten zeigt. Der Protagonist wird als sehr liebevoller Vater und Lebensgefährte präsentiert.2
[…] j’avais passé doucement la main sur la tête de mon fils et sous le pull de ma Delon pour
lui toucher le ventre tendrement, […]. Au revoir, au revoir, faisait mon fils de la main (et
j’avais envie de pleurer maintenant : c’est tout moi, ça). (18)
Der Leser kann am Gefühlsleben des Protagonisten teilnehmen, der sich selbst als sehr
gefühlsbetont charakterisiert. Womöglich besteht darin auch zugleich einer der größten
Unterschiede zu seinen toussaintschen Pendants: Er scheint sich nicht von Menschen be2
Der Protagonist aus La Réticence (1991) hat ebenfalls einen Sohn mit dem er sehr fürsorglich umgeht.
88
droht zu fühlen wie der erste Protagonist Toussaints, liefert sich aber nicht wie Monsieur
dem Willen anderer aus und begegnet nicht allen mit zermürbender Gleichgültigkeit, wie
Toussaints dritter Held.
3.4.2 Die Bedeutung des Mediums Fernsehen
Der Roman beginnt sogleich mit der Fernseh-Thematik, um dem Leser dessen Bedeutung
vor Augen zu führen. Anders als bei dem Werk L’appareil-photo, welches auch nach einem Gegenstand benannt ist, besteht ein thematisch noch engerer Zusammenhang mit dem
Titel.
J’ai arrêté de regarder la télévision. J’ai arrêté d’un coup, définitivement, plus une émission,
pas même le sport. J’ai regardé comme tout le monde la retransmission de la dernière étape du
Tour de France dans mon appartement de Berlin, […] j’ai éteint le téléviseur. […] C’était fini,
je n’ai plus jamais regardé la télévision. (7)
Der Ich-Erzähler zeigt ähnlich seinen Vorläufern ein großes Interesse für Sportbeiträge in
den Medien und will nun darauf verzichten. Gleich einer heroischen Tat erläutert er gleich
zu Beginn der Erzählung sein Projekt. Es handelt sich allerdings nicht – wie vermutet werden könnte – um die Geschichte einer mühsamen Abstinenz, obgleich darauf angespielt
wird. Dem Leser wird eigentlich ein Anti-TV-Roman geboten, der eine Darstellung des
wirklichen Lebens vermuten lässt (vgl. ZELTNER 1997). Doch es bleibt bei einer Vermutung, Toussaint bleibt seinem Stil treu und erzählt eigentlich nichts und das dafür sehr ausführlich, gleich seinen Helden, die eigentlich nichts tun und damit völlig beschäftigt sind.
Dieses Nichtstun muss relativiert werden, zumal die Flucht aus der Wirklichkeit und das
Entwickeln von Realitätsbegegnungsstrategien auch eine Art der Beschäftigung darstellt,
worauf die Protagonisten ihre ganze Energie verwenden.
Der Protagonist erläutert auch sein Verhältnis zum Fernsehen und zum Fernseher
selbst: "La télévision n’occupait pas une très grande place dans ma vie. Non. Je la regardais en moyenne une ou deux heures par jour […]." (9) In dieser Aussage widerspricht sich
der Protagonist, da eine Beschäftigung über mehrere Stunden nicht als nebensächlich zu
werten ist und somit einen nicht unerheblichen Stellenwert im Leben des Helden einnimmt. Er behauptet, dass ihm der Alltagsgegenstand nicht viel bedeutet und betont wei89
ters übertrieben deutlich, dass er nicht abhängig sei (vgl. ebd.). Kurz später findet sich eine
Stelle, die dieser Aussage widerspricht : "Très souvent, ainsi, le soir, ces derniers temps,
comme pris d’une ivresse mauvaise, j’allumais la télévision et je regardais tout ce qu’il y
avait sans réfléchir, […]" (21)
Früh (1994: 26) stellt in seinem Werk Realitätsvermittlung durch Massenmedien
zunächst die Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Medienrealität: "Sollen die
Medien die Welt oder mit dem aktuellen Zeitgeschehen wenigstens einen Teil davon möglichst vollständig darstellen?" Es kann nicht bestritten werden, dass eine Wiedergabe der
Realität gefiltert in den Medien auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Das aktuelle Zeitgeschehen, also sämtliche Nachrichten können – abgesehen von einem Hang zur Theatralik
und zur Übertreibung – als Repräsentation der Wirklichkeit qualifiziert werden. Doch alles
darüber hinaus muss in Zweifel gezogen werden. Früh (1994: 26) spricht von einem
"Wechsel des Abstraktionsniveaus", wonach konkrete Fakten, Objekte und Sachverhalte
eindeutig identifizierbar sind, das Abstraktionsniveau ist demnach niedrig. Handelt es sich
um eine komplexere Berichterstattung, wird die objektive Überprüfung des Wahrheitsgehaltes nahezu unmöglich (vgl. ebd. 27). Nach dieser Unterscheidung strebt der Protagonist
allerdings nicht, er sieht nicht der Information halber fern, nur des Fernsehens wegen. Er
kommt zu folgender Überzeugung: "La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité,
[…] mais de sa représentation." (1997: 13) Diese Ansicht erinnert an die toussaintschen
Vorgänger des Ich-Erzählers, die allesamt mit der Wirklichkeit oder vielmehr der Auseinandersetzung mit selbiger so ihre Probleme haben. Die Flucht vor der Wirklichkeit kann
einfach vor den Fernseher führen, wo eine andere Realität inszeniert wird. Diese andere
Wirklichkeit ist im Sinne Watzlawicks (vgl. 1992: 41f./1979: 142) eine Wirklichkeit erster
Ordnung, da es sich um mit den Sinnesorganen objektiv feststellbare Eigenschaften handelt, die durchs Fernsehen vermittelt werden.
Sein stolzer Verzicht auf dieses verbreitete Massenmedium wird abgeschwächt, da
er feststellen muss, dass niemand seiner Bekannten viel fern sieht. So etwa sein Freund
John Dory oder seine Lebensgefährtin Delon (vgl. 141) oder der Präsident der Stiftung,
dem er sein Stipendium zu verdanken hat (vgl. 246). Die verschiedensten Gedanken rund
um das Thema Fernsehen beschäftigen ihn immer und immer wieder: "Car que font les
putes entre les putes entre les passes – si ce n’est regarder la télé ?" (146) In Anbetracht
dieser und ähnlicher Überlegungen erscheint seine Aussage unpassend, denn der Fernseher
nimmt keinen wichtigen Platz in seinem Leben ein (vgl. 9). Dieser Ansicht widerspricht
90
auch Brandstetter (2006: 215): "Bildschirme und Medien allgemein sind omnipräsent und
bestimmen die Wahrnehmung des Erzählers." Dies findet in der Textstelle Bestätigung, in
der sich der Protagonist dem Voyeurismus hingibt (vgl. 45). Auch scheint er seinem Vorhaben nur scheinbar zu folgen: "Il allait de soi, bien entendu, que, dans mon esprit, arrêter
de regarder la télévision ne s’appliquait nullement en dehors de chez moi." (155) Mit bien
entendu drückt sich die mangelnde Ernsthaftigkeit hinter dem ganzen Bestreben des Protagonisten aus. Auch Toussaints Absicht hinter dem Roman ist nicht von Ernsthaftigkeit
geprägt, denn er will lediglich Trivialitäten sprachlich perfekt so gewichtlos zeigen, wie sie
sind (vgl. ZELTNER 1997).
3.4.3 Die Wechselbeziehungen zwischen TV und Realität
Der Realitätsbezug des Protagonisten in La télévision unterscheidet sich merklich von jenem seiner Vorgänger, vor allem, da der Einfluss dieses Mediums bedeutsam ist.
Quant à la télévision, non seulement elle détermine la perception de la réalité mais elle la remplace, et devient autonome à son égard. Dangereusement, inéluctablement, la télévision devient
la réalité. (McGARRY 2003: 93)
Obgleich der Protagonist nicht potenziell gefährdet ist, sich dem Einfluss des Fernsehens
nicht mehr entziehen zu können, widmet er diesem Medium doch einen erheblichen Teil
seiner Zeit, ob nun in aktiver oder passiver, also reflektierender Beschäftigung. Die Thematik rund ums Verschwinden der Realität lässt an Baudrillard und sein Simulationsmodell denken. Dieser geht von einer dreifachen Ordnung künstlicher Zeichenwelten aus, die
er Simulakra nennt:
Das Simulakrum erster Ordnung erhält den Widerstreit mit dem Realen aufrecht, das Simulakrum zweiter Ordnung ist dagegen kein bloßes Abbild mehr, sondern setzt an die Stelle der
Imitation den Vorgang der Produktion und der identischen Reproduktion. […] Eine Eigenschaft der Simulakra dritter Ordnung ist es, dass sie, […] immer noch konkrete reale Auswirkung haben können, […]. (BLASK 1995: 26 ff.)
In Verbindung der Ansicht McGarrys mit dem Modell Baudrillards ist Fernsehen dem Simulakrum zweiter Ordnung zuzurechnen, denn schließlich bietet das Medium eine andere
91
Realität, die an die Stelle der täglichen Realität gesetzt werden kann. Dabei ist entscheidend, inwieweit der Rezipient in der Lage ist, die televisuelle Wirklichkeit an die Stelle der
gelebten Wirklichkeit zu setzen. Dem Protagonisten ist bewusst, dass Fernsehen nur die
Repräsentation der Wirklichkeit, nicht aber die Wirklichkeit selbst bieten kann (vgl. 13).
Diese Passage zieht Brandstetters (2006: 218) Aussage, der Erzähler sei zur unmittelbaren
Betrachtung von Realität unfähig, in Zweifel. Er ist durchaus in der Lage, zwischen repräsentierter und tatsächlicher Realität zu unterscheiden. Er vergleicht sogar darstellende
Kunst mit den Darstellungen im Fernsehen: "L’illusion de la réalité dans un tableau de la
Renaissance, […] est par nature fondamentalement différente de l’illusion que propose la
télévision quand elle représente la réalité, […]." (15) Auch manche Künstler wollen mit
ihren Werken einen realen Effekt erzielen, denn diese Ästhetik beschreibt der Erzähler
folgendermaßen: "[…] pour être réelle, la réalité doit ressembler à sa représentation." (14)
Demnach strebt auch die televisuelle Darbietung nach nichts anderem als es manche
Kunstformen, beziehungsweise Kunstströmungen bezwecken: den Eindruck der Realität
künstlich herzustellen. Dies wird mit dem Fernsehgerät besser erreicht als mit anderen
Medien, vor allem durch die Strahlen, die der Apparat aussendet: "[…] des petites stimulations de toutes sortes, visuelles et sonores, qui éveillent notre attention […]." (25) Darin
sieht der Protagonist die zentrale Eigenschaft des Fernsehers, dass er den Menschen kontinuierlich künstlich wachhält (vgl. ebd.). Es stellt sich nun die Frage, ob dem Protagonisten
das Medium dazu dient, sich vom Alltag abzulenken oder zu einem weiteren Bestandteil
seines Alltages gezählt werden kann. Brison (1997: 67) spricht von der zentralen Frage, die
Toussaint im Laufe des Werkes stellt: Que reste-t-il du monde quand il n’est plus découpé
en lamelles dans un tube cathodique ? La réalité. Dies verweist wiederum auf die Theorie,
die televisuelle Realität sei nur repräsentative Realität. Insofern lässt sich die Fernsehlust
des Protagonisten als Flucht aus der Realität werten, damit kompensiert er mögliche Mängel seiner Existenz, denen er anders nicht beizukommen vermag, wie etwa dem Unvermögen, sich der Arbeit über Tizian Vecellio intensiv zu widmen oder der Leere in seiner
Wohnung:
[…] et ce n’est que maintenant, comme j’allais m’asseoir dans le canapé du salon après le coup
de téléphone de Delon, que j’avais ressenti un manque, une sorte d’état de douleur impalpable
et diffuse, qui vint me tourmenter encore plusieurs fois dans la journée chaque fois que je restais un moment dans le salon en face du téléviseur éteint. […]
92
Der Apparat fungiert als Symbol seiner inneren Leere, die er im ausgeschalteten Zustand
ausdrucksstark repräsentiert. Der Kontakt zur weiblichen Figur basiert ausschließlich auf
Telefonaten, ähnlich den beiden Figuren in La salle de bain. Im Unterschied zum IchErzähler des ersten toussaintschen Romans ist bei jenem aus La télévision an keiner Stelle
ein Überdruss gegenüber seiner Partnerin spürbar.
Ein erneuter Verweis auf Baudrillard lässt eine weitere Erklärung zu, weshalb der
Fernseher eine derartige Wirkung auf den Protagonisten ausübt. Fernsehen biete die Gewissheit, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden, dass sie endgültig isoliert sind
(vgl. BAUDRILLARD 1978: 94). Der Erzähler lebt die meiste Zeit in Isolation in seiner
Berliner Wohnung. Außer den Telefonaten mit seiner Lebensgefährtin hat er keine Möglichkeit zu Gesprächen, weshalb er das Gerät einschaltet.
3.4.4 Conclusio
Toussaint selbst meint im Gespräch mit Peter Urban-Halle (1993): "Mein Material ist nicht
literarisch an sich, nein, andersrum: Ich mache aus banalen Dingen literarisches Material."
Die Literarisierung des Mediums Fernsehen ist zwar nicht neu, aber gleichwohl nicht weit
verbreitet. Daher trifft Toussaint in gewisser Weise den Nerv unserer Zeit. In einer Welt, in
der Bücher an Bedeutung verlieren, wird das dominante Medium eben schriftlich erfasst.
Dem Bestreben nach zeitgemäßem Schreiben entspricht auch das Vermeiden eines großen
Sujets, denn dies könnte ihm zufolge die literarische Ernsthaftigkeit in Mitleidenschaft
ziehen (vgl. ebd.).
Interessant ist, dass auch dem Protagonisten aus La télévision eine gewisse Alltagsuntauglichkeit anlastet, ebenso wie seinen Vorgängern. Im Unterschied zu den anderen
drei analysierten Romanen wird der Stadt (hier Berlin) selbst mehr Bedeutung beigemessen, der Ort ist nicht gleichermaßen austauschbar wie in den Vorläuferwerken.
Auch der fiktionalisierte Schreibprozess ist ein toussaintsches Novum und wird der Beschäftigung mit der Realität untergeordnet. Der Held überwindet die Wirklichkeit nicht im
Schreibprozess selbst, denn es scheint, als wäre das Schreiben jene Wirklichkeit, der er zu
entkommen versucht.
93
4 Schlussbetrachtung
Die folgenden Betrachtungen umfassen die Erkenntnisse, welche aus der Analyse der behandelten Romane hervorgehen. Da die Protagonisten im Zentrum der Betrachtungen stehen, gilt es deren Charakterisierung abschließend darzulegen: Die Helden der vier bearbeiteten Werke Toussaints können als Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit bezeichnet
werden, da sie frei und bewusst in ihrem Handeln sind. Nur Monsieur erweckt zunächst
den Eindruck, unter dem Zwang und dem Druck der Gesellschaft zu agieren. Dies führt
zugleich auch zu der Auffassung, dass Toussaints Helden ihre eigenen Schwächen ausnutzen, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Dieser psychischen Strategie folgen die Helden zweifelsohne, denn sie alle wirken auf den ersten Blick unbeholfen und uneigenständig. Diese
Eigenschaften entpuppen sich in Folge als Schutzmechanismen, beziehungsweise als Begegnungsstrategien gegenüber der Realität, mit der die Protagonisten konfrontiert sind.
Dahingehend kann auch die Introvertiertheit, Zurückgezogenheit und Zurückhaltung der
Figuren interpretiert werden: Sie ziehen sich nur zurück, um sich den unerwünschten Einflüssen der täglichen Realität zu entziehen und nicht, weil sie tatsächlich unfähig sind, in
dieser Wirklichkeit zu bestehen. Die Helden agieren zwanghaft und sind bis zu einem gewissen Maße neurotisch, aber nur insoweit dieses Verhalten ihren Zwecken dient. Die dargestellten Verhaltensanomalien deuten weniger auf geisteskranke Figuren hin, sondern
verdeutlichen, dass leichte Abweichungen von dem als allgemein anerkannten normalen
Verhaltens, noch innerhalb des Rahmens dieser 'Normalität' anzusiedeln sind. Die toussaintschen Romane sind keine psychologischen, seine Helden sind keineswegs krank, sie
repräsentieren vielmehr das zwanghafte Streben des Menschen nach Normalität. Der Grad
der Wirklichkeitsanpassung weicht im Falle der Protagonisten etwas weiter vom Durchschnittswert ab, dennoch verkörpern sie keine skurrilen Sonderfälle. Die überspitzte Darstellung der Verhaltensabweichungen dient der Gesellschaftskritik, was vor allem in Monsieur durch den leitmotivisch eingesetzten Ausdruck les gens tout de même betont wird.
Diesem Grundsatz bleibt der gleichnamige Held Toussaints selbst treu, obgleich er ihn
gewissermaßen kopfschüttelnd an seine Mitmenschen richtet. Er lebt gleichgültig und passiv vor sich hin, wodurch er träge und tatenlos wirkt, doch eigentlich ist dies nur (s)eine
Art, der Realität zu begegnen.
94
Dies führt weiters zur Betrachtung der verschiedenen Arten des Umgangs mit der
Realität, welche in Toussaints Protagonisten verwirklicht werden. Die in L’appareil-photo
angesprochene 'Fatiguer-la-réalité-Philosophie' zieht sich gewissermaßen durch alle hier
analysierten Romane: Der erste Held strebt nach einer Ästhetik des Stillstandes, nach der
Unmöglichkeit des bewegten Immobilismus, nach einem Zustand also, der nicht wirklich
erreicht werden kann, doch dies ist seine Art, der Realität zu begegnen. Monsieur verfolgt,
wie bereits erwähnt, die Strategie des passiven Widerstandes gegen die Wirklichkeit und
der Held aus Toussaints drittem Werk findet mehrere Wege, die Wirklichkeit 'weich' zu
machen. Im Leben des Helden aus La télévision gestaltet sich die Wirklichkeitswahrnehmung stark audio-visuell.
Mithilfe der metaphorischen Einbindungen geht Toussaint ab von einer konventionellen Wirklichkeitsdarstellung, was sich auch im Erzählfluß zeigt. Durch die fragmentarische Strukturierung des Textes und die häufigen Klammersetzungen unterbricht er den
gewöhnlichen Textfluss und macht auf seine Weise die Wirklichkeit mürbe.
Toussaints Werk ist weiters geprägt von einer starken Symbolhaftigkeit, welche mit
den Arten des Realitätsbezuges in Verbindung steht. Die Zenon’schen Pfeile, die in einer
ewigen Bewegung verharren, ohne jemals ihr Ziel zu treffen, bilden gleichermaßen den
symbolischen Rahmen für den Realitätsbezug, wie an anderer Stelle Schrödingers Katze.
In beiden Fällen handelt es sich um Gedankenexperimente, die darauf verweisen, einen
unmöglichen Zustand zu erreichen: eine Überlagerung von gegensätzlichen Eigenschaften,
wie Stillstand und Bewegung, beziehungsweise Tod und Leben. In L’Appareil-photo dient
die Olive als Sinnbild für die Wirklichkeit, in La Télévision symbolisiert einerseits der
Fernseher das Mittel der Realitätsflucht und andererseits zeigt die Episode des Farns den
inneren Evasionsdrang des Protagonisten.
Abschließend verweise ich auf die Ausbaufähigkeit meines Themas hinsichtlich
weiterer Facetten des Realitätsbezuges, da die von mir angesprochenen die Basis einer
detaillierteren, weiterführenden Analyse bieten. Außerdem könnten zusätzliche hypotextuelle Parallelen herausgearbeitet und der Schwerpunkt vertiefender auf die literarhistorischen Vorbilder des Realitätsmotivs gesetzt werden.
95
Bibliographie
Primärwerke
TOUSSAINT, Jean-Philippe: La salle de bain. Paris : Les Éditions de Minuit 1985.
Monsieur. Paris : Les Éditions de Minuit 1986.
L’appareil-photo. Paris: Les Éditions de Minuit 1988.
La télévision. Paris : Les Éditions de Minuit 1997.
Werke anderer Autoren
CAMUS, Albert: L’Etranger. Stuttgart: Reclam 1942.
GIDE, André : Les caves du Vatican. Paris: Gallimard 1914.
HUYSMANS, Joris-Karl: À rebours. Paris: Pocket 1884.
MUSIL, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt 1931/32.
PASCAL, Blaise: Pensées. Édition Léon Brunschvig. 1897-1904.
SARTRE, Jean-Paul: La nausée. Paris: Gallimard 1938.
SIMENON, Georges: L’homme qui regardait passer les trains. Paris: Gallimard 1938.
Lexika
DROSDOWSKI, Günther (et.al.): Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache.
Mannheim/Wien: Dudenverlag, 1994.
96
GUILBERT, Louis: Grand Larousse de la langue française. Paris: Larousse 1971.
NÜNNING, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart: Metzler 1998.
ZWAHR, Anette (et.al.): Brockhaus. Leipzig/Mannheim: F.A. Brockhaus 2004.
Sekundärwerke
ASHOLT, Wolfgang: Der französische Roman der achtziger Jahre. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
BAUDRILLARD, Jean: Agonie des Realen. Aus dem Französischen von Lothar Kurzawa
und Volker Schäfer. Berlin: Merve 1978.
BENSE, Max: Die Realität der Literatur. Autoren und ihre Texte. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1971.
BLASK, Falko: Jean Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 1995.
BRANDSTETTER, Nicole: Strategien inszenierter Inauthentizität im französischen Roman der Gegenwart. München: M-Press, Diss. 2006.
COENEN-MENNEMEIER, Brigitta: Abenteuer Existenz. Momente der Literatur von Descartes bis Sartre. Frankfurt am Main: Lang 2001.
EBERLEN, Oliver: Roman impassible. Der subversive und undogmatische Umgang mit
Narration, Sprache, Realität und Zeit in den Romanen Jean-Philippe Toussaints und Patrick Devilles. Hamburg: Dr. Kovac, Diss. 2002.
FLÜGGE, Manfred: Die Wiederkehr der Spieler. Tendenzen des französischen Romans
nach Sartre. Marburg: Hitzeroth 1993.
97
FRÜH, Werner: Realitätsvermittlung durch Massenmedien. Die permanente Transformation der Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994.
GENETTE, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris : Seuil 1982.
GRIBBIN, John: Schrödingers Kätzchen und die Suche nach der Wirklichkeit. Aus dem
Englischen von Christiana Goldmann. Frankfurt am Main: Fischer 1996.
HARTMANN, Nicolai: Möglichkeit und Wirklichkeit. Weißenheim am Glan: Hain 1949.
Zur LIPPE, Rudolf: Wie real ist Realität. Wien: Picus 1996.
RAETHER, Martin: Der Acte gratuit. Revolte und Literatur. Heidelberg: Winter 1980.
SCHÄRER, Peter, von Aarau: Zur psychischen Strategie des schwachen Helden. Italo Svevo im Vergleich mit Kafka, Broch und Musil. Universität Zürich, Diss. 1978.
SCHNEIDER, Friedhelm: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ein philosophischtheologischer Essay. Tübingen: Attempto 1992.
SEMSCH, Klaus: Diskrete Helden. Strategien der Weltbegegnung in der romanischen Erzählliteratur ab 1980. München: Meidenbauer 2006.
SHOOTS, Sophia Petronella: Passer en douce à la douane. L’Ecriture minimaliste de Minuit. Amsterdam: Rodopi 1997.
STANZEL, Franz K. : Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht,
1979.
WATZLAWICK, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn - Täuschung - Verstehen.
München: Piper 1979.
98
WATZLAWICK, Paul: Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Wien: Picus
1992.
ZELTNER, Gerda : Ästhetik der Abweichung. Aufsätze zum alternativen Erzählen in
Frankreich. Mainz: von Hase und Koehler 1995, S. 240-247.
Aufsätze in Zeitschriften
BAUMGART, Reinhard: "Ein Herr vom anderen Stern. Jean-Philippe Toussaints grandioser Rätselroman 'Monsieur", in: Die Zeit, 13. Oktober, Nr. 42, 1989, S. 15.
BOLLON, Patrice: "Le culte du cocon. De Toussaint à Wittgenstein, de La salle de bains
au Tractatus, les avatars littéraires du moi", in: Magazine littéraire, Avril, Nr. 264, 1989,
S. 83-85.
BRISON, Danièle : "Homo Télécomandus." In : Magazine littéraire, Février 1997, Nr.
351, S. 67-68.
DEAN, Martin R.: "Für Monsieur ist die Abwesenheit von Schmerz so ziemlich die grösste
Lust." In: Die Weltwoche, Nr. 41, 12. Oktober 1989.
FLÜGGE, Manfred: "Wie man die Wirklichkeit weich macht. Der Romancier JeanPhilippe Toussaint", in: Merkur 12. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. S.
1111-1116, 1989.
FREITAG, Günther: "Das Leben ist ein Kinderspiel", in: Der Standard, 3./4. Februar
1990.
KAPLAN, Nelly: "Toussaint l‘Ecrivain", in: Magazine littéraire, Nr. 273, Janvier 1990, S.
10.
99
PÉCHEUR, Jacques : "À la recherche de… " in: Le français dans le monde, Novembre/Décembre, Nr. 25, 1986, S. 18-20.
PUFF-TROJAN, Andreas: "Unveränderbarer Alltag. Toussaints Null-Held", in: Die Presse, 20./21. April 1991.
WIECKHORST, Volker: "Diesem Kind ist alles eins", in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 5, 2. Februar 1990.
WORTMANN, Anke: "Gedankenverloren und selbstvergessen. Über die Romane JeanPhilippe Toussaints", in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/2 1993, S. 135155.
ZELTNER, Gerda: "Vom Glück des Nichtstuns. Jean-Philippe Toussaint stellt den Fernseher ab." In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 196, 26. August 1997.
Aufsätze in Sammelbänden
ACAR, Birgit: "Ironie und Gestik – beispielhaft untersucht an Jean-Philippe Toussaints
mustergültigem Monsieur", in: SCHMIDT, Mirko F. (Hg.): Entre parenthèses. Beiträge
zum Werk Jean-Philippe Toussaints. Paderborn: Virgilia 2003, S. 45-63.
ALBERT, Claudia: "En toutes choses, son mol acharnement – die einverstandenen Helden
im neuen Französischen Roman", in: ASHOLT, Wolfgang (Hg.): Intertextualität und Subversivität. Studien zur Romanliteratur der achtziger Jahre in Frankreich. Heidelberg: Winter 1994, S. 351-364.
KRISTEVA, Julia: "Le mot, le dialogue et le roman" in: Dies.: Recherches pour une sémanalyse. Paris: Seuil 1969.
100
McGARRY, Pascale: "T(itien) V(ecellio)/TV: défense et illustration de la culture dans La
télévision", in: SCHMIDT, Mirko F. (Hg.): Entre parenthèses. Beiträge zum Werk JeanPhilippe Toussaints. Paderborn: Virgilia 2003, S. 87-97.
REBOLLAR, Patrick: "Mines de riens. Essai sur La télévision de Jean-Philippe Toussaint",
in: SCHMIDT, Mirko F. (Hg.): Entre parenthèses. Beiträge zum Werk Jean-Philippe
Toussaints. Paderborn: Virgilia 2003, S. 99-115.
SCHLÜNDER, Susanne: "Fern-Seherfahrungen und Wahrnehmungsparameter – Ecriture
und Medienreflexion bei Jean-Philippe Toussaint: La télévision", in: GELZ, Andreas/ETTE, Ottmar (Hrsg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans
– Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen: Stauffenburg 2002,
S. 213-224.
SCHMIDT, Mirko F.: "Car qu’est-ce que penser – si ce n’est à autre chose? Jean-Philippe
Toussaint und die Philosophie", in: Ders. (Hg.): Entre parenthèses. Beiträge zum Werk
Jean-Philippe Toussaints. Paderborn: Virgilia 2003, S. 17-28.
SCHOLLE, Oliver: "Der blinde Fleck. Variationen phototheoretischer Thesen in JeanPhilippe Toussaints L’appareil-photo", in: SCHMIDT, Mirko F. (Hg.): Entre parenthèses.
Beiträge zum Werk Jean-Philippe Toussaints. Paderborn: Virgilia 2003, S. 65-75.
WINTER, Scarlett: "Bewegung im Stillstand. Paradoxe Zeit- und Medienbilder in JeanPhilippe Toussaints L’appareil-photo", in: GELZ, Andreas/ETTE, Ottmar (Hrsg.): Der
französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen: Stauffenburg 2002, S. 201-212.
Entretiens
AMMOUCHE-KREMERS, Michèle: "Entretien avec Jean-Philippe Toussaint", in: Dies.:
Jeunes auteurs de minuit. Amsterdam: Rodopi 1994, S. 27-35.
101
DEMOULIN, Laurent : "Un roman minimaliste?", in : Jean-Philippe Toussaint - La salle
de bain. Revue de presse. Paris: Minuit 2005, S. 25-30.
GABRIEL, Fabrice/BOURMEAU, Sylvain : "La résolution du bonheur", in: Les Inrockuptibles, 29. Jänner – 4. Februar 1997, S. 1.3.
HANSON, Laurent: "Interview de Jean-Philippe Toussaint", réalisé par l’institut francojaponais de Tokyo, 19. Jänner 1998.
JOURDE, M.: "Monsieur s’amuse. Interview avec Jean-Philippe Toussaint", in: Les Inrockuptibles, 1992.
KAUSS, Anja: "Interview mit Jean-Philippe Toussaint, in Rom am 11.1.2005", in: Dies.:
Der diskrete Charme der Prokrastination. Aufschub als literarisches Motiv und narrative
Strategie (insbesondere von Jean-Philippe Toussaint). München: Meidenbauer 2008, S. IXV.
URBAN-HALLE, Peter: "Die Wirklichkeit ist unsicher. Ein Gespräch mit Jean-Philippe
Toussaint." In: Litfass. Berliner Zeitschrift für Literatur, Nr. 59, 1993, S. 94-98.
102