pdf des Bandes - Historisches Kolleg

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pdf des Bandes - Historisches Kolleg
Schriften des Historischen Kollegs
Herausgegeben von Lothar Gail
Kolloquien
82
R. O ldenbourg Verlag München 2011
Judaism, Christianity, and Islam in
Course of History:
Exchange and Conflicts
Herausgegeben von
Lothar Gall und Dietmar W illoweit
R. O ldenbourg Verlag München 2011
Schriften des H istorischen Kollegs
herausgegeben von
Lothar Gail
in Verbindung mit
Johannes Fried, H ans-W erner H ahn, Manfred H ildermeier,
M artin Jehne, C laudia M ärtl, H elm ut N euhaus, Friedrich W ilhelm Rothenpieler,
Luise Schorn-Schütte, D ietm ar W illow eit und Andreas W irsching
Das H istorische Kolleg fördert im Bereich der historisch orientierten W issenschaften G e­
lehrte, die sich durch herausragende Leistungen in Forschung und Lehre ausgew iesen haben.
Es vergibt zu diesem Z w eck jährlich bis zu drei Forschungsstipendien und zw ei F ö rdersti­
pendien sow ie alle drei Jahre den „Preis des H istorischen K ollegs“. D arüber hinaus führt das
H istorische K olleg in Zusam m enarbeit m it anderen Institutionen auch internationale Konfe­
renzen und K olloquien durch.
Das H istorische K olleg w ird seit dem K ollegjahr 2000/2001 - im Sinne einer „public private
partnership“ - in seiner G rundausstattung vom Freistaat B ayern finanziert; die M ittel für die
Stipendien stellen gegenw ärtig die F ritz T hyssen Stiftung, der Stiftungsfonds D eutsche Bank,
die G erda H enkel Stiftung und der Stifterverband für die Deutsche W issenschaft zur Verfü­
gung. Träger des H istorischen K ollegs, das vom Stiftungsfonds Deutsche Bank und vom Stif­
terverband errichtet und zunächst allein finanziert w urde, ist die „Stiftung zu r Förderung der
H istorischen K om m ission bei der B ayerischen A kadem ie der W issenschaften und des H isto ­
rischen K ollegs“.
In diesem Band w erden die Ergebnisse der internationalen Konferenz „Judaism , C h ristia­
nity, and Islam in the C ourse of H isto ry: Exchange and C onflicts“ veröffentlicht, die vom
16. bis 18. M ärz 2009 in M ünchen stattgefunden hat.
GEFÖRDERT VOM
Die Konferenz sow ie der D ruck des Tagungsbandes w urden mit
M itteln des Bundesm inisterium s für B ildung und Forschung unter
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dem Förderkennzeichen 01UG 0709 gefördert. Die V erantwortung
I für Bildung
für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
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1
1
A
I
T x r M
f
.
_ ü . - ! -----------------------1____________
Inhalt
L oth a r Gall/D ietm a r W illow eit
Vorwort ..............................................................................................................................
IX
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .............................................................
XI
F riedrich 'Wilhelm G r a f
Der eine Gott in vielerlei Gestalt. Die konfliktreiche Pluralisierungsdynam ik in den drei monotheistischen W eltreligion en .....................................
1
Sektion 1: Religionsgelehrsamkeit
H a rtm u t B ob z in
E inführung..........................................................................................................................
19
G e o r g e s T am er
Hellenistic Ideas of Time in the K o ra n ....................................................................
21
T h om a s E. B u rm a n
Wie ein italienischer Dominikanermönch seinen arabischen Koran l a s . . . .
43
C la u d e G illiot
Das jüdischchristliche Umfeld bei der Entstehung des Koran und
dessen Bedeutung für die islamische Korankommentierung. Christen und
Christentum in der frühen islamischen Exegese des Koran ............................
61
Sektion 2: Europa und die Islamische Welt. Zur gegenseitigen
Wahrnehmung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Tilman N a g el
E infü hrung..........................................................................................................................
75
M ich a el K reu tz
The Greek Classics in Modern M iddle Eastern T h o u g h t.................................
77
M a urus R ein k ow sk i
Zionismus, Palästina und Osmanisches Reich. Eine Fallstudie zu
Verschwörungstheorien im Nahen Osten .............................................................
93
Yavuz K ö se
„Ich bin Sozialist, gib mir die Hälfte deines Vermögens“. Rezeption des
Sozialismus und Kommunismus in spätosmanischer Zeit (1870-1914) . . . .
105
VI
Inhalt
Sektion 3: Gesellschaftliche Integration und Bewahrung der Identität
M ich a el B r e n n e r
E inführung..........................................................................................................................
123
J o h n M. Efron
Sephardische Schönheit im Auge des aschkenasischen B etrach ters..............
125
R e in h a r d S chulze
Islam und Judentum im Angesicht der Protestantisierung der Religionen
im 19. Jahrhundert .........................................................................................................
139
M icha Brum lik
Juden, Muslime, Konvertiten - Begründer eines jüdisch-islamischen
D ia lo g s .................................................................................................................................
167
Sektion 4: Kultur, Bildung, Fremdwahrnehmung
H a n s M a ier
E inführung..........................................................................................................................
181
P e t e r H e in e
Muslime und das Judentum - Das deutsche E xem p el........................................
185
W olfga n g L o sc h eld er
Religiöse Unterweisung als Merkmal kultureller Identität. Die Auseinan­
dersetzung über Religionskunde und Religionsunterricht für Muslime in
Deutschland 1970 bis heute .........................................................................................
197
R o la n d L öffler
Trialog in der Schule?! Der Weg von einer Studie zum kulturellen Pluralis­
mus in europäischen Lehrplänen zum Wettbewerb „Schulen im Trialog“
der Herbert Quandt-Stiftung und sein Beitrag zur aktuellen Bildungsstandard-Diskussion ..............................................................................................................
215
Sektion 5: Rechtsverständnis
D ietm a r W illow eit
E infü hrung..........................................................................................................................
235
Isra el J a c o b Yuval
The O rality of Jewish Oral Law: from Pedagogy to Id eo lo g y.......................
237
H a n s- J ü r g en B ec k er
Weltliche und religiöse Elemente im Rechtsdenken der okzidentalen
C h risten h eit........................................................................................................................
261
Inhalt
V II
Sektion 6: Austausch und Konflikte I - M ittelalter und Frühe Neuzeit
H ein z Schilling
E inführung..........................................................................................................................
283
T h om a s K a u fm a n n
Kontinuitäten und Transformationen im okzidentalen Islambild des
15. und 16. Jah rh un derts................................................................................................
287
Y osef K aplan
Between Christianity and Judaism in Early Modern Europe:
The Confessionalization Process of the Western Sephardi D iasp ora............
307
M atthias P o h lig
Annäherungen - Zum Verhältnis von Religion und Politik im frühneuzeit­
lichen Osmanischen Reich in vergleichender Perspektive ..............................
343
Sektion 7: Recht und Wirtschaft
M athias R o h e
E infü hrung..........................................................................................................................
371
A sher Mehr
T h e conditions for sanctification of economic activity in jewish rabbinical
and mystical tra d itio n .....................................................................................................
375
K a rl H o m a n n
Schwierigkeiten der christlichen Theologie mit der M ark tw irtsch aft.........
387
Kilian Bälz
Sharia Jet Set? Perspectives on Religion, Law, and the Economy in Islam
399
Sektion 8: Austausch und Konflikte II - 19. und 20. Jahrhundert
G u d ru n K r ä m e r
E inführung..........................................................................................................................
413
L u ce tte Valensi
Is Religion A lw ays Relevant? The Case of Tunisia (First Half of the
19th century) .....................................................................................................................
415
Leila F aw az
Exchanges in Times of War: Coping w ith W a r......................................................
425
Martin Tamcke
Mission und Kulturkonflikt: Deutsche Missionen im Iran des
19. Jahrhunderts ....................................................................................
Podiumsdiskussion der Sektionsleiter............................................
Vorwort
Spätestens seit dem 11. September 2001 ist klar, dass das Thema Religion als poli­
tischer Faktor auch im 21. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielt. In der teilweise
aufgeregten Debatte, die sich an den Terroranschlag auf das World Trade Center
in N ew York anschloss, wurde jedoch allzu oft deutlich, dass es vielfach an Wissen
mangelt, auch an historischen Kenntnissen, um die Ereignisse einzuordnen und
zu begreifen. Sehr rasch konnte man zudem erkennen, dass eine reine Konfliktge­
schichte dem historischen Verhältnis zwischen Judentum, Christentum und Islam
nicht gerecht wird, da auf diese Weise Phasen friedlicher Koexistenz und frucht­
baren Austausches ausgeblendet werden, die es in der Vergangenheit auch immer
wieder gegeben hat.
Das Historische Kolleg, ein „Institute for Advanced Study“ der historisch ori­
entierten Wissenschaften, ist kein „think tank“ und betreibt insofern keine aktuelle
Politikberatung. Was das Historische Kolleg jedoch mit seinen zahlreichen re­
nommierten Fellows und in Kooperation mit der Bayerischen Akademie der W is­
senschaften und der Ludwig-M axim ilians-U niversität am Wissenschaftsstandort
München leisten kann, ist, das Verhältnis zwischen Judentum, Christentum und
Islam im Verlauf der Geschichte wissenschaftlich zu beschreiben und zu disku­
tieren, um damit die aktuelle Debatte um eine fundierte historische Perspektive zu
erweitern. Dies w ar das Motiv für die Konferenz „Judaism, Christianity, and
Islam in the Course of H istory: Exchange and Conflicts“, die vom 16.-18. März
2009 in München stattfand und vom Bundesministerium für Bildung und For­
schung (BMBF) gefördert wurde. Dabei konnte das Historische Kolleg inhaltlich
an das von Klaus Schreiner konzipierte Kolloquium „Heilige Kriege. Religiöse
Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und
Islam im Vergleich“ 1 anknüpfen, das bereits im November 2007 in der KaulbachVilla stattgefunden hat.
Mit dem Tagungsband präsentiert das Historische Kolleg die Ergebnisse der
Konferenz vom M ärz 2009, in deren Verlauf Historiker, Islamwissenschaftler,
Juristen, Theologen und Erziehungswissenschaftler aus den USA, Israel, Groß­
britannien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland Austausch und Konflikte
zwischen den drei großen monotheistischen Weltreligionen von der Antike bis in
die Gegenwart in den Blick genommen haben.
1 Klaus Schreiner (H g.): H eilige Kriege. R eligiöse Begründungen m ilitärischer G ew altan­
w endung: Judentum , C hristentum und Islam im Vergleich (= Schriften des H istorischen
Kollegs, K olloquien, Bd. 78). M ünchen 2008.
X
Vorwort
Bei der Auftaktveranstaltung in der Aula der Ludwig-M axim ilians-U niversität
sprach F riedrich W ilhelm G r a f zu dem Thema „Der eine Gott in vielerlei Gestalt.
Die konfliktreiche Pluralisierungsdynam ik in den drei monotheistischen Welt­
religionen“ und setzte unter anderem mit seiner Warnung, den hohen Grad an
Differenzierung und stetem Wandel innerhalb der drei großen monotheistischen
W eltreligionen durch den Gebrauch klassifikatorischer Allgemeinbegriffe zu ver­
decken, für die Debatten der kommenden Konferenztage einen starken Akzent.
Die acht Sektionen der Konferenz widmeten sich der gegenseitigen Wahrneh­
mung vor dem Ersten Weltkrieg (Leitung: Tilman N agel), „Kultur, Bildung,
Fremdwahrnehmung“ seit der N achkriegszeit (Leitung: H ans Maier), Austausch
und Konflikten von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert (Leitung: H einz
S ch illin g und G u d ru n K rä m er), dem Rechtsverständnis in den drei Religionen
(Leitung: D ietm a r W illoweit), Recht und Wirtschaft (Leitung: M athias R ohe),
Religionsgelehrsamkeit (Leitung: H a r t m u t B obzin) und gesellschaftlicher Inte­
gration und Bewahrung der Identität (Leitung: M ich a el B ren n er). Eine abschlie­
ßende Podiumsdiskussion der Sektionsleiter im Plenarsaal der Bayerischen A ka­
demie der Wissenschaften, die von BR-alpha aufgezeichnet wurde und die der
Band ebenfalls dokumentiert, bündelte die verschiedenen Aspekte der Tagung.
Allen Sektionsleitern, Referenten und Diskutanten gilt unser Dank für ihre Bei­
träge.
Neben seiner Kernaufgabe, der Förderung von Gelehrten mit einjährigen Sti­
pendien, um ein Buch in konzentrierter Arbeit zu vollenden, wird das Kurato­
rium des Historischen Kollegs auch in Zukunft Gelehrte zu Kolloquien und Kon­
ferenzen in die Kaulbach-Villa einladen, um die historische Dimension aktueller
Themen herauszuarbeiten.
München, im September 2010
L oth a r Gail
D ietm a r W illow eit
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Kilian Bälz, LL.M ., Kairo/Berlin
Prof. Dr. Hans-Jürgen Becker, Universität Regensburg
Prof. Dr. Hartm ut Bobzin, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnber
Prof. Dr. Michael Brenner, Ludwig-M axim ilians-U niversität München
Prof. Dr. Micha Brumlik, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Thomas E. Burman, U niversity of Tennessee
Prof. Dr. John M. Efron, U niversity of California Berkeley
Prof. Dr. Leila Tarazi Fawaz, Tufts U niversity
Prof. em. Dr. Claude Gilliot, Universite Aix-en-Provence/IREMAM
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, Ludwig-M axim ilians-U niversität München
Prof. em. Dr. Peter Heine, Hum boldt-Universität zu Berlin
Prof. em. Dr. Dr. Karl Homann, Ludwig-M axim ilians-U niversität München
Prof. Dr. Yosef Kaplan, The Hebrew University of Jerusalem
Prof. Dr. Thomas Kaufmann, G eorg-August-Universität Göttingen
Dr. Yavuz Köse, Ludwig-M axim ilians-U niversität München
Prof. Dr. Dr. h.c. Gudrun Krämer, Freie Universität Berlin
Dr. Michael Kreutz, Universität Halle-W ittenberg
Dr. Roland Löffler, Herbert Quandt-Stiftung, Bad Hornburg
Prof. Dr. Wolfgang Loschelder, U niversität Potsdam
Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Maier, Ludwig-M axim ilians-U niversität
München
Rabbi Dr. Asher Meir, Research Director of the Business Ethics Center of
Jerusalem
Prof. em. Dr. Tilman Nagel, G eorg-August-Universität Göttingen
Juniorprof. Dr. Matthias Pohlig, Westfälische W ilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Maurus Reinkowski, Universität Basel
Prof. Dr. Mathias Rohe, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Fleinz Schilling, Hum boldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Reinhard Schulze, Universität Bern
Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Tamcke, G eorg-August-Universität Göttingen
Prof. Dr. Georges Tamer, Ohio State U niversity
Prof. em. Dr. Lucette Valensi, EHESS Paris
Prof. em. Dr. Dietmar W illoweit, Julius-M axim ilians-U niversität W ürzburg
Prof. Dr. Israel Jacob Yuval, The Hebrew U niversity of Jerusalem
Friedrich Wilhelm Graf
Der eine Gott in vielerlei Gestalt
D ie konfliktreiche P luralisierungsdyn am ik in den drei
m onotheistischen W eltreligionen
I.
V ielfalt ernst nehmen, oder: Vom Terror der religionsklassifikatorischen A llgem einbegriffe
„Judaism, Christianity, and Islam in the Course of H istory“: Die im Titel unserer
Konferenz benutzten Begriffe sind religionsklassifikatorische Kollektivsingulare,
die jeweils eine komplexe Geschichte haben. Allerdings sind ihre Begriffsge­
schichten erst in vagen Umrissen erkundet. Indem man ihre H istorizität abblen­
det, kann man sie essentialistisch, als begriffliche Repräsentationen relativ stabiler
religionskultureller Überlieferungen benutzen. Doch was Reinhart Koselleck für
„Geschichtliche Grundbegriffe“ wie „die Geschichte“, „die N ation“, „die Zu­
kunft“, „der Fortschritt“ etc. gezeigt hat,1 gilt auch für religionsbezogene Kollek­
tivsingulare: Ihr konkreter Bedeutungsgehalt ist bleibend umstritten, und in kon­
fliktreichen Deutungskämpfen suchen unterschiedliche religiöse und andere A k­
teure jeweils ihre partikulare Verwendungsweise als allgemeinverbindlich durch­
zusetzen, also etwa anderen vorzuschreiben, was denn das wesentlich Jüdische
oder Christliche sei. Permanent wird von konkurrierenden Akteuren der Bedeu­
tungsraum von Religionsbegriffen eingegrenzt oder gedehnt, verzerrt oder neu
vermessen. Protestantische wie römisch-katholische Theologen reden beispiels­
weise von „der Kirche“, aber dies bedeutet keineswegs, dass sie es auf dieselbe
Weise tun und „Kirche“ hier wie dort dasselbe meint. Die Kollektivsingulare „Ju­
dentum“, „Christentum“ und „Islam“ blenden die hohe innere Differenziertheit
innerhalb der drei monotheistischen Religionsfamilien aus und erlauben es weder,
die jeweils harten religionskulturellen, theologischen und moralischen Binnen­
konflikte in den Blick zu nehmen, noch die vielfältigen Austausch- wie Abgren­
zungsprozesse zwischen Religionen und Konfessionen zu sehen. Grenzen zw i­
schen Religions- und Konfessionskulturen sind nicht hermetisch und ein für alle
1 R einhard K oselleck: Vergangene Zukunft. Z ur Sem antik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt
am M ain 1979.
2
F riedrich W ilhelm Graf
Mal festgelegt, sondern durchlässig, hybride. Gehören Mormonen in die christ­
liche Religionsfamilie und Aleviten zum Islam?
Gerade in der religiösen Moderne seit 1800 lassen sich intensive Sym bolos­
mose, ausgiebiger Ritentransfer und theologischer Ideenraub beobachten. In ei­
nem durch Vielfalt geprägten religiösen Feld beobachten die Konkurrenten sich in
aller Regel sehr genau. Sie suchen vom anderen zu lernen und sich manche seiner
Glaubensprodukte anzueignen, um ihn zu übertrumpfen. Im „Osservatore Ro­
mano“, der Tageszeitung des Vatikans, haben die Wirtschaftswissenschaftlerinnen
Claudia Segre und Loretta Napoleoni Anfang März einen Text zur aktuellen
W eltwirtschaftskrise veröffentlicht.2 Die westliche Welt solle aus der globalen
Krise der Finanzmärkte lernen, künftig verstärkt auf islamische, dem Zinsverbot
entsprechende Finanzprodukte zu setzen. Der Heilige Stuhl empfiehlt uns scha­
riakonforme Finanzierungsmodelle. Die deutschsprachige „Islamische Zeitung“
hat dies als einen „intelligenten Vorschlag“ bezeichnet.3 Um gekehrt nehmen in
den Kontroversen über eine historisch-kritische Deutung des Korans muslimi­
sche Gelehrte Denkfiguren der römisch-katholischen M ariologie auf, etwa in der
Formel von der „unbefleckten Empfängnis“ des Korans als Gotteswort. Verstärk­
ter Austausch aber provoziert neue Grenzziehungen. Je hybrider die Grenzen
zwischen unterschiedlichen Religionskulturen mit Blick auf Sinnsymbole, theo­
logische Ideen und lebensbestimmende Kultpraktiken sind, desto stärker wächst
zumeist das Bedürfnis nach M arkierung neuer, scharfer Grenzen und harter Ex­
klusion. Sofern Rezeption von Anderem, Fremdem und intensivierte Interaktion
zur tendenziellen Entgrenzung führen und so die innere Konsistenz des überlie­
ferten Symbolsystems bedrohen, bedarf es erneuerter Identitätspräsentation
durch Ausschluss und Abgrenzung. Man kann mit Hegel von einer paradoxen
Gleichzeitigkeit von „Attraktion und Repulsion“, Rezeption und Abgrenzung
sprechen.4 Aus der Christentumsgeschichte der Bundesrepublik gibt es für solche
paradoxe Gleichzeitigkeit vielfältige Beispiele. Einerseits führen die beiden gro­
ßen Kirchen im Lande auf allen möglichen Ebenen gern und intensiv ökumeni­
sche Dialoge. Und andererseits betonen sie zugleich ihre konfessionsspezifische
Eigenständigkeit. Veröffentlichte die römische Glaubenskongregation die Erklä­
rung „Dominus Iesus“5, in der den protestantischen Kirchen wahres Kirchesein
abgesprochen wird, so reagierte die EKD in Gestalt ihres Ratsvorsitzenden damit,
dass nun von einer „Ökumene der Profile“ gesprochen wird.
1900 veröffentlichte Adolf Harnack sein „Wesen des Christentum s“ und pro­
vozierte damit Leo Baeck und andere jüdische Gelehrte dazu, nun analog das
2 C lau d ia Segre/Loretta N apoleoni: D alla finanza islam ica proposte e idee per l’O ccidente in
crisi. In: O sservatore Rom ano, 4. M ärz 2009, S. 3.
3 A nonym : N eue Regeln für die W irtschaft. In: Islam ische Zeitung, 5. M ärz 2009.
4 G eorg W ilhelm Friedrich Flegel: W issenschaft der L ogik I. In: ders.: W erke in zw anzig
Bänden, Bd. 5. H g. von Eva M oldenhauer/K arl M. M ichel. Frankfurt am M ain 1969,
S. 195 ff.
5 Jo sef K ardinal R atzinger u.a.: E rklärung D om inus Iesus. Über die E inzigkeit und H eils­
universalität Jesu C hristi und der Kirche. Stein am Rhein 2000.
Der eine Gott in vielerlei Gestalt
3
„Wesen des Judentum s“ zu rechtfertigen. Ernst Troeltsch schrieb dazu einen bald
berühmten Essay „Was h eiß t,Wesen des Christentum s“?“, in dem er in einer sub­
tilen epistemologischen Analyse des Wesensbegriffs zu zeigen versuchte, dass es
genau genommen kein Verständnis „historischer Ideenmächte ohne Einmengung
unserer eigenen Bewertungen“ geben könne, also in aller Wesensbestimmung ein
Element des Subjektiven, positioneil Konstruierten unvermeidlich sei und We­
sensbestimmung auf Wesensgestaltung hinauslaufe.6 Ein Wesen des Christentums
gibt es ebenso wenig wie ein Wesen des Judentums oder des Islams, aber es w ur­
den angesichts von Konkurrenz und Austausch zahlreiche normativ orientierte
Vorschläge formuliert, das je Eigene plastisch und gegenwartsbezogen darzustel­
len. Deshalb sprach der jüdisch agnostische Skeptiker Ludwig Marcuse, Assistent
Ernst Troeltschs in Berlin, gern von „den Christentüm ern“7. Analog muss man
von den „Judentümern“ oder vielen, höchst unterschiedlichen „jüdischen Lebens­
w elten“ oder den diversen „Islamen“ reden. Dringend gebotene Differenzierung
mache ich am Beispiel der derzeit in Deutschland präsenten Christentümer deut­
lich: W ir finden hier neben evangelischen Landeskirchen, römisch-katholischer
Kirche, diversen orthodoxen Kirchen, altkatholischer Kirche, anglikanischen Ge­
meinschaften, diversen evangelischen Freikirchen (wie Baptisten, Mennoniten
etc.) nun auch zahlreiche christliche Gemeinden, die von Einwanderern aus ande­
ren Kontinenten gegründet wurden. Alle diese christlichen Kirchen zeichnen sich
durch eine extrem hohe interne Pluralität aus - religionskulturell, theologisch,
ethisch, politisch.
Trotz aller religionspolitisch korrekten ökumenischen Verständigungsrhetorik
wächst schnell die innere religionskulturelle Differenzierung und Pluralisierung
in den diversen Christentümern: Um 1900 zählte man w eltweit rund 1800 christ­
liche Kirchen. Hundert Jahre später lassen sich w eltweit rund 33000 christliche
Kirchen nachweisen. „Das Christentum" w ird zunehmend zu einer Religionsfa­
milie des globalen Südens, und außerhalb Europas wächst es häufig sehr aggressiv.
Hohe Differenzierungsdynam ik prägt auch die beiden anderen monotheistischen
Religionsfamilien, in den letzten drei Jahrzehnten insbesondere zahlreiche m usli­
mische Lebenswelten. Die einflussreichsten neuen muslimischen Erweckungs­
und Reformbewegungen auf dem indischen Subkontinent, die Ende des 19. Jahr­
hunderts entstandene puristische Deoband-Bewegung und die Barelwi-Gegenbewegung, w ollen beide den nordindischen Islam von hinduistischen Einflüssen
reinigen, bekämpfen einander aber, wie Thomas K. Gugler in zahlreichen Studien
gezeigt hat, bis aufs Messer.8 W eltweit erleben w ir seit dem 19. Jahrhundert Pro­
6 Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des C hristen tum s“ ? In: ders.: G esam m elte Schriften,
Bd. 2: Zur religiösen Lage, R eligionsphilosophie und E thik. Tübingen 1913, S. 386-451.
7 Vgl. L udw ig M arcuse: Das Wesen der Christentüm er. In: K arlheinz D eschner (H g.): Was
halten Sie vom C hristentum ? 18 A ntw orten auf eine Um frage. M ünchen 1957, S. 110-115.
s Vgl. z.B . Thom as K. G ugler: Die pakistanische M issionsbew egung D a’w at-e Islam i. Die
B arelw i A n tw o rt auf die m issionarischen Bem ühungen der Tablighi Jam a’ar? In: A l-A in.
Z eitschrift der L eipziger A rabistik, Ju n i 2007, S. 26 f.; ders.: Die D är-al-’ulüm D eoband. Ein
4
Friedrich W ilhelm Graf
zesse der Detraditionalisierung, Entstandardisierung, Pluralisierung des R eligiö­
sen, nicht nur Schismen, Abspaltungen, interne Differenzierungen, sondern auch
das Auftreten ganz neuer Akteure, die überkommene religiöse Symbole in kreati­
ver Glaubenssynthese umformen. Da die meisten europäischen Wissenschaftler
hier primär den politischen Islamismus vor Augen haben, nenne ich ein weithin
ignoriertes christliches Beispiel: Aus einer 1906 formierten methodistischen
Kleingruppe in Los Angeles entstand in extrem kurzer Zeit die rasant wachsende
globale Massenbewegung der sog. „Pentecostals". Um 1970 waren in den Tausen­
den von Pfingstkirchen gerade sechs Prozent der Christen w eltweit organisiert,
aber 2006 ist ihr Anteil schon auf 30% gestiegen. Rund 450-500 Millionen
Pfingstler werden derzeit gezählt, und hinzu kommen ca. 150 M illionen Charismatiker in traditionellen christlichen Kirchen. Sonntag für Sonntag predigen 800
schwarzafrikanische protestantische Pfingstpfarrer im Großraum Paris. Aber w ir
reden immer nur über junge Muslime in den Vorstädten. Die religiöse Moderne ist
durch religionsgeschichtlich beispiellos schnelle Transformationen, erfolgreiche
missionarische Aufbrüche, Siegeszüge politisierter Religion geprägt. Gerade diese
hohe Veränderungsdynamik insbesondere in den Christentümern und den diver­
sen islamischen Lebenswelten provoziert innerhalb der drei monotheistischen
Religionsfamilien wie in ihren Außenbeziehungen viele Konflikte.
Vermutlich muss man alle religionsklassifikatorischen Allgemeinbegriffe radi­
kal dekonstruieren und sagen: Es „gibt“ genau genommen weder „Religionen“
noch „Konfessionen“, sondern nur fromme Menschen, die ihre individuelle R eli­
giosität, Glaubenssicht aufs Leben je nach Ort, Zeit und Umständen nun einmal
in den ihnen jeweils überlieferten, angebotenen symbolischen Sprachen entwerfen
und leben. „Jeder ist ein Sonderfall“ ist der Titel einer berühmten empirisch­
sozialwissenschaftlichen Glaubensstudie aus der Schweiz,9 und dies kann unter
Gegenwartsbedingungen als repräsentativ gelten: Viele religionsanalytische Indi­
katoren sprechen für die Vermutung, dass selbst unter sehr kirchenverbundenen
Christen weithin jeder (und natürlich auch jede) etwas ganz anderes glaubt.
Glaube ist eng ins Innenleben eines Menschen verwoben, bedeutet eine spezifi­
sche Form und Sprache lebensgeschichtlicher Selbstthematisierung, eben der das
Wissen um die eigene Endlichkeit, Sterblichkeit stärkenden Selbstreflexion sub
specie Dei. Religiöse Symbolsprachen sind insoweit hervorragend dazu geeignet,
individuelle Identität zu entwerfen. Sie dienen zugleich sozialen Gruppen dazu,
starke Identitäten zu begründen.
Den zutiefst individuellen Charakter religiösen Glaubens zu betonen, ist kein
postmoderner Theorie-Schnickschnack, sondern verdankt sich dem Interesse,
„Religion“ und speziell das Konfliktthema „Judentum, Christentum und Islam“
in einer Perspektive zu bedenken, die dem im aktuellen europäischen Religions­
R undgang durch das Zentrum islam ischer G elehrsam keit in Südasien: http://www.suedasien.
info/analysen/2555 (letzter Z ugriff am 27. 7. 2009).
9 Z ur D ebatte um die Studie vgl. Alfred Dubach/Roland J. C am piche (H g.): Jed er ein Son­
derfall? R eligion in der Schw eiz. Zürich, Basel 1993.
Der eine G ott in vielerlei Gestalt
5
diskurs immer wieder eingeklagten Reflexionsniveau entspricht. Fortwährend
kann man in europäischen Religionsdebatten hören, dass „der Islam“ keine Auf­
klärung kenne, unfähig zur Unterscheidung von Religion und Politik sei und
überhaupt die modernen Menschenrechte nicht anerkennen könne. Doch wenn
die Anerkennung des Menschenrechtsindividualismus als des normativen Kerns
der Verfassung die religionspolitische Messlatte ist, mit der die Integrationsfähig­
keit muslimischer Einwanderer gemessen w ird, dann muss man in der gelehrten
Religionsdiagnose, der Analyse der gegenwärtigen religiösen Lage, dem inneren
Gehalt des liberalen Menschenrechtsindividualismus entsprechen. Das heißt: Es
müssen individualisierungsfähige religionsanalytische Begriffe gebildet werden, in
denen sich der je eigene Glaube, der individuelle religiöse Llabitus eines Menschen
oder einer Gruppe von Menschen wahrnehmen lässt. In Sachen Vielfaltskompe­
tenz und Sensibilität für Andersheit lassen sich jedoch sowohl im akademischen
Diskurs als auch im politischen Betrieb erhebliche Defizite beobachten. Ich nenne
exemplarisch die von der Landeshauptstadt München veröffentlichte Religions­
statistik der Münchener Bürger und Bürgerinnen. Die Angaben lauten für den
31. Dezember 2008: 38,3% römisch-katholisch, 14,0% evangelisch, 0,3% israeli­
tisch, 47,4% Sonstige.10 Wer bei 47,4% Sonstigen, also fast der Hälfte der 1,3 M il­
lionen Münchener, keinen Differenzierungsbedarf empfindet, stellt nur die eigene
Ignoranz und Blindheit ins Netz. Er darf sich dann nicht wundern, wenn manche
fromme A kteure aus diesen 47,4% Sonstigen ihm eines Tages Probleme bereiten.
II. Der eine Gott im Plural, oder: Die m odernitätsspezifische
Expansion des divinalsem antischen U niversum s
Im europäischen Moderne-Diskurs wird „die M oderne“ gern als eine entzauberte
Welt beschrieben, gottfern und gottfremd, geprägt von methodischem Atheismus
in den Wissenschaften und elementarer Gottlosigkeit gerade der Intellektuellen.
In sprachgeschichtlichen Perspektiven lassen sich ganz andere Szenarien entwer­
fen: Seit dem 17. Jahrhundert dehnt sich das religionssemantische Universum und
hier speziell der Gottessprachkosmos kontinuierlich aus. Lexika und gelehrte En­
zyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts bieten zum Gottesbegriff ein bemer­
kenswert differenziertes, zugleich klar strukturiertes semantisches Feld. Johann
Christoph Adelung etwa kennt neben dem einen Gott der Juden, Christen und
Muslime noch „obere Götter“, „untere Götter“, „H albgötter“, „Him melsgötter“,
„H öllengötter“, „Waldgötter“ sowie auch „Göttinnen“. Belegt sind zudem im
Singular wie Plural „Abgott“ und „Götze“, jeweils mit zahlreichen Komposita,
sowie „H aupt“- und „Nebengötter“. Lexika und theologische Fachwörterbücher
10 Die Angaben finden sich auf der H om epage der Stadt M ünchen: http://www.m statistikm uenchen.de/them en/bevoelkerung/jahreszahlen/jahreszahlen_2008/pjt090101.pdf (letzter
Zugriff am 27. 7. 2009).
6
Friedrich W ilhelm Graf
des späten 18. und 19. Jahrhunderts bieten dann zahlreiche weitere Gottesbe­
griffe.11
Je mehr Götter, desto höher der Ordnungsbedarf. Das divinalsemantische Feld
wurde seit der Frühen Neuzeit nach überkommenen jüdischen wie christlichtheoiogischen Modellen der O f f e n b a r u n g s g e s c h i c h t e klar strukturiert. Analog
zur normativen Unterscheidung von v e r a r e lig io und r e lig io fa ls a stellte man clem
einen guten, biblisch sich offenbarenden Schöpfer und Erlöser die vielen Götter
der Heiden gegenüber, wobei dann, mit klassischen Argumentationsmustern der
t h e o l o g i a naturalis, der sich biblisch selbst offenbarende Gott mit dem Vernunft­
gott der Philosophen in eins gedacht wurde. Das Verhältnis zwischen Gott und
den Göttern beschrieb man im Sinne der radikalen Frem dgötterkritik der H ebräi­
schen Bibel: Die vielen Götter, etwa der Griechen wie der anderen Fleiden, sind
nur Phantasmen menschlicher Einbildungskraft, bloß gemachte, erdachte, erfun­
dene Götter, nur ein W erkzeug der Hände, Imaginationsartefakte, eben nicht Gott
selbst, sondern Abgötter und Götzen, bloße Idole, Sinnbilder. Der für die R eli­
gions- und Christentum skritik vieler Aufklärer zentrale Idoiatrie-Diskurs wird
entscheidend durch die Opposition von gemacht/gedacht einerseits und nicht­
gemacht/gegeben andererseits bestimmt. Auch entwarfen die gelehrten Religions­
deuter Wissensordnungen, in denen sie die innere Vielfalt der Götterwelt durch
zunächst in Frankreich und Großbritannien geprägte theotypologische Klassifi­
kationsbegriffe strukturierten: Monotheismus, Pantheismus, Panentheismus, Po­
lytheismus, aber auch Ditheismus und Tritheismus. Zur Götterunterscheidung
dienten zudem Begriffe wie „H ausgötter“, „Stammesgötter“, „Volksgötter“, „Na­
turgottheiten“, „N ationalgötter“, „Kriegsgötter“ und so weiter; später dann auch
„O rtsgötter“ und „Lokalgötter". Gelehrte Versuche, Ordnung ins dicht bevöl­
kerte Pantheon zu bringen, hatten immer eine starke normative Komponente und
blieben bis in feinste begriffliche Distinktionen hinein teleologischen Progress­
modellen verpflichtet: In Entwicklungsgeschichten der Religion, Evolutionsleh­
ren des Offenbarungsglaubens, Theophaniemodellen wurde der innere Gang des
menschlichen Wissens von Gott (zumeist) als Aufstieg aus vielen dunklen natur­
religiösen Anfängen zur reinen Geistigkeit des einen radikal transzendenten
Schöpfergottes konstruiert, oder anders: als Überwindung m ythischer Götterviel­
falt durch den einen Herrscher des Himmels und der Erden, der keine anderen
Götter neben sich toleriert, unduldsam unbedingte Verehrung einklagt und sich
nur als reiner, absoluter Geist materialisiert. Je naturferner, unsinnlich abstrakter,
geistiger, transzendenter, desto wirkmächtiger, durchsetzungsstärker ist Gott,
lautete die entscheidende theo-logische Voraussetzung dieser Glaubenshistorio­
graphie. Sie hatte immer ein fundamentales Problem mit dem Islam, weil dieser in
seiner Betonung der Transzendenz Allahs ja dem eigenen Geistigkeitskriterium
durchaus Genüge leistete.
11 Vgl. hier und im Folgenden Friedrich W ilhelm Graf: M issbrauchte Götter. Zum M en­
schenbilderstreit in der M oderne. M ünchen 2009, S. 3 6 ff.
Der eine Gott in vielerlei Gestalt
7
Den vielen idealistischen Versuchen, Vernunft in die Religionsgeschichten zu
bringen, standen die zahlreichen Remythisierungstendenzen entgegen, die sich in
Europa seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder beobachten lassen. Keine
Aufklärung ohne Romantik, keine Zweckrationalität ohne kompensatorische
W ertrationalität, keine Moderne ohne gleichursprüngliches Leiden an ihr. Schon
in den Religionsdiskursen einer ersten Sattelzeit um 1800 erhoben neben den reli­
gionskritisch Analysierenden viele neue Gottesgeistergriffene ihre Stimme. Exem­
plarisch genannt sei nur das sogenannte „Systemprogramm des Deutschen Idea­
lismus“ aus dem Jahr 1796: „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, P o ly­
theismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was w ir bedürfen.“12
Prozessen theologischer Rationalisierung korrespondierten immer wieder avant­
gardistische Resakralisierungsbewegungen, getragen von mehr oder weniger cha­
rismatischen Religionsintellektuellen, neuen Propheten und Frohboten für das
Ganzheitliche, Exaltierte. Zahlreiche neue Götter wanderten im Lauf des 19. Jah r­
hunderts ins Pantheon der europäischen Moderne ein, und die Expansion des divinalsemantischen Universums beschleunigte sich gerade in einer zweiten glau­
benssprachlichen Sattelzeit zwischen 1890 und 1930. „Ritualgötter“, „Wertegöt­
ter“, „Kampfgötter für M uskeljuden“, „Kontingenzgötter“, „Privatgötter“,
„Gruppengötter“, „Krisengötter“, „Geniegötter“, „Erdgötter“, „Raumgötter“
wurden nun ebenso beschworen und angebetet wie „Zeitgötter“, Temporalgötter
des absoluten, unbedingten Moments, und „Protestgötter der Leidenden“.13
„Gott hat nun Wohnungsnot“, erklärt ein expressionistischer Krisentheologe
M itte der 1920er Jahre im Rückgriff auf David Friedrich Strauß,14 „denn es drän­
geln sich nun so viele Götter auf engstem Raum .“ Zur forcierten „Götterkonkur­
renz“ trugen die zahllosen synthetischen Neugötter bei, die selbsternannte Lebenssinnproduzenten in ihren Glaubenslaboratorien aus Sakralelementen ganz
unterschiedlicher Symbolsprachen und Transzendenzcodes zusammenbastelten.
Auch in der Gegenwart lässt sich eine intensive Gottes- und Götterproduktion
beobachten.
III. Polym onotheism us, oder: D er eine G ott ist selbst
höchst vielfältig
Wie lässt sich die wachsende Theodiversität erklären? Dies ist eine sehr schwie­
rige, analytisch komplexe Frage, die das höchst kontrovers diskutierte Verhältnis
von internen und externen Faktoren in der Entwicklung von Religion betrifft.
11 G eorg W ilhelm Friedrich Hegel: [Das älteste System program m des deutschen Idealis­
mus]. In: ders.: W erke in zw an zig Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften. Frankfurt am M ain 1971,
S. 234-236, hier: S. 235 f.
13 Vgl. F riedrich W ilhelm Graf: A nnihilatio historiae? Theologische G eschichtsdiskurse in
der W eim arer R epublik. In: Jahrbuch des H istorischen Kollegs 2004, S. 49—81.
14 Vgl. David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Leipzig 1872, S. 109.
8
Friedrich W ilhelm Graf
Moderne G ötterkonjunktur dürfte sich entscheidend einem seit dem späten
18. Jahrhundert zu beobachtenden Wandel in der Kommunikation von Religion
verdanken. Neben traditionelle religiöse Akteure, wie etwa die Kirchen mit ihren
hauptberuflichen Gotteskündern oder die Synagogengemeinden mit ihren Rabbi­
nern, treten seit der Wende zum 19. Jahrhundert zahlreiche andere Diskursexper­
ten, die religiöse Botschaften verkünden: freie Schriftsteller, fromme Literaten,
Journalisten, Religionsintellektuelle, Laientheologen und die Sinnanbieter der
zahlreichen neureligiösen Gruppen und Reformbewegungen. Es entsteht ein reli­
giöser M arkt, auf dem konkurrierende Akteure ihre Sinnprodukte anbieten. Für
die Gegenwart ist entscheidend, dass sich grenzüberschreitende religiöse Ideen­
kommunikation vielfältig beschleunigt hat. Analog zur kapitalistischen Globali­
sierung lassen sich auch starke Tendenzen religiöser Globalisierung beobachten.
Im World Wide Web findet reger Gottesbildtausch statt: Elemente der einen
Theo-Software werden per „copy and paste“ in die Gottesbildsprachen eines
anderen Anbieters übertragen, oder es werden, wie immer schon im religiösen La­
boratorium einer sinnbedürftigen Moderne, ganz unterschiedliche Divinalstoffe
experimentierfreudig kombiniert, rekombiniert und hybridisiert.
Der Bonner Altphilologe Hermann Usener hat 1896 den Begriff der „Funk­
tionsgötter“ geprägt.15 In der Tat agieren viele moderne Götter als Spezialgötter
bestimmter sozialer Gruppen, die ihre je besonderen Sicherheitsbedürfnisse und
Identitätswünsche auf ihren starken Gott projizieren. Gerade Minderheiten - u n d
von denen gibt es in der Gegenwartsmoderne Tag für Tag mehr - imaginieren sich
ihre je eigenen Schutz- und Emanzipationsgötter, und die diversen Göttinnen des
Feminismus sind für starke Frauen gerade darin attraktiv, dass sie göttlich unbe­
dingtes Recht dem eigenen Geschlecht zukommen lassen. Viele der neuen Götter
fungieren als u n c e r ta in t y m a n a g er, die unter modernitätsspezifisch gesteigerter
Kontingenz ein umfassendes risk m a n a g e m e n t für das Leben insgesamt leisten sie erzeugen jene tragende Gewissheit, die sich in der Bindung an bloß endliche
Evidenzmächte nicht erschließen lässt. Zur Diversifikation des Götterangebots
tragen zudem die in modernen Gesellschaften fortwährend geführten Kultur­
kämpfe und M oraldiskurse bei. Ein w ichtiger Faktor in der Evolution moderner
Götter ist das Rechtssystem mit der Anerkennung eines vorstaatlichen Grund­
rechts auf Religionsfreiheit. Moderne Religionsfreiheit lässt sich nicht nur als „ad­
ministrativer Artenschutz“ 16 für Gottesglauben jeder nur denkbaren Couleur
deuten, entfaltet nicht nur eine Theotopschutzfunktion, sondern w irkt zugleich
als ein Verschiedenheitsgenerator.
Der eine Gott wird von unterschiedlichen Akteuren auf je eigene Weise ausge­
legt und vergegenwärtigt - dies lässt sich kurz verdeutlichen an einer Entwicklung
im modernen theologischen Diskurs, für deren Resultat ich den Begriff M ilieu­
15 Vgl. H erm ann U sener: Götternam en. Versuch einer Lehre von der religiösen B egriffsbil­
dung. Bonn 1896.
16 Jü rgen H aberm as: A nerkennungskäm pfe im dem okratischen R echtsstaat. In: C harles
T aylor (Flg.): M u ltikultu ralism us und die P o litik der A nerkennung. Frankfurt am M ain
1993, S. 147-196, hier: S. 173.
D er eine Gott in vielerlei Gestalt
9
t h e o l o g i e n vorschlage. Als Beispiel mag der Gottesideenmarkt in den USA dienen.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lässt sich hier nicht nur eine Hochkonjunk­
tur von importierten „Genitiv-Theologien“ beobachten: Theologie der Revolu­
tion, Theologie der Hoffnung, Theologie der Befreiung und so fort. Vielmehr ist
der Theologiebetrieb in den USA auch durch die erfolgreiche Produktion und
Vermarktung von klientelspezifischen, gruppenbezogenen theologischen Ent­
würfen geprägt: Feministische Theologie, black t h e o lo g y , n a t iv e a m er ic a n t h e o logy , g a y t h e o l o g y , q u e e r t h e o l o g y - die Aufzählung lässt sich verlängern. Theolo­
gien dieser A rt werden in allen konfessionellen M ilieus produziert, wodurch gott­
bezogene Vielfalt noch gesteigert wird: jüdische feministische Theologie, black
f e m i n i s t th eo lo g ies , latino q u e e r t h e o l o g i e s und lib era tio n t h e o l o g i e s für alle mögli­
chen anderen, die sich als marginalisiert erleben; und dies geschieht jeweils in spe­
zifisch römisch-katholischen oder protestantischen oder islamischen Sprachspielen. Alle reden dabei von dem einen Gott - aber jeder hat ihn oder, wie man jetzt
religionspolitisch korrekt sagen muss, auch: sie, die große M uttergöttin, privati­
siert, den eigenen Zwecken dienstbar gemacht. Durchgängig lässt sich dabei ein
signifikantes Strukturmuster der usurpierenden Gottesrede beobachten: Das U n­
bedingte wird vorrangig auf ein bestimmtes Bedingtes, die eigene Gruppe, das
spezifische M ilieu, meinen ganz unverwechselbaren Lebensentwurf bezogen. Der
eine Gott wird dann schwarz oder eine starke Frau oder mein Partner, bester
Freund etc., und insofern nimmt er vielerlei Gestalt an. Ein Großteil der theologi­
schen Literatur in den USA dient inzwischen der Produktion von solchen kontextuellen M ilieutheologien. Alle beten zu dem einen Gott, aber jeder und jede
nur zu seinem, ihrem bestimmten „eigenen G ott“ - so hat Ulrich Beck das in sei­
nem neuen Religionsbuch zu Recht genannt.17 Ein besonders schönes Beispiel für
diese Überführung Gottes in den Privatbesitz des Frommen hat Forest Whitaker,
ein schwarzer Schauspieler, bei der Oscar-Verleihung 2007 inszeniert. Seinen
Dank für den ihm verliehenen Oscar für die beste männliche H auptrolle adres­
sierte er an seinen guten hilfreichen Eigengott: „Und ich danke Gott dafür, dass
er immer an mich geglaubt hat“. Die Bedingung dafür ist freilich, dass man das
wissen kann.
Meine Leitbegriffe mögen zunächst paradox klingen: Pluraler Monotheismus
oder, ein wenig zu artifiziell, Polymonotheismus. In den drei großen monotheis­
tischen Religionsfamilien lassen sich in der Moderne, speziell in der Gegenwart,
Transformationsprozesse beobachten, die konventionellen Vorstellungen vom
Eingottglauben elementar zuwiderlaufen. Religiöse Symbolsprachen sind Spra­
chen der Vieldeutigkeit, geprägt durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz.
Hegel hat in seinen Berliner „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“ dem re­
ligiös vorstellenden Bewusstsein eine außerordentlich hohe Imaginationsmacht
zugeschrieben, eine nahezu unbegrenzte mythopoietische Produktivität, die Kraft
17 Vgl. U lrich Beck: Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem G ew altpotential
der Religionen. Frankfurt am M ain 2008.
10
Friedrich W ilhelm Graf
zum Phantastischen.18 Religiöse Symbolsprachen sind deshalb durch eine extrem
hohe Interpretationsoffenheit gekennzeichnet. Religiöser Sprache eignet ein spe­
zifischer Reichtum an Bildern, Metaphern, Erlösungsnarrativen und Transzen­
denzchiffren, die je nach Ort, Zeit und Interesse von Akteuren ganz unterschied­
lich angeeignet, ausgelegt, fortgeschrieben werden können. Religiöse Sprache
zeichnet sich zudem dadurch aus, dass metaempirischen, in gewissem Sinne fiktionalen Akteuren eine inkommensurabel starke Handlungskompetenz, Wirkmächtigkeit zuerkannt wird: Kein jüdisches Gebet ohne die Gewissheit von Jah­
wes Bundestreue, keine christlich-religiöse Sprache ohne Vorstellungen vom
schöpferischen Handeln Gottes oder dem inspirierenden Wirken des Heiligen
Geistes.
Gerade die elementare Vieldeutigkeit religiöser Vorstellungen ermöglicht es
Gruppen wie Individuen, in ihnen ihre je besonderen Weltsichten, Hoffnungen,
idealen Lebensordnungen, Vergemeinschaftungsvisionen und Heilserwartungen
auszudrücken. Die einen nehmen religiöse Kreationsmythen dafür in Anspruch,
bestimmte Institutionen als gottgegebene Schöpfungsordnungen, or d er s o f c r e a ­
tion zu sakralisieren. Andere entwerfen in schöpfungssprachlichem Duktus eine
Ethnoreligion, in der das eigene Volk durch Rückbindung an den Schöpfer, durch
Unm ittelbarkeit zu Gott heilige Unterschiedenheit von und Überlegenheit über
die anderen gewinnt. W ieder Andere konstruieren mit genau denselben Vorstel­
lungen ein universalistisches Ethos von Menschenwürde und verstaatlichen M en­
schenrechten, etwa im Rekurs auf die Im ago-D ei-Sym bolik der hebräischen Bi­
bel: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that
they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights [...].“ 19 Und in
den ökopietistischen Lebensreformbewegungen im Europa des späten 20. Jah r­
hunderts dient der christliche Schöpfergott als Moralverstärker, um uns zur „Be­
wahrung der Schöpfung“ anzuhalten: mit der m ilitärischen Selbstdifferenzierung
von Vater, Sohn und Heiligem Geist zur M ülltrennung im Dreitonnensystem.
Die Pluralisierung des einen Gottes lässt sich in systematisch-theologischer
K ritik gelebter Religion und speziell ihrer mythopoietischen Assimilationskraft
und Phantasmenproduktivität, mit Blick auf einen konsequenten Monotheismus
des radikal transzendenten Geistgottes als eine fatale, tendenziell neopagane Repartikularisierung des Universellen schlechthin, eben des einen Gottes deuten.
Aber dieser Vorgang der Milieuverengung Gottes ist religionsanalytisch, also
nicht theologisch normativ, auch produktiv, als eine höchst erfolgreiche Ü berle­
bensstrategie des Divinen zu interpretieren. Göttern, die den Menschen nichts
mehr bedeuten, werden bald die Totenmasken abgenommen,■es lässt sich in der
modernen Göttergeschichte auch viel divinales Artensterben beobachten. Als
M ilieugott aber ist Gott, sind die vielen Ein- und Eigengötter den Menschen so
18 V gl. G eorg W ilhelm Friedrich H egel: Vorlesungen über die Philosophie der R eligion. In:
ders.: W erke in zw an zig Bänden, Bd. 16/17. F rankfurt am M ain 1969.
19 Thom as Jefferson u. a.: The U nited States D eclaration of Independence. Philadelphia 1776,
Preamble.
Der eine Gott In vielerlei G estalt
11
unverzichtbar nahe, dass sie in ihren Herzen, ihrer Seele eine ideale ökologische
Nische gefunden haben. Gott überlebt als Gruppengott, weil er sich so gut an be­
stimmte sozialkulturelle Umwelten, Lebenswelten anpasst. Unter den Bedingun­
gen von Deodiversität funktioniert d i v i n e s e le ctio n nach dem Kriterium der A n­
passungselastizität und religionssymbolisch codierten Auslegungsflexibilität.
Wenn das so ist, dann kann man diese Remythologisierungstendenzen in einem
weiteren Gedankenschritt noch einmal theologisch konstruktiv deuten: als Ver­
such humaner, menschendienlicher M inim ierung des Transzendenzabstands, ganz
im Sinne der Sprachspiele der Christologie.
IV. D er eine Gott als G ewalttäter, oder: Der Streit um die
m osaische U nterscheidung
Wer von den Göttern redet, kann vom Monotheismusstreit nicht schweigen. In
den Prozessen der Expansion des divinalsemantischen Universums gerät der eine
Gott spätestens 1757 in Verdacht, nur ein barbarisch intolerantes Divinalmonster
zu sein. Immer wieder kritisieren die Aufklärer die brutale Gottesgewalt, die sich
in den Heiligen Schriften der Juden, Christen und Muslime findet. David Hume
hat in „ T he N atural H istory o f R elig io n “ den Monotheismen deshalb eine beson­
dere Nähe zu Intoleranz, Fanatismus und Glaubensterror zugeschrieben: „The
intolerance of almost all religions, which have maintained the unity of God, is as
remarkable as the contrary principle of polytheists.“20 Die „ i d o l a t e r s “, die Ver­
ehrer der vielen Götter, bewiesen in Glaubensvorstellungen und Kultpraktiken
einen „ to le r a tin g sp irit“, wohingegen die diversen Eingötterer nur Intoleranz, U n­
duldsamkeit und Hass aufs fremde Andere predigten.25 Diese Opposition vom
„guten Polytheism us“ und „schlechten“, weil Fanatismus und Glaubensgewalt
befördernden „Monotheismus“ prägt auch in der unmittelbaren Gegenwart noch
den gelehrten Eingott-Diskurs.
Jan Assmann hat im Konzept der sogenannten „Mosaischen Unterscheidung“
eine sehr übersichtliche Antithese zwischen dem einen, unbedingt fordernden,
exklusiven und rücksichtslosen Gott einerseits und den heiteren, einander im
Großen und Ganzen gut ertragenden vielen Göttern andererseits markiert.22
Retrospektiv gewendete Schmittianische Begriffe dienen dem Träger des Preises
des Historischen Kollegs dazu, den Götterkanon der Antike übersichtlich zu ord­
nen, in den Eingott hier und die Vielgötterei dort, und so zugleich religions­
politisches Orientierungswissen für eine Gegenwart abzuleiten, die sich insbeson­
20 David H um e: The N atural H isto ry of Religion. H g. von H ow ard E. Root. Palo A lto 1957,
S. 50.
21 Vgl. ebd., S. 49.
22 Vgl. Jan Assm ann: Die mosaische U nterscheidung oder der Preis des M onotheism us.
München 2003; sow ie ders.: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. M ün ­
chen 1998.
12
Friedrich W ilhelm Graf
dere in Gestalt des islamistischen Terrors mit neuem, gewaltförmigem Eingott­
glauben konfrontiert sieht. Jahwes erstes Gebot - „Ich bin der Herr, Dein Gott,
Du sollst keine anderen Götter haben neben m ir“ - laufe insoweit auf harten Got­
testerror hinaus, als die alten Israeliten hier Wahrheit allein für sich, den eigenen
Gott, reklamierten und den anderen und ihren vielen Göttern immer nur Irrtum,
Verblendung, Gottesferne zuschreiben könnten. Kein Zufall, dass ein eifernder
Jahwe exklusive Macht, Allmacht beanspruche und Strafe bis ins dritte und vierte
Glied ankündige, wenn sich sein auserwähltes Bundesvolk den goldenen Kälbern
der heidnischen U m welt zuwendet. Zu den leidvollen „Errungenschaften“ des
altisraelitischen Monotheismus gehöre, so Assmann, eine .„Hermeneutik der Dif­
ferenz“, die sich des Eigenen durch eine Vermessung des Abstands zum anderen
versichert“23. Assmanns M onotheism uskritik ist dann von anderen weniger kun­
digen Autoren, allen voran Peter Sloterdijk, fortgeschrieben worden.24 Sie ist bei
Historikern, Religionswissenschaftlern und Theologen aber auch auf scharfe Kri­
tik gestoßen.25
Assmanns Modell des Einen Gottes, der sich den vielen anderen entgegensetzt,
ist allzu übersichtlich, reduktionistisch. Es suggeriert falsche Alternativen und
leistet bei nicht wenigen Rezipienten mehr oder minder ungewollt der Feindbild­
produktion Vorschub. Inwieweit ihm hermeneutische Erschließungskraft für das
ganz alte Ä gypten eignet, vermag ich nicht zu beurteilen. Doch für die Erklärung
moderner Eingottgeschichten und zur Analyse der religiösen Lage der Gegenwart
ist es alles andere als hilfreich. Gewiss, diese Gegenwart kennt gewalttätigen M o­
notheismus. Und es duldet keinen Zweifel: Die Heiligen Schriften aller drei mo­
notheistischen Religionsfamilien sind sehr stark auf Gewaltnarrative bezogen. „Es
töte ein jeder selbst den Bruder, Freund und Nächsten [ ...] “, sagt Mose seinen Le­
viten im 2. Buch Mose, Kap. 32, Vers 27. Und das Neue Testament kennt nicht
nur Jesu Seligpreisung der Friedfertigen, sondern auch apokalyptische Zerstörungs- und Vernichtungsphantasmen in der Johannes-Offenbarung. Analoges gilt
für den oft kriegsfixierten Koran. Alle religiösen Symbolsprachen sind in ihren
Gottesvisionen bleibend ambivalent: Im Reden von Gott kann sein Ebenbild sich
seiner konstitutiven Endlichkeit innewerden und demütigen Respekt vor der Viel­
falt des Geschaffenen, gerade auch gegenüber sich ganz anders deutenden
menschlichen Mitgeschöpfen, einüben. Sie sind im gelingenden Fall Sprachen der
Reflexivitätssteigerung. Dieselben religiösen Symbole können aber auch Phan­
tasien der Selbstentgrenzung Vorschub leisten: Der Fromme muss sich nur mit
dem W illen Gottes gleichschalten, sich etwa ein exklusives Mandat seines Gottes
zu was auch immer zuschreiben, zu Mission oder Befreiung oder Reinigung der
Welt und Bekämpfung des Bösen, dann wird er potentiell schnell gewaltbereit eben weil er aufgrund seiner intimen Gottesnähe, Gottesauserwähltheit, Gottes­
23 Vgl. ebd., S. 38.
24 Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kam pf der drei M onotheism en. Frankfurt am M ain
2007.
25 Jan A s s m a n n hat diese K ontroverse i m A nhang seines Buches dokum entiert; vgl. A ss­
mann: M osaische U nterscheidung (w ie Anm. 22), S. 192-286.
Der eine Gott in vielerlei G estalt
13
plangewissheit sich mit hoher religionsmoralischer Stringenz über alles gegebene,
bloß positive, von den Menschen gemachte Recht hinwegzusetzen legitimiert
sieht.
Dennoch lässt sich kein konstitutiver Zusammenhang von Monotheismus und
Religionsgewalt konstruieren. Unsere Gegenwart wird auch von Glaubensterror
in polytheistischen Religionskulturen geprägt. Am 20. März 1995 übten M itglie­
der von A um -Shinrikyu, einer extrem synkretistischen apokalyptischen N eu­
sekte, um der gottgewollten Herbeiführung des kommenden Weltgerichts willen
einen Giftgasanschlag auf verschiedene Linien der Tokyoter U-Bahn aus, bei dem
12 Menschen durch Sarin-Dämpfe getötet und Tausende schwer verletzt wurden;
die Täter, zumeist beruflich erfolgreiche Mediziner, hatten 30000 Menschen
ermorden wollen, konnten aber das tödliche Gift nur zum Teil freisetzen. Auf
dem indischen Subkontinent bringen nationalistische Hindus immer wieder und
mit äußerster Brutalität Buddhisten und Christen um, und umgekehrt nicht w e­
nige Buddhisten auch Hindus. Assmann hingegen verknüpft seine Monotheis­
mus-Kritik mit dem religionsgeographischen M ythos, dass die Religionen des
Ostens, im Gegensatz zu den drei Monotheismen des Vorderen Orients, friedlie­
bend, gewaltlos, vielfaltsfähig seien. Karenina Kollmar-Paulenz, Religionswissen­
schaftlerin in Bern und eine Spezialistin für den tibetischen Buddhismus, attestiert
dem H eidelberger Ägyptologen deshalb eine „generelle Unkenntnis asiatischer
Religionen und asiatischer Religionsgeschichte“26. Dass der Buddhismus toleran­
ter, gewaltloser als etwa das Christentum oder der Islam sei, stimme weder für die
Vergangenheit noch für die Gegenwart. Buddhistische Mission sei mit Zwang,
Schwert und grausamer Verfolgung der nicht zur Konversion Bereiten betrieben
worden, und sowohl im Theravada-Buddhismus als auch in den diversen Mahayana-Buddhismen sei Gewaltanwendung oftmals im Rekurs auf buddhistische
ethische Lehren von der gebotenen Gewaltlosigkeit legitimiert worden: die eigene
Friedensethik als Gewaltgrund, w eil man die wahre Friedensreligion gegen die
falschen anderen durchsetzen muss. Auch in buddhistisch geprägten kulturellen
Räumen werden Identität und Alterität durch religiöse Unterscheidungen eta­
bliert. Was der Exklusivitätskritiker Assmann allein dem Monotheismus zu­
schreibt, gilt auch für polytheistische Religionskulturen.
Gelehrte sollen das Chaos der Phänomene gedanklich durchdringen und durch
prägnante Begriffe Verstehen ermöglichen. Auf Assmanns Bahnen hat Peter Slo­
terdijk 2007 den Versuch unternommen, den „Kampf der drei Monotheismen“ in
einer Begrifflichkeit zu deuten, die ebenso suggestiv wie religionspolitisch gefähr­
lich ist. Tritt der Gelehrte als öffentlicher Intellektueller auf, will er in Sachen Re­
ligion zumeist nicht nur deuten, sondern durch Deutung selbst religionskulturelle
W irkung entfalten. Sloterdijk untersucht zunächst die möglichen Aufstellungen
26 Vgl. Karenina K ollm ar-Paulenz: D er Buddhism us als G arant von „Frieden und R uh e“. Zu
religiösen L egitim ationsstrategien von G ew alt am Beispiel der tibetisch-buddhistischen M is­
sionierung der M ongolei im späten 16. Jahrhundert. In: Sonderheft „Buddhism us und G e­
w alt“ der Z eitschrift für Religionsw issenschaft 11 (2003), S. 185-207.
14
Friedrich W ilhelm Graf
und Frontlinien im sogenannten „Kampf der drei Monotheismen“27. M it hoher
Lust an ganz großer Übersichtlichkeit entwirft der neopagane Tabubrecher 18
mögliche monotheistische Kampfkonstellationen: erstens christlicher A nti-Ju­
daismus mit dem klassischen Gründungsdokument im Römerbrief des Paulus,
zweitens christlicher Anti-Islamismus. Nimmt man über die drei Monotheismen
hinaus ihre paganen, polytheistisch volksfrommen Umwelten hinzu, ist drittens
der christliche Anti-Paganismus zu nennen. Analoges gilt für Islam und Juden­
tum, also viertens islamischer Anti-Christianism us, fünftens islamischer A nti-Ju­
daismus, sechstens islamischer Anti-Paganismus, und analog fürs Judentum A b­
setzung von Christentum und Islam und Paganismus, das macht nun insgesamt
neun mögliche Glaubenskriegskonstellationen. Der Gotteskriegsbeobachter
schlägt nun vor, auch die internen Kämpfe einzubeziehen, also zehntens den
christlichen Anti-Christianism us, elftens den islamischen Anti-Islamismus und
zwölftens den jüdischen Anti-Judaism us. Da man mit situativen Zwei-gegeneinen-Bündnissen rechnen müsse, also Christen und Juden gegen Muslime, oder
Christen und Muslime gemeinsam gegen Juden kommen drei weitere Konstella­
tionen hinzu, macht fünfzehn. Und weil jeder der Monotheismen auch einen je
eigenen Atheismus provoziert habe, seien noch die Kämpfe zwischen Juden und
antijüdischen Atheisten sowie analog zwischen Christen und antichristlichen
Gottesleugnern und zwischen M uslimen und antiislamischen Allah-Gegnern einzubezielien. 18 inter- und intramonotheistische Ka m p ffe ld e t; das w irk t wohlgeordnet und übersichtlich. Aber Religionsdiagnose schlägt hier alsbald in Glau­
benskulturkampf um. In seiner Polemik gegen die drei monotheistischen „Front­
religionen“ und den ihnen jeweils eigenen Flabitus der „Weltnahme“ - auch das ist
ein Begriff C arl Schmitts - essentialisiert Sloterdijk den Eingottglauben zu einem
konstitutiv intoleranten, gewalttätigen Weltverhältnis: „Das Eiferertum hat seinen
logischen U rsprung im Herunterzählen auf die Eins, die nichts und niemanden
neben sich duldet. Diese Eins ist die M utter der Intoleranz."28 Sloterdijk kennt ein
„Wesen“ des Eingottglaubens, spricht mit Buber vom „Wesen des Judentum s“
und bedient sich in seinen Islam-Deutungen all jener Stereotypen, in denen das
Deuten des Eiferns nur zum Gegen-Eifern wird: der Islam als „Religion des Feld­
lagers“, der seine „elanvolle Ethik der Expansion“ nun in eine „Politik der
Kampffortpflanzung“ und „Elendsfortpflanzung“ überführt habe, mit „wachsende[r] Radikalisierung seiner eigenen überbordenden Jungmännerüberschüsse“29.
Dieser Jargon erinnert eher an islamophobe Kulturkampfschriften als an rational
distanzierte A nalyse der religiösen Gegenwartslage; exemplarisch genannt seien
für diesen populären islamophoben Diskurs nur die Kampfschriften „Die Wut
und der Stolz“ und „Die Kraft der Vernunft“ der bekannten italienischen Journa­
listin Oriana Fallaei,30 der ersten nicht irgendein politisches Amt bekleidenden
27 Vgl. hier und im Folgenden Peter Sloterdijk: Gottes Eifer (wie Anm. 24), S. 63-75.
28 Ebd., S. 136.
29 Vgl. ebd., S. 109 ff.
30 O riana Fallaei: Die W ut und der Stolz. M ünchen 2002; dies.: Die Kraft der Vernunft. M ü n ­
chen 2004.
Der eine Gott in vielerlei G estalt
15
Frau in der Geschichte des Vatikans, der die Ehre einer Privataudienz beim Papste
zuteil wurde - Benedikt XVI. weiß seine Zeichen zu setzen. Sloterdijk müsste sich
in seinem Schema bei der Kampfkonstellation Neopaganismus versus Islam verorten. Wer historisch denkt, zum radikalen Historisieren bereit ist, wird durch
seine Vorurteilsstereotypen nicht w irklich überrascht: Was immer im europäi­
schen Diskurs derzeit über oder gegen Muslime gesagt wird, haben europäische
und speziell deutsche Kulturprotestanten in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhun­
derts den Katholiken zugeschrieben. Dies hindert prominente Katholiken nicht
daran, nun ihrerseits solche Stereotypen gegen die Muslime zu wenden. Walter
Kardinal Kasper, Präsident des päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der
Christen, hat den Islam zur Problemreligion erklärt und den Anspruch erhoben,
dass das Christentum die Freiheit und unbedingte W ürde jedes einzelnen Men­
schen in die Welt gebracht habe.31 Wurden im 17. und 18. Jahrhundert Transzen­
denz und Geistigkeit als entscheidende Kriterien zur Unterscheidung, Evaluation
und Stufung von Religionen eingeführt, so heute nun Menschenrechtsfähigkeit
und Demokratienähe. Nur: Dann sieht es mit manchen Christentümern nicht sehr
gut aus. Viele orthodoxe Christentümer sind nur autoritäre Ethnoreligionen, die
individuelle Freiheitsrechte programmatisch ablehnen. Als Beispiel sei nur die
„Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche“ aus dem Jahr 2000 angeführt:
„Die E ntw icklung des Prinzips der G ew issensfreiheit ist ein Beleg dafür, daß heutzutage die
R eligion von einer ,öffentlichen“ zu einer ,privaten' A ngelegenheit des Menschen gew orden
ist. An sich ist diese E ntw icklung ein Beweis für den Zerfall des geistigen W ertesystem s, da­
für daß der überw iegende Teil der G esellschaft, der sich zum Prinzip der G ew issensfreiheit
bekennt, des Strebens nach H eil verlustig gegangen ist. U nd w enn der Staat ursprünglich als
Instrum ent der D urchsetzung des göttlichen Gesetzes in der G esellschaft gegründet w urde,
so verw andelt die G ew issensfreiheit den Staat endgültig in eine ausschließlich irdische, an
keine religiösen Verpflichtungen gebundene Institution.
Die D urchsetzung der G ew issensfreiheit als legales P rinzip verw eist auf den Verlust von re­
ligiösen Zielen und W erten in der G esellschaft, den massenhaften Abfall vorn G lauben sowie
der faktischen Indifferenz gegenüber dem A uftrag der Kirche und der Ü berw indung der
Sünde.“32
Ich komme zum Schluss, indem ich Jacques Derrida zitiere. Derrida hat 1993, also
lange vor dem 11. September 2001, erklärt: „Der Krieg um die ,Aneignung von Je­
rusalem“ ist heute der Weltkrieg. Er findet überall statt, er ist die Welt, er ist heute
die singuläre Figur ihres ,o u t - o f - jo i n t ‘- Seins.“33 Die Anspielung auf Hamlet kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rede vom religiösen Weltkrieg zwischen
den drei monotheistischen Weltreligionen analytisch falsch und deshalb religions­
politisch gefährlich ist. Selbst ein so kluger, skeptischer, abgewogen argumentie31 Vgl. das Interview m it W alter Kasper: „Der Islam ist eine andere K ultur“. In: D er Spiegel
38 (2006), S. 74f.
32 Die G rundlagen der Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche, M oskau A ugust 2000,
D eutsche Ü bersetzung mit Einführung und Kommentar. H g. von Josef Thesing/Rudolf
U ertz. Sankt A ugustin 2001, S. 18.
33 Jacques D errida: M arx’ Gespenster. D er Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue
Internationale. F rankfurt am M ain 1996, S. 9 9 f.
16
Friedrich W ilhelm Graf
render Intellektueller wie Wolf Lepenies hat in der Dankesrede anlässlich der Ver­
leihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006 davon gesprochen,
w ir befänden uns in einem „Weltbürgerkrieg“34. Nun darf man Religionsgewalt
nicht schönreden und muss fromme Terroristen auch dann miese, feige Mörder
nennen, wenn ihnen ihr eigener Gott ein gutes Gewissen verschafft. Aber man
muss sich als akademischer Religionsdeuter davor zu hüten versuchen, in der
Analyse von Religion selbst nur als Gotteskrieger zu agieren. Wer über Götter­
konkurrenz und Religionskonflikte redet, kann zw ar kein id ea l o b s e r v e r mit glei­
cher Distanz zu allen streitenden Parteien sein; denn jeder ist, unbeschadet seiner
möglichen individuellen Distanz zu Gottesglaube und organisierter Religion, im ­
mer schon durch eine bestimmte Kultur geprägt, deren Grundlagen ihrerseits
durch je eigene religiöse Überlieferungen mitbestimmt sind. Insoweit gibt es in
Sachen Religion keinen neutralen Ort des Denkens und Sehens, sondern jeder/
jede bleibt hier an seinen/ihren partikularen Sehepunkt gebunden. Dennoch kann
man hart dafür arbeiten, analytische Distanz zum religiösen Alltagskampf zu ge­
winnen. Und dies bedeutet, prägnanter zwischen politischen Interessen und M o­
tiven und genuin religiösen Elementen in Religionskonflikten zu unterscheiden.
In sehr vielen Konflikten dient das Religiöse nur dazu, Machtinteressen und poli­
tische Ziele auszudrücken und zu rechtfertigen. Und immer schon hat religiöse
Bildsprache zur Artikulation sozialen Protests und zur Kritik erlittener Marginalisierung und Exklusion gedient. Auch ist zu unterscheiden zwischen der R eligi­
onsgewalt innerhalb einer Religionsfamilie und der nach außen, also etwa dem
von bestimmten Muslimen gegen „das christliche Sündenbabel U SA “ gerichteten
Glaubensterrorismus. Die pauschalisierende Rede vom W eltbürgerkrieg um Jeru­
salem verhindert gebotene Differenzierung. Ich sehe nicht, dass sich Europa der­
zeit im ideen- oder religionspolitischen Kriegszustand mit Indien, China, Japan,
Australien oder Lateinamerika befindet. Wer „ o u t - o f - j o i n t “-Szenarien beschwört
und sehr schmittianisch vom W eltbürgerkrieg redet, trägt ungewollt nur zur Ver­
schärfung von Konflikten bei.
Je mehr Religion eine Gesellschaft durchdringt und religiöse Akteure ihre öf­
fentlichen Diskurse mitformen, desto wichtiger sind Institutionen religionsdis­
tanzierter autonomer Reflexion, In religiös verschärften Zeiten geht es nicht nur
um die Trennung von Staat und Kirchen, Politik und Gottesglaube, sondern ent­
scheidend auch um die Autonomie der Wissenschaft bzw. die Freiheit von For­
schung und Lehre. Universitäten sind im gelingenden Fall der Ort, an dem über
Gott und Gottesglaube auch sehr kritisch nachgedacht und geredet werden darf
und muss. Ich habe es deshalb als ein massives Versagen des Präsidiums der Lud­
wig-M axim ilians-Universität zu München erlebt, dass es Anfang Dezember 2008
dem wohl starken Druck einiger religiöser Akteure nachgegeben und die Katho­
lisch-Theologische Fakultät dieser Universität dazu gezwungen hat, drei muslimi­
sche Gottesgelehrte aus dem Iran wieder auszuladen, mit denen die katholischen
34 Vgl. W olf Lepenies: D ankesrede. In: Friedenspreis des D eutschen Buchhandels 2006. A n ­
sprachen aus A nlass der Verleihung. F rankfurt am M ain 2006, S. 27-42, hier: S. 32.
D er eine Gott in vielerlei G estalt
17
Kollegen über christliche und jüdische Gottesbilder reden und streiten wollten.
Ich ergreife nicht für diese schon nach München gereisten und dann wieder ausgeladenen Divinalfunktionäre und Islamgelehrten Partei. Aber zur Idee der U ni­
versität gehört es, dass nur sie selbst darüber entscheidet, wer hier, im Rahmen der
Rechtsordnung, reden darf, kann und soll. Jedenfalls sollte sie sich nicht zu einem
Ort herabwürdigen lassen, an dem nur Glaubenskulturkämpfe zwischen konkur­
rierenden Monotheismen fortgesetzt werden. Denn Gottesglaube ist zu wichtig,
um ihn nur den Frommen welcher religiösen, ethnischen oder politischen H er­
kunft auch immer zu überlassen. Er muss um der freien, offenen Gesellschaft der
vielen ganz Verschiedenes Denkenden und Glaubenden willen prägnant gedeutet,
kritisch analysiert und auf den divinaldiagnostischen Begriff gebracht werden.
Sektion 1
Religionsgelehrsam keit
S e k t io n sle it er : Professor Dr.
N ürnberg)
R eferen ten :
Professor Dr.
Professor Dr.
Professor Dr.
H artm ut Bobzin (Friedrieh-A lexander-U niversität ErlangenGeorges Tamer (O hio State U niversity)
Thom as E. Burm an (U n iversity of Tennessee)
C laude G illiot (U niversite de Provence/IREM AM )
Einführung
Der Islam, die jüngste der drei monotheistischen Religionen, ist nicht, wie man
lange meinte, in einem abgelegenen W inkel der Alten Welt entstanden. Und „das
Fortleben der Antike im Islam“ - so der Titel eines ausgezeichneten Buches von
Franz Rosenthal - begann nicht erst zu dem Zeitpunkt, als die arabischen Glau­
benskrieger die byzantinischen Provinzen in Syrien und Ägypten und das Zwei­
stromland erreichten. Vielmehr kann die Entstehung des Islam im Zusammen­
hang mit einer Reihe von synkretistischen Phänomenen der Spätantike gesehen
werden, oder anders formuliert: der Islam ist nicht ein radikaler Neuanfang nach
einer „Zeit der U nwissenheit“, so wie es die weitverbreitete M einung unter M us­
limen ist. Es ist zwar seit langem bekannt, dass der Koran einen wichtigen Anteil
jüdischen und christlichen Erbes enthält, aber bis heute mangelt es an einer schlüs­
sigen Erklärung dieser Tatsache, nicht jedoch an zuweilen kühnen Hypothesen.
Das freilich zeugt davon, dass in die Erforschung der Faktoren, die für die Entste­
hung des Islams maßgebend waren, neue Bewegung gekommen ist.
G e o r g e s T am er zeigt am Beispiel von Zeitvorstellungen auf, dass der Einfluss
spätantiken Denkens auf die arabische Geisteswelt, deren wichtigstes Zeugnis die
altarabische Dichtung ist, neu gewertet werden muss. Tamers Ansicht nach lässt
sich in der Dichtung einerseits die Auffassung von Zeit als unendlicher Dauer, die
aus endlichen sukzessiven Einheiten besteht, nachweisen; andererseits aber auch
die von aion, die als die unendlich drehende, aktiv auf die menschliche Existenz
Einfluss nehmende Zeit personifiziert wird. An deren Stelle tritt im Koran Gott.
Er ist Herr der Zeit insofern, als er Anfang und Ende der Zeit mit Schöpfung und
Gericht bestimmt, dazu aber bewirkt Gott die Zyklen, in denen die Zeit abläuft.
Entscheidend ist für Tamer, dass sich auf diese Weise im Koran dieselben hellenis­
20
H artm ut Bobzin
tischen Ideen finden, die auch für den Kontext bestimmend waren, in dem Juden­
tum und Christentum entstanden sind. Und das ist bis heute für die Beziehungen
zwischen den drei Religionen von Bedeutung, denn sie bauen alle auf dem glei­
chen kulturellen Grund.
C la u d e G illiot geht noch weiter und bringt den Koran und seine Entstehung in
Verbindung mit spätantiken synkretistischen Bewegungen. Wenngleich seine Zu­
rückführung des Namens Mohammed (ar. Muhammad) auf das mittelpersische
„Manvahmed“ als Bezeichnung für „die Seele des Paraklets oder des Propheten“
ebenso wie die Hypothese von einem engen Zusammenhang des frühen Islam mit
dem Manichäismus nicht unumstritten ist und weiterer Untermauerung bedarf, ist
die Aufdeckung der koranischen Zusammenhänge mit der als „Diatessaron“ be­
kannten syrischen Evangelienharmonie des Tatian (ca. 120 bis ca. 180) durchaus
plausibel. Sie fügt sich ein in den längst erkannten Zusammenhang mit dem syri­
schen monophysitischen Christentum, das auf der arabischen Halbinsel zur Zeit
Mohammeds präsent war. Die frühen Koranexegeten, deren Ansichten man aus
zahlreichen, in späteren Kommentaren aufbewahrten Traditionen kennt, liefern
überaus interessantes M aterial vor allem zur Stellung der „Muslime“ zu den im
Koran „Nasärä“ genannten Christen. Einige von ihnen halten die „M uslime“ für
die wahren Christen, was Gilliot dazu veranlasst, auf die von ihm an anderer Stelle
ausführlich dargelegte Hypothese von der „aramäischen“ Spur im Zusammen­
hang mit der Entstehung des Islam zu verweisen.
Dass die Ansichten christlicher Gelehrter über den Islam im M ittelalter nicht so
festgefügt oder, anders formuliert, vorurteilsgeprägt waren, wie man es oft liest,
zeigt T hom as E. B u rm a n an einem heute in der Bibliotheque Nationale in Paris
aufbewahrten arabischen Koranexemplar, das eine Reihe von mittellateinischen
Glossen aufweist, die allerdings von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen,
und zwar aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert. Es gelingt Burman, den
gelehrten und weit gereisten Florentiner Dominikaner Riccoldo da Monte di
Croce als Schreiber des umfangreicheren Teils der Glossen zu identifizieren, der
durch seine kritische Schrift gegen den Koran („Contra legem saracenorum“) be­
kannt geworden ist. Zu den Quellen dieser später weit verbreiteten und w irkungs­
mächtigen Schrift gehört die anonyme christliche Apologie „Liber denudationis
siue ostensionis aut patefaciens“ (Buch der Entblößung oder Bloßstellung oder
der Enthüller), die zahlreiche ziemlich genau übersetzte Koranzitate enthält, so­
wie die recht wörtliche, Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene Koranüberset­
zung des Markus von Toledo. Burman kann zeigen, in welch komplexem Wech­
selverhältnis für Riccoldo, einen hervorragenden Kenner des Arabischen und
auch der arabischen Korangelehrsamkeit, bei seiner Abfassung von „Contra le­
gem saracenorum“, die beiden lateinischen Quellen und der arabische Koran stan­
den. Die Wertung des Christlichen im Koran folgt bei diesem christlichen Gelehr­
ten natürlich anderen Maßstäben als das bei den frühislamischen Gelehrten der
Fall ist und führt dementsprechend auch zu anderen Schlussfolgerungen. Die bei­
derseits aufgeführten Argumente leben aber fort und sind auch aus dem heutigen
interreligiösen Dialog nicht wegzudenken.
H a rtm u t B obzin
Georges Tamer
Hellenistic Ideas of Time in the Koran1
The topic of my contribution might look to many readers strange in some ways.
To begin with, what can be considered Hellenistic in the Koran? From a tradi­
tional Islamic point of view, this scripture is a genuinely Arabic book which has
been verbally revealed directly to an illiterate prophet, without any foreign in­
fluences. C ultural or scientific facts the Koran refers to are, accordingly, no less
than signs of its miraculous nature. Due to its absolute divine origin, the Koran
does not therefore owe anything even to its immediate Arabic context: How could
it, then, include any kind of Hellenistic ideas?
Almost unanimously, competent historians who investigated the connection
between Islam and Hellenism did not recognize any connection between the
Koran itself and Greek-Hellenistic thought. Arnold Toynbee stated that clearly:
“Between the Koran and Hellenism no fusion was possible.”2 This celebrated
author of a universal history, which earned justified criticism at many points, later
declared that the roots of Islamic theology lay in a ground which is constituted of
an amalgam of Syriac and Hellenistic cultural elements.3 The Koran, however,
remains for him beyond the scope of this thesis. Indeed, until the last few decades,
it seemed to be paradigmatic for historians to exclude any relationship between
the Koran and Hellenism. M ajor experts in Islamic cultural history like Gustave
von Grunebaum could see the connection between Islam and Hellenism only as a
result of the translation of Greek works into Arabic.4 Even Carl Heinrich Becker,
1 I w ish to thank the H istorisches K olleg in M unich and Prof. Dr. H artm ut Bobzin (E r­
langen) for their kind invitation to present m y research results on the international confer­
ence “Ju daism , C hristian ity, and Islam in the C ourse of H isto ry: Exchange and C o n flicts”.
1 w ish also to thank Prof. Dr. Richard Davis (O hio State U niversity) for his extrem ely valuable
comments.
2 A rnold J. Toynbee: Greece. In: N evill Forbes et al. (eds.): The Balkans. A F listo ry of B ul­
garia, Serbia, Greece, R um ania, Turkey. O xford 1915, pp. 163-250, esp. p. 167.
3 A rnold Toynbee: A Stud y of H istory. Volume XII: R econsiderations. O xford 1961,
pp. 450 f., see further p. 403, p. 405, pp. 453 f. Cf. the critical discussion of Toynbee’s view s in:
Edw ard G argan (ed.): The Intent of Toynbee’s H istory. C hicago 1961, especially G ustave E.
von G runebaum ’s critique of T oynbee’s “concept of Islam ic C iv iliz atio n ”, pp. 97-110.
4 G ustave E. von G runebaum : C lassical Islam. A H isto ry 600-1258. C hicago 1970, p. 133. In
his book - idem: M edieval Islam: A Stu d y in C u ltu ral O rientation. C hicago 1953, pp. 313 f. von G runebaum indicates traces of H ellenistic tradition in pre-Islam ic A rabic poetry, leaving
the Koran outside the scope of such cultural influences. A lso Lenn E. G oodmann: The G reek
22
Georges Tamer
who exceeded any other orientalist in the 20th century in emphasizing the con­
tinuous existence of antiquity in Islam and was convinced that the Hellenistic
period was an important basis for Islam, believed it to be a distinctive character­
istic of the Koran that, in such a thoroughly Hellenized time, it remains quite nonHellenistic (“unhellenistisch”).5
Theodor Nöldeke, representing a high standard of Koranic scholarship in the
19th and 20th century, saw in the Koran sim ply a product of Muhammad’s naive
mind which clearly lacked abstraction and speculative thought.6 Differing from
him in this regard, some younger scholars claim for the Koran a Christian,7 or
even a specifically Syriac-Aram aic origin.8 Predom inantly interested not in cul­
tural but in religious history in a narrow sense, they claim Muhammad’s depen­
dence on the oriental Christian traditions which flourished in his environment.
For his part, John Wansbrough attempts to locate the origin of the Koran in a
“sectarian m ilieu”, but does not recognize any “pagan” Hellenistic elements in the
book of Muhammad.9
However, a new vein of scholarship has started in the last few decades to explain
the rise of Islam as a religious and political development within the broad context
of Late Antiquity. To my knowledge, it was Peter Brown who initiated a concept
of Late A ntiquity including the first two centuries of Islam .10 Based on the study
of archeological materials, Glen Bowersock went further to assume that “at least
Impact on A rabic L iterature. In: Alfred F elix Landon Beeston et al. (eds.): A rabic L iterature
to the End of the U m ayyad Period. C am bridge 1983, pp. 460-482, points to the Greek in­
fluence on old A rabic poetry, w ith out including the Koran. Cf. further Gustave E. v. G rune­
baum: Islam and H ellenism . In: Scientia 44 (1950), pp. 21-27; idem: The Sources of Islamic
C ivilizations. In: D er Islam 46 (1970), pp. 1-54. Both articles w ere republished as chapter I
and VII in: Gustave E. v. G runebaum : Islam and M edieval H ellenism . Social and C ultu ral
Perspectives. London 1976. O n his part, Johann Fück: H ellenism us und Islam. In: idem/
M anfred Fleischham m er (eds.): A rabische K ultur und Islam im M ittelalter. A usgew ählte
Schriften. W eim ar 1981, pp. 272-288, develops a discussion of A rabic H ellenism . H owever,
he sets the beginning of A rabic Flellenism w ith the U m ayyad prince Khälid Ibn Yazld (prob­
ab ly born ca. 48/668).
5 C arl H einrich Becker: Das Erbe der A ntike im O rient und O kzident. L eipzig 1931, p. 12.
6 Cf. Theodor N öldeke/Friedrich S ch w ally (eds.): Geschichte des Q oräns. E rster Teil: Uber
den U rsprung des Q oräns. L eip zig 1909. Rep. H ildesheim 2005, p. 4 and passim.
7 See for instance: G ünter L üling: U ber den U r-Q u r’än: A nsätze zu r R ekon struktio n vo ris­
lam ischer christlicher Strophenlieder im Q u r’än. Erlangen 1974. E nglish version: G ünter
L üling: C hallenge to Islam for R eform ation. The R ediscovery and reliable R econstruction of
a com prehensive pre-Islam ic C hristian H ym nal hidden in the Koran under earliest Islamic
Reinterpretations. M otilal 2003.
8 C hristoph Luxenberg: Die syro -aram äisch e Lesart des Koran. Ein Beitrag zu r Entschlüsse­
lung der K oransprache. Berlin 2000. English translation: C hristoph Luxenberg: The SyroA ram aic reading of the Koran. A contribution to the decoding of the language of the Koran.
Berlin 2007.
9 John W ansbrough: The sectarian m ilieu. C ontent and com position of Islam ic salvation h is­
tory. Forew ord, translations and expanded notes b y Gerald H aw ting. Am herst 2006.
10 Peter Brow n: The W orld of L ate A ntiquity. London 1971.
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
23
some of the roots of Islam were embedded” in the local Hellenism of A rabia.11
This thesis is asserted by Barbara Finster who convincingly showed common fea­
tures in architecture and iconography between the Arab Peninsula and the M edi­
terranean region.12 Her conclusions correspond with Garth Fowden’s view of
Islam as “rooted in antiquity, even consummating it”.13
Similar positions also became visible among scholars of Islamic studies. Re­
search has been done on the transmission of Greek-Roman pagan religious images
into the pre-Islamic pantheon.14 A strong voice for entrenching early Islamic his­
tory in Late A ntiquity is certainly A ziz al-A zm eh.15 Following up on Beckers
famous statement on Alexander the Great and M uhamm ad,16 al-Azmeh declares
“that the link between them arises from a Plellenistic and Late Antique d y­
nam ic”.17 He goes further to state that the Islamic empire “that of the U m ayyads
followed by the early Abbasids [...] emerged after Late A ntiquity had been de­
canted in Mecca, in western and north Arabia, in southern Syria, in southern
Iraq”.18 And a few scholars dealing with the history of the Koran and its literary
character19 have recently pointed out Greco-Roman names20 and - more impor­
tantly - Greek mythological elements21 in the Koran.22
u Glen W. Bow ersock: H ellenism in Late A n tiq u ity (= Jerom e lectures, Bd. 18). C am bridge
1990, p. 81; idem: Rom an A rabia. C am bridge, London 1983.
12 Barbara Finster: A rabien in der Spätantike. Ein Ü berblick über die kulturelle Situation der
H albinsel in der Zeit vor M uham m ad. In: Archäologischer A nzeiger (1996) 2, pp. 287-319.
G arth Fowden: Empire to C om m onw ealth. Consequences of M onotheism in Late A n­
tiquity. Princeton 1993, p. 10. Cf. H ugh Kennedy: Islam. In: Glen W. Bowersock/Peter
Brown/O leg G rabar (eds.): Late A ntiquity. A Guide to the postclassical W orld. C am bridge
M A 1999, pp. 219-237.
14 Susanne Krone: D ie altarabische G ottheit al-L ät (= H eidelberger orientalische Studien,
Bd. 23). F rankfurt am M ain et.al. 1992.
15 A ziz al-A zm eh: Rom e, N ew Rom e and Baghdad: P athw ays of Late A ntiquity. C arl Lleinrich Becker-Vorlesung der Fritz Thyssen Stiftung. Berlin 2008.
16 “O hne A lexander den Großen keine islam ische Z iv ilisatio n !”: C arl H einrich Becker: Der
Islam als Problem . In: idem: Islam studien. Vom W erden und Wesen der islam ischen Welt,
Bd. I. L eipzig 1924, pp. 1-23, esp. p. 16.
17 A l-A zm eh: Rome (see note 15), p. 61.
IS Ibid., p. 68.
19 I w ould first draw attention to lectures delivered by A ngelika N euw irth (FU Berlin), who
recently announced her forthcom ing publication: Der Koran als Text der Spätantike. Ein
europäischer Zugang.
20 G erd-R. Puin: Leuke K om e/Layka, die Arser/Ashäb al-R ass und andere vorislam ische
N am en im Koran: Ein Weg aus dem ‘D ickich t’ ? In: K arl-H einz O hlig/G erd-R. Puin (eds.):
Die dunklen Anfänge. N eue Forschungen zur Entstehung und frühen G eschichte des Islam.
Berlin 2005, pp. 317-340.
21 W alid Saleh: The E tym ological F allacy and Q uranic Studies: M uham m ad, Paradise and
Late A ntiquity. In: A ngelika N euw irth et al. (eds.): The Q u r’an in C ontext. H isto rical and
literary investigations into the Q uranic m ilieu (= Texts and studies on the Q u r’an, vol. 6).
Leiden 2010, interestin gly ascertains the existence of the G anym ede of O lym pus in the Ko­
ranic paradise.
22 Some contributions m a recent publication: G abriel Said R eynolds (ed.): The Q u r’än in its
24
Georges Tamer
These investigations make convincingly clear that the rise of Islam, along with
its foundational text, occurred in a late antique context. With only one excep­
tion,23 as far as I am aware of, they do not dig in the text to extract concrete H el­
lenistic - especially pagan - ideas in the Koran. Based on the conviction that the
birth of Islam and its early religious and political developments have to be under­
stood as late antique events and that Hellenism did not come to an end with the
Islamic conquests,24 but rather continued in the Arabic-Islam ic context, the pres­
ent author focuses on the investigation of ideas of time in pre-Islamic Arabic and
Greek poetry as well as in the Koran. The results of this extensive research have
been published elsewhere and w ill be briefly summarized in the present contri­
bution.25
Indeed, the Koran contains a rich terminology of temporal expressions w h i c h
establish an important component of its Weltanschauung. Some of these ex­
pressions are intrinsically linked to similar terms in pre-Islamic Arabic poetry,
which clearly display Hellenistic ideas of time. In the Koran, they are recalled and,
to a great extent, rejected. However, we can recognize in the Koran figurative de­
scriptions of changing periods, which are part of the im agery repertoire of Greek
poetry in Late Antiquity, dealing w ith aion, the personification of infinite time. In
the first section, I w ill present selected aspects of the perception of time in preIslamic Arabic poetry. O nly terms which are relevant for the present topic w ill be
considered. Especially the term d a h r w ill be focused on. Subsequently, after giving
a brief survey of aion, I w ill show that d a h r is a i o n ’s Arabic equivalent. In the
second section, the Koranic concept of d a h r w ill be discussed in order to elaborate
the deep connection between pre-Islamic Arabic poetry and the Koran; they share
the same cultural context which is part of the Hellenistic context of Late A n­
tiquity. Indigenous Hellenistic images of time in the Koran w ill then be presented.
M y concluding remarks w ill demonstrate the relevance of the topic for the rela­
tionship between Judaism , C hristianity and Islam.
H istorical C ontext. London, N ew York 2008, are dedicated to the religious, predom inantly
C hristian context of the late antique N ear East.
23 That is W alid Saleh’s aforem entioned paper (see note 21).
24 The most recent volum e of The C am bridge Ancient H isto ry m entioned the year 600 as “a
concluding date for the h isto ry of a n tiq u ity ” in the East, referring to the A rab conquests as
“having destroyed the political and cultural u n ity of the ancient w o rld ”: Averil Cameron/
B ryan W ard-Perkins/M ichael W h itb y (eds.): C am bridge A ncient H istory, vol. 14. C am ­
bridge 2000, pp. X V III-X IX .
25 Georges Tamer: 'Zeit und Gott. H ellenistische Z eitvorstellungen in der altarabischen
D ichtung und im Koran (= Studien zu r Geschichte und K ultur des islam ischen O rients,
Bd. 20). B erlin 2008.
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
25
I. The Perception of Time in pre-Islam ic A rabic Poetry
H ow can the perception of time, which is reflected in pre-Islamic Arabic poetry,
be described? The analysis of different time expressions in pre-Islamic Arabic
poems makes it clear that time is viewed here not only as a passive framework of
human action, but is predom inantly perceived as an active force that affects
human life in several w ays, m ostly negative. Time, as a whole, as w ell as its differ­
ent periods are said to do this. Two basic experiences seem to be of fundamental
importance for the perception of time in pre-Islamic Arabic poetry. The first ex­
perience is related to the human condition as such, and results from associating se­
quential appearances of natural phenomena, such as day and night, w ith a personal
awareness of aging and consequently, of coming ever closer to death. The second
experience pertains especially to the nomadic life which the Arabs apparently led
at that time, prim arily the experiencing of destruction as evidenced by the re­
mainders of camps. Confronted w ith remnants of tents of the Beloveds tribe
slow ly decaying over the years, the sorrowful poet cannot but make time respon­
sible for what he sees. Both observations, that aging inevitably leads to death, and
that dwellings are eventually destroyed by time, lead to a conception of time as an
active entity, working within the lives of individuals as well as within the history
of communities as an agent of corruption and obliteration.
However, in order to illustrate the main features of the conception of time in
pre-Islamic poetry, which has been captured and abandoned in the Koran, I will
present at first briefly the w ay in which pre-Islamic Arabic poets conceived of the
two short and antithetically alternating periods day and night. Then I w ill deal at
some length with the notion of endless time, d a h r, which is the most significant
idea of time in pre-Islamic Arabic poetry, and which bears striking Hellenistic fea­
tures.
1. D a y a n d N igh t in p r e - I s l a m i c A rabic P o e tr y
D ay (a l-n ahär) and night (a l-layl) are perhaps the most captivating natural phe­
nomena, each regularly following the other and clearly dividing time into a sphere
of action and a sphere of rest. Their easily predictable cycle is connected with the
regular interplay of light and darkness, often associated w ith mythological ideas.
They appear in pre-Islamic poetry in the reversed order “night and d a y ” accord­
ing to the lunar calendar in which the night precedes the day.26 Presumably due to
26 L ike the H ebrew s, the A rabs follow ed the lunar calendar. Cf. A bu al-R ayh än M uham m ad
Ibn Ahm ad al-B irünl: Kitäb a l-’äthär al-b äq iya 'an al-qurün al-k h äliya ( C h r o n o l o g i e o r i e n ­
t a l i s c h e r Völker). Ed. by Eduard Sachau. L eipzig 1878, p. 5; A ugust Fischer: ‘Tag und N ach t’
im A rabischen und die sem itische Tagesberechnung. In: A bhandlungen der PhilologischH istorischen Klasse der K öniglich Sächsischen Gesellschaft der 'W issenschaften 27 (1909),
pp. 739-758, esp. pp. 745-749, attributed the different sequence of d ay and night to an Ur-Semitic understanding of the day. H e assumed that the A rabs before Islam knew both lunar and
solar calculation of tim es. See further: A lo ys Sprenger: Ü ber den K alender der A raber vor
26
Georges Tamer
their perpetual return after short intervals, they are called in pre-Islam ic poetry
“a l - ja d i d ä n i ”, “the two alw ays-new ”, meaning that they are considered as being
steadily renewed. The female poet al-Khansä’ says that contrary to humans, the
ever changing day and night do not become corrupt:
“In their long alteration, the two alw ays-n ew ( a l- ja d i d ä n i ) know no destruction; it is only
humans who suffer co rrup tio n .”27
The always-new day and night appear to be constantly the same, although they
steadily change. However, they are described in a verse as source of destruction,
which even affects those who are safe from disease and death:
“Even if one is safe from being killed or sick, in the pleasure of life the two alw ays-n ew
( a l - ja d i d ä n i ) let him fade a w ay.”28
Personified as two young men of time (a l-fatayä ni, or f a t a y ä dahrin), day and
night are made responsible for evil in the world. The poet al-Näbigha al-Dhubyani has them blow people aw ay and interfere in the course of human life:
“The two you ng men (a l - f a t a y ä n i ) destroyed them soon; they both have a key ready for
every lo c k .”29
The famous poet al-A ‘shä expresses this belief succinctly by adducing a parallel­
ism between the affect of day and night, on the one hand, and the affect of
m a n ä y ä , i.e. the deadly fate, on the other side:
“Do not you see Irani and ‘ Ä d, how they have been brought to death by the night and the
day?
And before death ( a l - m a n ä y ä ) destroyed [the clan of] Tasm , w ith out that precaution could
have saved them .”30
In both verses, day and night are presented as an irresistibly devastating power
that, according to ancient Arab legends, made people vanish. Both periods stand
in their alternation for the all-annihilating time.
M oham m ed. In: Z eitschrift der M orgenländischen G esellschaft 13 (1859), pp. 134-175;
C aussin de Perceval: N otes on the Arab C alendar Before Islam. In: Islam ic C ulture 21 (1947),
pp. 135-153; Jaw w äd 'A ll: al-M ufassal fl tärlkh al-‘arab qabl al-Isläm , vol. VIII. Beirut 1971,
pp. 436-470; Yiannis M eim aris: The Arab (H ijra) era mentioned in G reek inscriptions and
p apyri from Palestine. In: G raeco-A rabica 3 (1984), pp. 177-189; Fazlur Rehm an Shaikh:
The Veracity of the A rab Pagan Calendar. In: Islam ic C ultu re 71 (1997), pp. 41-69; Fazal
Ahm ad Shamsi: Perceval’s Reconstruction of the pre-Islam ic A rab Calendar. In: Islamic
Studies 37 (1998), pp. 353-370.
27 A l-K hansä’: Dnvän. B eirut 1983, p. 93, line 3.
28 A l-B u h turi, A bu ‘U bäda al-W alld Ibn 'U b ayd : Kitäb al-ham äsa. Ed. by L uw ls Shaykhü.
Beirut 1910, no. 427, line 2.
29 BuhturT: H am äsa (see note 28), no. 428, line 3.
30 R udolf Gever: The D lw än of al-A ‘sha. London 1928, no. 53, line 1, line 4.
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
27
2. In fin ite Time
The above discussed verses demonstrate clearly that in old Arabic poetry time was
conceived of as an active power of destruction. However, the active nature of time
is most evident in pre-Islamic Arabic poetry when dealing with endless time. Three
terms with this meaning can be found there: al-a b a d , a l-z a m ä n and al-dahr. Ala b a d is seldom used. A l-zam än is a very old, common-Semitic and Persian word
for time, also used later in mathematical and philosophical w ritings as the cor­
relative of m ak än, space.31 The predom inantly used term for infinite time, as well
as the most prominent expression of time in pre-Islamic Arabic poetry is dahr. It
means not only infinite time, but also has the connotation of fate.32 D a h r has vari­
ous images which I would like to present in a concentrated form as follows.
1. In the first instance we meet d a h r as the space in time for negative, disastrous
actions. A shepherd says:
“I let m y sheep w ish that the w olf w ere their shepherd, and that they m ight never see me;
The w olf usually visits them once in the tim e ( d a h r) , but they see me every day, holding a
knife in m y h and.”33
Time is here not active, but it is the framework for evil deeds.
2. D a h r could also mean the lifetime of humans:
“Is the w hole of tim e (d a h r ) to be unloosing and binding-on of gear? W ill he never spare me,
or save me from utter exh austion ?”34
In this verse, time is connected to the nomadic w ay of life to move from place to
place searching for water and nourishment.
31 W illy H ärtner: Art. Zamän. In: E nzyklopaedie des Islam, vol. 4. Leiden 1934, pp. 1307—
1310. Cf. the useful philological discussion in C arl Brockelm ann: Lexicon syriacum . H alle
1928, Rep. H ildesheim 1982, p. 187; idem : G rundriss der vergleichenden G ram m atik der
sem itischen Sprachen, vol. I. Berlin 1908, p. 170, p. 280; L. Köhler/W. Baum gartner: H e­
bräisches und Aram äisches Lexicon zum A lten Testament, vol. I, Leiden 31967, p. 262; H ans
H einrich Schaeder: Der iranische Zeitgott und sein M ythos. In: Z eitschrift der M orgenlän­
dischen G esellschal t 95 (1941), pp. 268-299.
32 Several scholars w'ho have studied the topic of fate and fatalism in pre-Islam ic A rabic
poetry and early Islam ic theo lo gy tended to understand d a h r m ainly as fate. See e.g. W erner
C askel: Das Schicksal in der altarabischen Poesie. Beiträge zu r arabischen L iteratur- und zu r
allgem einen Religionsgeschichte (= M orgenländische Texte und Forschungen, Bd. 1,5). L eip ­
zig 1926; H elm er Ringgren: Studies in A rabic Fatalism . U ppsala, W iesbaden 1955; Josef van
Ess: Theologie und G esellschaft im 2. und 3. Jahrhundert H idschra. Eine Geschichte des re li­
giösen D enkens im Islam, vol. IV. Berlin 1997, p. 452. Based on thorough investigation of the
sources I came to the result that d a h r p rim arily means “tim e” w ith the connotation of fate.
See Tamer: Zeit (see note 25), pp. 54-68, pp. 75-78, pp. 124-138.
33 Abü Tam mäm/H abib Ibn Aws al-Ta’I: al-H am äsa. Ed. b y 'A b d u llah Ibn 'A b d al-R ahlm
'U savlän, 2 vols. R iad 1401 (H id jra)/ !981, 683/670. The num ber after the backslash refers to
the verses in Friedrich R ü c k e n s Germ an translation Friedrich R ückert (ed.): H am äsa oder
die ältesten arabischen Volkslieder, gesam m elt von Abu Tcmmäm, 2 vols. Ed. W olfdietrich
Fischer. G öttingen 2004.
34 Sir C harles Lyall: The MufaddalTyät. Vol. I: A rabic Text. O xford 1921; The MufaddalTyät.
Vol. II: Translation and Notes. O xford 1918, II, no. 76, line 37.
28
Georges Tamer
3. In the negative expression “m a d a h n ”, d a h r means custom and habit. Mutammim says:
“It is not m y w ont and lot (m 3 d a h r i ) to chant the praises of one who dies nor to utter the cry
of w oe beneath the pain that Fortune b rin g s”.35
With dahr, an intimate status is indicated, which rem arkably can be identified with
the most decisive factor of personal fate.
4. Furthermore, the word d a h r appears in the meaning of a certain generation of
people, as in the following verse from Ka'ab Ibn Zuhair, praising his father:
“I learned w hat Zuhair said to his generation (d a h r ) before m y tim e, even w hen he dies, his
sayings w ill rem ain eternal.”36
D a h r shares this very specific meaning w ith the etym ologically related Hebrew
word dor.37 The duration of d ö r is identical with the life duration of a certain
individual or a certain generation.38 In this sense, both terms emphasize clearly the
connection between life and time.
5. As indicated before, the vision of the remnants of camps leads to the convic­
tion that they are destroyed by time (d a h r) which also destroys all elements of
human existence. Time causes poverty and misery.39 It perpetrates extensive da­
mage upon humans and destroys hopes. Its effect is catastrophic.40 Therefore,
d a h r can be combined with words like “s u r i if ”, “h id th ä n ” or “n a w a i b ”, which all
mean evil accidents.41 In this case, d a h r is considered as an epitome of destruction.
6. The poets usually use d a h r synonym ously with death:
“N o sorrow, if d a h r separates us! D a h r w ill k ill every younglin g one d ay.”42
D a h r is in several cases combined w ith words like raib, a word meaning evil acci­
dents and usually associated w ith words for death, such as m aniin. A verse as­
cribed to al-Khansä’ is:
35 L yall: MufaddalTyät (see note 34), 67,1, m odified,
36 C ited in: S ayyid HanafT H asanayn: al-S h i'r al-jähil. C airo 1981, p. 106.
37 W ilhelm Gesenius: H ebräisches und Aram äisches H andw örterbuch über das Alte Testa­
ment. Ed. by H erbert Donner, vol. II. B erlin et al. 1995, p. 246; Brockelm ann: Lexicon (see
note 31), p. 147.
38 Botterw eck and Freedm an-Lundbom : Art. TN dör. In: Theologisches W örterbuch zum
A lten Testament, vol. II. Stuttgart 1984, pp. 182-194; H ebräisches und Aram äisches Lexicon
zum A lten Testament, vol. I. Leiden 1990, p. 209; G. Gerleman: A rt. t r dör G eneration. In:
Theologisches H andw örterbuch zum A lten Testament, vol. I. M unich 1984, pp. 443-445.
39 A l-K hansä1: DTwän (see note 27), p. 53, line 4, m ourns her k illed brother Sakhr rem em be­
ring his beneficial deeds: “E very poor man shall m ourn him , w hose belongings d a h r has de­
stro yed, and who fell victim to m isery and p overty.”
40 Abu Tammäm: H am äsa (see note 33), 255/251, 3: “I am not the first person w hom d a h r
and a brave tribal com m unity of pure origin inflicted a catastrophe.”
41 O n this usage s'ee R inggren: Studies (see note 32), pp. 35 f.; Toshihiko Izutsu: God and
M an in the Koran. Sem antics of the Koranic W eltanschauung. T okyo 1964, p. 126; Tamer:
Zeit (see note 25), pp. 5 9 f.
42 Labld Ibn R a b fa: DTwän. B eirut n. d., p. 30, 3,
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
29
“O , m y eye, w h y do not you cry in stream s, although time ( d a h r ) occasioned disquiet; time
(d a h r ) is alw ays d isq u ietin g.”43
7. A central image of d a h r is that of an endless chain of constantly recurring days
and nights. They exist only for an extrem ely short period and then they disappear
again letting all existing things vanish with them. Hätim al-Tä’I says:
"W hat is tim e (d a h r ) other than today, yesterd ay or tom orrow ? Thus tim e ( z a m ä n ) goes and
returns betw een us.
It brings the night back to us after the d ay; we do not remain, whereas tim e (d a h r ) docs not
come to an en d .”44
8. D a h r becomes personified. The poets ascribe to it the shape of a monster with
organs with which it can only hit and hurt. ‘Amr Ibn Qam i’a says:
“Tim e has made an onset and taken me as his object; and aforetim e he w as w ont to cast his
snares upon others like me.
H is arrow s hit me straight w hen they are shot at me, and m y shafts, O Sulaim a, turn aw ay
and miss h im .”45
D a h r plunders people, it is described as a merciless tyrant. It also has daughters
(b an dt al-d a h r); their evil is inevitable:
“Is there for a man any protector against the daughters of dahr? or is there any m agician w ho
can charm aw ay from him the fated doom of d eath ?”46
This reminds us of the Moira, the three goddesses in the Homeric epos and in later
Greek literature. Although they were m ainly responsible for the evil fate of man,
the Moira were also described as sources of both good and evil. B anät al-dahr,
however, seem to be deprived of any positive character.47
9. D a h r dominates the world and is the principle of arbitrary change in it. It is
able to change things not only in a negative, but in a positive w ay as weil:
“H ave not yo u seen that dahr is in tw o colors, and that it consists of two states: a happy and a
deceptive?”48
However, the ancient Arab poets tend to mention predom inantly its changing
things for the worse. Tarafa says:
“I see Life is a treasure dim inishing every night, and ail that the days a n d T i m e d i m i n i s h
ceases at last.”49
43 B uhturl: H am äsa (see note 28), 1443, 1.
44 H ätim al-Ta’T: DTwän. B eirut 1401 (H idjra)/1981, p. 34, lines 1 f.
45 Sir C harles Lyall. In: The Poem s of ‘A m r Son of QamT’ah. C am bridge 1919, p. 6, lines 8f.
46 Lyall: MufaddalTyät (see note 34), 80, 1, m odified.
47 See the discussion w ith several references in Tamer: Zeit (see note 25), pp. 6 6 f., esp.
n. 185.
48 A l-S u layk in al-Shanfarä: DTwän. Ed. b y Taläl H arb. Beirut 1996, p. 80, line 6.
49 A rthur John A rberry: The Seven Odes. The first C hap ter in A rabic L iterature. London
1957, p. 87.
30
Georges Tamer
To sum up: Pre-Islamic Arabic poetry portrays a perception of time as an irrevers­
ible endless process realized through regularly returning natural phenomena. It is
a predom inantly naturalistic understanding of time, which can be considered de­
terministic, causing life-pessimism. Dahr, the most prominent pre-Islamic Arabic
term for time, does not mean something eternal which exists beyond this world. It
is eternal, not e.g. in the Christian, but in the pagan sense of eternity which does
not go beyond the existence of the world. For the pre-Islamic Arab poets d a h r is
the time of the world; and like the world, it seems to have no beginning and no
end. The endlessness of d a h r is intricately involved with the endlessness of the
ever-returning periods, like day and night, the lunar cycle and the four seasons fol­
low upon each other regularly. Also generations of human beings follow upon
each other, obviously in a similar way. Children take the place of their parents,
people replace each other. Both observations, the natural and the anthropological,
lead to the development of a conception of time as linear, without a beginning and
an end, whose linearity is the sum of cycles which are limited in their duration and
recur a d infinitum . The concept of time in pre-Islamic Arabic poetry can thus be
called linear-cyclic.50 The alternation of days and nights is particularly conceived
of as an aimless process which continuously combines becoming and vanishing in
endless, rhythmic sequence. According to the poets, neither the course of time nor
the events it seems to bring can be escaped. An ominous constellation is formed in
pre-Islamic Arabic poetry, which is experienced in form of naturalistically estab­
lished and, therefore, involuntary submission to time.
3. D a h r and Aion
Aion is like d a h r an ambiguous term. However, the known history of its usage is
much longer than the history of its Arabic equivalent. The earliest evidence of this
enigmatic word can be found in Homer. It has experienced a wide range of devel­
opment in Greek literature, philosophy and mystic religions until Late Antiquity,
which resulted in a complex variety of meanings.51 Aion means the lifetime of an
50 E arly A rab philologists used to define d a h r as “the flow of nights and d a y s” (a l - d a h r
m u d l y a l - l a y l w a - 1 -n a h ä r ) (Slb aw ayh) and to equal its duration (or: perpetuity) to the d u ­
ration of the w orld ( a l - d a h r m u d d a t b a q a a l - d u n y ä d a ( i ) n q i d a i h ä ) (Ibn S ayyid ih ): Karim
Zakt H usäm al-D ln: al-Zam än al-daläll. C airo 1991, p. 115.
51 There is a vast am ount of sch olarly w ork on the them atic developm ent of the term AIQN
from the classical until the late antique period of G reek literature and philosophy. See es­
pecially the studies of G ünther Zuntz: A ion, Gott des Röm erreiches (= A bhandlungen der
H eidelberger Akadem ie der W issenschaften, P hilosophisch-historische Klasse, Jg. 1989,
2. A bh.). H eidelberg 1989; idem : AIQN im Röm erreich. Die archäologischen Zeugnisse
(= A bhandlungen der H eidelberger A kadem ie der W issenschaften. P hilosophisch-histo­
rische Klasse, Jg. 1991, 3. A bh.). H eidelberg 1991; idem: AIQN in der L iteratur der K aiser­
zeit (= W iener Studien, Beiheft 17). W ien 1992; H elena M aria Keizer: Life Tim e Eternity. A
Study of AIQN in G reek L iterature and Philosophy, the Septuagint and Philo. Am sterdam
Diss. 1999. For a com pact s u r v e y see Tamer: Zeit (see note 25), pp. 146-156, w ith an exten­
sive bibliography.
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
31
individual, a generation or the whole world. It means, thus, the entire time of an
existent being. Related to the world, its duration is limitless. Its infinity manifests
itself in the eternal recurrence of periods. In contrast to ch ro n o s, which is regarded
as time of static dormant infinity, a ion is the epitome of time which revolves in
cycles. This significant meaning of aion is captured on several mosaics from the
Mediterranean region.32 They s h o w aion as the personification of time holding the
wheel of time in his hand. A io n ’s wheel is not the complicated Zodiac circle, but
one that symbolizes the four seasons.53
It seems that the image of a ion as a bearded man with the wheel of time was
well-known in the Near East in Late A ntiquity.54 Particularly significant for our
purposes, however, is the poetic presentation of aion in the epic D ion ysiaca of
Nonnos of Panopolis, which is with its 48 books the longest surviving work of
ancient Greek poetry.3-'’ Nonnos’ city, today Akhrnim in Upper Egypt, was an im ­
portant center of Greek culture in the early Byzantine period. Nonnos lived in the
first half or around the middle of the 5th Century AD. Relying on a long, Greek
and local tradition, he presents a ion in the w ay he could present him at that time.
U tilizing rich metaphors, he describes a i o n , especially in the seventh book of the
D io n y sia ca , as the personification of the supreme concept of infinite time. N on­
nos’ impressive characterization of a ion can, therefore, be considered an illus­
trious example of a i o n ’s image in Greek Late A ntiquity.56
52 A ppealing im ages and precise descriptions of num erous m osaics w ith a i o n can be found
in: M arcel le G lay: A rt. Aion. In: Lexicon Iconographicum M ythologiae C lassicae, vol. 1/1.
M unich 1981, pp. 399-411 (descriptions), vol. 1/2. M unich 1981, pp. 310-319 (pictures). Par­
ticu larly on N orth A frican M osaics: David Parrish: A nnus-A ion in roman m osaics and
H enri Lavagne: R em arques sur l ’A ion de la m osaique de Sentinum . In: Yvette D uval (ed.):
M osaique Rom aine Tardive. Paris 1982, pp. 11-40.
This very im age of a i o n is n icely preserved in a mosaic recently found in Edessa, dating
back to the early or m iddle 4 th C en tu ry AD . See: Janine Balty/Frangoise Briquel C hatonnet:
N ouvelles m osaiques inscrites d ’O srhoene. In: M onum ents et M em oires de la Fondation
Eugene Piot 79 (2000), pp. 31-72; Glen W. Bow ersock: N otes on the N ew Edessene M osaic
of Prom etheus. In: Flyperboreus 7 (2001), pp. 411-416.
54 Cf. Doro Levi: Aion. In: H esperia 13 (1944), pp. 269-314.
35 N onm Panapolitani D ionysiaca. Recognovit R udolfus K eydell, 2 vols. B erlin 1959; N on­
nos: D ionysiaca. W ith an English translation by H. J. Rose and notes on text criticism b y L.
R. Lind. 3 vols. C am bridge 1940; Lexikon zu den D ionysiaka des N onnos. H g. von einer A r­
beitsgruppe des Instituts für Klassische P hilologie an der M artin-L uther-U niversität H alleW ittenberg unter Leitung von W erner Peek. Erste Lieferung (A -D ). Flildesheim 1968. On
the epic cf. Robert Shorrock: The C hallenge of Epic. A llusive Engagement in the D ionysiaca
of N onnos. Leiden et al. 2001; N eil H opkinson (ed.): Studies in the D ionysiaca of N onnus
(= C am bridge Philological Society, Supplem entary 17). C am bridge 1994.
56 S im ilar to the D ionysiaca, a rich description of a i o n is included in an in-verse-paraphrase
of the Gospel of John ascribed to N onnos. See on that: Joseph Golega: Studien über die
Evangeliendichtung des N onnos von Panapolis. Ein Beitrag zu r Geschichte der B ib eldich ­
tung im A ltertum . Breslau 1930. Scholars doubt seriously that N onnos could have been the
author of this w ork. See e.g. Glen Bow ersock: D ionysus as Epic H ero. In: H opkinson (ed.):
Studies (see note 55), pp. 156-166, esp. p. 158; David Frendo: W ine for im m ortality and
im m ortality for w ine: reflections on the D io nysiaka of N onnos of Panopolis. In: Elizabeth
Jeffreys (ed.): B yzan tin e Style, R eligion and C ivilization . In H onor of Sir Steven Runcim an.
32
Georges Tamer
In the following I w ill give a very brief summary of a i o n ’s image in the D io n y ­
siaca.57 Aion is eternal time, existing as long as Zeus and Gaia (the earth) exist.58 It
is the time of the cosmos and, thus, eternal like this.59 His eternity consists in an
eternal self-renewal through the perpetual return of natural phenomena.60 Aion is,
thus, in constant motion,61 always circulating in coils.62 A io n ’s cyclical move­
ments are those of the natural periods.63 In his cyclical motion, he always rejuve­
nates.64 Aion is powerful.65 His cyclical motion affects other existing beings.66 He
causes the conditions of human life to change.67 A io n ’s characteristics in Nonnos’
poetry reflect his power over the destiny of human beings.68 Aion appears among
the gods as a god w ith a special role.69
Another late antique Greek poet who was concerned w ith a ion is John of
Gaza.70 Probably in the middle of the 6th century AD, he wrote an ekphrasis to
describe a mythological painting that existed in the w inter bath of Gaza.71 He de­
scribes, among many other figures, a ion 72 Similar to Nonnos, the Gazan poet
presents aion as personified active eternity,73 constantly revolving,74 while causing
C am bridge 2006, pp. 275-289, esp. pp. 275-278. H ow ever, the im age of the personified a i o n
in the Paraphrase does not differ from his im age in the D ionysiaca and it coincides w ith a i o n ’s
illustrations on mosaics. The Paraphrase reflects obviously a i o n ’s im age as it was w id ely
spread in the M editerranean in Late A ntiquity. Therefore, it w ill be considered in the present
study.
57 For a com prehensive survey see Tamer: Zeit (see note 25), pp. 157-164.
58 D ionysiaca (see note 55), 7:10; 41:83.
59 Ibid., 7:22, 28:67; 38:90; 40:431; 41:178.
60 Ibid., 40:370-373.
61 Ibid., 7:39; 24:267.
62 Paraphrase, 10:102. In: C onrad Lackeit: A ion. Zeit und E w igkeit in Sprache und R eligion
der G riechen. Königsberg 1916, p. 89.
63 Paraphrase (see note 62), 8:93. Sim ilarly, the neo-platonic philosopher Proclos describes
a io n as un interru ptedly turning a w heel and sitting in it: Levi: A ion (see note 54), p. 291.
64 D ionysiaca (see note 55), 41:180ff. See also ibid., 7:23.
65 Ibid., 12:25.
66 Ibid., 3:255f.; 40:374.
67 Ibid., 24:267.
68 Ibid., 6:371 f.; 7:10; 24:266; 25:23; 38:80; 41:180.
69 Ibid., 7:23,36 f.
70 See for a more detailed account: Tamer: Zeit (see note 25), pp. 164-168.
71 U nder the Rom ans and later the B yzantines Gaza flourished and became an im portant
port city for trade and culture. See: G lanville D ow ney: Gaza in the E arly Sixth Century.
Norm an 1963; idem: Art. G aza. In: R ealiexikon für A ntike und C hristentum , vol. VIII.
Stuttgart 1972, col. 1123-1134; Flagith Sivan: Palestine in Late A ntiquity. O xford 2008, esp.
pp. 300-358. Gaza belonged presum ably to the custom ary m arkets of the A rabs before the
rise of Islam. See Patricia C rone: M eccan Trade and the R ise of Islam. Princeton 1987, p. 97,
pp. 109ff., pp. 118 f.
72 Paul F riedländer (ed.): Johannes von G aza and Paulus Silentiarius. Kunstbeschreibungen
justinianischer Zeit. L eipzig, Berlin 1912, lines 137-179.
73 Ibid., line 137.
74 Ibid., line 139.
H ellenistic Ideas of Tim e m the Koran
33
the periods to recurrently appear and disappear.73 Aion always runs forward in
linear alignment.76 He is mighty.77
The above very briefly presented poetic descriptions of aion as well as his figure
on several mosaics show clearly that a i o n , as eternal, cyclically rotating time, was
w idely known in the late antique Mediterranean. His name was “in the air”, very
much em otionally loaded.78 The cultural context of pre-Islamic Arabic poetry
was a part of the broader H ellenistic context of Late Antiquity. An area of archeo­
logical evidence for this is Q aryat al-Fau which has been brought to light only a
few decades ago.79 There, in the heart of the Arab Peninsula, excavations have un­
covered Greek motifs mixed with distinctive local features. Moreover, besides the
names of the famous pagan Arab gods, al-Lät, al-‘U zzä, Manät, Wadd and Shams,
as well as Kahl which presumably presents the local deity of the city, a small statue
of the Greek-Egyptian god Harpocrates is preserved.80
D a h r of the pre-Islamic Arabic poetry is a i o n ’s Arabic counterpart. Like aion,
d a h r is the lifetime of an individual, a generation or the world, i.e. the entire time
of an existent. Its infinity manifests itself in the eternal recurrence of periods. An
essential characteristic of d a h r is that it is the Arabic epitome of periodically revol­
ving time. It is not only phonetically related to the Arabic verb dära, derived from
the old Semitic root D-W-R. D ära means “to circle, to move in circles, to roll”. In
connection with the preposition ‘alä it means “to turn or to change somebody or
something”. We have just recognized all these meanings in dahr. Arabic lexico­
graphers usually describe d a h r as d a w w ä r , which means “rolling in an intensive
manner”.81 They emphasize with this attribute the intensive and lasting form of
change ascribed to dahr. Among all other Arabic expressions for time, this at­
tribute seems to be reserved only for dahr. It is also an essential quality of aion
consistently distinguishing it from c h r o n o s - at least since Pindar.82
The pre-Islamic Arabic perception of dahr, as it is transferred in poetry, has
been most likely developed under the influence of aion. The conception of time as
an acting entity is already a Greek idea which has been maintained in late antique
thought. Ancient Iranian influences on the formation of this concept could have
75 Ibid., line 137, line 143.
76 Ibid., line 141, line 143.
77 Ibid., line 148, line 168.
7S A rth ur D arby N ock: A Vision of M andulis Aion. In: The H arvard Theological R eview 27
(1934), pp. 53-104, esp. pp. 8 6 ff., p. 97; Glen Bow ersock: H ellenism in Late A ntiquity. Ann
A rbor 1990, pp. 26 ff.
79 A. R. al-A nsärv: Q aryat al-F au: A P ortrait of Pre-Islam ic C iv ilizatio n in Saudi A rabia.
Riad 1982.
80 Ibid., p. 23, p. 105.
81 Cf. Abü al-Fadl JamäluddTn M. Ibn M ukarram Ibn M anzür: Lisän al-'arab , 15 vols. Beirut
1955-1956; as w ell as Edw ard W. Lane: An A rabic-E nglish Lexicon. Book I, Part 1-8. L on­
don, E dinburgh 1863-1893, art. d -w -r and d-h-r.
82 Pindar: Odes. Ed. and trans. b y W illiam Race. C am bridge 1997, Py. 2:22 f.; Is. 3:18, 8:14;
Nem. 2:8; 3:75. Cf. M ichael Theunissen: Pindar. M enschenlos und W ende der Zeit. M ünchen
2000, p. 17, pp. 181 ff. passim; Enzo Degani: A IQ N . Bologna 2001, pp. 21 ff.
34
G eorges Tamer
played a significant role to give^icw its shape, as it was known in Late A ntiquity.83
However, the image of aion, with w'hich pre-Islamic Arabs came in touch, was
presumably Hellenistic-Greek coinage.84 A similar image of active endless time
does not exist in Hebrew or Syriac writings. For the same reason, it most probably
did not originally exist in the Arab imagination. If such an idea is established in
these traditions, it is most likely taken from Greek literature.85 D a h r is the seal of
the pre-Islamic Arabic Weltanschauung. This seal shows unmistakable Hellenistic
features. Old Arabic culture was a part of the Hellenistic culture which flourished
in the M iddle East before the rise of Islam.86 In the following, we will also observe
Hellenistic images preserved in the Koranic conception of time.
II. The K oranic conception of tim e
There is in the Koran a rich terminology for different aspects of time but it is used
“ad hoc and at random, in concrete and practical w ays, rather than system atically
or by methodically addressing abstract and theoretical notions of tim e”.87 Several
Arabic terms for specific times such as y a w m , day, sa a, hour, appear in the Koran
in different meanings.88 However, in order to achieve a comprehensive under­
standing of the Koranic conception of time one has to analyze it, basically, against
83 O n the com plex subject of old Iranian-G reek syncretism and the possible influence of
ideas related to the ancient Iranian god z u r v a n on the developm ent of the image of a i o n cf.
am ong others: H einrich F. ju n k er: U ber iranische Q uellen der hellenistischen Aion-V orstellung. In: Vorträge der B ibliothek W arburg. Ed. by F ritz Saxl. Vorträge 1921-1922. Reprint:
N endeln/Lichtenstein, L eipzig 1967, pp. 125-178; N ock: Vision (see note 78), pp. 79-82;
Robert C. Zaehner: Zurvan. A Zoroastrian Dilemma. O xford 1955, pp. 106 f.; M artin L. West:
E arly G reek Philosophy and the O rient. O xford 1971, pp. 30-33; Peter M. Fraser: Ptolem aic
A lexandria, vol. II. Q xford 1972, pp. 336-338; M ary Boyce: A H isto ry of Z oroastrianism ,
vol. I. Leiden 1975, vol. II, 1982, vol. I ll, 1991, esp. vol. I ll, pp. 321-337; Shaul Shaked: The
M yth of Zurvan: C osm ogony and Eschatology. In: Itham ar G runewald/Shaul Shaked/G uy
G. Stroum sa (eds.): M essiah and C hristos. Studies in the Jew ish O rigins of C hristian ity pre­
sented to David Flusser (= Texte und Studien zum antiken Judentum , Bd. 32). Tübingen
1992, pp. 219-240.
84 See the discussion of this topic in Tamer: Zeit (see note 25), pp. 138-145.
85 See Sacha Stern: Time and Progress in A ncient Judaism . O xford 2003, p. 91, pp. 101 ff.,
pp. 116 ff.
86 O n A rabia as part of the H ellenistic context in Late A n tiq uity see e.g.: Glen Bow ersock:
Rom an A rabia. C am bridge 1983; M aurice Sartre: The M iddle East under Rome. C am bridge
2005. P articu larly useful are the m aterials collected in Irfan ShahTd’s extensive w o rk in several
volum es on B yzantium and the A rabs in the 4 * , 5 * and 6th century, also Irfan Shahid: B yzan ­
tium and the Arabs. Late A ntiquity, 2 vols. Bruxelles 2006. O n the trade routes of the A rabs
see e.g. C rone: Meccan Trade (see note 71), pp. 114 ff.; Daniel T. Potts: Trans-A rabian Routes
of the Pre-Islam ic Period. In: Francis E. Peters (ed.): The A rabs and A rabia on the Eve of
Islam. A ldershot 1999, pp. 45-80.
87 G erhard Böw ering: Art. Time. In: E ncyclopaedia of the Q u r’an, vol. 5. Leiden 2006,
pp. 278-290, esp. p. 278.
88 The concept of time in the Koran is the main subject of m y current research.
H ellenistic Ideas of Time in the Koran
35
the background of the perception of time in pre-Islamic Arabic poetry. An im ­
portant link between the pre-Islamic and the Koranic conception of time is pro­
vided through the term dahr. Let us consider it, as it occurs in the Koran.
1. D a h r in the Koran
D a h r appears twice in the Koran. In one instance, the Koran testifies to the belief
of the Arabs in the unlimited power of d a h r as a cause of annihilation. It says in
Sürat a l-J ä th iya 45:24:
“And they say: There is nothing but our life in this w orld; we live and die and nothing
destroys us but time (d a h r), and they have no know ledge of that; they o n ly conjecture.”
In this verse, the perception of d a h r in pre-Islamic Arabic poetry is accurately
summarized. D a h r appears as an active entity and is closely related to w orldly life.
Such a conviction is rejected from a Koranic point of view. The unbelievers are
accused of ignorance. They believe exclusively in this life and that it is dominated
by dahr. In this teaching, there is no room for God. The verse continues demon­
strating a reversed sequence of death and life, contrary to the natural sequence of
life and death. This strange order could mean the chain of generations following
each other continuously and would perfectly correspond with the well-known
perception of d a h r in poetry, as a perpetual duration of recurring cycles.89 The
Koran continues by saying that it is God who gives life and death and who will
gather the people on the Day of Resurrection.90 Seemingly as a reaction to the
conviction of the Arabs, a transcendental point of view is now set in order to let
earthly time lose its effectiveness. According to the Koran, time has no power over
human beings.91
The term d a h r appears another time in the Koran in 76:1:
“Has there not been over man a long period of tim e (b ln u n m i n a l- d a h r i) , w hen he was
nothing (not even) m entioned?”
D a h r is here deprived of independent activity and means only time duration. The
period referred to in this verse is devoid of human beings. It can be considered as
preexisting time, human beings cannot say anything about it. This statement
clearly indicates that in the Koran the statements made by the pre-Islamic Arabs
about d a h r are indirectly devaluated. It is qualified by the word hin which means
no more than a limited duration of time. The time evoked here is stripped of its in­
finity and belongs to a time in the past which can no longer be remembered.92
S9 See the com m entaries of al-T abari, al-Z am akhshar! and Fakhr al-D ln al-R äzi on the verse.
90 Q 45:26: “Say: ‘God gives yo u life, then m akes you die, then H e shall gather yo u to the
D ay of R esurrection, w herein is no doubt, but most men do not know .’ ” (A rb e rry ’s trans­
lation).
91 For a detailed interpretation see Tamer: Zeit (see note 25), pp. 193-197.
92 On the interpretation of this verse see Tamer: Zeit (see note 25), pp. 192 f.; Gerhard
Böw ering: Ideas of Time in Persian Sufism . In: Iran 30 (1992), pp. 77-89, esp. pp. 77 f.
36
Georges Tamer
A closer look at the vocabulary of time in the Koran enables us to observe that
the concept of time predominant in pre-Islamic Arabic poetry has been consis­
tently annihilated there. The word z a m ä n for endless time does not appear in this
holy book. Similarly, its synonym a b ad, which also means eternity, does not exist
there as a substantive but rather only as an adverb (a b a d a n ) used 28 times in the
sense of an unlimited duration of a certain state. It is mostly (15 times) used in the
negative sense of “never” in connection w ith inner-worldly situations.93 In the
positive sense of “alw ays” and “continuously” it appears 13 times, mostly to de­
scribe the eternal duration of eschatological sanctions. The Koran lets us, thus,
understand that endless duration is only a matter of the Hereafter. Related to this
world it can be referred to only in a negative way.
According to the Koranic world view, time is unable to undertake any activity
or to be the substratum of actions. C ontrary to the perception of time in preIslamic Arabic poetry, time here is conceived of as passive. It definitely loses its
autonomy and becomes a transparent container of actions mainly those of God
who dominates time absolutely. In the Koran time is atomized, divided into peri­
ods that conform to physical laws and into restricted segments. If, previously, the
Arabs did not differentiate between time and destiny, both are now sharply disas­
sociated. Time is stripped of power, and destiny is identified with God’s w ill. It is
out of such a concept that the strict doctrine of predestination in Islam has devel­
oped. Compared to their image in pre-Islamic Arabic poetry, times do not operate
independently in the Koran, but rather execute God’s w ill strictly and without
exception. He is the real subject in time and history; He settles periods and terms
in absolute freedom and manipulates them at His will.
Nevertheless, it seems that the concept of powerful d a h r both as endless time
and comprehensive fate was in every mouth.94 In a number of sayings ascribed to
Prophet Muhammad, God forbids cursing d a h r,95 One of the important state­
ments in this regard says:
“God, He is sublim e and m ajestic, said: The son of Adam hurts M e w hen he curses da h r. For
I am dahr, in M y hand is the com m andm ent, and I let the night and the d ay follow each
other.”96
The immanent reason for God’s prohibition of man’s cursing d a h r is that actually
not dahr, but God is cursed, as He is the real creator of the actions for which d a h r
is cursed. Those actions are erroneously attributed to d a h r - which in reality,
according to the Islamic view, does not possess any power to fulfill any action. In
the statement, God, thus, deprives d a h r of power. However, in a remarkable w ay
” Q 2:95; 5:24; 9:83, 84, 108; 18:20, 35, 57; 24:4, 17, 21; 33:53; 48:12; 59:11; 62:7.
94 Josef van Ess: Zwischen P ladlt und Theologie. Studien zum Entstehen prädestinatianischer Ü berlieferung. B erlin 1975, p. 76.
95 Cf. in various hadlth-collections the special section “bäb lä tasubbü al-d ah r”, “don’t curse
dah r”.
96 M uham m ad Ibn Ism ä'il al-B ukh äri: al-Jäm i‘ al-sahlh, 6 vols. Ed. by M ustafa D. al-Baghä.
Beirut 1407 (H idjra)/1987, esp. vol. 4, p. 1825, Nr. 4549. O ther versions of this hadith are
m entioned in the hadTth-collections.
H ellenistic Ideas of Tim e in the Koran
37
this does not happen directly but through God’s self-identification with dahr. The
statement does not say that d a h r e.g. is nothing or does not affect human exist­
ence. On the contrary, the power that the pre-Islamic Arabs attributed to d a h r
remains unqualified.97 It is simply transmitted to God. He is the only omnipotent
power.
The aforementioned dictum ascribed to Muhammad (h adith) played an impor­
tant role in the development of the doctrine of predestination in Islam.98 Both the
Koranic verse referring to the belief of the Arabs before Islam and this saying
indicate how highly valued and feared d a h r was in the pre-Islamic Arabic period
and in the time following. In Islam it is replaced by Allah. Later, the Z ähiriyya, a
group of Moslem theologians, considered d a h r to be one of God’s names.99
2. G o d ’s T urning o f tim es
It is actually not surprising that the concept of time as personified and active is ab­
sent in the Koran. This is also the case in the Bible as well as in post-Biblical, Jew ­
ish and Christian literature. Nevertheless, as opposed to the Bible the Koran
makes time in its segmented forms directly subject to God’s power. Moreover, in
the Koran God has an immediate effect on specific times. His direct influence on a
particular time can be described as violent and is expressed through concrete, sen­
suously discernible descriptions. In this point the Koran is totally different from
the Bible. I propose that this specific character of the Koranic concept of time de­
veloped in reaction to the perception of time in pre-Islamic Arabia, as it is re­
flected in the poetry. The concrete discernable metaphors used to express this
issue clearly reflect Hellenistic images of time. Let me give an example.
D ay and night, a l-n a h ä r w a - l- la y l, or a l-la y l wa-1-nahär, as they are antitheti­
cally presented in the Koran according to the lunar calendar, are the periods that
can be most clearly perceived and separated from each other.100 As we have seen
before, due to their significant status for the Arabs, they are called in pre-Islamic
Arabic poetry “the two alw ays-new ” (a l-jad idä n i) and “the two young men” (alfa ta y ä n i).
The Koran perceives of the mutual movement of both antonyms, night and day.
They are distinguished from all other times by giving them the attribute of ’ä y a , 101
97 Sim ilar argum ents are in Franz Rosenthal: Sw eeter than Hope. C om plaint and H ope in
M edieval Islam. Leiden 1983, pp. 10ff.
9S See on that W illiam M. W att: Free W ill and Predestination in E arly Islam. London 1948;
R inggren: Studies (see note 32), pp. 86-126; idem: Islam ic Fatalism . In: H elm er R inggren
(ed.): Fatalistic Beliefs in Religion, F olklore, and L iterature. Stockholm 1967, pp. 52-62; van
Ess: H adtt (see note 94), pp. 75 ff.
99 Ignaz G oldziher: Die Zähiriten. Ihr L ehrsystem und ihre Geschichte. L eip zig 1884, p. 153.
100 Cf. Sebastian G ünther: Tag und Tageszeiten im Q u r’än. In: W alter Beltz/Sebastian
G ünther (eds.): Erlesenes. Sonderheft der H alleschen Beiträge zu r O rientw issenschaft an läß ­
lich des 19. Kongresses der U nion Europeenne d ’A rabisants et Islamisants (= Flallesche B ei­
träge zu r O rientw issenschaft, Bd. 25). H alle 1998, pp. 46-67.
101 Q 16:12. Plural ’ä y ä t in Q 2:164; 10:6, 67; 45:5.
38
Georges Tamer
sign, or ’ä y a ta in i, 102 two signs, of G ods absolute power to achieve wonders.
According to the Koran, God is the Creator of night and day.103 He created them
because of His mercy towards m ankind.104 He alone determines their measure
and purpose.105 Of course, they also give up their autonomy and are totally sub­
ordinated to God’s rule. Thus, they do not alternate independently; in the Koranic
language, this recurrent natural phenomenon occurs exclusively on the basis of
the passive suffering of God’s immediate work. He causes their change. The w ay
the Koran describes this is highly interesting. Besides the expression ik htiläj or
khilfa in the sense of reciprocal alternation106 five verbs are used in the Koran for
the change of night and day directly caused by G od.107 These verbs express ac­
tions which mean concrete movements that have a spatial, technical character.
They are:
1) “A wlaja", “intrude”, which is used 10 times to describe God’s intruding the
night into the day and the day into the night. The movement is spatial, and con­
cerns both periods which are sim ilarly conceived of as empty spaces.108
2) The verb “a g h s b ä ”, meaning “to let something cover something else”, char­
acterizes God’s rotation of nights and days as an act of covering. God causes the
night to cover the day.109
3) God says in the Koran that He pulls the day aw ay from the night. The verb
used is “sa la k h a ” which means “to skin”.110 God operates here like a hunter who
removes the upper, day-layer from the night.
4) It is also said that God turns night and day, what means that he lets each one
of these periods follow the other (yuqallib). This does not happen once but re­
peatedly; He creates night and day over and over again.111
5) God’s constant re-creation of night and day by rotating them is expressed
twice in the Koran with the verb “k a w w a r a ” which originally means “wrapping
of the turban”. God rotates times like the Arab who wraps his turban w ith rotat­
ing motions around his head.112
Thus, the Koran presents five movements to illustrate the natural phenomena of
the continuously changing day and night caused directly by God. The actions of
intruding, covering, skinning and rotating times, like the wrapping of the turban,
102 Q 17:12.
103 Q 2:164; 3:190; 21:33.
Q 28:73.
105 Q 73:20.
>06 Q 25:62.
107 T h ey occur in Late M eccan and M edinan passages, according to the chronology of the
Suras suggested by N öldeke/Schw ally (eds.): Geschichte (see note 6). The different chro­
nological orders of the Suras in W estern scholarship are m entioned in A.T. Welch/R. Paret/J.
D. Pearson: A rt. al-K ur’än. In: E ncyclopaedia of Islam, vol. 5. Leiden 22006, pp. 400-432.
•os Q 3:27. Cf. Q 22:61; 31:29; 35:13; 57:6.
109 Q 7:54.
110 Q 36:37.
111 Q 24:44.
112 Q 39:5.
H ellenistic Ideas of Tim e in the Koran
39
are not abstract actions, but rather simple, everyday actions common in the Bed­
ouin Arab society. They show how God “technically” creates the change of the
perpetual periods. The metaphor of turning the turban used for God’s changing
days and nights is particularly interesting. Modern Koran commentators interpret
it as a miraculous allusion to the turning of the globe, as revealed to Mohammad
and recorded in the Koran centuries before the natural sciences became aware of
this fact.113
Indeed, such an image cannot be found in the Bible. Whereas in the Bible there
is no immediate interference on the part of God to bring each period into being,
this specific Koranic idea of God’s creative rotation of times can easily be con­
nected to the activity of aion turning times. At least since the time of Pindar, aion
stands for the change of time because he rotates the times. As presented before,
this image of a ion is well elaborated in the poetry of Nonnos of Panopolis and
John of Gaza. These two Hellenistic poets who are historically and geographically
close to the context of pre-Islamic Arabic poetry and the Koran clearly show the
conception of time which predominated in the broad Mediterranean context of
Late A ntiquity and can also be observed in pre-Islamic Arabic poetry and in the
Koran. In pre-Islamic Arabic poetry, d a h r is perceived of as the endless recurring
of cyclical periods; in the Koran, it is God Who takes over the activity of rotating
the times. We read in another verse that God lets the clays change in a turning w ay
among men.114
Similar to the conception of time in pre-Islamic Arabic poetry, the concept of
time in the Koran is linear-cyclical. However, here God is the creator of the time
cycles. On a timeline illustrative of the Koranic concept of time, circles sym bolize
the constant recurrence of cycles, and vertical lines show how God each time takes
action to cause these cycles.
G o d ’s d i r e c t p r o d u c t i o n o f p e r i o d s
C reation
C Ü Ü Ü L X X X X X X X X X X X X J
The Last D a>
Time in the Koran is not infinite. It begins with the creation and ends with the
Day of Judgment which is called in the Koran “The Last D ay” ( a l- y a w m al’äkhir) . 115 Consequently, w orldly time loses its endlessness, as it was pictured in
1.3 M uham m ad 'A bdu/Rashld Ridä: TafsTr a l-Q u r’än al-hakTm al-m ushtahir bi-tafslr almanär, VIII. Kairo 1347 (Hidjra)/1928, p. 454; S ayyid Q utb: FT ziläl al-Q u r’än, VII, part 24.
Beirut S391 (H idjra)/1971, pp. 122 f.; M uham m ad bin M üsä Bäbä 'A m m i: M afhüm al-zam an
ti al-Q u r’än al-karlm . Beirut 2000, pp. 116 f.; M uham m ad Ism ä'll Ibrahim: al-Q u r’än w a-i‘jäzuhu al-'ilmT. Beirut o .J., p. 83.
114 Q 3:140: “tilka al-ayyäm nudäw ilhä bayn a l-n äs”, “[■■•] such days We deal out in turn
among m en”.
1.3 This expression appears in the Koran 26 tim es alm ost alw ays in M edinan passages, e.g.
Q 2:8; 3:114; 4:136; 5:59; 9:29.
40
Georges Tamer
pagan poetry, and becomes limited through cosmic deeds of God at the beginning
and the end of time. It is God Who causes the periods to change. This divine ac­
tivity is equivalent to a i o n ’s activity, as it is illustrated in late antique Greek poetry.
III. C oncluding Rem arks
What results from discovering Hellenistic ideas of time in the Koran for our
understanding of this scripture as well as for the interreligious exchange between
Judaism , C hristianity and Islam? Two main ideas can be very briefly presented in
conclusion.
The Koran and pre-Islamic Arabic poetry both share a common Arabic con­
text, undoubtedly bearing influential Hellenistic ideas. The term d a h r is the
Arabic equivalent of the Greek term aion. In the Koran and ha d lth , the most im ­
portant function of both a io n and dahr, that is to turn times and life circum ­
stances, is assigned to God. Both pre-Islamic Arabic poetry and the Koran reflect
Hellenistic cultural elements which are fused w ith indigenous local elements.
With both d a h r and the image of God rotating times like the Arab wrapping his
turban with rotating motions around his head, an Arabic form of Hellenism can
be recognized, which existed before Islam and continued to live in it. With the
Koran Hellenism did not come to its end, but it was resumed in a particular way.
Islam was, from the beginning, part of the broad Hellenistic context.
Finally, to recognize innate Hellenistic ideas in the Koran has extremely im ­
portant implications for the relations of Islam to the other monotheistic tradi­
tions. Hellenism was also the context, in which Judaism and C hristianity devel­
oped. Ascertaining the same context for Islam means that a cultural common
ground can be gained, which all three religions equally share and which is not li­
mited merely to religious consistencies. As their common cradle, the late antique
ground of Hellenism with its divergent - also pagan - components is neutral
enough to provide a solid background for a better assessment of the situation, in
which the rise and early development of Islam occurred.
A bstract
Der Koran beinhaltet ein reichhaltiges, vielschichtiges Zeitkonzept; seine kom­
plexe zeitbezogene Terminologie spiegelt einen wichtigen Teilaspekt der Weitsicht
des Korans wieder. Diese zeitbezogenen Ausdrücke sind untrennbar mit gleich­
artigen Begriffen der vorislamischen arabischen Poesie verbunden und finden ein
deutliches Vorbild in den hellenistischen Vorstellungen über die Zeit. Das herausragendste Beispiel stellt das arabische Wort d a h r dar, welches endlose Zeit, gleich­
zeitig aber auch Schicksal bedeutet. Die Bedeutung von d a h r im Korpus der vorislamischen arabischen Poesie weist auffällige Ähnlichkeiten mit der Bedeutung
H ellenistic Ideas of Tim e in the Koran
41
des griechischen Ausdrucks aion auf, wie er in der Poesie und den Mosaiken der
Spätantike Verwendung findet; in der Tat scheint es, dass d a h r aions arabische
Entsprechung ist.
Im Koran w ird das vorislamische Konzept von d a h r sowohl erläutert als auch
explizit zurückgewiesen. Allerdings wird im Koran und der frühen islamischen
Tradition die bildliche, metaphorische Beschreibung der sich verändernden Peri­
oden - die in griechischen Texten benutzt wird, um aions Transformation der
Zeiten herauszustellen - mit Gott in Verbindung gebracht, welcher im Koran die
Zeit beherrscht und durch seinen direkten Einfluss Veränderungen hervorruft.
Daraus w ird geschlossen, dass der Aufstieg des Islams und seiner textlichen
Grundlage, des Korans, als ein Ereignis der Spätantike gesehen werden muss.
Somit teilt der Islam, genau wie das Juden- und Christentum, den breiten kul­
turellen Kontext der Spätantike mit ihren vielfältigen heidnischen Elementen.
Thomas E. Burman
Wie ein italienischer Dominikanermönch
seinen arabischen Koran las1
Die Tatsache, dass bisher noch niemand ein ernsthaftes Studium des in der Pariser
Bibliotheque Nationale de France befindlichen Ms. Arabe 384 unternommen hat,
ist ein Zeichen dafür, wie weit die M ediävistik von der Erforschung selbst einer
der bemerkenswertesten, aus dem M ittelalter überlieferten Quellen entfernt ist.
Dieses M anuskript, eine schöne, aber keineswegs kunstvolle Kopie des Korans in
Arabisch, wurde vermutlich im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert in Ä gyp ­
ten oder Syrien hergestellt. Es befindet sich seit 1622 in der heutigen französischen
N ationalbibliothek und ist seit dem späten 19. Jahrhundert gut katalogisiert.
Ebenso lange bekannt ist die bemerkenswerte Tatsache, und darum geht es hier,
dass es Dutzende von Randbemerkungen in M ittellatein enthält, die nach Angabe
eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts von einem „römisch-katholischen Geist­
lichen mit perfekten Kenntnissen des Korans und des Arabischen" verfasst w ur­
den.2 Dies wurde kürzlich von Frangois Deroche in seinem ausgezeichneten Ka­
talog arabischer Manuskripte in der Bibliotheque Nationale erneut bestätigt. Er
stellt dabei fest, dass sich z w e i lateinische Handschriften in den M arginalien
erkennen lassen, die beide aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert stam­
men.3 In jedem Fall ist dieses Koranmanuskript eine wichtige und vielleicht sogar
grundlegende Quelle für das Verständnis der Auseinandersetzung lateinisch­
christlicher Gelehrter mit dem heiligen Buch des Islams. Doch ist an einer Hand
abzuzählen, wie viele Hinweise darauf in Studien zu diesem Themenkreis enthal­
ten sind.4
1 D er B eitrag ist im Jah r 2009 auch auf Englisch erschienen in: Dante Studies 125 (2007),
S. 93-109. Die Ü bersetzung aus dem E nglischen hat Rosem arie Greenman besorgt.
2 W illiam M cG uckin DeSlane: C atalogue des m anuscripts arabes, 2 Bde. Paris 1883-95. Siehe
auch C atalogus codicum m anuscriptorum Bibliothecae Regiae. Bd. 1: Pars prim a com plectans codices m anuscriptos orientales. Paris 1739.
3 Francois D eroche: C atalogue des m anuscrits arabes. D euxiem e partie, M anuscrits m usulmans, Bd. 1, 2. Les m anuscrits du coran du M aghreb a Plnsuhnde. Paris 1985, S. 53.
4 M eines W issens bin ich der einzige Forscher, der dies erw ähnt, und zw ar hauptsächlich
nicht im Zusam m enhang mit seinen lateinischen A nm erkungen. Siehe Thomas E. Burm an:
Polem ic, Philology, and Am bivalence. R eading the Q u r’an in L atin C hristendom . In: Jo urnal
of Islam ic Studies 15 (2004) 2, S. 181-209, hier: S. 191; und Thom as E. Burman: R eading the
Q u r’an in Latin C hristendom , 1140-1560. Philadelphia 2007, S. 81, S. 212, S. 286.
44
Thom as E. Burman
Im Folgenden sind die Ergebnisse meiner ersten Prüfung dieses kostbaren M a­
nuskripts dargelegt. Ich konzentriere mich dabei auf die Frage, die sich mir auf­
drängte, als ich vor zehn Jahren zum ersten Mal den Blick auf diesen arabischen
Koran und seine lateinischen M arginalien warf: Wer w a r e n diese mittelalterlichen
lateinischen Gelehrten, die solche fortgeschrittenen Kenntnisse des Korans und
der arabischen Sprache besaßen? Meine ursprüngliche Vermutung, eine dieser
Handschriften sei die des gelehrten und weit gereisten Dominikanermönchs R ic­
coldo da Monte di Croce (fl. 1267-1316), hat sich bestätigt. Die Identität der
anderen Handschrift entzieht sich jedoch noch immer unserer Kenntnis.5 Im A n­
schluss an den Nachweis, dass Riccoldo der Verfasser des zweiten, sehr viel um­
fangreicheren M arginaliensatzes war, und dass er sich in seiner weit verbreiteten
Schrift C on tra l e g e m s a r a c e n o r u m (Gegen die Religion der Muslime) vielfach auf
das Ms. Arabe 384 bezog, konzentrieren sich meine Ausführungen darauf, was
uns diese Bemerkungen zu seiner Lesart des Korans sagen. Unter anderem wird
sich zeigen, dass er zwar die heilige Schrift des Islams mühelos auf Arabisch lesen
konnte, jedoch häufig parallel dazu eine von einem Christen aus al-Andalus ver­
fasste, ältere christliche Apologie mit dem Titel L iber d e n u d a tio n is siu e osten sion is
a u t p a t e fa c ie n s (Das Buch der Entblößung oder Bloßstellung oder der Enthüller)
sowie die lateinische Koranübersetzung des M arkus von Toledo aus dem frühen
13. Jahrhundert zu Rate zog. All dies zeigt nicht nur die Abhängigkeit dieses ge­
lehrten Dominikaners von Ideen und Texten spanischen Ursprungs, sondern auch
das faszinierende Paradoxon eines hochgebildeten Gelehrten mit unmittelbarer
Islam-Erfahrung und fundierten Kenntnissen des Arabischen, der dennoch seine
Sachkenntnis sorgfältig durch eine hergebrachte Tradition der christlichen Lesart
des Korans filterte. Durch das Nachdenken über diesen Filterprozess ergeben sich
interessante, neue wissenschaftliche Fragestellungen hinsichtlich der m ittelalterli­
chen Tradition der Disputation über Religion, auf die ich abschließend eingehe.
Die z w e i Sätze lateinischer M arginalien in diesem Koranmanuskript sind leicht
zu unterscheiden. Der eine Satz ist in einer größeren Handschrift verfasst, und
zwar in derselben, die auch die Paginierung zu diesem Kodex hinzufügte und au­
ßerdem auf fol. lv und 2r eine Liste koranischer Lehren schrieb, ähnlich den Lis5 Es besteht G rund zu der Annahm e, dieser frühere M arginaliensatz könnte aus der H and
von Riccoldos älterem O rdensbruder Ram on M arti, der das A rabische ebenfalls sehr gut be­
herrschte, stam m en. In seinem anti-jüdischen W erk P u g i o f i d e i zitiert er mehrfach aus dem
Koran, und insbesondere seine Zitate von Versen aus Sure 3 könnten im Zusam m enhang mit
Ms. A rabe 384 stehen. Es bestehen nicht nur Ä hnlichkeiten im W ortlaut m it den relevanten
Versen, die von der größeren H and auf fol. 24r übersetzt w urden. Auch seine Z itierw eise mit
Angabe der Suren- und D ekadennum m er (denarius) entspricht diesem K oranm anuskript,
das w ie viele K oranm anuskripte nach jew eils zehn Versen ’ashr-M arkierungen aufw eist. An
anderen Stellen zitiert er jedoch den K oran nicht auf diese Weise und es gibt keine P arallel­
übersetzungen in M s. A rabe 384. Siehe R am on M arti: Pugio fidei adversus M auros et J u ­
daeos. L eipzig 1687, N D Farnborough 1967, 3.3.7 (S. 749) und 2.8 (S. 365). Siehe auch Angel
C ortabarria: La connaissance des textes arabes chez R aym ond M artin O.P. et sa position en
face de lTslam . In: Islam et chretiens du M idi (X lle-X IV e s.), C ahiers de Fanjeaux 18. Tou­
louse 1983, S. 279-300, insb. S. 285-291.
W ie ein italienischer D om inikanerm önch
45
ten koranischer Irrtümer, die in zeitgenössischen lateinischen Übersetzungen des
Korans zu finden sind.6 Der zweite, umfangreichere Satz Randbemerkungen in
kleinerer Schrift wurde anscheinend zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt,
denn an einigen Stellen kann die Platzierung dieser M arginalien gegenüber den
dazugehörigen Bemerkungen in der größeren Handschrift nur dadurch erklärt
werden, dass sie später geschrieben wurden. Dies ist besonders auffällig bei der
Liste koranischer Lehren am Anfang des M anuskripts, wo die kleinere Hand­
schrift überall dort Material hinzufügt, wo zwischen den Bemerkungen in der
größeren gerade Platz vorhanden ist.7
Es bieten sich zw ar auch andere mögliche Autoren für die eine oder die andere
Reihe der Marginalien an, zum Beispiel Riccoldos ältere Ordensbrüder Ramon
M arti und W ilhelm von Tripolis oder Ramon Lull, die alle gut Arabisch konnten,8
jedoch kommt Riccoldo da Monte di Croce als Kandidat genauso wahrscheinlich
infrage wie diese. Er war ein gelehrter Dominikaner und Missionar mit umfassen­
den Kenntnissen des Arabischen, der sich außerdem mehrere Jahre lang in Bagdad
und an anderen Orten des M ittleren Ostens aufhielt und vier Werke schrieb, die
sich mit dem Mittleren Osten und dem Islam befassten, darunter C on tra l e g e m
sa r a c e n o r u m , die vielleicht meistgelesene Streitschrift gegen den Islam im späten
M ittelalter.9
Es gibt mehrere unterschiedliche Hinweise darauf, dass er in der Tat der Autor
des zweiten, umfangreicheren Marginaliensatzes war, und dass er speziell diese
Kopie des Korans las, bevor und während er C on tra l e g e m sa r a c e n o r u m schrieb.
Erstens sind Riccoldos berühmte anti-islamische Schrift und dieses arabische
Koranmanuskript, Ms. Arabe 384, durch die scheinbar unbedeutende Tatsache,
wie die Suren zitiert werden, eng miteinander verbunden. In moderner Zeit sind
die Surennamen sehr viel einheitlicher geworden, im M ittelalter jedoch liefen viele
Suren unter mehr als einem Namen.10 In C on tra l e g e m s a r a c e n o r u m zitiert R ic­
coldo Suren des Korans mehrmals unter Verwendung eines weniger gebräuch­
lichen Namens und in all diesen Fällen konnte ich feststellen, dass die entspre­
chende Sure in Ms. Arabe 384 den gleichen ungewöhnlichen Namen trägt. Die
6 Siehe die Listen der K oranirrtüm er in Paris, Bib. nat., MSS lat. 3668 und 3669; dazu siehe
Burm an: R eading (wie Anm. 4), S. 93, S. 243, Anm . 34, Anm. 35.
7 Siehe insbesondere Ms. A rabe 384, fols. 2r und 237r, w o die A nm erkung in der kleineren
H and m it Sicherheit nach der unm ittelbar darüber stehenden A nm erkung in der größeren
H and geschrieben wurde.
8 Für einen Ü b erb lick m it B ibliographie zu diesen Personen siehe John V. Tolan: Saracens.
Islam in the M edieval European Im agination. New' York 2002, S. 233-274.
9 Siehe die A usgabe von Jean -M arie M erigoux von Riccoldos C o n tr a l e g e m s a r a c e n o r u m .
Jean -M arie M erigoux: L’O uvrage d ’un frere precheur florentin en O rient ä la fin du XIHe
siecle. L e ,C ontra legem sarracenorum ' de R iccoldo da M onte di Croce. In: Fede e controversia nel ’300 e ’500, M em orie dom enicane, n .S., 17. Pistoia 1986, S. 35-58. Dort bespricht er
die zahlreichen M anuskripte, Ü bersetzungen und gedruckten A usgaben dieses Texts. Im
Folgenden w ird auf diese A usgabe als „C L S “ m it Z itierung nach Kapitel und Seitenzahl
Bezug genommen.
10 Siehe zum Beispiel die Liste alternativer N am en bei Jaläl al-DTn al-Suyö ti in: al-Iqtän
f i ’ulüm al-Q u r’än. Beirut o .J., 1.116-1.122.
46
Thom as E. Burm an
Sure 98 zum Beispiel, gewöhnlich als „al-Bayanah“ (Der Beweis) bekannt, wird in
diesem M anuskript als „Lam yakün“ bezeichnet (wobei das Incipit „Sie sind
nicht“ bedeutet). Wenn Riccoldo diese Sure zitiert, verwendet er die abgekürzte
Form dieses gleichen, ungebräuchlichen Namens, „lern“. Wir werden später noch
weiteren Beispielen begegnen.1!
Zweitens, wenn die Überschneidung der Surennamen vermuten lässt, dass Ric­
coldo dieses Manuskript beim Schreiben von C on tra l e g e m s a r a c e n o r u m gelesen
haben mag, so sprechen die auffallenden inhaltlichen Parallelen zwischen dem
zweiten Marginaliensatz in Ms. Arabe 384 und dem Text von C on tra l e g e m sara­
c e n o r u m noch stärker dafür, dass Riccoldo diesen arabischen Koran tatsächlich zu
Rate gezogen hat und der Verfasser zahlreicher Randbemerkungen ist. Ein Groß­
teil dieser Bemerkungen besteht einfach aus der lateinischen Übersetzung der Koranverse, neben denen sie stehen, und in vielen Fällen zitiert Riccoldo genau diese
Verse in denselben oder sehr ähnlichen lateinischen Übersetzungen in C ontra
l e g e m sa ra cen o ru m . Ein Beispiel dafür ist die etwas holprige Übersetzung des ers­
ten Teils von Vers 4:48 am Rand dieses arabischen Koranmanuskripts: „Deus non
parcit si quis dat ei participem“ (Gott w ird nicht eingeschränkt, wenn ihm jemand
einen Partner gibt). Riccoldos Zitat dieses Verses in Kapitel 15 von C on tra l e g e m
sa r a c e n o r u m hat die gleichlautende Übersetzung. Es gibt dazu noch viele andere
Beispiele.12
Drittens enthält Ms. Arabe 384 eine ausführliche Anmerkung, die auf einem der
Blätter zwischen eine von dem früheren Leser aufgezeichnete Liste der Koranirrtümer hineingezwängt wurde. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um einen ers­
ten Entwurf des neunten Kapitels von C on tra l e g e m sa ra cen o ru m . Diese Anmer­
kung beginnt mit den Worten: „Dieses Buch [d. h. der Koran] ist gegen die heili­
gen Apostel gerichtet, denn es steht darin, dass sie Muslime und Nachahmer von
Mohammed w aren.“ Dann w ird aufgeführt, dass dieses Buch sich auch gegen die
Schreiber der Evangelien, die heiligen Propheten, Patriarchen, die H eilige Jung­
frau, den Sohn Gottes, den Heiligen Geist, Gott den Vater, Gott im Allgemeinen
(sim p liciter) wendet und außerdem Unwahrheiten über Dämonen spricht, wobei
jede dieser Behauptungen kurz mit Belegstellen aus dem Koran gerechtfertigt
wird, oft mit Zitat nach Surennummer und Angabe des betreffenden M anu­
skriptblattes.13 In Kapitel 9 von C ontra l e g e m s a r a c e n o r u m wird dieselbe Beweis­
11 M s. A rabe 384, fol. 249r; C L S (w ie Anm. 9), 3.76.
12 Ms. A rabe 384, fol. 36r; C LS (wie Anm. 9), 15.134. Diese Ü bersetzung unterscheidet sich
w esentlich von der einzigen, uns bekannten w örtlichen Ü bersetzung des Korans, die zur Zeit
Riccoldos zu r Verfügung stand, M arkus von Toledos L ib er A lchorani: „Deus enim n o n p ar­
cit eis qui cum eo statuunt participem “ (Turin, Biblioteca N azionale U niversitaria, MS F. v.
35, fol. l lva). D er aus der M itte des 12. Jahrhunderts stamm ende lateinische K oran von
R obert von Ketton ist eine schw ungvolle Paraphrase und daher nicht relevant. A ls w eiteres
Beispiel siehe die A nm erkung bei 4:82 (fol. 38r) und deren Zitat in C LS (w ie Anm. 9), 6.82.
Vgl. M arkus von Toledo: L iber A lchorani (fol. 12rb): „Si non uenisset a deo plures quidem
diuersitates invenientur“ (Wenn es nicht von Gott kam , w ird man in der Tat viele W idersprü­
che finden).
13 „Iste über est/contra sanctos apostolos quia dicit quod ipsi fuerunt saraceni et im itatores
W ie ein italienischer D om inikanerm önch
47
führung vorgebracht und es wird behauptet, die wichtigsten Irrtümer des Korans
könnten auf zehn, von Riccoldo zu Anfang des Kapitels aulgelistete Typen zu­
rückgeführt werden, wobei er danach auf jeden einzelnen der Reihe nach näher
eingeht: „Der Koran redet falsche Dinge über sich selbst, über Christen, über Ju ­
den, über die Apostel, über die Patriarchen, über Dämonen, über Engel, über die
Jungfrau M aria, über Christus und über Gott“ (CLS 9.100).14 Zwar besteht keine
genaue Entsprechung zwischen dieser Liste und der Anmerkung in Ms. Arabe
384, doch die Parallelen sind klar. Die Überschneidung zwischen den jeweiligen
Argumenten, die diese Behauptungen unterstützen, ist sogar noch auffallender. So
enthält zum Beispiel die Anmerkung, die darlegt, dass sich der Koran gegen die
Patriarchen richtet, den Hinweis, es stehe in Sure 2, „dass Abraham ein M uslim
war, und ebenso Jakob und seine Söhne“. In C on tra l e g e m sa r a c e n o r u m sagt Ric­
coldo weitgehend dasselbe, aber mehr ins Einzelne gehend und richtiger: „Was die
Patriarchen betrifft, so sagt Mohammed dasselbe. Er sagt an vielen Stellen im Ko­
ran, dass Abraham, Isaak und Jakob und ihre Söhne Muslime w aren“ (CLS
9.102).15 Ein Zusatz zu dieser langen Anmerkung in Ms. Arabe 384 hält fest, dass
„[im Koran] außerdem steht, dass Gott und seine Engel Mohammed begrüßten
und für ihn beteten“. Dazu w ird ausdrücklich Sure 33 zitiert. In seiner Abhand­
lung weist Riccoldo darauf hin, dass „Mohammed in der Sure E lehzab [d.h. ala h z ä b , Sure 33] sagt, dass Gott und seine Engel für Mohammed beten“. Riccoldo
überarbeitete hier seine frühere Übersetzung des schwierigen Verbs y u s a llü n a
(„sie beteten“, „sie begrüßten“, „sie erbaten Segen für“).16 Dies und vieles andere
in dieser Anmerkung legen nahe, dass es sich um einen ersten Entwurf von C ontra
l e g e m s a r a c e n o r u m , Kapitel 9, handelt.
Abschließend ist festzustellen, dass w ir aufgrund anderer Manuskripte tatsäch­
lich wissen, wie Riccoldos Handschrift aussah und dass sie mit der in diesen A n­
merkungen gefundenen identisch ist. J.-M . Merigoux, der moderne Herausgeber
von Riccoldos C on tra l e g e m sa r a c e n o r u m , wies darauf hin, dass die Randbemermacometti/contra euangelistas [. ..]/contra sanctos prophetas [...[/contra patriarchas [...]/
contra sanctos an gelosf.. .]/contra beatam uirginem [. ,.]/contra filium dei [. ..]/contra sp iri­
tu a l sanctum [.. ,]/contra deum patrem [.. .]/contra deum sim pliciter [...]/ est autem acceptus
dem onibus quia ipse [M uham m ad] dicit [ ...] m illia ex eis facti sunt saracenos.“ Ms.
Arabe 384, fol. 2r. Die hier verw endete italianisierte Form von M oham m ed, M accom etus, ist
in lateinischen Texten dieser Zeit recht ungew öhnlich, aber sie ist gelegentlich in C L S (w ie
Anm. 9) zu finden (siehe zum Beispiel 8.94) - ein w eiterer H inw eis, dass R iccoldo der Ver­
fasser dieser A nm erkungen ist.
14 „R educuntur autem principales falsitates eius ad decem genera. D icit enim falsa de seipso,
de C hristianis, de Iudeis, de A postolis, de Patriarchis, de D em onibus, de A ngelis, de Virgine
M aria, de C hristo et de D eo.“
15 „De patriarchis autem idem asserit M ahom etus. D icit enim in pluribus locis in Alchorano
quod A braham , Ysaac et Iacob et filii eorum fuerunt Saraceni.“ Vgl. M s. Arabe 384, fol. 2r:
„Iste liber est [ ...] contra patriarchas. D icit enim quod H abraam fuit Saracenus et etiam Iacob
et filii eiu s.“
16 „Item etiam quod deus et angeli eius salutant M accom etum et orant pro eo [.. .J.capitulo
33o“ (M s. A rabe 384, fol. 2r); „ P reterea, M ahom etus dicit in capitulo E le h z a b quod Deus et
angeli eius orant pro M ahom eto“ (C L S (w ie Anm . 9), 9.106).
48
Thom as E. Burm an
kungen eines jetzt in Florenz befindlichen M anuskripts mit Sicherheit von Riccol­
dos eigener Hand stammen. Dieses florentinische M anuskript enthält eine Kopie
von C on tra l e g e m s a r a c e n o r u m , und obwohl der Text des Werkes nicht von R ic­
coldo abgeschrieben wurde, steht mit Bestimmtheit fest, dass die Randbemerkun­
gen eigenhändig von Riccoldo gefertigt w urden.17 All diese Beweise zusammen­
genommen legen zwingend nahe, dass der zweite Satz lateinischer M arginalien in
diesem arabischen Koranmanuskript die Arbeit des weit gereisten gelehrten Do­
minikaners und Missionars Riccoldo da Monte di Croce ist.
Es ist sicherlich nicht überraschend, dass sich vieles über Riccoldos Auseinan­
dersetzung mit dem Korantext nicht nur aus diesen Anmerkungen, sondern auch
aus deren Beziehung zu C on tra l e g e m sa r a c e n o r u m ableiten lässt. Zunächst ein­
mal wird bestätigt, wie gründlich bewandert Riccoldo im Arabischen des Korans
war. Die sorgfältigen Übersetzungen, Umschreibungen und faszinierenden A us­
führungen am Rand von Ms. Arabe 384 stammen „von einem röm isch-katholi­
schen Geistlichen, dessen Kenntnisse des Korans und der arabischen Sprache"
wenn nicht „perfekt“, 18 so doch nahezu perfekt waren. Seine Übersetzungen zeu­
gen im Allgemeinen von einer gründlichen Kenntnis des Arabischen und einem
echten Bemühen, das richtige Wort zu treffen. In der Tat finden sich mehr als ein­
mal Hinweise darauf, dass Riccoldo seine Übersetzungen überarbeitete und prä­
zisierte, wenn er einen Koranvers, den er in den Anmerkungen zu Ms. Arabe 384
übersetzt hatte, dann in C on tra l e g e m sa r a c e n o r u m zitierte. Zum Beispiel über­
setzte er einen Teil von 59:21 am Rand von Ms. Arabe 384 folgendermaßen: „Et si
misissemus hunc alcoranum super montem, uideres eum pre timore Dei scissum“
(Und wenn w ir diesen Koran auf einen Berg geschickt hätten, hätte man ihn auf­
grund der Furcht vor Gott entzweigerissen gesehen). Das Zitat desselben Verses
in seiner Abhandlung erfolgt in einer sorgfältig verbesserten Fassung. Er hielt sich
hier enger an die arabische W ortstellung und fügte hie und da ein Wort zur Klä­
rung hinzu, zum Beispiel „unum“, um anzugeben, dass das Wort m o n t e m (Berg)
im arabischen Original unbestimmt ist (jabal): „Si misissemus hunc Alchoranum
super unum montem, uideres eum conscissum pre deuotione et timore D ei."19 Es
gibt zahlreiche weitere Hinweise darauf, dass Riccoldo beim Schreiben immer
wieder auf das Koranmanuskript zurückgriff, dabei sowohl seine Randbemerkun­
gen als auch das arabische Original zu Rate zog und seine ursprünglichen Ü ber­
setzungen der Koranverse verbesserte und verfeinerte.20
17 M erigoux: L’ouvrage (w ie Anm . 9), S. 9-11 und Tafel II—VII.
18 Siehe Anm . 2.
19 Ms. A rabe 384, fol. 226r; C L S (w ie Anm . 9), 9.107. Vgl. M arkus von Toledo: L iber alcho­
rani (w ie Anm. 12): „Et si alchoranum hunc super montem m itterem us desursum [ . .. ] “
(fol. 75va).
20 A ls w eiteres Beispiel siehe seine am R and befindliche Ü bersetzung eines Teils von 33:53
(„et quando prouocati fueritis exite et nolite dicere ystorias quia hoc est m olestum prophete
et uerecundatur propter uos et deus non uerecundatur dicere ueritatem ,“ fol. 172r) und das
Zitat derselben Stelle in C LS (w ie Anm. 9), 12.117. Vgl. M arkus von Toledo: L iber alchorani
(w ie Anm . 12): „Verum quando uocati fueritis ingredim ini et cum procurati (sic) fueritis
dispergim ini et historias non referatis quia hoc est prophete m olestum “ (fol. 57ra).
W ie ein italienischer D o m in ik a n e r m ö n c h
49
R iccoldo schrieb eine beträchtliche A nzahl von Ü bersetzungen am R and, die in
B ezug auf anti-islam ische Polem ik und A pologetik nicht unm ittelbar relevant
sind. So gibt er zum Beispiel die ersten paar (m anchm al sogar alle) Verse vieler
späterer Suren an, aber offensichtlich einfach nur, um sich über ihren Inhalt zu
inform ieren, und nicht, w eil sie im Zusam m enhang m it christlicher P o lem ik oder
A p o lo getik verw endbar sind.21 In vielen Fällen jedoch sind die am R and von Ms.
Arabe 384 übersetzten Passagen, auch die, die R iccoldo dann später nicht in
Contra legem saracenorum w eiterverw endete, ganz offensichtlich im R ahm en der
m ittelalterlichen christlichen A useinandersetzung m it dem Koran und Islam im
A llgem einen von B edeutung. D ie Tatsache, dass er Teile von 2:187 übersetzt und
paraphrasiert hat, m ag als typisches Beispiel dienen, da dieser Vers, in dem steht,
dass M uslim e in den N achtstunden des R am adan essen und trinken dürfen, häufig
von christlichen P olem ikern zitiert w urde, und zw ar deshalb, w eil ihnen das als
schlagender Bew eis für die Laxheit des m uslim ischen Fastens erschien 22 D esglei­
chen übersetzte R iccoldo einen Teil von 22:78 - „H abraham nom inauit uos saracenos“ (A braham nannte euch M uslim e) - am R and seines arabischen K orans, da
die koranische B ehauptung, A braham und seine Söhne hätten sich als M uslim e
bezeichnet, ebenfalls ein beliebtes Ziel der christlichen A ngriffe auf den Koran
w ar.23 R iccoldo verw endete keine dieser beiden Ü bersetzungen in seiner A b h an d­
lung, jedoch sind sie und viele andere B eispiele ein eindeutiger B eweis dafür, dass
er beim Lesen des heiligen Buchs des Islam s gezielt und eifrig nach den Stellen
suchte, die sich am w irksam sten zum A n griff auf den Islam und zur V erteidigung
des C hristentum s verw enden ließen.
A ber w ährend R iccoldo einerseits eine Fülle von H inw eisen auf seine direkte,
gelehrte und allgem ein polem ische A useinandersetzung m it dem arabischen Text
des K orans als M arginalien in Ms. A rabe 384 hinterließ, gibt es andererseits auch
zahlreiche Belege dafür, dass er das heilige Buch des Islams parallel zu anderen
Texten, ja oft durch die B rille anderer Texte betrachtete. Zum indest an einer Stelle
übernahm er sogar Inform ationen, die er einem K orankom m entar entnom m en
oder von einem m uslim ischen G ew ährsm ann erfahren hatte. N ach der Ü berset­
zung von 2:189, dem Vers, der bestim m t, dass „es keine F röm m igkeit ist, w enn ih r
H äuser von ihrer R ückseite betretet [ ...] so geht in die H äuser durch ihre T üren
hinein“, schreibt R iccoldo: „Die G losse: das bedeutet, ihr sollt keinen G e­
schlechtsverkehr m it euren Frauen in un erlaubter W eise von hinten haben.“24 O b ­
21 Siehe zum Beispiel die am Rand befindliche Ü bersetzung der gesamten Sure 95 sow ie der
Sure 96:1-10 (M s. A rabe 384, fol. 248r).
22 „Com edatis et bibatis usque dum discernitur a uobis filum album a n igro “, eine w örtliche
Ü bersetzung eines Teils von 2:187. R iccoldo interpretiert diesen Teil, ebenfalls am R and, w ie
folgt: „De nocte licet com medere et luxuriari cum m u lieribus“ (M s. Arabe 384, fol. 13v).
Siehe auch N orm an D aniel: Islam and the West. The m aking of an im age. E dinburgh 1960,
S. 220-222; vgl. M arkus von Toledo: L iber A lchorani (w ie Anm. 12): „Com edite et bibite
donec distingatur filum album a filo nigro aurore“ (fol. 4rb).
23 Ms. A rabe 384, fol. 138v. Vgl. M arkus von Toledo: L iber Alchorani (wie Anm. 12):
„[A braham ] uos appellauit Sarracenos“ (fol. 45va).
24 „Non est equum ut accedatis ad domos a dorso earum id [est] equum est ut tim eatis et
50
T h o m a s E. B u r m a n
w ohl m ehrere Interpretationen dieses Verses in m uslim ischen Kom m entaren auf­
tauchen, bem erkte al-Q u rtub l, dass diese Stelle bei manchen als M etapher für
„den G eschlechtsverkehr m it Frauen, als ein Befehl, von vorn und nicht von h in ­
ten zu ihnen zu kom m en“, ausgelegt w urde. A l-Q u rtu b l lehnt diese Interpreta­
tion rundw eg ab und zitiert dazu den früheren K om m entator aus al-A ndalus, Ibn
‘A tlyah , der dies als „an den H aaren herbeigezogen und die A ussage [dieser Pas­
sage] verändernd“ bezeichnete.2s H ier ist also ein Fall, w o R iccoldo, w ie auch an ­
dere lateinische Koranleser, einer m uslim ischen Interpretation eines K oranverses
begegnete, die aus christlicher Sicht besonders nachteilig für den Islam war, und
diese als Waffe gegen den Islam verw endete, anstatt andere, w eniger sensationelle
M einungen anzuführen.26 Es ist jedoch auch ein klares B eispiel dafür, dass R ic­
coldo den arabischen Koran durch die B rille eines arabischen K om m entars las.
Z usätzlich zu r L ektüre des Korans aus der Sicht eines m uslim ischen K om m en­
tars las R iccoldo interessanterw eise den arabischen Koran auch aus der P erspek­
tive von A nm erkungen des früheren K om m entators dieses K oranm anuskripts. In
Contra legem saracenorum zitiert R iccoldo Vers 21:91, der berichtet, w ie G ott
seinen G eist in die Jun gfrau M aria einhauchte. D erlei Stellen w urden gerne von
christlichen A pologeten zitiert, um zu zeigen, dass der Koran eigentlich die T rini­
tätsdoktrin lehrt. Doch die w ortgetreue lateinische Ü bersetzung, „insufflauim us
in earn de spiritu nostro" (w ir haben ih r etw as von unserem G eist eingehaucht) ist
zw ar am R and von M s. A rabe 384 zu finden, jedoch nicht in der H andschrift R ic­
coldos, sondern in der H and der älteren R andbem erkungen auf diesem Kodex.27
A n einigen Stellen übernim m t und m odifiziert R iccoldo die lateinischen Fassun­
gen des früheren K om m entators, w enn er zum Beispiel Vers 5:110 in einer aus der
älteren H and stam m enden lateinischen Fassung zitiert, dabei jedoch den u r­
sprünglich elliptischen Satz ergänzt.28
R iccoldo w ar ein ausgezeichneter A rab ist, doch las er neben dem arabischen
Koran gleichzeitig die aus dem frühen 13. Jah rh un dert stam m ende lateinische
accedatis ad domos earum ab hostiis glossa id est n on cog n osca tis itxores uestras in m e m b r o
n o n c o n c e s s o “ (Ms. A rabe 384, fol. 13v, H ervorhebung im O riginal unterstrichen). W ie unten
gezeigt w ird, ist die lateinische Ü bersetzung hier direkt aus M arkus von Toledos L iber alcho­
rani (fol. 4va) entnom men. D er Zusatz der Glosse aufgrund von K orankom m entaren stam m t
ganz von Riccoldo.
25 „A l-äyah mathal fl jim ä' al-n isä’, amr b i-ityän ih inn a ft al-qubul lä min al-dubur. [ ...] qäla
Ibn ‘A tlyah w a-hädhä ba'Td m u gh ayyir namat al-k aläm “ (D er Vers ist eine M etapher für den
G eschlechtsverkehr m it Frauen, ein Befehl, sich ihnen von vorn, nicht von hinten zu nähern.
[ ...] Ibn ‘A tlyah sagt, dies ist an den H aaren herbeigezogen und es verändert die Aussage
[dieser Passage]). Siehe Abü Abd A lläh M uham m ad ibn Ahm ad al-A n särl al-Q urtu b l: A lJäm i’ li-ahkäm al-Q u r’än. 21 in 11 Bänden. B eirut o .J., zu 2:189: Bd. 2, S. 231. Vgl. Abü
M uham m ad ‘A bd al-H aqq Ibn ‘A tlyah : A l-M u h arrar al-w ajlz fl tafsTr al-kitäb a l-’azTz. Hg.
von al-R ah h äll al-Färüq u.a. 15 Bde. D oha 1977-1991, zu 2:189: Bd. 2, S. 138.
26 Burm an: R eading (w ie Anm. 4), S. 28.
27 C LS (w ie Anm . 9), 15.128; M s. A rabe 384, fol. 134r. Vgl. M arkus von Toledo: L iber A l­
chorani (w ie Anm. 12): „A peruim us in ea de sp iritu nostro“ (fol. 44ra). Als w eiteres Beispiel
siehe R iccoldos Zitat von 3:42, C LS (w ie Anm. 9), 15.128; Ms. A rabe 384, fol. 24r.
28 Ms. A rabe 384, fol. 51v; C L S (w ie Anm. 9), 15.135.
W ie ein italien isch er D o m in ik a n e r m ö n c h
51
Ü bersetzung des M arkus von Toledo. Es handelt sich dabei um eine w örtliche, der
arabischen W ortstellung folgende Ü bersetzung ins Lateinische, die für diesen
Z weck geeignet w ar und bekannterm aßen auch von anderen G elehrten des M ittel­
alters und der frühen N euzeit zusam m en m it dem arabischen O riginal des Korans
gelesen w urd e.29 So schrieb R iccoldo neben 17:88 die Version M arkus von Tole­
dos an den Rand von M s. A rabe 384. D ieser Vers w urd e von christlichen A p o lo ­
geten häufig zitiert und beinhaltet, dass, auch w enn die M enschen und die
D schinn zusam m enarbeiteten, um einen K oran, der diesem gleichkäm e, zu schaf­
fen, ihnen dies nicht gelingen w ürde. Er schloss aber dann seine eigene, ganz an ­
dere Ü bersetzung desselben Verses in C ontra legem saracenorum ein. Diese letz ­
tere Fassung stam m t m öglicherw eise von einer unvollendeten lateinischen Ü b er­
setzung, an der er nach seiner eigenen A ussage zuvor gearbeitet hatte.30 R iccoldo
greift den ganzen Koran hindurch stellenw eise auf M ark u s’ Ü bersetzung zurück,
insbesondere in den späteren Suren. D ie nicht polem ischen Ü bersetzungen von
Teilen der späteren, kurzen Suren zum Beispiel leiten sich im A llgem einen aus der
Version von M arkus ab. An m indestens einer Stelle zitiert er die Ü bersetzung von
M arkus un m ittelb ar neben seiner eigenen. Es w urd e bereits erw ähnt, dass R ic­
coldo an die Ü bersetzung von 2:189 eine R andglosse anschloss. D ie lateinische
Ü bersetzung des Verses stam m t in diesem Fall von M arkus. Doch um m ittelbar
davor fügte er sorgfältig seine eigene Ü bersetzung von 2:187 ein.31 D er lateinische
Koran von M arkus von Toledo, w eitaus w en iger gelesen als R obert von Kettons
frühere lateinische Paraphrase des K orans, w ar ohne Frage zur H and, als sich R ic­
coldo durch seinen arabischen Koran arbeitete.
Besonders auffallend an dem bisher D argelegten ist, dass es unterstreicht, w ie
sehr sich R iccoldo seiner Sache sicher war, w enn es um die christliche Lesart des
Korans ging. D ieser w eit gereiste D om inikaner schien ganz genau zu w issen, auf
w elche Stellen er sich konzentrieren m usste und w elche Verse sich am besten zum
A ngriff gegen den Islam und zur V erteidigung des C hristentum s eigneten. Z iel­
sicher suchte er sich genau die A rt von Versen aus, die seit m indestens 150 Jahren
von christlichen A pologeten und P olem ikern des lateinischen C hristentum s und
seit m indestens 400 Jah ren von arabischen christlichen A utoren gegen den Islam
angew endet w orden w aren. Es spricht in der Tat aufgrund seiner A rbeit m it die­
29 Siehe Burm an: R eading (w ie Anm. 4), S. 122, S. 131 f.
30 M s. A rabe 384, fol. 118v: „Die. Si conuenirent hom ines et demones ut sim ile huic alcorano
com ponerent. N on facerent tale.“ M arkus von Toledo: L iber A lchorani (w ie Anm . 12), 38rb:
„Si conuenirent hom ines et demones ut sim ile huic alchorano com ponerent non facerent
tale.“ C L S (w ie Anm. 9), 9.100-101: „Q uod si congregarentur omnes hom ines et omnes spiritus uel angeh non possent facere talem A lchoranum qualis est iste.“ Es folgt hier Riccoldos
K om m entar zu seiner nicht vollendeten K oranübersetzung (C L S (w ie Anm . 9), prol. 62): „Et
cum inceperim eam in latinum transferre, tot inueni fabulas et falsitates et blasphem ies, et
eadem per om nia in locis creberrim is repetita, quod tune attediatus d im isi“ (U nd als ich an ­
gefangen hatte, ihn ins Lateinische zu übersetzen, fand ich so viele Lügen, Falschheiten und
G otteslästerungen darin, die an zahlreichen Stellen im ganzen Buch w iederholt w urden, dass
ich angew idert aufhörte).
31 Siehe Anm . 23.
52
T h o m a s E. B u r m a n
sem schönen Exem plar des Korans alles dafür, dass er sich die hergebrachte T radi­
tion der christlichen Lesart des Korans schon lange, bevor er diesen arabischen
Koran in die H and bekam und anfing, Contra legem saracenorum zu schreiben,
zu eigen gem acht hatte.
A ber sogar w ährend R iccoldo A nm erkungen in seinen arabischen Koran
schrieb und sich in seiner A bhandlung gegen den Islam w andte, verarbeitete er die
überlieferte christliche Lesart des Korans w eiterhin aktiv. Dies w ird ebenfalls in
seinen M arginalien und im Inhalt seiner A bhandlung deutlich. Wie M erigoux
nachw ies, interpretierte R iccoldo den K oran beim Verfassen seiner viel gelesenen
Schrift häufig aus der Sichtw eise eines w eiteren, älteren Textes, des gelehrten an ti­
islam ischen Traktats unbekannter V erfasserschaft L iber denudationis siue ostensionis au t patefaciens (Das Buch der E ntblößung oder B loßstellung oder der Enthüller). D ieses ursprünglich arabische W erk w urde w ahrscheinlich von einem
m ozarabischen C hristen in al-A ndalus verfasst und überlebte, sow eit w ir w issen,
nur in einer lateinischen Ü bersetzung, die sich jetzt als E inzelm anuskript in der
B ibliotheque N ationale in Paris befindet. M erigoux hat gezeigt, dass dieses T rak­
tat die w ich tigste Q uelle für Contra legem saracenorum ist und dass dessen M e­
thoden die A nsichten R iccoldos oft entscheidend geprägt haben.32 Das T raktat
w urde w ahrscheinlich ursprünglich zw ischen 1010 und 1132 verfasst. Das E nt­
stehungsdatum der Ü bersetzung ist unbekannt und liegt irgendw ann vor der Zeit,
als R iccoldo darauf stieß. R iccoldo zitiert oder p araphrasiert dieses latinisierte
arabisch-christliche W erk oft und ausgiebig, aber ohne R ückverw eis auf die
Q uelle.
R iccoldo bezieht einige seiner K oranzitate sogar direkt aus dem L ib er denuda­
tionis anstatt aus seinem arabischen K oranexem plar oder aus der lateinischen
Ü bersetzung von M arkus von Toledo. Im sechsten K apitel von Contra legem
saracenorum legt R iccoldo dar, w ie sich der Koran auf verschiedene W eise selbst
w idersp rich t. G egen Ende w eist er darauf hin, dass M oham m ed kein Prophet für
alle V ö lker gew esen sein könne, wenn er nur A rabisch sprach, denn „im K apitel
der Propheten heißt es, G ott hat zu ihm gesagt: ,W ir haben dich gesandt, aber zu
allen V ö lkern .“A ber w ie kann sich jem and an alle V ölker in siebzig Sprachen w en ­
den, w enn er seine Botschaft n ur in der arabischen Sprache verm itteln k an n ?“
D iese Zeilen sind die gekürzte Fassung einer etw as längeren Passage in L iber de­
nudationis , und dies erklärt, dass R iccoldo zw ar angibt, er zitiere aus Sure 21, dass
es sich aber in W irklich k eit um 34:28 handelt. D ie Q uellenstelle in L iber denuda32 Siehe M erigoux: L’ouvrage (w ie Anm . 9), S. 31 f., und die A nm erkungen zu seiner A us­
gabe, passim . W ie die meisten m odernen Forscher bezieht er sich darauf unter dem Titel
C on trarietas alfolica. D ieser Titel w urde in ein er viel späteren H and auf das erste B latt des
W erkes geschrieben und erscheint so auf dem einzigen überlebenden M anuskript, Paris, Bib.
nat., MS lat. 3394, obw ohl sich das W erk eindeutig im Text als L iber d en u d a tio n is siu e osten sionis aut p a t efa c ie n s bezeichnet. Zu diesen und w eiteren E inzelheiten in diesem A bschnitt,
die dieses W erk und das M anuskript, in dem es enthalten ist, betreffen, Thomas E. Burm an:
R eligious Polem ic and the Intellectual H isto ry of the M ozarabs, c. 1050 to 1200. Leiden
1994, S. 37-70, S. 215-239.
W ie ein italienischer D o m in ik a n e rm ö n c h
53
tionis zitiert näm lich zw ei K oranverse, 21:107 und 34:28, aber als R iccoldo die län ­
gere Passage kürzte, übernahm er den Surennam en der ersteren, verw endete je ­
doch die W orte der letzteren.33 Da R iccoldo diesen letztgenannten Vers am Rand
seines arabischen K oranexem plars nicht übersetzte,34 und der W ortlaut des z itier­
ten Verses (34:28) in Contra legem saracenorum m it dem aus Liber denudationis
identisch ist, steht fest, dass unser italienischer M önch den Koran hier keineswegs
direkt gelesen hatte, sondern ihn aus dem früheren anonym en Traktat zitierte, und
das noch nicht einm al richtig.
R iccoldo ist aber beim Lesen des Korans aus der Sicht des L iber denudationis
oft sehr viel w en iger passiv und w eniger nachlässig als in dem hier erw ähnten Fall.
Es gibt sogar eindeutige H inw eise, dass er jenes ältere Traktat und seinen arab i­
schen Koran oft nebeneinander las und dabei beim Lesen des Liber denudationis
den Koran gedanklich m it einbezog. U m gekehrt, und das ist noch interessanter,
bezog er aber auch den Koran beim Lesen des Liber denudationis gedanklich mit
ein. Im vierten K apitel von C ontra legem saracenorum zum Beispiel verw endet
R iccoldo eine sehr viel längere Passage aus dem L iber denudationis, in der eines
der W under w id erlegt w ird , und zw ar die T eilung des M ondes, die von M uslim en
im M ittelalter häufig M oham m ed zugeschrieben w urde. Eine A nzahl leicht u n ter­
schiedlicher H adithe erzählen diese W undergeschichte, in der erklärt w ird , dass
M oham m ed eines N achts vor M ekka saß und von seinen A nhängern gebeten
w urde, ein W under zu vollbringen, w o rauf er auf den M ond zeigte und ihn in
zw ei Teile spaltete. D iese H adithe w urden dann typischerw eise in K orankom ­
m entaren zur E rklärung des ziem lich obskuren ersten Verses der Sure 54 zitiert:
„Die Stunde ist nahe gekom m en und der M ond hat sich gespalten.“35 D er L iber
denudationis erzählt diese E reignisse nach und stützt sich dabei auf einen dieser
allgem ein bekannten H adithe m it einem direkten Z itat von 54:1. Bei der Ü b er­
nahme dieser Passage aus dem Liber denudationis in seine eigene A bhandlung ver­
ändert R iccoldo m anchm al ein W ort und kü rzt auch Passagen, aber nur gerin gfü­
gig. Eine dieser kleinen Ä nderungen jedoch ist recht interessant: R iccoldos Zitat
der Ü bersetzung des einschlägigen K oranverses „Die Stunde ist nahe gekom m en
und der M ond hat sich gespalten.“ D er Verfasser von L iber denudationis über­
setzte: „A propinquauit hora et p artita est lu n a“; dagegen heißt es bei R iccoldo:
33 C L S (w ie Anm. 9), 6.86: „Unde in capitulo Prophetarum dicit quod Deus dixit ei: ,N on
misim us te msi ad universitatem gentium .' Sed quom odo ibit ad omnes gentes in Septuaginta
linguis qui nescit suum recitare serm onem nisi in lingua A rab ica?“ Liber denudationis 8.4, in:
Burm an: R eligious Polem ic (w ie Anm. 32), S. 298: „Et iterum in C apitulo Prophetarum , fingit Deum dicentem sibi, Non destinauim us te nisi m isericordiam sapientibus [21:107], Et
iterum in capitulo Seba: N on misim us te nisi ad universtitatem gentium [34:28]. Respice et
attende presum ptionis tue m endatium quod te fingis nuntium Dei. U adis ad universitatem
gentium in Septuaginta linguis. Nescis tuum nuntium recitare nisi in A rabica lin gua.“ Vgl.
M arkus von Toledo: L ib er A lchorani (w ie Anm. 12): „N on m isim us te nisi in universis hom inibus“ (fol. 58ra).
34 Ms. A rabe 384, fol. 174v.
35 Burm an: R eligious Polemic (w ie Anm . 32), S. 149f.
54
T h o m a s E. B u r m a n
„A propinquauit hora et frac ta est lun a.“36 U nd beim Ü berprüfen von R iccoldos
arabischem Koran findet sich dort bem erkensw erterw eise am Rand neben diesem
Vers genau dieselbe Ü bersetzung, die er in Contra legem saracenorum verw endet:
„A ppropinquauit hora et frac ta est lun a.“37 O bw ohl er sich also inhaltlich bei die­
sem B ericht zu dem W under M oham m eds w eitgehend auf den L iber denudationis
stützte, w ar es ihm w ichtig, anstelle der Ü bersetzung aus dem älteren T raktat, auf
das er sich so gerne bezog, seine eigene Ü bersetzung von 54:1 in der Fassung der
R andbem erkung seines arabischen Korans zu verw enden. H ier w ird deutlich, w ie
R iceoldo den Liber denudationis und den arabischen Koran parallel nebeneinan­
der las.
Es gibt ähnliche Beispiele an anderen Stellen. Wenn R iccoldo in Kapitel 8 seines
Contra legem saracenorum behauptet, die R eligio n des Islams sei „vernunftw id­
rig“, so führt er an, dass M oham m ed „im Koran im K apitel Elmeteharrem, was
,V erbot“ oder ,A nathem a' bedeutet, die M einung aussprach, die folgenderm aßen
lautet: ,O h Prophet, w arum verbietest du, was G ott dir erlaubt, [dass] du deine
Frauen zu erfreuen suchst? G ott hat d ir jetzt ein G esetz gegeben, dam it du deine
Eide auflösen kann st.““ D iese ganze Passage hält sich eng an einen A bschnitt im
siebten K apitel des L iber denudationis. A uch hier änderte R iccoldo die Ü berset­
zung des Verses, übernahm aber dabei den restlichen Text im A llgem einen w ö rt­
lich. A ber der größte U nterschied besteht in einer anderen kleinen E inzelheit. In
L iber denudationis heißt die betreffende Sure (66) Eltahrim , eine R om anisierung
des üblichen arabischen N am ens dieser Sure „al-Tahrim “ (Verbot). W ährend sich
also diese Passage im W ortlaut, m it A usnahm e von Teilen des K oranverses, eng an
L iber denudationis hält, bezog sich R iccoldo auf diese Sure unter dem N am en „alM utah arrim “ (D ie V erbotene), einem w eniger gebräuchlichen anderen N am en. Es
ist nun sicher keine Ü berraschung mehr, dass diese Sure in seinem arabischen K o­
ran ebenfalls diesen N am en trägt.38
36 L iber denudationis 9.11. In: Burm an: R eligious Polem ic (w ie Anm. 32), S. 318; C LS (w ie
Anm. 9), 4.78.
37 Ms. Arabe 384, fol. 217v (kursiv gedruckte W orte jew eils meine H ervorhebung). Vgl.
M arkus von Toledo: Liber A lchorani (wie Anm . 12): „A pproqinquauit hora et scissa est
lun a“ (fol. 72rb).
38 C L S (w ie Anm. 9), 8.91: „Tune dixit sentientiam in Alchorano in capitulo E lm eteha rrem ,
quod interpretatur uetatio, uel anathem a, que sic dicit: , 0 propheta, quid uetas quod Deus
concessit tibi? Placate uxores tuas expostulas, iam legem uobis posuit Deus ut soluatis iuramenta uestra.‘“ Siehe auch ebd., 12.116, wo er sich ebenfalls unter diesem Titel auf Sure 66
bezieht. L iber denudationis 7.1, Burman: R eligious Polem ic (w ie Anm. 32), S. 280: „Item in
C apitulo E ltahrim , quod interpretatur ,vetatio‘ sive ,anathem a“: O propheta, quare anathe­
m atizes seu vetas quae Deus concessit ad quid quaeris facere voluntatem uxorum tuarum ? Et
Deus est propitius et m isericors. Iam posuit legem uobis Deus ut soluatis iuram enta u estra“
(Ebenso im Kapitel Eltahrim , was ,das Verbot“ oder ,das A nathem a“ bedeutet: Oh Prophet,
w arum verfluchst oder verbietest du jene Dinge, die Gott erlaubt hinsichtlich dessen, w as du
suchst, <das ist>, den W illen deiner Ehefrauen zu tun? Gott ist w ohlgesinnt und gnädig. Gott
hat euch bereits ein Gesetz gegeben, dam it ihr eure Eide brechen könnt). Vgl. Ms. A rabe 384,
fol. 23 lv. Riccoldo folgt hier, w ie an anderen Stellen, M arkus von Toledo: Liber A lchorani
(w ie Anm . 12), fol. 77rb: „O propheta quare interdicis quod absoluit tibi Deus quaeris gra-
W ie ein italienischer D o m in ik a n e rm ö n c h
55
Die zahlreichen Parallelen zw ischen R iccoldos Contra legem saracenorum und
L iber denudatioms sind ein H inw eis darauf, dass die ältere, ursprünglich arab i­
sche A bhandlung ebenso w ie der arabische Koran beim Schreiben oft neben ihm
lagen. Das oben D argelegte verdeutlicht, dass er von Zeit zu Zeit beide Schriften
konsultierte. D er Liber denudationis beeinflusste seinen D enkansatz und prägte
seine D eutung des Korans und der Koran stellte das, was er im Liber denudationis
las, klar und ko rrigierte es. Dieses interaktive Lesen von zw ei Texten hinterließ
seine Spuren sogar d irekt auf R iccoldos arabischem K oranm anuskript. Bei 2:221,
der Stelle, w o der Koran M uslim e anw eist, keine G ötzenanbeterinnen zu heiraten,
bis sie glauben und „[ihre] T öchter nicht m it G ötzenanbetern zu verheiraten, bis
diese glauben“, schrieb R iccoldo an den Rand seines K oranexem plars: „H ic videtur concedere sogdom iam [sic]“ (H ier scheint er U nzucht zu erlauben.)39 Dies ist
eine tendenziöse, falsche Lesart des Verbs attkaha (in die Ehe geben), das er als
dessen K ognat, nakaha (heiraten, m it jem andem G eschlechtsverkehr haben),
m issdeutet. R iccoldo w urde zu dieser falschen Lesart eindeutig durch den Ein­
fluss des Liber denudationis verführt (oder zum indest darin bestärkt), denn in
dessen zehntem K apitel w erden diese Verse auf ähnlich tendenziöse Weise über­
setzt: „Ihr sollt keinen (G eschlechts-)V erkehr m it M ännern haben, die (G ott)
etwas beigesellen, bis sie glauben“ (N ec etiam cognoscatis m asculos participantes
donec credant). D er darauf folgende Satz fasst die Situation m it praktisch den glei­
chen W orten zusam m en, die von R iccoldo an den Rand seines arabischen Korans
geschrieben w urden: „H ic satis concedit sodom iam “ (H ier erlaubt er geradezu
U nzuch t).40 Dies legt nahe, dass R iccoldo die verzerrende D eutung dieses Verses
zuerst in Liber denudationis vorfand, dann die entsprechende Stelle in seinem ara­
bischen K oran suchte und diese dann in ähnlich verzerrter Weise interpretierte,
wobei er dort den Vers m it einer kurzen A nm erkung versah, die in W irklich keit
aus Liber denudationis stam m te. U nd er ging noch einen Schritt weiter. N achdem
er aus dem Liber denudationis erfahren hatte, dass sich dieser Vers (2:221) dahin­
gehend interpretieren ließ, dass U nzucht gebilligt w urde, verw endete er diesen
Vers auf genau diese W eise in Contra legem saracenorum-. „Ebenso b illigt er [con­
cedit] im K apitel der Kuh U nzuch t sow ohl m it einem M ann als auch m it einer
Frau, denn er sagt zu M uslim en, sie sollen sich nicht m it ungläubigen M ännern
verunreinigen, bis sie glauben (vgl. 2:221).“ W ieder einm al übernim m t R iccoldo
ein polem isches A rgum ent und die spezifische T erm inologie aus Liber denudatio­
nis, bevorzugt dann aber seine eigene Ü bersetzung des betreffenden Verses, die
allerdings noch tendenziöser ist.41 Am auffallendsten an diesem vielschichtigen
tiam uxorum tuarum et Deus parcit et m iseretur“ (O h Prophet, w arum verbietest du das, was
Gott dir verzeiht, <dass> du die G unst deiner Ehefrauen suchst, und Gott ist m aßvoll und
gnädig).
39 Ms. A rabe 384, fol. 16r.
40 Liber denudationis 10.3; Burm an: R eligious Polem ic (w ie Anm . 32), S. 342.
41 „Item in capitulo de Vacca, concedit sodom iam tarn cum masculo quam cum tem ina. D icit
enim Saracenis quod ,non polluant se cum infidelibus nisi cred an t'“ (C L S (w ie Anm . 9), 6.84,
und siehe M erigoux: L’ouvrage (w ie Anm. 9), Anm . 17 und 18 zu dieser Stelle). Es ist zu be-
56
Th om as E. B u rm a n
Vorgang, in dem er seine A ufm erksam keit von Liber denudationis auf seinen ara­
bischen Koran und dann auf das Schreiben des C ontra legem saracenorum verla­
gert, ist die A rt und Weise, w ie das obskure, ursprünglich arabisch-christliche
W erk sow ohl seine D eutung des Korans als auch sein polem isches Schrifttum
p r ä g t '
Es lässt sich zw eifellos noch vieles m ehr zum Them a der Interaktion zw ischen
R iccoldo da M onte di C roce und seinem arabischen Koran aus den bem erkens­
w erten A nm erkungen in Ms. A rabe 384 und aus Contra legem saracenorum , dem
Text, der dadurch geprägt w urde, erfahren. A ber bereits diese vorläufigen Ergeb­
nisse erm öglichen uns einige w ertvolle R ückschlüsse. Seine E instellung gegenüber
dem Koran und dem Islam w urd e nicht nur durch den anonym en Liber denuda­
tionis geprägt, sondern daneben spielte auch ein w eiterer Text aus Spanien, der
lateinische Koran des M arkus von Toledo, eine w ich tige R olle. - Das ist übrigens
ein auch für die R ezeptionsgeschichte der Ü bersetzung von M arkus w ichtiges E r­
gebnis, ein T hem a, zu dem w ir w enig w issen. - N ach M erigoux hat R iccoldo die
Ü bersetzung von M arkus einm al in C ontra legem saracenorum zitiert, aber es ist
klar, dass er sich in W irklich k eit beim Lesen des heiligen Textes des Islam s ausgie­
big auf jene w ö rtlich e Ü bersetzung stützte. R iccoldo, ein italienischer M önch m it
um fassenden, auf seinen Reisen im M ittleren O sten erw orbenen K enntnissen und
Erfahrungen im Islam , w andte sich dennoch der iberischen T radition des Islam ­
verständnisses zu, die w ährend des M ittelalters so einflussreich in Europa war. Es
ist w ahrscheinlich auch richtig, R iccoldos älteren O rdensbruder R am on M arti als
V erm ittler anzusehen. Ich habe an anderer Stelle G ründe dafür angeführt, dass
R am on den Liber denudationis in seiner ursprünglichen arabischen Fassung
kannte. Z udem hätte M ark u s’ Ü bersetzung aus dem Jah r 1210 -11 sicherlich zw ei
G enerationen später, als Ram on sich m it K oranstudien befasste, in Spanien zur
V erfügung gestanden. Es gib t darüber hinaus einige Fiinw eise, dass er der Verfas­
ser der ersten G ruppe von A nm erkungen in M s. A rabe 384 w ar.42 In den M arg i­
nalien dieses M anuskripts sehen w ir nicht nur den um fassenden Einfluss spani­
schen anti-islam ischen G edankenguts in schriftlicher Form an anderen O rten in
Europa, sondern auch ein m ögliches Zeugnis gelehrter Interaktion zw ischen zw ei
achten, dass Riccoldo unm ittelbar danach den folgenden Vers (2:223) zitiert, der von C h ris­
ten häufig dahingehend ausgelegt w urde, dass er zügelloses Verhalten erlaubte („Eure Frauen
sind euer A ckerland; pflügt sie, w ie ihr w o llt“). Seine Ü bersetzung in C LS ist identisch m it
der in einer A nm erkung, die sich neben diesem Vers in seinem arabischen Koran befindet:
„M ulieres uestre aratura uestra, arate eas ut u u ltis“ (C L S (w ie Anm. 9), 6.84; M s. A rabe 384,
fol. 16r).
42 Siehe Burm an: R eligious Polem ic (w ie Anm . 32), S. 46-48, und Anm. 4. Die Tatsache, dass
R i c c o l d o s o w o h l d e n L ib er d e n u d a t io n is als auch M ark u s’ Ü bersetzung so um fassend zitiert,
ist übrigens eine Bestätigung von M erigoux’ stillschw eigender A ndeutung, dass diese beiden
W erke, die in einem M anuskript aus dem sechzehnten Jah rh un dert zusam m en erscheinen,
Paris, Bib. nat., MS lat. 3394, m öglicherw eise auch in einem viel früheren M anuskript, zu
dem R iccoldo Zugang hatte, zusam m en erschienen w aren. Siehe M erigoux: L’O uvrage (wie
Anm. 9), S. 3 0 f.
W ie ein italien isch er D o m in ik a n e r m ö n c h
57
der kenntnisreichsten Interpreten des Korans und des Islam s im m ittelalterlichen
Europa.
In der großen B edeutung dieser spanischen Texte im Zusam m enhang m it R ic­
coldos Studie des heiligen Buches des Islams sehen w ir ferner, und dies ist noch
w ichtiger, ein faszinierendes Paradoxon, das seine Interpretation des arabischen
Korans durchzieht. Einerseits erw eist sich R iccoldo in diesen R andbem erkungen
und in der G estaltung von Contra legem saracenorum als ein G elehrter, der sein
Fach vollkom m en beherrscht. Er ist ein Experte in der arabischen Sprache, dem in
der Ü bersetzung kaum Fehler unterlaufen, und der m it dem W ortschatz, der
M orphologie und Syntax einer Sprache, die von seiner M uttersprache oder vom
Lateinischen grundverschieden ist, vollkom m en vertraut ist. Er besteht außerdem
darauf, sein sprachliches Können auf seine H aup tq uelle anzuw enden, indem er
die K oranübersetzungen in Liber denudationis m it dem arabischen O riginal ver­
gleicht und oft seine eigene Ü bersetzung des betreffenden Verses bevorzugt, dabei
aber durchgehend alle A rgum ente des Traktats fast ohne Zögern nachvollzieht.
Des W eiteren bezeugt seine Fähigkeit, in dem arabischen Exem plar des Korans
genau die Suren aufzufinden, die in Liber denudationis unter anderen N am en z i­
tiert w erden, seine V ertrautheit m it nicht allgem ein zugänglichem W issen, näm ­
lich, dass Suren unter verschiedenen N am en bekannt w aren, und noch dazu, w ie
diese N am en hießen. A ll dies ist beeindruckend. Ferner ist R iccoldo innovativ in
seinem anti-islam ischen A nsatz, denn sein neuntes K apitel, das, w ie w ir sahen, u r­
sprünglich in einer R andbem erkung in M s. A rabe 384 um rissen w urde, hat meines
W issens keine enge E ntsprechung in der lateinischen polem ischen Literatur.
A ndererseits stellen w ir fest, dass R iccoldo sogar noch beim A rbeiten an C on­
tra legem saracenorum darum bem üht war, eine viel ältere Tradition des anti-islam ischen, tief im arabisch-christlichen G edankengut verw urzelten Schrifttum s zu
verstehen und darauf aufzubauen, und dass er außerdem Studienhilfen zum Koran
w ie M arkus von Toledos Ü bersetzung zum V erständnis dieses schw ierigen B u­
ches heranzieht.
D ieses Paradoxon ist dynam isch. R iccoldo stützt sich beim Lesen des Korans
und beim Schreiben seiner A bhandlung sow ohl auf seine große G elehrtheit und
V ertrautheit m it dem Islam als auch auf traditionelle Q uellen, aber diese beiden
A nsätze w erden in W irklich k eit gegeneinander ausgespielt. R iccoldo kann auf­
grund seiner fundierten K enntnisse des A rabischen K oranübersetzungen des L i­
ber denudationis und Surennam en ändern; die christlichen Interpretationen des
L iber denudationis beeinflussen ihn beim Lesen seines arabischen Korans. In R ic­
coldos K oranstudium und seiner polem ischen Schrift Contra legem saracenorum
sehen w ir also einen doppelten Vorgang, die A uslegun g des heiligen Buches des
Islams aufgrund einer Interpretationstradition und die A uslegung dieser Interpre­
tationstradition aufgrund d etaillierter K enntnisse jenes heiligen Buches.
W ir sind daran gew öhnt, die um fangreiche m ittelalterliche L iteratur religiöser
D isputation in Form en zu lesen, die sich als fertige P rodukte darbieten, näm lich
A bhandlungen gegen diese oder jene R eligion, erdachte literarische D ialoge z w i­
schen M itglied ern von zw ei oder drei religiösen G em einschaften und sorgfältig
58
T h o m a s E. B u rm a n
redigierte Zusam m enfassungen tatsächlicher religiö ser D isputationen. In diesen
Texten erscheinen die religiösen D isputanten im A llgem einen als unveränderliche
Typen, deren Positionen und Ü berzeugungen statisch und anscheinend angebo­
ren sind. D er interaktive Prozess, von dem w ir bei Riccoldos K oranlektüre und
an ti-islam ischer Schrift einen kleinen E indruck bekom m en, zeigt uns ein völlig
anderes Bild. H ier sehen w ir zeitraubende Recherche in früheren W erken und
philologische Raffinesse bei der H andhabung des Korans. W ir sehen, w ie das real
greifbare K oranexem plar als N otizbuch zum Skizzieren polem ischer Ideen ver­
w endet w ird. K urzum , w ir sehen einen engagierten, ernsthaften In tellektuellen,
der sich m it schw ierigen Problem en auseinandersetzt. Selbst wenn uns sein W erk
w iderstrebt, so ist er doch kein trockener G elehrtentyp mehr, sondern ein tatkräf­
tiger, vielseitiger M ensch. M oderne Forscher auf dem G ebiet m ittelalterlich er re­
ligiöser Polem ik, A p o lo getik und D isputation konzentrieren sich im A llgem einen
auf Fragen nach Fakten - w er hatte w elche genauen K enntnisse einer anderen R e­
ligion? w ann? w ie? - oder auf F un ktio n alität - w ie (falsch) stellt ein Text die reli­
giös A nderen dar, dam it G renzen von G em einschaften oder politische H egem o­
nien aufrechterhalten w erden können? Ich m eine, dass w ir beim Zuschauen, w ie
R iccoldo seinen arabischen Koran liest, die G elegenheit haben, über diese beiden
(zugegebenerm aßen fruchtbaren) Forschungsansätze hinauszugehen, denn ich
bin der A uffassung, dass es hier mehr gibt, w as von Interesse ist, als das, was durch
Fragen über K enntnisstand und M echanism en so zialer K ontrolle erfasst werden
kann. Z ur E rklärung, w arum R iccoldo sich die M ühe m achte, „partita est lun a“ in
„fracta est lu n a“ um zuändern, oder w arum er M arkus von Toledos lateinische
Fassungen vieler Surenanfänge sorgfältig in seinen arabischen Koran kopierte,
m üssen anstatt einer K onzentration auf fertige P rodukte neue Fragen gestellt w e r­
den, zum B eispiel darüber, w ie religiöse D isputation in andere in tellektuelle
Trends und gelehrte M ethoden des Lesens passt, oder darüber, was das Ziel der
D urchführung einer solch kom plizierten B ew ertung des Korans (und der gleich­
zeitigen B ew ertung der traditionellen christlichen Lesart des Korans) war. Fragen,
die sehr w ahrscheinlich unser Verständnis der m ittelalterlichen Lust untereinan­
der über die jew eiligen heiligen Texte zu streiten, vertiefen werden.
Abstract
R iccoldo da M onte di C roce, O.P. (fl. 1267-1316) w as one of the few Latin E uro­
peans of his age w ith an advanced know ledge of the A rabic language. In this paper
I dem onstrate that he was the author of an abundant set of m arginal notes in Latin
in Paris, B ibliotheque N ationale de France Ms. A rabe 384, and, further, that he
was reading this m anuscript w hile he w rote his w id ely read Contra legem sarace­
norum. Several kinds of evidence m ake this clear: for exam ple, the contents of the
notes in this m anuscript are often d irectly related to the contents of that treatise,
and the h an d w ritin g m atches that of notes that we know to have been w ritten b y
W ie ein italienischer D o m in ik a n e r m ö n c h
59
him in another m anuscript. These notes, therefore, provide us w ith v irtu ally un ­
precedented insight into R iccoldo’s interaction w ith the A rabic Q u r’an. W hat we
learn from exam ining them clo sely is that he often read the Q u r’an d irectly in
A rabic; at other times he read it in a Latin translation b y M ark of Toledo w hich he
often com pared w ith the A rabic o riginal; at still other times he read his Arabic
Q u r’an alongside another polem ical w ork that was an im portant source of
thought: the anonym ous Liber denudationis. In all this it becomes apparent that
R iccoldo was not o n ly exam ining Islam through the lens of an already lo n g-exist­
ing C h ristian polem ical tradition, but also interrogating that tradition through the
m eans of his ow n direct know ledge of the A rabic Q u r’an.
Claude Gilliot
Das jüdischchristliche Umfeld bei der Entstehung
des Koran und dessen Bedeutung für die islamische
Korankommentierung
Christen und Christentum in der frühen islamischen Exegese
des Koran
I.
Einführung
W as zunächst auffällt, w enn man die islam ische Exegese des Koran vom Stand­
punkt des sogenannten „M iteinanders der R eligio n en “ * aus studiert, ist die rela­
tive K ontinuität zw ischen den A ussagen des Koran üb er C hristen und C h risten ­
tum und den A ussagen m ancher der ältesten Exegeten. M an könnte das ganz n o r­
mal finden, denn die Interpretation eines Textes bleibt in gew isser A bhängigkeit
vom A usgangstext. Was aber dam it gem eint ist, ist nicht so platt und abgedro­
schen, w ie man auf den ersten B lick m einen könnte. M an darf nicht vergessen,
dass der Koran ein D okum ent der Spätantike ist,2 das heißt einer Zeit des k u ltu ­
rellen und religiösen Synkretism us. D erjenige oder diejenigen, die den Koran ver­
fasst bzw. zusam m engesetzt haben, gehörten zu dieser Zeit und zu diesem M ilieu.
D ie arabische H albinsel w ar kein ku ltu reller Kerker, w o nur sogenannte reine
„H eiden“ in der sogenannten gähiliyya (Z ustand der U nw issenheit oder der U n ­
gelehrsam keit) lebten. N ach den islam ischen Q uellen existierte bereits eine A rt
Schreib- und/oder L esekun digkeit in M ekka und Yathrib/M edina zur Zeit M o­
ham m eds und schon etwas vor ihm .3 M ekka hatte viele K ontakte m it al-HTra, wo
1 M ehr Einzelheiten und L iteratur dazu finden sich bei: C laude G illiot: C hristians and
C hristian ity in Islam ic Exegesis. In: David Thom as (H g.): C hristian -M uslim relations. A
B ibliographical history. Vol. I. (600-900). Leiden 2009, S. 31-56.
2 Sidney H . G riffith: C hristian lore and the A rabic Q u r’än. The .C om panions of the C ave“,
in Sürat al-kahf and in Syriac C hristian tradition. In: G abriel Said R eynolds (H g.): The
Q u r’an in its historical context. London 2007, S. 109-137, hier: S. 109; A ngelika N euw irth:
The „Late A ntique Q u r’an“: Jew ish -C h n stian L iturgy, H ellenic Rhetoric and Arabic
Language. K onferenz der Princeton U niversity, 3. 6. 2009: http://video.ias.edu/stream&ref=
261 (letzter Z ugriff am 11.5. 2010).
3 C laude G illiot: Zur H erkunft der G ew ährsm änner des Propheten. In: H ans-H einz Ohlig/
62
C l a u d e G illio t
C hristen und M anichäer lebten. D ie arabische H albinsel w ar keine terra deserta et
incognita, denn sie stand m B eziehung zu ihrer U m w elt - ganz besonders zu der
aram äischen, jüdischen und christlichen (Syrien, LlTra, A nbär etc.). W ir haben so­
gar B ew eise dafür, dass es eine m anichäistische G ruppe gab,4 deren L eiter Abu
‘Ämir war.
Schon mit dem „N am en“ des Propheten des Islam befinden w ir uns in einem
synkretistischen Kontext. Es ist fast sicher, dass M uham m ad nicht sein ursprüng­
licher N am e war, sondern nur ein E pithet.5 A uch der „N am e“ A hm ad (K oran
61,6)6 ist ein K om parativ/Elativ7, den die islam ische Tradition für eine Variante
von M uham m ad hält; es ist w ahrscheinlich eine Form veränderung des persischen
N am ens M anühm ed oder M anvahm ed, einer m anichäistischen Form des Vahman
der alten iranischen R eligion. D iese bezeichnet dam it den Intellekt, den Fleiligen
G eist und den „L ebenden“, der im m er w ied er in der R eihenfolge der Propheten
M ensch w ird . Vahman ist nichts anderes als die Seele des Parakleten oder des P ro ­
pheten. Diese Lehre fußt auf einer judenchristlichen Tradition der alten syrischen
E ngelchristologie,8 m it einer „heterodoxen“ D reiheit (triade), die aus drei E rz­
engeln besteht, w obei der P araklet die R eihenfolge oder die Liste der Propheten
abschließt. Er ist der Logos Gottes (vgl. das koranische kalim at A llah), der in der
E rscheinung oder in der G estalt G abriels durch die Propheten spricht. Er sendet
letzten Endes seine O ffenbarung durch M anes (L atein; G riechisch: Manes oder
Manichaios; A ram äisch; Märte; A rabisch; M äni) oder M uham m ad.
M anes w uchs bekannterm aßen in der frühchristlichen Sekte der E lkesaiten auf,
einer aram äischsprachigen christlichen T äufersekte, die um 100 im O stjordanland
G erd-R üdiger Puin (H g.): Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und
frühen Geschichte des Islam. Berlin 2005, S. 148-169.
4 M oshe Gil: The creed of Abu ‘Äm ir. In: Israel O riental Studies 12 (1992), S. 9-57.
5 A lo ys Sprenger: Das Leben und die Lehre des M oham m ad. Bd. I—III. B erlin 21869, hier:
Bd. I, S. 153-162; C laude G illiot: Une reconstruction critique du C oran ou com ment en finir
avec les m erveilles de la lampe d ’A ladin? In: M anfred Kropp (H g.): R esults of contem porary
research on the Q u r’an (= B eiruter Texte und Studien, Bd. 100). W ürzburg 2007, S. 33-137,
hier: S. 76-78.
6 Beachtung verdient eine Stelle im Kodex des U b ayy, in der „ahm ad“ nicht vorkom m t; vgl.
H eikki Räisänen: Das koranische fesusbild. Ein Beitrag zur Theologie des Korans. H elsinki
1971, S. 54-56.
7 W ie Sprenger: Leben (w ie Anm. 5), Bd. I, S. 159, es schon bem erkt hatte: „Im Schriftarabi­
schen bedeutet die W urzel (hm d), von w elcher sow ohl Ahm ad w ie M oham m ad abgeleitet
w ird, preisen, loben; aber in den verw andten D ialekten, m it denen auch das A rabische, w ie es
in der syrischen W üste gesprochen w urde, viel übereinstim m te, heisst sie w ünschen, erseh­
nen. Ahm ad w ürde dem nach der ,E rsehnteste‘ und M oham m ad ,der Ersehnte, D esideratus“
heissen“. Er gibt dafür, unter anderem , das Beispiel von H aggai 2,8 (Vulgata): „et veniet D esideratus cunctis gen tib us“. Diese Stelle w urde von den C hristen und von den Juden als eine
messianische W eissagung betrachtet. Für w eitere L iteraturh inw eise vgl. Yehuda N evo/Judith
Koren: C rossroads to Islam. The origins of the Arab religion and the Arab state. Am herst
2003, S. 260-269; vgl. auch Koran 61,6 und Jn 14,16.
8 Günter Lüling: Ü ber den U r-Q u r’än. A nsätze zur R ekonstruktion vorislam ischer christ­
licher Strophenlieder im Q u r’än. Erlangen 1974, S. 15, S. 472, Anm . 11 et passim.
Das jü d isch ch ristlic he U m fe ld bei der E n tstehu ng des Koran
63
entstand.9 Das erbliche Prophetentum w ar eine der G rundlehren der Elkesaiten,
die später vom M anichäism us und Islam übernom m en w urden. In der hagiographischen Vita M oham m eds des Ibn Ishäq (gest. 150/767)10 finden w ir die syrische
Form des W ortes Paraklet: M anahhem änä , dessen W urzel im alten A ram äischen
„trösten“ bed eutet.11 D ie Prophetenlehre des K oran ist in ihren H auptzügen mit
der judenchristlichen Lehre identisch. A uch hier heißt es, dass alle Propheten im
W esentlichen die gleiche Botschaft b rachten.12
Was für den N am en des Propheten des Islam hier gesagt w urde, trifft ähnlich
auch für das W ort q u rä n (eigentlich „R ezitatio n stext“) zu. Denn in den verschie­
denen Kirchen pflegten die C hristen - w ie es auch die Juden taten - die H eiligen
Schriften öffentlich zu lesen, und zw ar nach dem P rinzip des Lektionars. In den
syrischen Kirchen oder K löstern w ar (und ist bis jetzt) das L ektionar (kitaba dqaryänä) das Ü bliche. Es enthielt ausgew ählte Passagen vom G esetz (uraitba),
von den Propheten und von der A postelgeschichte. G enauso bestand das Evangelion aus ausgew ählten Passagen der vier E vangelien oder aus dem D iatessaron
(E vangelienharm onie). Ein anderer Band enthielt Lesungen aus den Briefen der
A postel (egroto d-shlihe), ein anderer aus den Psalm en. Endlich gab es einen Band,
Turgama (Interpretierung) genannt, m it oft m etrischen H om ilien oder litu rg i­
schen G edichten (m em rä), die nach dem qsryänä und dem shliha gelesen w urden,
z .B . die m em rä über die „Siebenschläfer“ in Syrisch , die Jakob von Serug (gest.
521) zugeschrieben w ird , oder seine Predigt über Alexander, den gläubigen König,
und über das Tor, das er gegen Gog und M agog baute. Sie w urden in den Kirchen
als Turgama vorgelesen.
II. Einige Quellen des Koran über Christentum und
Judenchristentum
Einige Islam kundler und K irchengeschichtler, bzw. solche, die sich m it dem J u ­
denchristentum befassen, sind überzeugt, dass das un ter den A rabern vor dem
9 Joseph Reuss: A rt. Elkesaiten. In: Lexikon für T heologie und Kirche, Bd. III. Freiburg
21959, Sp. 823 f.
10 Ferdinand W üstenfeld (Hg-): Das Leben M uham m ed’s nach M uham m ed Ibn Ishäk b ear­
beitet von Abd el-M alik Ibn H ischäm . Aus den H andschriften zu Berlin, L eipzig, Gotha und
Leyden. 2 Bde. in drei Teilbänden. G öttingen 1858/1859/1860, S. 150; Das Leben M oham ­
meds nach M oham m ed Ibn Ishak bearbeitet von Abd el-M alik Ibn H ischam . A us dem A ra­
bischen übersetzt von Gustav Weil. 2 Bde. Stuttgart 1864; A lfred G uillaum e: The Life of M u­
hammad. A translation of Ibn Ishäq’s Slrat rasül alläh. London 1955, ND Karachi u.a. 1978,
S. 104.
11 Jan F. M. Van Reeth: La zandaqa et le prophete de l’Islam. In: C hristian C an n u yer u.a.
(H g.): Incroyance et dissidences rehgieuses dans les civilisations orientales (= A cta O rientalia
Belgica, Bd. 20). B ruxelles 2007, S. 65-80, hier: S. 68-70.
12 Frangois de Blois: E lehasai-M anes-M uham m ad. M anichäism us und Islam in religionshis­
torischem Vergleich. In: D er Islam 81 (2004), S. 31-48, hier: S. 45 f.
64
C la u d e G illio t
Islam bekannte C h risten tu m 13 vor allem „syrischer A rt, entw eder jakobitisch
oder nestorianisch w ar“.14 M an hat sich gefragt, ob die religiöse G em einschaft
M oham m eds und seiner Inform anten nicht von der elkesaitischen B ew egun g15
oder vom M anichäism us16 abhängig gew esen sei. Eine sehr ernst zu nehmende
und annehm bare H ypothese w äre, dass „die erste Erscheinung des Islam ein
nicht-konform istischer Sprössling des M anichäism us w ar“ .17 M anes’ p ro p heti­
sches Selbstverständnis als Ebenbild des Parakletos, vielleicht sogar als der von
Jesus verheißene Parakletos selbst, w ar auch ein eschatologisches,18 genauso w ie
das prophetische Selbstverständnis M oham m eds. M uslim ische A utoren schreiben
Manes den A nspruch zu, er sei das Siegel der Propheten (hätam al-nabiyym ) .19
13 Zum C hristentum bei A rabern vgl. R ichard Bell: The origin of Islam in its C hristian envi­
ronm ent. London 1926, S. 2-63; H enri C harles: Le C hristianism e des Arabes nom ades sur le
lim es. Paris 1936; Rene D ussaud: La penetration des A rabes en Syrie avant l’islam . Paris 1955;
Tor Andrae: Les origines de l’islam et le christianism e. Paris 1955, S. 15-38 (erschien zuerst in
mehreren Teilen auf D eutsch in: K yrko h isto risk Ä rsskrift (1923), S. 149-206, (1924), S. 213—
292, (1925), S. 45-112); John Spencer Trim ingham : C h ristian ity among the Arabs in pre-Islamic tim es. London, Beirut 1979; Edmond Rabbath: L’O rient chretien ä la veille de l ’lslam .
B eirut 1980; Alfred H avenith: Les Arabes chretiens nom ades au temps de M oham m ed. Louvain-la-N euve 1988; S.B. al-‘A yib: al-M asThiyya a l-‘arab iyy a w a tataw w uruhä. Beirut 21998;
M ichele P iccirillo: L’A rabie chretienne. Paris 2002; zu den R eligionen in H ira vgl. ,A. “Abd
al-G hanl: Tärih al-HTra fl al-gäh iliyy a w a al-isläm . Dam ascus 1993, S. 471-495; zu r W ichtig­
keit der Beziehungen zw ischen M ecca und H ira vgl. M eir J. Kister: a l-fllra . Some notes on its
relations w ith A rabia. In: A rabica 15 (1968), S. 143-169; G illiot: Reconstruction (wie
Anm. 5), S. 66 f.
14 A rth ur Jeffery: The Foreign Vocabulary of the Q u r’an. Baroda 1938. N D Leiden 2006,
S. 20 f.
15 A dolph von H arnack: Lehrbuch der D ogm engeschichte. Bd. 2: Die E ntw icklung des
kirchlichen D ogm as 1. Tübingen 41909, S. 535 ff.; Gerard P. L uttikhuizen: The Revelation of
Elchasai. Tübingen 1985, S. 9 f.; Van Reeth: La zandaqa (w ie Anm. 11), S. 67; Sprenger: Leben
(w ie Anm. 5), Bd. I, S. 30, Anm. 1, S. 32-42, S. 91-102, und Bd. II, S. 208, S. 232. D ieser
große M eister der O rientalistik hat bereits den Einfluss der Elkesaiten auf M oham m ed be­
merkt.
16 R. Sim on: M änl and M uham m ad. In: Jerusalem Studies in A rabic and Islam 21 (1997),
S. 118-141, hier: S. 134: „Both M anicheism and Islam assert the seriality of prophets“; A n­
drae: O rigines (w ie Anm . 13), S. 209; Karl Ahrens: M uham m ed als Religionsstifter. Leipzig
1935, S. 130-132; M ondher Sfar: Le C oran, la Bible et l’O rient ancien. Paris 1998, S. 408-425
(Kap. 11, „Ahm ad, le prophete m anicheen“); zu M anichäism us in Arabien vgl. G uy M onnot:
Islam et religions. Paris 1986, S. 33, nach Ibn al-K albl (st. ca. 204/820); Gil: The creed (wie
Anm. 4); Van Reeth: La zandaqa (w ie Anm. 11), S. 67-70.
17 Gil: The creed (w ie Anm. 4), S. 22; Sfar: Le C oran (w ie Anm. 16), S. 408-425; Van Reeth:
La zandaqa (w ie Anm. 11), S. 68.
18 G uy G. Stroum sa: Aspects de l’eschatologie m anicheenne. In: Revue de l ’H istoire des
R eligions 198 (1981), S. 163-181.
19 Shahrastani: Livre des religions et des sectes. Bd. I. Paris 1986, S. 662, w ahrscheinlich ein
Einschub zu G unsten M oham m eds: M ani sagte: „Dann w ird das Siegel der Propheten vom
Land der A raber kom m en“; H en ri-C harles Puech: Le M anicheism e. Paris 1949, S. 146,
Anm . 248; M ichel Tardieu: Le M anicheism e. Paris 1981, S. 19-27; Julien Ries: Les Kephalaia.
La catechese de l ’E glise de M ani. In: D aniel De Smet/G odefroid de C allatay/Jan M.F. Van
Reeth (H g.): A l-K itab: la sacralite du texte dans le m onde de l ’islam . Actes du sym posium
Das jü disch ch ristliche U m fe ld bei der E n tste h u n g des Koran
65
D er M anichäism us w urde in FITra ca. 272 A D 20 eingeführt, eine Stadt, die mit
M ekka in engem K ontakt stand.21
Für Tor A ndrae, den m odernen W issenschaftler, der am intensivsten die D an­
kesschuld des Koran und M oham meds dem syrischen Christentum gegenüber sy s­
tem atisch erforscht hat, ist „die eschatologische F röm m igkeit M uham m ads“ oder
des Koran in hohem M aß vom syrischen C hristentum und ganz besonders vom
syrischen M önchtum 22 beeinflusst. Er hat auf die „evident relations betw een the
language of the Koran and that of the C h ristian churches in S y ria“ hingew iesen.
N ach dem christlichen irakischen Sem itisten A lphonse M ingana erscheinen die
Eigennam en der biblischen Personen, w ie sie im Koran Vorkommen, in ihrer s y ri­
schen Form 23 und stam m en aus der offiziellen Ü bersetzung der B ibel, der Peshitta
(die „einfache“, das heißt „übliche“ Ü bersetzung), die in den syrischsprachigen
christlichen Ländern benutzt w urde.
John Bow m an (1916-2006) ist noch w eiter gegangen, indem er die A nw esenheit
von M onophysiten in N agrän und auch unter den verbündeten arabischen Sippen,
z.B . den G hassäniden, hervorgehoben hat. Er geht von K ontakten M oham m eds
m it Jakob iten (M onophysiten) aus, die das syrische D iatessaron24 zusam m en mit
anderen Texten und den nichtkanonischen Evangelien in ihren G ottesdiensten be­
nutzten25, und erklärt so die Prophetologie und die biblischen Kenntnisse des Ko­
ran. D er Prophet des Islam habe diese Texte freilich für seine eigenen Zwecke
„ediert“.26
international tenu ä Leuven et L ouvain-la-N euve du 29 mai au 1 juin 2002. Bruxelles 2004,
S. 143-154, hier: S. 143-148.
20 M ichel Tardieu: L’arrivee des m anicheens ä al-HTra. In: Pierre C anivet/Jean-Paul R ey-C o quais (H g.): La S yrie de B yzance ä l’Islain VIL’-V IIL' siecles. D am ascus 1992, S. 15-24, hier:
S. 18.
21 N ach Ibn 'A bbäs, den Ibn al-K albl zitiert: M anichäism us (zandaqa) w urde durch „Q orayschiten“ eingefiihrt, die Geschäftsreisen nach H ira machten und dort Christen trafen; M onnot: Islam (w ie Anm . 16), S. 33; vgl. Kister: al-H ira (wie Anm . 13).
22 A ndrae: O rigines (w ie Anm . 13), S. 67-199, S. 107, S. 145, S. 190, S. 204; ders.: Zuhd und
M önchtum . In: Le M onde O riental 25 (1931), S. 296-327, hier: S. 298.
23 A lphonse M ingana: Syriac influence on the style of the K ur’an. In: John R ylands L ib rary
B ulletin 11 (1927), S. 77-98, hier: S. 81 f.; online: http://answering-islam.org/Books/
M ingana/Influence/index.htm (letzter Z ugriff am 12. 5. 2010).
24 Zum D iatessaron: T jitze Baarda: Essays on the D iatessaron. Kampen 1994; W illiam L. Pe­
tersen: T atian’s D iatessaron. Its creation, dissem ination, significance, and history in scholar­
ship. Leiden 1994.
25 John Bowm an: H o ly scriptures, lectionaries and the Q u r’än. In: A nthony H. Johns (H g.):
International congress for the stud y of the Q u r’än, C anberra (M ay 1980). C anberra 1983,
S. 29-37; John Bow m an: The debt of Islam to M onophysite S yrian C hristianity. In: N ederlands Teologisch T ijdschrift 19 (1964-65), S. 177-201 (w ieder abgedruckt in: Evan C .B. M acL aurin (H g.): Essays in honour of G riffiths W heeler Thatcher. Sydn ey 1967, S. 191-216, von
G riffith: C hristian lore, S. 112, zusam m engefasst).
26 Lee M artin M cD onald: The in tegrity of the biblical canon in light of its historical develop­
ment. In: B ulletin for Biblical Research 6 (1996), S. 95-132, hier: S. 121; Robert P. C asey: The
A rm enian M arcionites and the D iatessaron. In: Jo urn al of Biblical L iterature 57 (1938),
S. 185-194.
66
C la u d e G illio t
Jan Van Reeth hat ini D etail gezeigt, class zahlreiche Züge C hristi und des C h ris­
tentum s im K oran nur durch Beziehungen zw ischen dem Koran und dem D iates­
saron zu erklären sind. Koran 48,29 zum Beispiel ist eine K om bination von zw ei
Perikopen, näm lich von M arkus 4,26-27 und M atthäus 12,23. Im Koran lesen w ir:
„Dies ist ihr G leichnis in der Thora; ihr G leichnis im Evangelium: W ie Saat, die treibet ihren
H alm , und macht ihn wachsen, dass er anschw illt und schw ebt auf seinem Schafte, freuend
den Säm ann, dass sich ärgern an ihnen die U ngläubigen. Gott hat verheißen denen, die glaub­
ten und das Gute thaten unter ihnen, B arm herzigkeit und großen Lohn“ (Ü bersetzung Fr.
Riickert).
D ieselbe K om bination oder Z usam m enfügung erscheint schon in dem D iatessa­
ron der L üttich er Ü bersetzung ins M ittelniederländische und in der arabischen
Ü bersetzung.27
Van R eeth hat auch für die koranischen Legenden der K indheit M ariä (K oran
3,35-48), Johannes des Täufers (19,3) und Jesu (3,37; 19,22-26) gezeigt, dass der
Koran hier ebenfalls in der T radition des D iatessaron steht.28 Wenn auch die H e­
ranziehung des D iatessaron nicht alle Einzelheiten erklärt, die der Koran über das
Leben Jesu berichtet, „so konnte doch M oham m ed auf der Einheit des E vangeli­
um s bestehen, indem er sich, natürlich ohne es zu sagen, auf das D iatessaron
stützte, genau so w ie M anes es vor ihm getan hatte. A uf diese Weise trat er die
N achfolge von M arkio n, Tatian und M anes an, die das w ahre E vangelium herstei­
len oder w iederherstellen w ollten, um dessen ursprüngliche B edeutung w ied erzu ­
geben. Sie dachten (ganz besonders M anes und M oham m ed), dass sie dieses W erk
der H arm onisierung oder A nnäherung tun dürften, w eil sie sich für den Parakletos hielten, den Jesus verheißen h atte.“29
D ie entsprechenden Them en im Koran - näm lich Zacharias, Johannes der T äu ­
fer, M aria, Jesus usw. betreffend - hat man m it dem N euen Testam ent, den neutestam entlichen A p o kryp h en ,30 dem D iatessaron, der Peshitta verglichen. Diese
können m ögliche direkte oder indirekte Q uellen des Koran sein.31
27 C ebus C . de Bruin (H g.): D iatessaron Leodiense. Leiden 1970, S. 92, §§ 93-94; A.-S. M arm ardji (H g.): D iatessaron de Tatien, texte arabe. Beirut 1935, S. 159 f.
28 Jan Van Reeth: L’evangile du prophetc. In: De Smet/de C allatay/V an Reeth (H g.). A l-K itab (w ie Anm. 19), S. 155-174, hier: S. 163; zu einem m öglichen Einfluss des D iatessaron und
der apokryphen Evangelien auf den Koran vgl. Joachim G nilka: Die N azarener und der Ko­
ran. Eine Spurensuche. Freiburg im Breisgau 2007, Kap. 6; ders.: Q ui sont les chretiens du
C oran? Paris 2008.
29 Van Reeth: L’evangile du prophete (w ie Anm. 28), S. 174; vgl. Simon: M änl (w ie Anm. 16),
S. 134: „Both M anicheism and Islam assert the seriality of prophets“; Andrae: O rigines (wie
Anm. 13), S. 209; Ahrens: M uham m ed (w ie Anm. 16), S. 130-132.
30 Zum Beispiel Edgar L udw ig H ennecke: N eutestam entliche A po kryph en in deutscher
Ü bersetzung. 2 Bde. H g. von W ilhelm Schneemelcher. Tübingen 31959—L964; Jam es K. El­
liott: The apocryphal N ew Testament. A collection of apocryphal C hristian literature in an
English translation. O xford 1993 [A N T ]; ders.: The apocryphal Jesus. Legends of the E arly
C hurch. O xford 1996; Abraham Terian: The Arm enian Gospel of the Infancy. W ith three
versions of the Protoevangelium of Jam es. O xford 2008; Francois Bovon/Pierre G eoltrain
(Fig.): Ecrits apocryphes chretiens. Paris 1997 [E A C],
31 W ilhelm Rudolph: Die A bhängigkeit des Q orans von Judentum und C hristentum . Stutt-
Das jü d isch ch ristlic h e U m fe ld bei der E n tste hu ng des K oran
67
Dass die koranischen B erichte, die christliche T hem en behandeln, zutiefst
durch ap o kryp h e Evangelientexte geprägt sind, w ird bereits daraus ersichtlich,
dass in Sure 3,35-37 der Z yklus der E rzählungen m it der G eschichte von M ariä
G eburt und K indheit eröffnet w ird, die ihre breite E ntsprechung in dem Protoevangelium des Jakob us (entstanden nach 150)32 und in dem Pseudo-M atthäusevangelium (entstanden w ahrscheinlich im V III. Jah rh un dert) hat. Das Protoevangelium des Jakob us w ar in der O stkirche und besonders bei den Ebioniten
hoch geschätzt.33
U nter anderem w erden hier noch zw ei Episoden aus den K indheitsgeschichten
Jesu erw ähnt, die nicht in dem (edierten) Protoevangelium des Jakob us aufge­
zeichnet sind, aber im Koran stehen, und zw ar das V ogelw under (16,49; 5,110)
und der B ericht über die rettende Palm e (19, 2 3 -26 ).34 Das vom Jesuskin d ge­
w irk te V ogelw under w ird in dem K indheitsevangelium des Thom as (Ende des
II. Jahrhunderts) erzählt. Es findet an einem Sabbat statt, und ein Ju d e nim m t da­
ran A nstoß, ein D etail, das ein Indiz für den judenchristlichen H intergrund dieses
Evangelium s sein könnte.35
Das W under der rettenden Palm e spielt im Pseudo-M atthäusevangelium auf der
Reise nach Ä gyp ten , im Koran (19,23-26) aber an einem „fernen O rte“.36 D iese
„V erwechslung“ könnte von der T radition des Tatian herstam m en, in der man
viele „w ilde Lesungen/w ild read in gs“ findet, die das D iatessaron besonders in
m anichäistischer Tradition kennzeichnen.37
gart 1922; H einrich Speyer: Die biblischen Erzählungen im Q oran. H ildesheim 31988,
S. 449-458; Karl Ahrens: C hristliches im Koran. Eine N achlese. In: Zeitschrift der D eut­
schen M orgenländischen G esellschaft 84 (1930), S. 15-68; D aniel Sidersky: Les origines des
legendes m usulm anes dans le C oran et dans les vies des prophetes. Paris 1933, S. 135-154;
Bartolom eo Pirone: La trachzione dei testi evangelici n ell’am biente form ativo di M uham m ad.
In: Roberto Tottoli (H g.): C orano e Bibbia. Brescia 2000, S .133-175. Vgl. auch Van Reeths
oben genannten A rtikel.
32 Protoevangelium des Jako b us, Kap. 5 -8 . In: H ennecke: A pokryphen (w ie Anm. 30), Bd. I,
S. 281-283; Elliott: A N T (w ie Anm. 30), S. 59f.; Bovon/G eoltrain (H g.): E A C (wie
Anm. 30), S. 86-89; Pirone: La tradizione (w ie Anm. 31), S. 157 f.
33 G nilka: Die N azarener (w ie Anm. 28), S. 99 f.
34 Ebd., S. 102 f.
35 K indheitsevangelium des Thom as, Kap. 2, in: H ennecke: A p okryphen (wie Anm. 30),
Bd. I, S. 293 f.; Elliot: A N T (w ie Anm . 30), S. 75 f. (G reek A ) und S. 81 (G reek B); Bovon/
G eoltrain (H g.): EA C (w ie Anm. 30), S. 309, S. 196; Pirone: La tradizione (wie Anm. 31),
S. 142 f.
36 Pseudo-M atthäusevangelium 20, in: Elennecke: A p okryphen (w ie Anm. 30), Bd. I,
S. 307f.; Elliot: A N T (w ie Anm. 30), S. 95 f.; Bovon/Geoltrain (H g.): EAC (wie Anm. 30),
S. 138; Pirone: La tradizione (w ie Anm . 31), S. 167f.
37 Van Reeth: L’evangile (wie Anm. 28), S. 165 f.; de Bruin (H g.): D iatessaron (wie A nm . 27),
S. 16 (englische Ü bersetzung, S. 17): „They found a shed made of twigs in the street“.
68
C l a u d e Gillio t
III. Die frühen Exegeten
Die frühen islam ischen Exegeten bleiben im G roßen und G anzen in der K ontinui­
tät der judenchristlichen A usrichtung. D ie exegetische T ätigkeit der frühesten
Exegeten w ird nicht in selbständigen Büchern greifbar. Ihre exegetischen T raditio­
nen, oder solche, die ihnen zugeschrieben sind, findet man in späteren koranischen Kom m entaren, m eistens m it T radentenketten versehen. D ie für das Bild
vom C hristentum und vom Judenchristentum - oder für die Vorstellungen davon
- w ichtigsten sind:38 ‘Abd A lläh b. ‘A bbäs (st. ca. 69/687), Sa'id b. G ub ayr (st. 95/
713), M ugähid b. G abr (st. 104/722), 'Ikrim a (st. 105/723), der ein K lient des Ibn
‘Abbäs w ar, al-D ahhäk b. M uzähim (st. 105/723), H asan al-B asrl (st. 110/728),
M uham m ad b. K a'b al-QurazT (st. 118/736), Q atäda b. D i'äm a (st. 118/736), der
kufische E rzähler al-SuddT (al-K ablr, st. 127/746), al-RabT‘ b. A nas (st. 136/756
oder 139) von Basra, der in Transoxanien w irk te, und al-K alb l (M uham m ad b. alSä’ib, st. 146/763), dessen Exegese oft als abhängig von Ibn ‘A bbäs angesehen
w ird. Er hatte eine sfitisch e A usrichtung.
W ir haben auch Exegeten, deren K om m entare auf uns gelangt und ediert w o r­
den sind: M uqätil b. Sulaym än (st. 150/767), der Yem enit M a'm ar b. R äsid (st.
154/770), der Basrier Y ahyä b. Salläm (st. 200/815), der B asrier jüdisch er H erkunft
A bü ‘U b ayd a (M a'm ar b. al-M utan n ä, st. 206/821), der kufische G ram m atiker alF arrä5 (st. 207/822). A ndere gelten nicht als Exegeten. Trotzdem haben sie exege­
tisches, geschichtliches und pseudo-historisches M aterial m itgeteilt, w ie Ka‘b alA h b är (H eb. häber, st. ca. 32/652), ein yem en itisch er Jude, der zum Islam ü b er­
trat. D ie B erichte, die ihm zugeschrieben w erden, bestehen aus judenislam ischen
oder judenchristlichen T raditionen. W ahb b. M unabbih (st. 114/732), „der M anetho der Südarab er“, ist Yem enit persischer H erkunft. Ihm w ird zu U nrecht ein
K orankom m entar zugeschrieben. M uham m ad b. Ishäq (st. 150/767) w ar der H is­
toriograph und der A uto r einer Vita des Propheten M oham m ed.
IV. N azarener (Christen?) et alii - die „wahren“ Christen
sind die Muslime
D ie Exegese von Koran 28,52-55 ist sehr charakteristisch für das theologische
Im aginaire (die G eistesw elt) des Islam:
„(52) D iejenigen, denen w ir die Schrift zuvor gaben, die glauben daran. (53) U nd w enn es
ihnen verlesen w ird, sprechen sie: W ir glauben daran, es ist die W ahrheit von unserm H errn.
Siehe, w ir w aren M uslim e, bevor es kam [ ...] .“
38 W eitere Angaben und eine B ibliographie dazu bei C laude G illiot: A rt. Exegesis of the
Q u r’än: C lassical and M edieval. In: E ncyclopaedia of the Q u r’än, Bd. II. Leiden 2002, S. 9 9 124; ders.: Art. Traditional disciplines of Q u r’anic studies. In: E ncyclopaedia of the Q u r’an,
Bd. V. Leiden 2006, S. 318-339; ders.: K ontinuität und W andel in der ,klassischen' islam i­
schen K oranauslegung (II./VIII.—XII./XIX. Jh .). In: Der Islam 85 (2010), S. 1—155, hier: S. 6 -
22.
Das jü d isch ch ristliche U m fe ld bei der Entstehung des K oran
69
N ach M ugähid w aren diese Leute: „die M uslim e (m aslam a/m uslim lahl al-K itäb)
unter den Leuten des Buches (oder die Sch riftb esitzer)“.39 Im A llgem einen haben
die Exegeten nicht gern, w enn etwas nicht identifiziert ist. Sie versuchen daher, die
im Koran nicht spezifizierten Personen, G egenstände oder Episoden m it h isto ri­
schen, pseudo-historischen und erbaulichen A nekdoten und B erichten zu iden ti­
fizieren, das heißt, w as „un klar“ oder „m ehrdeutig“ ist, zu benennen (td y ln almubham ).‘i0 D ieser Prozess w urde allm ählich zu einem exegetischen G enre: asbäb
al-nuzül, „die U rsachen der H erab kun ft“ (der Suren oder der Verse), anders ge­
sagt „die A nlässe der O ffenbarung“.
Für unser Them a sei hier nur kurz angem erkt, dass die Polem ik über die soge­
nannte „Ä nderung, Fälschung, oder V erdrehung“ (tagyir, tahrif, tabdil) der
Schrift durch Juden und C hristen in der frühen Exegese schon eine gew isse R olle
spielt. Sie bleibt aber ganz allgem ein im U nterschied zur Exegese der kom m enden
Jah rhunderte. D ort entfaltet sich die Polem ik und w ird präziser, ganz besonders
bei den sogenannten Verheißungen der B ibel, die auf M oham m ed bezogen w er­
den.41 Für die Exegeten sind die M uslim e die „w ahren“ C h risten und die w ahren
A nhänger C h risti, so M uqätil b. Sulaym än: „Die Leute der R eligion Jesu sind die
M uslim e. Sie stehen über allen R eligio n en .“42 D eswegen w erden Personen ange­
führt, die „Leute des Buches w aren, die an die Torah und das E vangelium (alingil) glaubten. Dann trafen sie M uham m ad und glaubten an ih n .“43 D arunter ist
zu verstehen, dass sie „M uslim e“ geblieben w aren: Sie kannten die „unver­
fälschte“ Torah und das „unverfälschte“ E vangelium , in denen M oham m ed ver­
heißen sein sollte. Verschiedene G ew ährsleute w erden dafür genannt, z.B . Juden
39 Tabari: TafsTr. Bis Koran 14, Ibrahim , 27, hg. von M ahm üd M. Säkir/A. M. Säkir, Bd. I XVI, Kairo 1954-1968, für den Rest des Korans: hg. von A. Sa’ld 'A ll u .a ., Bd. X III [S. 219
(14, Ibrahim , 28)]-X X X . Kairo 1954-1957, hier: Bd. XX, S. 89: fl maslam a ahl al-kitäb;
M ugähid: Tafsir. Bd. I—II. H g. von ’Ar. B. T ähir b. M . al-Süratl. Q atar 1976, hier: Bd. II,
S. 488: fi m uslim l.
40 Ignaz G oldziher: Die R ichtungen der islam ischen K oranauslegung. Leiden 31970, S. 2 89306.
41 M artin Schreiner: Zur Geschichte der Polem ik zw ischen Ju d en und M uham m edanern. In:
Zeitschrift der D eutschen M orgenländischen G esellschaft 42 (1888), S. 591-675, hier: S. 595,
neu gedruckt in: ders.: G esam m elte Schriften. Islam ische und jüdisch-islam ische Studien
(= C ollectanea, Bd. 11). H g. von M oshe Perlm ann. H ildesheim 1983, S. 75—159; Ignaz G old­
ziher: Ü ber m uham m edanische Polem ik gegen Ahl al-kitäb. In: Zeitschrift der D eutschen
M orgenländischen G esellschaft 32 (1878), S. 341-387, neu gedruckt in: ders.: Gesam melte
Schriften. H g. von Joseph de Som ogyi. Bd. 2. H ildesheim 1968, S. 1-47; H ava Lazarus-Y afeh: A rt. Tahrif. In: E ncyclopedic de l ’islam , Bd. X. Leiden 2002, S. 120f.; N orm an Roth:
Fo rgery and A brogation of the Torah: A Them e in M uslim and C hristian Polem ic in Spain.
In: Proceedings of the Am erican A cadem y for Jew ish Research 54 (1987), S. 203-236; C a ­
m illa A dang: M uslim w riters on Judaism and the H ebrew Bible. From Ibn Rabban to Ibn
H azm . Leiden 1996.
42 M uqätil b. Sulaym än: Tafsir. Bd. I-V. H g. von Al. M ahm üd Sihäta. Kairo 1980-1989, hier:
Bd. I, S. 279, ad Koran 3,55.
43 A l-D ah h äk b. M uzähim . In: Tabari: Tafsir (w ie Anm . 39), Bd. X X , S. 88, ad Koran 28,5152.
70
C l a u d e Gillio t
w ie ‘A tiy y a al-QurazT,44 A bü R ifä'a, ‘A bd A llah b. Saläm oder der Zoroastrier/
C h rist Salm än al-FärisT.45 Für andere Exegeten w ie M uqätil b. Sulaym än, w ar der
A nlass für die O ffenbarung von Koran 28,52, dass „vierzig M uslim e, M änner von
den Leuten des Evangelium s m it G a'far b. a. T älib [al-T ayyär] (als er von Ä th io ­
pien zurückkam ),46 zusam m en m it acht M ännern aus Syrien: B ahlrä, A braha, alA shraf, D urayd , Tam mäm , A ym an, IdrTs and N äfi‘“ nach M edina kam en.47
Dem M önchtum bzw. dem Zölibat oder der A skese einer christlichen G ruppe
w ird das „M önchtum “ des Islam entgegesetzt, so in einer prophetischen Tradi­
tion: „Jeder Prophet hat sein M önchtum ; das M önchtum dieser G em einde ist der
heilige Krieg (al-gihäd f i sabil A lläb ).“48
D er Standpunkt der ersten G enerationen von M uslim en der A skese gegenüber
blieb am bivalent. E inerseits w urden gew isse Form en der A skese zurückgew iesen.
A ndererseits erzählte man, dass M oham m ed schon vor der O ffenbarung einen
M onat oder m ehrere Tage und N ächte hintereinander in der H öhle des Berges von
H irä’ allein zu leben pflegte und sich dort asketischen Ü bungen bzw. A ndachts­
übungen (tabannut) hingab, w ie es Sitte bei manchen Q uraysch iten gewesen sein
mag. N ach B eendigung dieser from m en Ü bungen speiste er die A rm en, die zu
ihm kam en.49 D iese asketische A usrich tun g ging so w eit, dass zehn G efährten
M oham m eds50 die A bsicht gehabt haben sollen w ie Eunuchen zu leben und als
B üßer in der W elt um herzuw andern (an yasihü, das heißt die siyäha p raktizieren ,
w ie A sketen um herw andern):51 im Z ölibat leben (tabattalü), in M önchskutten ge­
44 Ü ber ihn vgl. Ibn al AtTr ‘Izz al-D ln: U sd al-gäba fT m a'rifat a§-sahäba. Bd. 1-VII. H g. von
M . F äyid u.a. Kairo 21970, hier: Bd. IV, S. 46, Nr. 3689: die jungen Kinder, die unbärtig w a­
ren, w urden nicht getötet; W üstenfeld (H g.): Leben (w ie Anm . 10), S. 688-692; G uillaum e:
The Life of M uham m ad (wie Anm. 10), S. 463-51.
45 T abari: Tafslr (w ie Anm . 39), Bd. XX, S. 88 f.
46 N ach Sa'Td b. Ju b ay r w aren sie Ä thiopier; Sprenger: Leben (wie Anm . 5), Bd. II, 38 0 f.
47 M uqätil: TafsTr (w ie Anm. 42), Bd. I ll, S. 348-349, ad Koran 28,52; vgl. Ibn al AtTr: U sd algäba fi m a’rifat al-sahäba. Bd. I—VII. H g. von M ahm üd F äyid u .a . Kairo 1963, hier: Bd. I,
S. 56; Sprenger: Leben (w ie Anm . 5), Bd. II, S. 380 f., nach al-W äh id l, m it U nterschieden in
den N am en und der Rechtschreibung, die ohnehin unsicher ist.
48 Ibn H anbal: M usnad. Bd. I-V I. Kairo 1895, hier: Bd. I ll, S. 266, auch Bd. I ll, S. 82; vgl.
auch Ibn H anbal: M usnad. H g. von Säkir u .a . Bd. I-X X . Kairo 1995, hier: Bd. XI, S. 278,
Nr. 13742 und Bd. X, S. 257, Nr. 11713.
49 W üstenfeld (Hg-): Leben (w ie Anm. 10), S. 152 f.; Das Leben M oham m eds. Aus dem A ra­
bischen übersetzt von Gustav Weil (w ie Anm . 10), Bd. 1, S. 113f.; G uillaum e: The Life of
M uham m ad (wie Anm. 10), S. 105 f.; Sprenger: Leben (wie Anm. 5), Bd. I, S. 330-337; M eir J.
Kister: al-Tahannuth. An in q uiry into the m eaning of a term. In: B ulletin of the School of
O riental and A frican Studies 31 (1968) 2, S. 223-236, m it vielen anderen R eferenzen; Gerald
R. H aw ting: Art. Tahannuth. In: E ncyclopedie de l ’Islam , Bd. 10. Leiden 2002, S. 106.
50 M uqätil: TafsTr (w ie Anm. 42), Bd. I, S. 498 f., gibt die N am en, vor allem ‘U tm än b.
M a’züm al-G um ahl. Ü ber ihn vgl. Ibn Sa'd: al-T abaqät al-kub rä, Bd. I-IX . B eirut 19573959, hier: Bd. I ll, S. 393-395; vgl. Sprenger: Leben (w ie Anm. 5), Bd. I, S. 579, S. 3881.
51 D aniel C aner: W andering, begging m onks. Spiritual auth o rity and the prom otion of monasticism in Late A n tiq u ity (= The transform ation of the classical heritage, Bd. 33). B erkeley
2002 .
Das jü disch ch ristlic h e U m fe ld bei der En tstehu ng des K oran
71
hen, sich m ancher Speisen enthalten und sich entm annen (an y a q ta a b ad u h u m
m adhäklrahum : exstirpare testiculos suos),52
B em erkensw ert ist, dass das koranische sogenannte H anifentum (al-hanafiyya)
m it dem M anichäism us53 bzw. m it den Sabiern verbunden sein kann. N ach alKalbT (st. 146/763): „Die Sabier sind Leute zw ischen Juden und C hristen; sie ra­
sieren die H aare in der M itte des Kopfes und entm annen sich (yagubbüna magäkirahum ).“54 O der nach M uqätil: „Sie sind Leute, die G ott bekennen, die Engel
verehren, die Psalm en rezitieren (al-zabür) und in die R ichtung der Ka'ba beten;
sie haben von jed er R eligio n etwas genom m en.“-'’ 5 D ie oben erw ähnten asketi­
schen Elem ente, die - w ie bem erkt - im Koran und von M oham m ed aufgegeben
w urden, w aren vor M oham m ed und zu seiner Zeit in A rabien bekannt. Es ist gar
nicht erstaunlich, dass M oham m ed bei seinen heidnischen Volks- und Z eitgenos­
sen als Sabier angesehen w urde, sogar von ‘U m ar selbst, bevor dieser sich der
neuen R eligion un terw arf (aslam a): „Ich w ill M oham m ed (töten), dieser Sabier
(hädä l-säbi’), der die Q uraisch für Toren erklärt, ihren G lauben geschm äht und
ihre G ötter gelästert h at.“56
Elem ente von kulturellem G edächtnis findet man auch in Koran 57,27 und des­
sen Exegese:
„Alsdann ließen w ir unsre Gesandten ihren Spuren folgen; und w ir ließen Jesus, den Sohn
der M aria, folgen und gaben ihm das Evangelium und legten in die H erzen derer, die ihm
folgten, Güte und Barm herzigkeit. Das M önchtum (al~rabbayiiyya)bl jedoch erfanden sie sel­
ber; w ir schrieben ihnen nur vor, nach Gottes W ohlgefallen zu trachten, und das nahm en sie
52 T abarl: Tafsir (w ie Anm. 39), Bd. X, S. 514-521, ad Koran 5,87 nach Tkrim a, Ibn ‘Abbäs,
Ibn Zayd, Q atäda, al-Suddl, M ugähid etc.; T a'labt: al-K asf wa al-bayän [Tafsir], Bd. I-X . Hg.
von Abü M uham m ad ‘A li ‘Äsür. B eirut 2002, hier: Bd. IV, S. 101; vgl. al-B ukhäri: Sahlh, 67,
N ikäh, 8. In: Le R ecueil des traditions mahometanes par Abou A bdallah M oham m ed ibn
Ism ail el-B okhari. Bd. I-IV. H g. von L udolf Krehl, fortgesetzt von Theodoor W illem Ju yn boll. Leiden 1862-1908, hier: Bd. I ll, S. 413 f.
53 Gil: The creed (w ie Anm . 4), S. 13—15; G uy M onnot: Sabeens et idolätres selon ‘Abd al~
Jabbär. In: ders.: Islam et religions (= Islam d ’hier et d ’aujo urd ’hui, Bd. 27). Paris 1986,
S. 207-237, hier: S. 207-227, et passim.
34 T a'lab l: Tafsir (w ie Anm. 52), Bd. I, S. 209, ad Koran 2,61; vgl. M uqätil: Tafsir (w ie
Anm. 42), Bd. I, S. 112; Sprenger: Leben (wie Anm. 5), Bd. I, S. 579, S. 388 f.
55 T a'lab l: Tafsir (w ie Anm . 52), Bd. I, S. 209.; vgl. M uqätil: Tafsir (w ie Anm . 42), Bd. I,
S. 112, ungefähr dasselbe; Q urtubl: Tafsir = al-G äm i’ li-ahkäm al-Q u r’än. Bd. I-X X . LIg. von
Ahm ad ‘Abd al-'A lIm al-B ard ü nl u .a . Kairo 1952-1967, hier: Bd. I, S. 434, nach H asan alBasri; vgl. al-Gassäs: Ahkäm al-Q u r’än. Bd. I—III. Istanbul 1916-1919, hier: Bd. I ll, S. 9.
36 W üstenfeld (H g.): Leben (wie Anm. 10), S. 225; vgl. Das Leben M oham m eds. Aus dem
A rabischen übersetzt von Gustav Weil (w ie Anm. 10), Bd. 1, S. 168, dort w ird al-säbl mit
„abtrünnig“ übersetzt; G uillaum e: The Life of M uham m ad (w ie Anm. 10), S. 156, übersetzt
den Begriff m it „apostate“; Ju lius W ellhausen: Reste arabischen H eidentum s. Berlin 21897,
S. 236, übersetzt die Stelle m it „Q abier“ (Täufer).
57 Andrae: Zuhd und M önchtum (w ie Anm . 22); Edmund Beck: Das christliche M önchtum
im Koran. In: Studia O rientalia (H elsinki) 13 (1946) 3, S. 1-29; Sara Sviri: W a-rahbänlyatan
ibtada'ühä. An an alysis of traditions concerning the origin and evaluation of C hristian monasticism. In: Jerusalem Studies in A rabic and Islam 13 (1990), S. 195-208; Sidney H . G rif­
fith: Art. M onasticism and m onks. In: E ncyclopaedia of the Q u r’an, Bd. III. Leiden 2003,
S. 405-408, hier: 405-407.
72
C l a u d e G illio t
nicht in acht, w ie es in acht genom m en zu w erden verdiente. Den G läubigen unter ihnen aber
gaben w ir ihren Lohn, w iew ohl viele von ihnen Frevler w aren“.
Für M uqätil b. Sulaym än (nach Jesus dem Sohn M ariä)
„nahm die Zahl der P olytheisten zu, und sie besiegten und erniedrigten die G läubigen, die
sich zurückzogen und in Klausen w ohnten. Da aber diese Situation lange dauerte, ließen
manche von ihnen von der R eligion Jesu ab (raga a ‘an) und erfanden das C hristentum (alnasräniyya), deswegen sagt Gott ,das M önchtum jedoch erfanden sie“, sie lebten entsagend/
keusch (tabattalü) im D ienste Gottes [...] . A ber [indem sie so lebten] sie hielten nicht ein,
was ihnen befohlen w urde, als sie als Ju d en und C hristen handelten [oder: sich Juden und
C hristen nannten]. M anche von ihnen aber verharrten (aq äm a ‘alä) bei der R eligion Jesu, bis
sie die Zeit M uham m ads erreichten. Da glaubten sie an ihn. Sie w aren vierzig: zw ei und d rei­
ßig von A byssinien, und acht von S yrie n .“58
Diese M ischung von kulturellem G edächtnis einerseits und von polem ischen und
apologetischen Zügen andererseits erscheint auch in d er A rt und Weise, in der sich
die Exegeten die „G eschichte“ der Spaltungen der C hristen nach Jesus vorstellen
und sie darstellen. D er allgem eine R ahm en ihrer B erichte ist der folgende: N ach
Jesus spalteten sich die C h risten in zw ei, drei oder vier G ruppen, die alle den Leh­
ren Jesu untreu w aren; nur eine einzige G ruppe blieb ihnen treu, die sogenannten
„M uslim e“. Sie w urden aber von den anderen (untreuen) G ruppen besiegt, bis
M oham m ed kam. Da erkannten m anche A nhänger dieser treuen G ruppe in ihm
den Propheten, den Jesus angekündigt hatte.
So berichtet Ibn ‘A bbäs, in der Ü berlieferung des Sa'ld b. G u b ayr:59 A ls Jesus
von G ott zum H im m el erhoben w urde, sagte eine G ruppe (firqa): „G ott w ar un ­
ter uns, so lange er es w ollte, dann ist er zum H im m el aufgestiegen.“ Das sind die
Jakob iten . Eine zw eite G ruppe sagte: „Gottes Sohn w ar un ter uns so lange G ott es
w o llte, dann hat G ott ihn zu sich erhoben.“ Das sind die N estorianer. Eine dritte
G ruppe sagte: „Der D iener und G esandte Gottes (‘abd A lläh w a rasüluhü) w ar
unter uns so lange G ott es w ollte, dann hat er ihn zu sich erhoben.“ Das sind die
M uslim e. D ie zw ei ungläubigen Parteien (das heißt die zw ei ersten G ruppen)
m achten gem einsam e Sache gegen die M uslim e und töteten sie. D er Islam w urde
un terd rückt bis M oham m ed kam. D a erkannten ihn diejenigen der Söhne Israels
(Judenchristen), die gläubig geblieben w aren, das heißt diejenigen, die „M uslim e“
geblieben w aren.
O der nach M uqätil b. Sulaym än:
„Die C hristen (Nasärä, N azarener oder N azoräer) spalteten sich in drei G ruppen: D ie N es­
torianer sagten, dass Jesus Gottes Sohn ist; die Jakobiten (a l-m ä r y a q ü b iy y a ), dass er Gott
ist; die M elkiten (al-M alkäniyyün), dass er ein dritter von dreien ist (vgl. Koran 5,73).“<>0
58 M uqätil: Tafslr (w ie Anm . 42), Bd. IV, S. 246.
59 Tabari: Tafslr (w ie Anm. 39), Bd. X XV III, S. 92, ad Koran 61,14; Ibn 'A säk ir: Ta’rih madTnat D im asq. Bd. I-L X X X , H g. von M uhibb al-D ln al-'AmrawT u .a . B eirut 2001, hier:
Bd. XLVII, S. 473; Suleim an A. M ourad: Jesus according to Ibn ‘A säkir. In: Jam es E. L indsay
(H g.): Ibn ‘Asäkir, and early Islam ic h isto ry (= Studies in late an tiq u ity and early Islam,
Bd. 20). Princeton 2001, S. 24-43, hier: S. 30 und Anm. 21.
60 M uqätil: Tafslr (w ie Anm. 42), Bd. II, S. 628, ad Koran 19,37; vgl. TabarT: Tafslr (wie
Das jüdisch ch ristlic h e U m fe ld bei der E n tste hu ng des Koran
73
In Sure 2,89 heißt es:
„Nachdem nun ihnen kam ein Buch von Seiten Gottes, bestätigend das, was sie selber haben;
da sie nach Gottes H ülfe sonst gerufen gegen die Verleugner [yastaftihüna 'alä lladlna ka~
f a r ü , oder: „und zuvor hatten sie um Sieg über die U ngläubigen gefleht“], - nachdem nun ih­
nen kam, was [der M essias] sie erkannten w ol, verleugneten sie’s doch; Gott aber hat geflucht
den L eugnern.“ (Ü bersetzung Fr. R ückert).
M an geht davon aus, dass sich diese Passage auf die Juden in M edina bezieht, die
M oham m ed [den M essias/parakletos] nicht anerkennen w o llten . So al-Suddl:
„Wenn die A raber bei den Juden vorübergingen, quälten diese sie. Die Juden aber hatten in
der Torah den M uham m ad [vorhergesagt] gefunden. Sie baten G ott, dass er ihn sende, damit
sie unter seiner A nführung die A raber bekäm pfen könnten. A ls er aber gekom m en war, ver­
leugneten sie ihn (kafarü bihi), w eil er nicht israelitischer A bkunft w ar.“61
V. Zusammenfassung
Die Behandlung des Themas C hristen und C hristentum im Koran und in der früh­
islam ischen Exegese ist am bivalent. Einerseits kann sie positiv sein; andererseits
aber überw iegen die direkten oder indirekten kritischen und polem ischen B e­
richte.62 D ie guten C h risten seien diejenigen, die der sogenannten U rreligio n (Is­
lam ) treu geblieben seien, oder die C hristen, die M oham m ed als Prophet anerken­
nen w ürden. D er Koran und die islam ische Frühexegese enthalten Elem ente von
kulturellem G edächtnis, die im D ienst der P olem ik gegen C hristentum und J u ­
dentum benutzt w erden. Sie dienen auch dazu, die theologischen V orstellungen
(französisch: l’im aginaire religieux) m it historischen, pseudo-historischen und
m ythischen B erichten abzusichern.63 Wenn man das alles m it dem T hem a der In­
form anten M oham m eds64 und m it anderen B erichten der früheren islam ischen
T radition verknüpft,65 gelangt man zu einer G eschichte des Korans vor dem Ko~
Anm. 39), Bd. X, S. 482, ad Koran 5,73; A bd al-M ajid C harfi: C hristian ity in the Q u r’an
com m entary of Tabari. In: Islam ochristiana 6 (1980), S. 105-148, hier: S. 140 f.
61 Tabari: Tafslr (w ie Anm. 39), Bd. II, S. 330, Nr. 1527; Sprenger: Leben (w ie Anm . 5), Bd. I,
S. 160. Sprenger verw eist ebd. auf dieselbe Tradition nach „D zohaby, Tarych, S. 5“. Sprenger
hat eine H andschrift von Dr. J. Lee [w ahrscheinlich Sam uel Lee, 1783-1852, der berühm te
englische O rientalist] benutzt. Vgl. dazu jetzt ad-D ahabls G eschichte des Islam: ad-D ahabl:
Ta’rih al-isläm . Bd. I-L III. Hg. von ‘U. ‘A. Tadm url. Beirut 1487-1997, hier: al-M agäz!
(1987“), S. 34 f.
62 Jane Däm men M cA uliffe: Q u r’änic C hristians. An analysis of classical and m odern ex­
egesis. C am bridge 1991, S. 134-138; C harfi: C hristian ity (w ie Anm . 60), S. 134-138.
63 Vgl. G illiot: C hristians (w ie Anm . 1) zu r sog. R olle des H eiligen Paulus in den Vorstellun­
gen der frühen islam ischen Q uellen.
64 C laude G illiot: Les „inform ateurs“ juifs et chretiens de M uham m ad. Reprise d ’un P ro ­
bleme traite par A lo ys Sprenger et Theodor N öldeke. In: Jerusalem Studies in Arabic and
Islam 22 (1998), S. 84-126; ders.: Art. Inform ants. In: E ncyclopaedia of the Q u r’an, Bd. II.
Leiden 2002, S. 512-518; ders.: H erkunft (w ie Anm. 3).
65 G illiot: R econsidering the A uthorship of the Q u r’an. Is the Q u r’an P artly the Fruit of a
74
C l a u d e Gillio t
ran, und ganz besonders zur H ypothese der „aram äischen Spur“, die ich an ande­
rer Stelle behandelt habe.66
Abstract
In this paper we intend to show a relative co n tin uity betw een the narratives of the
Koran on Jesus, M ary, and relative topics (m ateria christiana) and the exegetical
traditions of early M uslim exegetes on these m atters. The sources of the Koran on
them are above all the D iatessaron and the A pocrypha of the N ew Testament,
above all several apocryphal G ospels. It appears that M oham m ed and some of
those w ho helped him w ere in relation w ith Pre-N icean C hristians or Jew ish C hristian s and also influenced b y M anicheism . It is not surprising because the
Koran is a docum ent of Late A n tiq uity, a period of svncreticism . As for the C h ris­
tians (or the N azarenes), for the Koran and for the Islam ic exegesis the “true
C h ristian s” are the M uslim s.67
Progressive and C ollective W ork? In: G abriel Said R eynolds (H g.): The Q u r’an in Its H isto ­
rical C ontext (= R outledge studies in the Q uran). A bingdon 2007, S. 88-108.
66 Ebd., S. 96-101; C laude G illiot: Le C oran, fruit d ’un travail collectif? In: De Smet/de C allatay/Van Reeth (H g.): A l-K itäb (w ie Anm . 19), S. 185-231; vgl. C hristoph Luxenberg: Die
syro-aram äische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. B er­
lin 2000; clers.: The Syro-A ram aic R eading of the Koran. A contribution to the decoding of
the language of the Koran. B erlin 2007.
67 These m atters have been more developed in: G illiot: C hristians and C hristian ity (see
note 1).
Sektion 2
Europa und die Islamische Welt.
Zur gegenseitigen Wahrnehmung in der Zeit vor dem
Ersten W eltkrieg
Sektionsleiter: Professor Dr. Tilm an N agel (G eorg-A ugust-U niversität G öttingen)
R e fe r e n t e n :
Dr. M ichael K reutz (U niversität H alle-W ittenberg)
Professor Dr. M aurus R einkow ski (U niversität Basel)
Dr. Yavuz Köse (L u d w ig-M axim ilian s-U niversität M ünchen)
Einführung
D ie G eschichte des in tellektuellen A ustausches zw ischen dem Westen und dem
islam ischen O rient ist im 19. und 20. Jah rh un d ert nicht eben glücklich verlaufen.
V ersucht man sie zu untergliedern, so ist zunächst zw ischen dem w estlichen Inte­
resse an der islam ischen W elt einerseits und dem B lick der M uslim e auf Europa
und N ordam erika andererseits zu unterscheiden. Es braucht hier nicht im E inzel­
nen dargelegt zu w erden, dass der Europäer den N ahen O sten vielfach als eine
W eltgegend betrachtete, deren schöpferische Kräfte längst erlahm t w aren und die,
w enn sie denn je w ied er von politischem G ew icht sein w ollte, sich der radikalen
V erw estlichung ihrer K ultur w erde öffnen müssen. Die D ebatte, die in diesem Z u­
sam m enhang von Ernest Renan angestoßen w urde, ist ein prom inentes Beispiel
hierfür. W eniger öffentliche A ufm erksam keit erregten Versuche w estlich er G e­
lehrter, zu einem tieferen V erständnis der islam ischen W elt zu gelangen. In den
80er Jah ren des 19. Jah rh un d erts w urd e an der Sorbonne der erste L ehrstuhl der
Islam w issenschaft eingerichtet. In D eutschland okkupierten islam w issenschaft­
liche Them en m ehr und m ehr die Forschung und Lehre der orientalistischen U n i­
versitätsinstitute.
Trotzdem blieben die in tellektuellen B eziehungen zw ischen beiden Seiten stark
asym m etrisch, was unm ittelbar einleuchtet. D enn die Frage, was V erw estlichung
heiße, w ie w eit sie gehen solle und w orin der W ert des eigenen, islam ischen Erbes
bestehe, w ar in der islam ischen W elt von höchster Brisanz und w urde dem gem äß
leidenschaftlich erörtert; sie w ar zudem auf vielfältige W eise m it der P o litik, ja mit
dem elem entaren W unsch nach F estigung der eigenen Identität und nach A uton o ­
76
T i l i m n N agel
mie verknüpft. In Europa dagegen taugte das T hem a O rient zw ar zur Entfachung
nationaler A ntagonism en: über Einfluss in jener W eltgegend zu verfügen, w ar eine
Sache des Prestiges. Es galt außerdem , strategische Vorteile zu erringen und zu
sichern und w irtschaftliche E ntw icklungsm öglichkeiten zu erschließen. Für das
ku lturelle Selbstverständnis der europäischen M ächte spielte der aktuelle Islam
jedoch eine N ebenrolle.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschoben sich die A kzen te ganz außero rden t­
lich, allerdings nicht, insow eit das w estliche Interesse am Islam und seiner K ultur
betroffen ist. Dieses ist bis auf den heutigen Tag gering und oberflächlich und er­
lischt auf der Stelle, sobald ein tieferes E indringen in die G eschichte und K ultur
der M uslim e einiges an A nstrengung erfordert. Was sich grundlegend verändert
hat, ist die islam ische Sicht auf den W esten und dessen in tellektuelle und m orali­
sche V erfasstheit. Das m eint keinesw egs, dass das islam ische Bild vom Westen
w irk lich keitsnaher gew orden w äre - das gew iss nicht! A ber es zeigt m einer p er­
sönlichen A nsicht nach nicht m ehr ein Gegenüber, dem man sich zu eigenem
N u tz und From m en aufschließen sollte, sondern ein karikiertes, fratzenhaftes G e­
sicht, und stets fällt der Vergleich m it diesem G esicht für den M uslim günstig aus,
nährt sein Em pfinden m oralischer Ü berlegenheit und rechtfertigt, w ie sich viel­
fach belegen lässt, das Ziel, den W esten zu islam isieren und dadurch aus seiner an­
geblichen m oralischen V erdorbenheit zu erlösen. N ichts zeigt diesen W andel so
eindrücklich w ie die B ew ertung der griechischen A ntike: In der zw eiten Flälfte
des 19. Jahrhunderts w urd e sie studiert, w eil man überzeugt war, sie berge das Ge­
heim nis der Ü berlegenheit Europas - heute w ird sie in populären türkischen P ub ­
likationen als der A usgangspunkt des w estlichen Irrw eges zu einer gottfernen,
verm eintlich nur auf den m ateriellen G ew inn zielenden W issenschaft geschm äht.1
D ie drei in dieser Sektion gehaltenen Vorträge stellten sich die A ufgabe, an jene
Phase der N eugier und A ufnahm ebereitschaft der islam ischen W elt im 19. Ja h r­
hundert zu erinnern, an einen Z eitabschnitt, der m it den Pariser Vorortverträgen
nach dem Ersten W eltkrieg endete. D ie H offnung der islam ischen W elt, m ittels
R ezeption der w estlichen Z ivilisation zum gleichberechtigten Partner der Sieger­
mächte aufzusteigen, w urd e schnöde enttäuscht, w as auf die Länge der Zeit hin
das B ild vom Westen im skizzierten Sinn entstellte. Jeder der Vorträge, nam entlich
derjenige über den Z ionism us und das O sm anische Reich, berührt überdies die
Frage, inw iefern die Ü bernahm en aus dem W esten auch die M ö glich keit enthiel­
ten, gegen den W esten ausgespielt zu w erden. In dieser H insicht sind die Vorträge
als drei anregende Ä ußerungen zu einer erst in U m rissen erforschten G eschichte
des in tellektuellen Einflusses des Westens auf die islam ische W elt der M oderne zu
verstehen.
Tilman Nagel
1 D etails entnehme man zu gegebener Zeit der im A pril 2009 bei der Philosophischen F ak u l­
tät der U niversität G öttingen eingereichten H abilitationsschrift von M artin Riexinger.
Michael Kreutz
The Greek Classics in M odern M iddle Eastern
Thought1
I. Empire and the Classics
D ealing w ith the relationship betw een the West and the W orld of Islam or Europe
and the M id d le East often results in characterisations like “m isapprehension”,
“m isconception” and “m utual p reju d ice” and m uch in k has been spilt over the
m anifold insufficiencies to understand the alleged other in the course of the cen­
turies. In fact, the intellectual and cultural exchange is an often underestim ated
chapter in the h istorical relations betw een East and West. W hile political ideas,
religious trends and cultural fashions are seldom curbed by political boundaries,
ideas invented and developed at one place of the earth tim e and again spill over and
gain im pact on other cultures and societies.
A fter N ap o leo n ’s conquest of E gypt in 1798, France and later B ritain had left a
different m ark on the M iddle East than the crusaders six centuries before.2 The ac­
com plishm ent of a high technical, scientific, but also literary level on the one hand
and the fact that W estern Europeans them selves w ere chasing their roots in the
M iddle East on the other hand both constituted the backdrop of a grow ing in ter­
est of Eastern M editerranean in tellectuals in W estern Europe and its culture.3
W hen the tw o W estern pow ers France and B ritain advanced into the Eastern
M editerranean, the Eastern A rab W orld was far from being free and independent.
Instead, it was under the tutelage of another power, the O ttom an Em pire, w hich
now becam e challenged b y European com petitors. From the A rab point of view,
this situation seemed quite am biguous, since m any intellectuals regarded Europe
1 C redits to Vicki Eleftheriadis (M elbourne) for corrections of style.
- It should be recalled that the C rusades w ere b arely part of the collective A rabic m em ory
since the A rabic language was lacking a w ord for crusader until the 19th cen tury w hen the
French book H istoire des cro isa d es (1812-22) by Joseph-Frangois M ichaud became tran s­
lated into Arabic.
3 M ichael Kreutz: M odernism us und E uropaidee in der Ö stlichen M ittelm eerw eit, 1821—
1939. Bochum 2005, passim: http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum .de/netahtm l/H SS/D iss/
K reutzM ichael/diss.pdf (accessed on 10. 5. 2010). O n the notion ‘Eastern M editerranean’ cf.
also Keith W atenpaugh: Being M odern in the M iddle East: R evolution, N ationalism , C o lo ­
nialism , and the Arab M iddle C lass. Princeton, O xford 2006.
78
M ic h a e l K reu tz
as a source of progress and intellectual challenge. P o ign an tly aw are that a certain
developm ent w alked past them since the O ttom an Em pire had spread over a large
part of the M iddle East and N orthern A frica, secular A rab intellectuals began to
seek after the prerequisites for the em ergence of the West. C atching up w ith W est­
ern Europe thus got on top of the agenda.
This attitude w as prevalent am ong A rab, T urkish, G reek, A lbanian and other
intellectuals in the Eastern M editerranean. A lthough in m any cases they rem ained
lo yal to the O ttom an em pire, French and B ritish accom plishm ents in philosophy,
technology and culture became paragons of progress at the expense of the O tto ­
man Em pire w hich was often regarded as responsible for centuries of an (factual
or alleged) cultural stagnation.4
II. Translating Progress
W hat was E urope’s secret, w hat constituted its essence? In general, tw o answers
w ere found around w hich an extensive discourse unfolded. The first answ er was
the lim itation of p o w er as reflected in the catchw ord “co n stitutio n alism ”. H ence
the B ritish am bassador to the O ttom an Em pire reported in the 1870s that the
w ord constitution “w as in every m o uth ”.5 W estern Europe - that is to say, B ritain
and France - w as found strong because it was not affected b y despotism . D espot­
ism w as seen as the m ajor cause of ham pering progress. C o n stitutio nalist m ove­
ments, triggered b y English constitutionalism and French political ideas, re­
m ained the m ajor intellectual force at that tim e and regarded as the k ey to sw iftly
p articipate in a m o dernity m odelled b y the W est.6
4 O n the deteriorating im age of the Turks as an alien pow er dom inating the A rab W orld in
the 19th and 2 0 'h century, see U lrich W. H aarm ann: Ideology and H istory, Identity and A l­
terity: The A rab Image of the Turk from the Abbasids to M odern E gypt. In: International
Jo urnal of M iddle East Studies 20 (1988), pp. 175-196, here: p. 186. The S yrian philosopher
Ahm ad B arqaw i goes as far as to say that the O ttom ans were not sim p ly anti-W estern but
anti-O riental as w ell. Achm ed N asim B arqaw i: M uhäw ala fl q irä’at ‘asr alnahda: al-isläh aldinT, al-n az’a al-q aw m iyya. B eirut 1988, p. 45.
5 Jam es L. Gelvin: The M odern M iddle East. A H istory. N ew York, O xford 2005, p. 140.
Such movements were not only popular in the Eastern M editerranean but part of a w ider
phenom enon. Gelvin goes on to state that “[•••] any explanation for constitutionalism in the
M iddle East m ust take into account the fact that constitutionalist movements also em erged in
such places as Japan (1874), R ussia (1905), M exico (1910), and C hina (1911).” Ibid., p. 141.
6 An eyew itness-account from a Lebanese-O ttom an perspective gives Sulaym än al-BustänT:
[in A rabic] ‘Ibra w a-dhikrä aw al-d aw la al-'u th m än iyya qabla al-dastur w a-ba'dahu. n.p.
1908. The w ork is dedicated to M idhat Pa^a, the “hero” of the constitutional reform, see R o­
bert D evereux: The First O ttom an C onstitutional Period. A Study of the M idhat C on stitu­
tion and Parliam ent. Baltim ore 1963; R oderich Davison: Reform in the O ttom an Empire,
1856-1876. Princeton 1963. O n constitutionalism in the Eastern Arab W orld, see Elie Kedourie: D em ocracy and Arab Political C ulture. W ashington 1992. A critical account on the
G reek constitutionalism gives loannis A. Tassopoulos: C onstitutionalism and the Ideological
C onversion to N ational U n ity under the G reek C onstitution of 1864. In: Anna Frangou-
The G reek Classic s in M o d e r n M id d le Eastern T h o u g h t
79
The second answ er as to w h y W estern Europe became so pow erful was believed
to be found in its cultural foundations, as a m atter of fact in the G reek antiquity. In
spite of E urope’s cultural and lin guistical diversity, its reference to the ancient
G reek heritage seemed to be a uniting elem ent of all European countries and all
intra-E uropean discussions about its ow n self-understanding. A rab intellectuals
w ere delighted upon this revelation since the Islam ic civilization was enorm ously
shaped b y the reception of the ancient G reek philosophers.7 And both answ ers, as
w ill be show n, cling together.
The period from the 8'^ to the 10th cen tury m arked the h eyd ay of translating
from G reek into A rab ic.8 Its m odern revival began ch iefly w ith the reforms under
M ahm oud II (r. 1808-1839, d. 1839) in the first half of the 19th century. Since then,
W estern Europe becam e the exam ple for all reform s ( tanzim ät ).9
A ll T urkish-O ttom an authors dealing w ith the classical an tiq u ity belonged to
endow m ents founded during the tanzim ät era. T h ey first came into contact w ith
the w ritings of ancient G reece through W estern oriented educational institutions,
where the language of instruction was m ain ly French. O f particular im portance is
an institute for advanced studies called the D ariilfiinun, founded in 1870. It came
into being b y a decree on general education in 1869 w hich laid the ground for a
m odern Turkish educational system . The D ariilfiinun educated a w hole genera­
tion of O ttom an historiographers and made them acquainted w ith classical
an tiq u ity.10
daki/C aglar K eyder (eds.): W ays to M o d ern ity in Greece and Turkey: Encounters w ith
Europe, 1850-1950. London, N ew York 2007, pp. 9-25.
7 J. K raem er speaks of a “pragm atic attitud e” w hich determ ines the relationship of modern
Arab intellectuals tow ards the Greek heritage, nam ely that Europe should be caught up w ith
as soon as possible; Jö rg Kraemer: Der islam ische M odernism us und das griechische Erbe. In:
Der Islam 38 (1963), pp. 1-27, here: p. 20. Strauss indicates that an interest in ancient history
and civilization “was am azingly popular am ong M uslim s intellectuals” in the 19t!l century.
Lie explains this not only by the novelty of the subject but also by “the aw areness of the p ri­
m ordial im portance of ancient - and especially classical - G reek culture and civilization for
the intellectual developm ent of the West [ . ..] .” Johann Strauss: The M illets and the O ttom an
Language: The C ontribution of O ttom an G reeks to O ttom an Letters (19tll- 2 0 tl' C enturies).
In: Die W elt des Islams 35 (1995) 2, pp. 189-249, here: p. 221.
s On the first translation movement, the “Abbasid N ah da” (A bbud), see R ichard W alzer:
Greek into A rabic. C am bridge 1962; G erhard Endress: Du grec au iatin ä travers I’arabe: la
langue, cicatrice d ’idees dans la term inologie philosophique. In: Jacqueline H am esse (ed.):
Aux origines du lexique philosophique europeen: Pinfluence de la ‘latin itas’. Actes du C o lloque international organise ä ome [...]. LouvainT a-N euve 1997, pp. 137-163; and D im itri
Gutas: G reek Thought, A rabic C ulture. The G raeco-A rabic Translation M ovem ent in Bagh­
dad and E arly ‘A bbäsid Society (2nd-4th/8th-10th centuries). London 1998.
9 The reforms w ere to some extent a result of foreign im pact and o rigin ally initiated b y the
Russian Em pire w hich intended to expand its influence into the Aegean. W hen the European
powers showed themselves un w illin g to except such a shift of im perial pow er they enforced
new borders. This was to the O ttom an E m pire’s advantage insofar as M acedonia remained
under its tutelage. In turn, the European pow ers replaced R ussia in guaranteeing the im ple­
mentation of reform s in the O ttom an Empire.
10 E.g. K ostantinidi Pa§a: Tarih-i Y unanistan-yi Kadim (histo ry of the ancient Greece, 1870);
Ahmed Egribozi: Tarihi K udem a-yi Yunan ve M akedonya (ancient history of Greece and
80
M ichael K reutz
For understanding W estern scholars like D escartes, R ousseau, M ontesquieu,
Leibniz, Spinoza, M ill, Bacon, B ergson, Schopenhauer, C om te, Taine and others,
a learned background in ancient p h ilosophy was useful, if not necessary. D uring
the tanzlm ät period the Eastern interest in W estern literature focused on England,
France and - to a lesser extent - G erm any. The perception of w riters like the Eng­
lishm an Shakespeare, French authors like La Fontaine, Fenelon, Racine and M oliere, and of G erm an poets as G oethe and Schiller paved the w a y for an intensified
occupation w ith the G reek and R om an classics. The acquaintance of ancient lan ­
guages and translations of ancient w ritin gs w ere the consequence.11 Soon, extracts
of H om er, H erodotus, X enophon, Aesop, E uripides, T heocritus, Plutarch and
Lucian in O ttom an Turkish took place. A t a later tim e also of Plato, A risto tle and
R om an w riters like M arc A urel, O vid and H o race.12
O ne of the m ost im portant translators in this early phase of perception was
Yusuf Kam il Pa§a (1806-1876) w ho held different posts in the civil service of the
sultans A b d iilaziz and A bdülm ecid and translated Fenelon’s Telemaque into O t­
tom an in its entirety. Published in 1862, this translation - encouraged b y M ünif
Pa§a (1828-94), another renow ned scholar and m em ber of the G reek L iterary
Society (’EMa]viKÖs <JhA.oXoyi.k0c XttXXoyog) w hich was founded in 1861 at the
initiative of G reek w riters, - m arks a cornerstone insofar as it is regarded b y m any
as the first literary translation of a W estern text into the O ttom an Turkish lan­
guage. The w o rk also became popular am ong G reeks since it was seen as a sort of
continuation of the O dyssey, Its p o p u larity epitom izes in the adaptation b y H oca
Sadik Efendi, as w ell as in a second translation b y A hm et Vefik Pa§a w ho w as one
of the few translators w ith a com m and of ancient G reek.13
O f p articular interest was the m yth o lo gy of the ancient G reeks. The poet and
teacher at a m ilitary school (harbiye) N ab izade N azim (1862-93) published in
1893 his m anual Esatir (“m yth s”) w hich w as follow ed tw o years later b y another
m anual w ritten by the A lbanian scholar §em seddin Sam i B ey Frasheri (18381892). Frasheri w as one of the few authors on this field w ho kn ew ancient G reek
w hich he acquired at the Z osim aia School - a reputable institution of higher learn ­
ing am ong the C h ristian elite in Southeast E urope.14
Interest in the classical an tiq u ity was soon to expand onto p o etry w hich was
grad u ally translated into Turkish and appeared in lite rary journals w here th ey also
M acedonia); and Todoraki Pa§a: Avrupa Tarih-i (histo ry of E urope); Barbara K ranz: Das
A ntikenbild der m odernen T ürkei. W ürzburg 1998, p. 20.
11 Kranz: A ntikenbild (see note 10), p. 22.
12 Kranz: A ntikenbild (see note 10), pp. 25 f.; cf. Strauss: M illets (see note 7), p. 228.
13 Strauss: M illets (see note 7), p. 213, pp. 217-219, p. 228, pp. 238 f.
14 B asilike D. Papoulia: Apo ten autokratoria sto ethniko kratos. Ideologikes kai koinönikes
proypotheseis tes politikes o rg an ises ton chörön tes C hersonesu tu aim u. Thessalonike
2003, pp. 286f.; Peter Bartl: A lbanien. Vom M ittelalter bis zu r G egenw art. R egensburg 1995,
p. 102. N ote that the first w ork on the p hilosophy of histo ry b y the French w riter Fontenelle
in 1724 was about the origins of the G reek m yths (De l’origine des fables). Fontenelle was
w id ely read among Eastern intellectuals at that time and parts of his w ork w ere translated
into Turkish and Greek.
T h e G r ee k Classic s in M o d e r n M id d le Eastern T h o u g h t
81
became discussed. The journal TercUme (“tran slatio n ”) published extracts not
o n ly of classical G reek philosophers but also of G reek poetry, such as that of
H om er, H esiod, A lcaeus, Sappho, Pindar and o th ers.15
III. Blurring East and West
In a few cases w e find examples of such a perception even before the governm ental
reform s, e.g. when in the 181'1 cen tury Y anyah Esat Efendi (d. 1730) translated the
Physics of A risto tle d irectly from G reek into O ttom an Turkish. T his, of course,
rem ained rather excep tio n al.16 M ost of the w ritin gs were translated not from
G reek, but m ostly from French sources. N evertheless, the Turkish translations
seem to be appropriate. J. K raem er w ho th o ro ugh ly exam ined the results, found a
precision in reflecting the original w hich was a n o velty in the histo ry of translating
G reek w ritin gs into M iddle Eastern languages.
The perception of the G reek an tiq u ity in the m odem Eastern M editerranean
took place in several stages, ending m ain ly w ith W orld W ar I, at latest w ith W orld
W ar II. In the 19th century, in some part even earlier, we find a slew of revivalist
m ovem ents in different regions of the O ttom an em pire, often accom panied by
ideas of enlightenm ent and being in close connection w ith the em erging national
m ovem ents. This is w hat the A lbanians called Rilindja, the G reeks Diafotismos,
the A rabs N ahda and so o n .17 A pivotal feature of all the renaissance movements
became the translation.
M arun A bbud, a contem porary historiographer of the A rabic N ahda and a M aronite C h ristian by him self dates back the beginnings of the N ahda to the M aronite bishop G erm anos Farhat (d. 1732) w ho w as to correct the translations of the
G ospels and the psalm s into A rabic. In fostering the A rab gram m ar - he is also the
15 Strauss: M illets (see note 7), p. 231. A gainst this backdrop it is of little w onder that con­
tem porary G reek intellectuals jum ped on the bandw agon and claim ed the usefulness of the
G reek language in “civilizin g the O rien t”.
16 U nder the title K itab iis-sem an iye, lit. “the eight b oo ks”, i.e. the books of the A ristotelian
Physics. K ranz: A ntikenbild (see note 10), p. 17.
17 In the Arab W orld the term N ah da (lit. “renaissance”) as a notion for the intellectual
m ovement of that tim e was lik e ly to be first used by AdTb Ishäq during the B erlin Congress
of 1878 w hen he called for the creation of a national adm inistration. This is reported byr
'U m ar al-D asüqi (nash’at al-nathr a l-‘arabl w a-tataw w u ruh u, n.d./p.), quoted via Jan Brugman: An Introduction to the H isto ry of M odern A rabic L iterature in Egypt. Leiden 1984,
p. 9, n. 3. Brugm an sees the N ahda in some opposition to 14th cen tury Renaissance in Europe
insofar as the first one is supposed to be m ore self-referential than the latter one. This as­
sum ption seems to be rather questionable as this paper shows. A lbert Elourani: A rabic
Thought in the Liberal Age, 1798-1939. C am bridge 122002, speaks of a “liberal age” and
avoids the term N ah da but the subject leaves no doubt w hat is meant. This is line w ith N ada
Tomiche: Art. N ahda. In: E ncyclopaedia of Islam, vol. 7. Leiden 1993, pp. 900-903, and also
Fouad A jam i w ho translates ‘asr al-N ah da as “era of enlightenm ent” w hich he dates back to
the early 1880s. Fouad A jam i: The Dream Palace of the Arabs. A G eneration’s O dyssey.
New York 1998, p. 114.
82
M ic h a e l K reu tz
author of a little com pendium for the proper pronunciation oi classical A rab ic18 and b y founding a scientific circle he supposedly initiated the renew al of the
A rabic culture. A bbud, him self of Lebanese extraction, sees the roots of the
A rabic N ahda, the cultural renaissance, in this context and p ro udly declares:
“ Lebanon is the first O ly m p u s” (Lubnän hm va al-U lim b al-a w w a l ) . 19
It is one of the characteristics of this era that p o etry and politics are p articu larly
intertw ined. A bbud rem inds his readers that the m edieval N ahda and predecessor
of the new revivalist m ovem ent had once begun w ith a renew al of the p o etry w hen
the M aronite astrologist of Baghdad, T heophilos of Edessa (T hlyäfll b. Tüm ä,
b. 695), translated Iliad and O d yssey into A rabic.20 This is a sp ecifically C h ristian
point of view and m ust be taken w ith a grain of salt.21 B ut A bbud m ight p ro b ab ly
be right w hen he states that the new translation m ovem ent was religious in its be­
ginnings, before it became both literary and political in a second stage.22 In every
step, ancient G reek w ritin gs p lay a crucial role. The n ew ly founded and q u ick ly
m ushroom ing journals offered an ideal place for discussing the G reek classics.
This did not o n ly take place in the Eastern A rab W orld, but in other parts of the
O ttom an p erip h ery as w ell.23
In 1834, H ayd ar R ifat began to edit the series Diin ve yarin (“yesterd ay and to ­
m o rro w ”) w hich am ongst others contained translations of Plato and A risto tle and
was part of a system atic occupation w ith the classical antiquity. A lexander Konstantinidis (later K onstantinidi Pasa) published in 1869 in C onstantinople his
m ajor w o rk on the h isto ry of ancient G reece (Tarih-i Yunanistan-yi qadim),
w ritten in O ttm an T urkish. B eing him self of G reek descendence, he was able to
m ake use of original sources.24
18 To be precise: a com pendium on the i'räb , the vocalization of the text. The com pendium is
called (A hkäm bäb) al-Fräb ‘an lisän a l - a r ä b , actu ally an abridgem ent of FIrüzäbädi’s older
a l-Q ä m ü s a l-m u h it. The im portance of this book m ight be epitom ized b y the fact that in
1849 it became reprinted in M arseille.
19 M arun 'A bb ild: R uw w äd al-N ahda al-hadltha. In: M u ’allafat M artin Abbud.
A l-M ajm ü’a al-käm ila: F l al-diräsa, vol. 2. Beirut 1986, pp. 3-388, p. 758.
20 ‘A bbild: R uw w äd al-N ahda al-hadltha (see note 19), p. 34. This sto ry dates back to the
Syrian scholar Barhebraeus and cannot be verified. On early A rabic translations of Homer,
see M ichael Kreutz: Sulym an al-B ustanis A rabische Ilias: Ein Beispiel für arabischen P h ilh el­
lenism us im ausgehenden O sm anischen Reich. In: Die Welt des Islams 44 (2004) 2, pp. 155—
194, here: pp. 155-157.
21 O thers regard the E gyptian scholar R ifä'a R äfi‘ al-T ahtäw ! (1801-1873) as the founder of
the N ahda movement, some attribute this role to the G reek-C atholic poet NäsTf al-Y äzijl
(1800-1871).
22 “[ ...] w a-hä an al-tärikh yu'Td nafsahu f! fajr hädhihi al-nahda, fa-hä huw a hädhä alm uträn y u ’allif fl H alab m ajm a'an 'ilm iyy a n y a ‘nT a'd ä’uhu bi-l-tarjam a, w a-m in hunä jä ’a
al-tajd ld .” 'A bb ild: R uw w äd al-nahda al-hadltha (see note 19), p. 35. The A rabic journal J u ­
nta ib founded by Ahm ad Färis al-Sh id yäq was the first publication to introduce translations
of literary and political relevance. The journal w as published in Constantinople.
23 Kostas Th. D im aras: N eohellenikos D iafotiinos. Athens s2002, p. 66; cf. R aif Georges
K houry: Die R olle der Ü bersetzungen in der m odernen Renaissance des arabischen Schrift­
tum s, dargestellt am Beispiel Ä gyptens. In: Die W elt des Islams 13 (1971), pp. 1-10.
24 D im aras: N eohellenikos D iafotim os (see note 23), pp. 227-229.
T h e G ree k C lassic s in M o d e rn M id d l e Eastern T h o u g h t
83
European scholars living in T urkey contributed to this developm ent.25 C o n ­
stantinople was an im portant hub for the exchange of ideas and so too w ere T hes­
salo n iki and C airo. An interm ediating role was p layed by W estern m issionaries
w ho w ere very active in all of the Eastern M editerranean. A m erican m issionaries
like Dr. Eli Sm ith and Dr. C ornelius van D yck cooperated w ith a num ber of Arab
intellectuals like B utrus al-B ustani (1819-1883). W hen Eli Sm ith visited the G er­
man city of L eipzig, he ordered to invent a prin ting typ e for the m issionaries’ p ub ­
lications in A rabic w hich was later adopted b y other prin ting presses as w ell. W ith
their support, the Bible became spread in A rabic.
B ut translations of the Bible w ere m ore than a means of prom ulgating C h ris­
tianity. The G reek scholar A dam antios Korais saw the edition of the B ible in D e­
m otic G reek (the N ew Testam ent w as translated into M odern G reek as soon as
1703) as the best means for an intellectual renew al of Greece and in 1808 he wooed
for the support of the n ew ly founded British and Foreign Bible Society ,26 A l­
though the m issionaries failed in spreading their faith th ey played an enorm ous
role as m ediators of know ledge and in fostering the translation m ovem ents in the
O ttom an p erip h ery w hich is inextricab ly intertw ined w ith the m odern perception
of the G reek classics.
IV. The Iliads of Homer
A rem arkable phenom enon in this period are the translations of Homer. In a short
tim e of no longer than sixty years, beginning in the late 19'1’ and ending in the
m iddle of the 20th century, we find a num ber of adaptations and translations,
m o stly of the Iliad. It is rem arkable that so far, o n ly little light has been shed on
this phenom enon.
A m ong the first to translate the Iliad into O ttom an Turkish w ere M uslim A l­
banians w ho attended G reek schools, nam ely the Frasheri brethren. The abovem entioned Sam i B ey Frasheri, one of the leading poets durin g the R ilin d ja, trans­
lated the first book of the Iliad in the second half of the 19th century into O ttom an
T urkish w hich w as released in 1887. A nother translation into O ttom an Turkish
was published in 1898 in C onstantinople b y Selanikli H ilm i Seyfeddin (1884—
25 Kraem er: M odernism us (see note 7), p. 20.
26 A bdul L atif T ibaw i: The Genesis and E arly H isto ry of the S yrian Protestant C ollege. In:
Fuad Sarruf/Suha Tamin (eds.): A m erican U n iversity of Beirut Festival Book (Festschrift).
Beirut 1967, p. 266. On the m issionaries in the European regions of the O ttom an Empire see
F riedrich H eyer: Die O rientalische Frage im kirchlichen Lebenskreis. Das E inw irken der
Kirchen des A uslands auf die Em anzipation der orthodoxen N ationen Südosteuropas 1804—
1912. W iesbaden 1991. On Am erican m issionaries on the Balkans, see Ö m er Turan: A m eri­
can Protestant M issionaries and M onastir, '1912-17: Secondary A ctors in the C onstruction of
B alkan Identites. In: M iddle Eastern Studies 36 (2000) 4, pp. 121-123; and in the M iddle East,
see M ichael B. Oren: Power, Faith, and Fantasy. A m erica in the M iddle East, 1776 to the
Present. N ew York 2007, pp. 80-97.
84
M ic h a e l K reu tz
1920) but the result rem ained a torso.27 A t that tim e, we also find som e trans­
lations into M odern Turkish, based m ostly not on the G reek original but so lely on
French adaptations.
The first attem pt to translate H o m er’s O d yssey into Turkish was m ade by
A hm ed C evat Emre (1876-1961) w ho drew upon French sources in order to as­
sem ble his Odise (i.e. O d yssey). A n other poet, A hm et Re§it B ey (1870-1956) w ho
was active in the literary circle of the jo urn al S ervet-i Fiinun (“treasure room of
arts”), aim ed at creating a Turkish version of the Iliad, how ever his drafts w ere
never p ublished.28
The most renow ned translator of the Iliad into contem porary Turkish was
O m er Seyfeddin (1884-1920), an outstanding proponent of the Turkish language
movem ent. In T hessaloniki he made the acquaintance of the intellectual Z iya
G ökalp by w hom his p o litical convictions became stark ly influenced. G ökalp de­
m anded p ro gram m atically that the Turks should jo in the circle of occidental
nations. Because culture is not just given b y birth but transm itted through litera­
ture, art and language, intellectual endeavour can adopt it. H e called literati of
international reputation to appropriate and translate popular topics and therefore
constitute a “national taste” (m illize vk ) w hich makes translated literature part of
the classical canon:
“A ccording to T urkism , our literature m ust, for enabling it to progress, get edu­
cated in tw o m useum s of artisanry. The first one of these m useum s is the folk
literature (H alk Edebiyati), the second one the W estern literature (Bati Edebiyati).
T urkish poets and men of letters m ust adopt as role m odels the beautiful oeuvre of
the people (halk) as w ell as the m asterpieces of the West. Turkish literature cannot
become either national nor can it thrive w ith o u t passing both periods of appren­
ticeship. T hat is to say that our literature m ust on the one hand head for the people
w h ile on the other hand strive for the W est.”29
For G ökalp one catego ry of m odels to adopt w ere the classics from H om er to
Vergil, since “the classical m asterpieces of literature are the m ost beautiful patterns
for a n ew ly em erging national literatu re.”30 But in opposition to their Arab col27 K ranz: A ntikenbild (see note 10), p. 29.
28 Kem al Karpat: The Politicization of Islam. R econstructing Identity, State, Faith, and
C om m un ity in the Late O ttom an State. O xford et al. 2001, p. 362. The journal, organ of the
“N ew literature m ovem ent” (ed eb iyat-i cedide), was published from 1896-1901 and edited
by R ecaizac{e M ahm ut Ekrem.
29 “T ürkgülere göre, edebiyatim iz yükseleb ilm ek igin, iki sanat m üzesinde egitim görm ek
zorundadir. Bu m üzelerden birincisi H alk E debiyati, ikincisi Bati E d ebiyati’dir. T ü rk jaile r
ve y azan lar b ir taraftan halkin güzel eserlerini, öte yand an B ati’nm §äheserlerim m odel olarak
alm ahdirlar. T ü rk edeb iyati, bu iki girakhk devresini gegirm eden, ne m illi olabilir, ne de geligebilir. D em ek ki edeb iyatim iz b ir taraftan halka dogru öbür yandan B ati’y a dogru gitm ek
zo ru ndadir.” Z iya G ökalp: T iirkgülügiin E saslari. Istanbul 2001, pp. 157f; cf. Z iya G ökalp:
The Principles of Turkism . Leiden 1968, p. 97.
30 “[■•-J E debiyatim izin ikinci tür m odelled de H om ere ile V irgile’den ba^layarak, biitiin klasiklerdir. Yeni ba§layan bir m illi edebiyat igin en güzel örnekler, klasik edebiyatm §aheserlerid ir.” G ökalp: T ürkgülügün Esaslari (see note 29), p. 158; cf. G ökalp: P rinciples (see note 29),
p. 97.
T h e G r ee k Classic s in M o d e r n M id d le Eastern T h o u g h t
85
legues Turkish translators did not trace back their ow n culture to ancient Greece,
rather th ey aim ed at E uropeanizing Turkish society.31 In this, the T urkish trans­
lation m ovem ent was clo sely aligned to sim ilar objectives of the Elebrew language
movement.
In fact, reviving the H ebrew language w as o n ly the first step w hich was to be
follow ed b y a second one, arguab ly the im plem entation of a “thinking in term s of
the representations of a European w o rld and reaching out for means of expression
in the treasures of pan-historical H e b re w ” (H arsh av).32 Thus it is little w onder
that one of the m ost im portant revivers of M odern Elebrew, the O dessa-born poet
Shaul T shernikhovsky, prom oted the language revival by means of translation,
am ongst this a num ber of G reek classics, nam ely Elom er’s Iliad and O dyssey, but
also P lato’s Sym posium , Sophocles’ O edipus the King and po etry com posed by
A nacreon, H orace as w ell as m odern classics of W estern European literature.
T shernikhovsky spent the first 15 years of his life in the U kraine w here in his
early years he becam e fam iliar w ith G reeks living in O dessa and ancient G reek lit­
erature. Because of his fascination for everyth in g G reek allegedly called him self a
“salted G reek”. H is adaptation of the Iliad (Hebr. Iliada) began in 1917 and be­
cam e com pleted in different cities like Petrograd, Berdiansk, O dessa, B erlin and
Istanbul until 1923.33 In the year after his w o rk w as published, 1924, he got in ­
vited to B udapest w here a banquet w as organized and the president of the H u n ­
garian A cadem y of Sciences and the H ungarian m inister of education w elcom ed
him as the “king of H ebrew poets”. This episode shows how w id ely such a w ork
w as apprehended.
O ther than that, classical G reek w ritin gs becam e translated also into m odern
G reek, another language w ith a sacred past. The first author to translate H om er
into m odern G reek was Iacovos P o lylas w ho in 1875 published his m odernized
version of the O dyssey. Interestingly, the first translation was conducted after the
A lbanian-T urkish one in 1890. It w as not o n ly m eant for m aking the classical texts
accessable to those G reeks unable to understand the original texts, but also served
the purpose of show ing that a m odernized, D em otic G reek (dimotiki), assim ilat­
ing elem ents of the vernacular, w as on a par w ith ancient G reek in terms of gram ­
m atical flex ib ility and stylistic im pressiveness.
The sam e holds true for the p ro b ab ly m ost renow ned translation of the Iliad
into D em otic G reek w hich was published in Athens 1892 b y A lexandras P allis.34
P allis (1851-1935) w ho had studied classical p h ilo lo gy and w ith strong com m it­
ment translated a great num ber of literary w orks into m odern G reek aim ed at
31 K ranz: A n tiken bild (see note 10), p. 24.
32 Benjam in H arshav: Language in Tim e of R evolution. B erkeley et al. 1993, p. 126.
33 H arshav: Language (see note 32), pp. 22-24. Years and places of residence are listed in the
afterw ord of the translation (Tel Aviv 1987). O n ly Istanbul is not m entioned and was recon­
structed b y Silberschlag. Eisig Silberschlag: Saul T schernichow sky - Poet of R evolt, Ithaca,
N Y 1968, p. 24.
34 H is translation of the Iliad into M odern G reek was follow ed by a third one b y N ikos
K azantzakis in the 1960s.
86
M ic h a e l K reu tz
defending the language against accusations of linguistical insufficiency. It m ust be
added that the debate on language reform was h ig h ly political. A lexan dras Pallis
him self w as a staunch advocate of form ing so ciety b y means of translations into
D em otic Greek.
The m ost rem arkable of all translations of the Iliad into the m odern languages
of the Eastern M editerranean is u n d o ub ted ly the A rabic one, a unique w o rk and
until to d ay the o n ly com plete translation into that language. It was published in
1904 after its author, the C h ristian -O rth o d o x Lebanese w riter Sulaym an al-B ustani, spent eight years w o rkin g on it. Sim ilar to T shernikhovsky, he eagerly trans­
lated the Iliad w h ile travelling on four continents “between East and W est”.35
In his introduction, Bustani defends his translation against expected accusations
of intellectual unim aginativeness and stresses that a creative appropriation of
topics and motifs has nothing to do w ith a lack of fantasy or even plagiarism . Lie
turns against critics w ho m isunderstand in tertex tu ality as a lack of resourcefulness
and are unaw are of an y “intersection of th o ugh t” (taw ärud al-hätir). In fact, the
Latin and W estern European poets never refrained from adopting elem ents of
other texts, especially of the Iliad. Very sim ilar to G ökalp, B ustani claim ed:
“T h ey quoted, replaced, distorted, cut dow n, appropriated, om itted, inserted and behaved as
they w ere pleased w hile seldom they concealed their theft but in the opposite w ere proud to
have shown how they com peted w ith H om er.”36
Bustani knew about contem porary attem pts to render Iliad and O d yssey in m od­
ern G reek and the discussions about the G reek language question. In the fore­
w o rd to his translation of the Iliad he com pares the classical G reek p o etry to the
classical A rab one and th o ro ugh ly discusses sim ilarities and differences. M ore
than that: A lread y in the first book, B ustani sets about draw in g a parallel between
H om er and the Q uran. H e explains to his readers the function of the invocation of
the muses and that this was o rig in ally not alien to the A rabs, too. In another pas­
sage B ustani com pares the religious convictions about this w o rld am ong different
cultures. Both G reeks and R om ans - B ustani here refers to the 4th cen tury p atri­
arch E ustathius of A ntioch - regarded earth as a place of vitiation and caducity,
heavens on the co n trary as the true place of life. B ustani argues that the gospels do
not take up a clear stance on this and are in no opposition to the tenets of Judaism
and Islam . Both, he goes on, stand in opposition to G reeks and R om ans to the ef­
fect that the three m onotheistic religions have m ore in com mon than C h ristian ity
has w ith the pagan G raeco-Rom an w orld.
In his com parative approach B ustani even goes beyond religion w hen he turns
to p o litical history. B ustani stresses that in the 10th book of the Iliad the Troian en­
emies of the G reeks turned out to be adherents of despotism , w h ile the G reeks
follow the deliberative assem bly (majlis shurawi). Bustani, him self a co n stitu­
35 Sulaym an al-BustänT: Iliyädhat H üm lrüs: M u ’arraba nazman/L’Iliade d ’Horn ere. Traduite
en vers arabes. C airo 1904, p. 72; Kreutz: Sulaym an (see note 20), p. 160.
36 Bustänr. Iliyädhat H üm lrüs (see note 35), p. 180, p. 182; cf. Kreutz: Sulaym an (see
note 20), p. 165,
T h e G ree k C lassic s in M o d e m M id d l e Eastern T h o u g h t
87
tionalist and author of a treatise on the O ttom an constitution, shows him self in
full com pliance w ith the constitutionalist m ovem ents of his time. H e adds that the
deliberative assem bly of the G reeks was practiced at a later time also b y the rig h t­
eo usly guided C alifs37 and is corroborated b y the sharia. It is w orth noting that
the O rthodox C h ristian Bustani resorts to the h o ly book of Islam in order to
clarify his standpoint!
C om parisons and parallels like these are stretching throughout the entire trans­
lation. It m ust be added that the B ustani fa m iliy ’s name is closely linked to the
foundation of the “national schools” (madäris w ataniyya) w hich constituted a
n o velty at that tim e since they offered lessons for all students notw ithstanding
their denom ination and enabled the creation of a non-denom inational com m unity
w here C h ristian s, D ruze and M uslim s live together in peace. The translation of
the Iliad epitom izes this idea of an inter-religious understanding in an im pressive
manner.
A product straight from the iv o ry tow er? M ayb e. But the publication of the
Iliad in 1904 became a param ount cultural event: In honor of Sulaym an al-B ustani, a banquet w as held in the S hep heard ’s H otel to w h ich the crem e de la crem e
of the E gyptian intellectuals as w ell as som e Lebanese and Syrian w riters w ere in­
vited, nam ely the poet A hm ad Shaw qi, the jo urn alists Faris N imr, Ya’qub Sarruf
and G eorge Z aydan, the Salafi theologian M uham m ad R ashid R ida and the future
head of the W afd party, the fam ous Sa’d Z aghlul. The translation m et a buo yan t
response in the cultural journals of that tim e and had a good im pact on the em erg­
ing literary critiq u e.38
Even contem porary Greece got to know about B ustan i’s m ajor w o rk. The then
king G eorge I invited him to A thens and p ro u d ly told him that the “entire court is
co rd ially aw aitin g yo u and the lum inaries of our philosophers and poets w ill form
an honor guard to welcom e y o u .”39
V. A Generation’s Enlightenment
W estern literary theories had a strong im pact on the em ergence of literary criti­
cism in the Eastern M editerranean. A m ajor role in E gypt p lays the renow ned
scholar A hm ad Lutfi al-S ayyid w ho w as later apostrophized as "teacher of the
generatio n ” (ustädh al-jll, mu allim al-jil) and gained a great deal of reputation b y
translating A risto tle’s w ritings into A rabic, nam ely the N icom achean Ethics (cilm
37 The four successors of M uham m ad from 632-661 A.D . according to Sunni Islam . Bustani
does not use the usual term al-khulafä al-räshidün but calls them khulafa al- Arab i.e. “C a­
liphs of the A rab s” in order to claim them for the entire A rab culture, not only for Islam.
38 W ajih Fanus: Sulaym an al-Bustani and C om parative L iterary Studies in Arabic. In: Jo u r­
nal of A rabic L iterature 17 (1986), pp. 105—119, here: p. I l l , p . 119.
39 M unif M üsä: Sulaym än af-Bustänl fl h ayätihi w a-fikrih i w aadabihi. Beirut 1998, pp. 7 0 f.
U ntil now I could not verify this inform ation by the G reek side. H at tip Prof. G. M akris
(M ünster) for his kind research in the N ational Archives of Athens.
88
M ic h a e l K reu tz
al-akhläq ilä Nikümäkhiis), De G eneratione et C orruptione (al-kaw n w a -lfasäd), the Physics ("Um a l-ta b ia ) and the P olitics (al-siyäsa J.40
Born in 1872 in B arqayn in the E gyptian delta, Lutfi al-S ayyid w as soon to be­
come influenced b y European philosophy, the E gyptian m ovem ent for indepen­
dence and a generally secular W eltanschauung. In the colum ns he w rote for E gyp ­
tian papers he cam paigned against pan-Islam ism , pan-O sm anism and pan-A rabism as w ell. The translation of the N icom achean Ethics, based on a French edition
and published in 1924, w as a product of his tim e as head of the N ational Library.
A lthough under philological aspect of no im portance - he did not know G reek
and had to resort to the French translations of Jules B arth elem y-S ain t-H illaire Lutfi a l-S a y y id ’s w o rks gained a great im pact on the intellectual life of E gypt for
he was the first am ong modern scholars w ho took A ristotle for serious and aim ed
at getting his w o rks into precise A rabic. Void of an y rom antization, Lutfi alS ayyid show ed deep interest in the historical im portance of A ristotle w hom he in­
tended to m ake his readers acquainted w ith . A risto tle was not new to A rab
scholars for he w as long since part of the Islam ic intellectual universe, but in the
w ords of Taha H usayn , later scholars extolled him w ith out having understood
him. T herefore Taha H usayn praises Lutfi a l-S a y y id ’s translation of the N icom ac­
hean Ethics as supposedly preserving the sp irit of the original text.41
Taha H usayn , him self one of the m ost im portant and influential E gyptian
scholars in the first half of the 20tl’ century, was one of the few A rab intellectuals
who read ancient G reek. A lthough he is author of a num ber of books on G reek
literature and their translations, it is not en tirely clear yet to w hat extent his own
translations are based on the o rigin al texts and how m uch he made use of French
sources. N evertheless, his proficiency of G reek and Latin got him a chair of clas­
sical p h ilo sop h y at the un iversity of A lexandria. In 1920 he published an an th o l­
o gy of G reek tragedies in A rabic translation (min a l-s h ir al-tam thili 'inda /Yünän).
O ne objective of H u sayn ’s occupation w ith the G reek w ritings was the dem oc­
ratization of his E gyptian fatherland. O f particular interest is his translation of the
C o n stitutio n of the A thenians, a text lik e ly to be w ritten b y A risto tle but un ­
know n before it was discovered in E gyp t in 1879. It became translated into A rabic
b y Taha H u sayn in 1921. In his introduction, H u sayn th o ro ugh ly discusses its
historical backdrop w hich suggests parallels to contem porary E gypt.42 The trans­
lation of this w o rk took place at a tim e w hen E gypt was on its w a y to indepen­
40 At a later tim e he translated also De M undo, a P seudo-A ristotelian w ork (w hich erro ­
neously I have attributed in m y own book to A ristotle him self), see M ichael Kreutz: A ra­
bischer H um anism us in der N euzeit. Berlin 2007, p. 90.
41 T ähä H usayn: Sh u 'arä’unä w a-m utarjim A ristatälls. In: al-M ajm ü’a al-käm ila lim u’allafät
al-D u ktü r T ähä H usayn. 15 vols., vol. 2/1. B eirut 1974, pp. 442-452, p. 337, pp. 446 f.;
K reutz: H um anism us (see note 40), pp. 90 f.
42 T ähä H usayn : N izäm al-A thin iyln . In: al- M ajm ü’a al-kännla lim u’allafät al-D uktür Tähä
H usayn . 15 vols., vol. 8. B eirut 1974, pp. 298-320; cf. Kreutz: H um anism us (see note 40),
pp. 5 If.
T h e G ree k Classic s in M o d e r n M id d le Eastern T h o u g h t
89
dence and the national m ovem ent, not o n ly in E gypt but also in other parts of the
Eastern M editerranean, called for im plem enting a constitution.43
In the introduction to his translation Taha H usayn praises Athens for its free
intellectual atm osphere and indicates that in an tiq u ity G reeks w ere heading to
Athens like “now adays the Easterner (sharqi) is heading to P aris.”44 It was A ris­
totle, the incarnation of the G reek reason Caql), w ho enabled the G reeks to topple
the ancien regim e and to create a new rule w hich “connects East and W est”.45 To
the E gyptian reader this m ust have appeared as a political program against the
B ritish rule over E gypt and at the same tim e a call for taking Europe as an exam ple
of progress.46
The idea of bridging a gap betw een East and West is prevalent not o n ly in the
w ritin gs of Taha H usayn . Tawfiq al-H akim , the founder of the m odern E gyptian
theater, has d w elled in the introduction to his adaptation of Sophocles’ King
O edipus on the idea of a “religious sentim en t” (sh u ü r dim) w hich he found p ivo t­
al in the G reek p lay.47 Tawfiq al-H akim fran k ly claim s to understand the G reek
heritage better than m odern poets in the W estern W orld since as an “A rab East­
ern er” (sharqV arab i) he ostensibly preserved a kind of religious sentim ent w hich
no w adays has vanished in the West. T herefore, both the G reek and the A rabic cul­
ture m eet in a com mon anthropology.
The O rient, according to H akim , lives in tw o w orlds: A hum an w o rld and a d i­
vine one. In tim es of W estern dom ination this is supposed to be the “final b astio n ”
(al-hisn al-akh lr) against the th inkin g of the W esterner w ho lives in one w o rld
only. H akim praises the Islam ic philosophers of the m edieval age w ho did not
content them selves w ith adopting Plato and A risto tle and com m enting on them
43 K reutz: H um anism us (see note 40), pp. 50-82. E gpyt was granted formal independence in
1922, a constitution im plem ented in 1923. O n Taha H u sayn ’s intellectual universe see also
'A ll U m lll: [in A rabic] M ashrü' T ähä H usayn . In: M uham m ad H ajjl (ed.): A 'm äl nadw at alfikr a l-‘arabl w a-l-th aqäfa al-yünäniyya/P ensee A rabe et culture Grecque. C asablanca 1980,
pp. 521-536. O n the intellectual life in general see C harles W endell: The Evolution of the
E gyptian N ational Image. From its O rigins to Ahm ad L utfl as-S ayyid . Berkeley, London
1972; Israel Gershoni/James P. Jan k o w ski: E gypt, Islam , and the Arabs. The Search for
E gyptian N ationhood, 1900-1930. N ew York, O xford 1986.
44 H usayn : N izäm al-AthinTyln (see note 42), p. 301.
45 “w a-käna yum ath th ilu m a‘a hädhä al-um m a al-jad ld a al-nähida [...J an tuqlm ‘alä anqädihä sultänan jadldan yajm a' bayna al-sharq w a-l-gharb, w a-yu qärib mä baynahä min albu'd al-fik ti, w a -y a ’khudhuhum ä ja m f an bi-an yatasaw w arü al-ash yä’ b i-tariqa w ähida, w aan yufakkirä fiha b i-tariqa w äh id a.” H usayn : N izäm al-A thim yln (see note 42), p. 306. The
“sultän ja d ld ” is A lexander the Great w hom m odern M iddle Eastern intellectuals often refer
to. O n the general im pact of A ristotle on ideas of enlightenm ent in Africa, see Th eodo ras Papadopoullos: O A ristoteles San diam orfötike epidrase sten politike skepse tön alrikanikö n
laön. In: Joachim H errm ann/H elga K öpstein/Reim ar M üller (eds.): G riech en lan d -B yzan zEuropa. Am sterdam 1988, pp. 306-310.
46 In the course of the 1920s and 1930s this idea was w idespread among E gyptian intellec­
tuals, e.g. Ahm ad Am in, ‘Abbäs M ahm üd al-'A q q äd , Tawfiq al-H akim , ‘A b dalqädir alM äzinl, and Tähä H usayn, see H ourani: T hought (see note 17), pp. 324 f.
47 Tawfiq al-H akim : A l-M alik U dlb. Kairo 1965, pp. 37-39. C orbin and R acine w hich he
quotes b riefly are lik e ly to be his sources but detailed inform ation is missing.
90
M ic h a e l K reutz
but th ey connected A ristotelian logic w ith the sp irit of Islam and thus created the
essential n o velty w hich in turn holds an im pact on European culture. In the same
fashion, the A rabic-Islam ic culture is said to be rested on the two pillars of reason
and faith if it is to survive.48
VI. Conclusion
To sum up, there w ere chiefly five reasons w h y the classical G reek w ritin gs drew
so m uch interest am ong Eastern M editerranean intellectuals during this era:
1. The em ergence of a national literature and the quest for authenticity. H erder
in his introduction to the second part of his collection of folk songs (1779) de­
scribes H om er as the greatest com poser of folk poetry. W ith the em erging
national m ovem ents in the Eastern M editerranean folk chants and p o etry became
in creasin gly popular and H om er w as seen as the first one in this line. The Arab
translator of the Iliad, Sulaym an al-B ustani introduced his readers to the ideas of
the French hellenist Fauriel on the folk singers including Homer, as w ell as to the
theories of A lexander C ho dzko on Persian folk poetry.49
2. In this context, it m ust be seen that epic p o etry in p articular became a much
debated issue. Both B ustani and Taw fik al-H akim discussed th o ro ugh ly w h y the
A rabic literature is lacking epic poetry. W h ile Jacob B urckhardt saw the epic as a
form of p o etry alien to Islam because the soul of the individual peoples m ight live
on in it, the dram atist H akim traced the lackin g of the epic back to the A rabic
m en tality and society.50 A lso Turkish in tellectuals showed interest in this topic.
The epic of D ede K orkut was rediscovered as a “Turkish H o m er” and the abovem entioned H ebrew translator of the Iliad, Shaul T shernikhovsky, translated the
epic of G ilgam esh into H ebrew .51
3. The translations of the G reek classics are clo sely linked to the language ques­
tion w hich is a com plex topic in itself. G enerally, it can be said that it w as one of
the aim s of the language reform ers to show that the vernacular w as flexible
enough to render texts as dem anding as the Iliad. This is w h y e.g. the G reek trans­
lator of the Iliad, A lexan d ras Pallis, dedicated his w o rk to the renow ned language
reform er Iannis P sych aris.52
4S Ibid., pp. 35 f.
49 Cf. C laude Fauriel: Chants Populaires de la Grece M oderne, 2 vols. Paris 1824-1825;
A lexander C hodzko: Specim en of die Popular P oetry of Persia. London 1842. See Bustani:
Iliyädhat HümTrüs (see note 35), p. 37; K reutz: Sulaym an (see note 20), p. 166.
50 J a c o b B urckhardt: W e lt g e s c h i c h t lic h e B etrachtungen. Ed. b y R udolf M arx. Stuttgart 1955,
p. 101.
51 Silberschlag: T sychernichow sky (see note 33), p. 26. O n the general interrelation between
epic and politics, see David Q uint: Epic and Empire. Politics and Generic Form from V irgil
to M ilton. Princeton 1993.
52 N o w adays the social and political dim ension of such a reform is hard to conceive. It must
be recalled that the publication of the O resteia by A isch ylus in 1903 in its dem otic G reek vcr-
T h e G r ee k Classic s in M o d e r n M id d le Eastern T h o u g h t
91
4. The classical G reek w ritings constituted the center of a general discourse on
E urope and the prerequisites of m odernity. It is part of an intellectual activity
w hich can be called enlightenm ent. Taha H usayn em phasized on the in dividual
lib erty in ancient Greece and the im portant role reason played in society.53
A m ong Turkish intellectuals this discourse became know n as the hum anism de­
bate (hüm anizm münakasasi, Türk hiim anizm i) w hich w as tho ro ugh ly discussed
in the cultural journals of that tim e.54 The later Turkish m inister of education,
H asan A li Y ücel (serving 1938-1946) saw the lackin g perception of H om er in the
past as the root cause of the decay of the Islam ic civilization since the “root of the
w o rld culture are the ancient G reeks”. Turkish intellectuals w ent so far as to speak
of a Yeni Yunanhk - a N eo -H ellen ism .55
5. The G reek an tiq u ity provided a canvas for criticizin g the autocratic rule of
the O ttom an em pire and a m odel for b ridging the gap between East and West. The
perception of A lexander the G reat p lays an im m ense role in this56 and also the
Iliad w hich B ustani saw as a means to overcom e sectarian fanaticism (ta'assub)
and the division of society. B ustani him self w as eyew itness to the civil w ar and the
massacres of 1860 in Lebanon. This indicates how stro n gly B ustani’s political
com m itm ent is linked to his translation of the Iliad.
The reception of the G reek classics - to echo the philosopher H ans B lum enberg
- indicates that it is not the mere existence of the others w hich enforces o b jectivity
but the alread y existing notion of other subjects through w hich the ow n experi­
ence can be grasped as revisable.57 In finding a com mon ground for a discourse on
m odernity, Eastern European and M id d le Eastern intellectuals both reassessed
their ow n past and sought to redefine it against British and French intellectual
challenges.
sion, translated b y G. Sotiriadis, caused turm oil on A thens’ streets. O n the G reek language
question, see Anna Frangoudaki: [in G reek] Fie glossa kai to ethnos, 1880-1980. Ekato chronia agones gia ten authenike hellenike glossa. Athens 2001; G unnar H ering: Die A useinan­
dersetzungen über die neugriechische Schriftsprache. In: C hristian H annick (ed.): Sprachen
und N ationen im Balkanraum . Die historischen Bedingungen der Entstehung der heutigen
N ationalsprachen. Köln et al. 1987, pp. 125-194; on the A rabic one, see Adrian G u lly: A rabic
Linguistic Issues and C ontroversies of the Late N ineteenth and Early Twentieth C enturies.
In: Jo urn al of Sem itic Studies 42 (1997), pp. 75-120; on the Turkish one, see John R. P erry:
Language Reform in T urkey and Iran. In: International Jo urnal of M iddle East Studies 17
(1985), pp. 295-311; on the H ebrew one, see H arshav: Language (see note 32).
53 Kreutz: H um anism us (see note 40), pp. 73-82. See also Saadeddine Bencheneb: Les humanitcs grecques et l ’O rient arabe m oderne. In: Institut d ’Etudes Islam iques de l ’U niversite
de Paris/Institut Frangais de Damas (ed.): M elanges Louis M assignon, vol. 1. Dam ascus 1956,
pp. 173-198.
34 Kranz: A ntikenbild (see note 10), p. 54.
” Ibid., pp. 35 f.
See m y paper: Inszenierte W iederkehr: A lexander der Grosse im neuzeitlichen politischen
D iskurs des B alkans und des Nahen O stens, forthcom ing in: H istorische A nthropologie
1 8(2010)2.
3/ Hans Blum enberg: Beschreibung des M enschen. Aus dem N achlass ed. von M anfred
Sommer. F rankfurt am M ain 2006, p. 150, p. 459.
92
M ic h a e l K reu tz
Abstract
Das klassische griechische Schrifttum ist seit den Ü bersetzungen des M ittelalters
ein fester Bestandteil des arabisch-islam ischen K ulturerbes. Im 19., vereinzelt
auch schon im 18. Jah rh un dert kom m t es zu einer N eurezeption dieses Schrift­
tum s, als nahöstliche Intellektuelle sich der Frage nach den kulturellen G rundla­
gen w idm en, die den A ufstieg W esteuropas auf w irtschaftlichem und m ilitäri­
schem G ebiet erm öglicht haben. D ie N eurezeption steht dam it ganz im Zeichen
eines M odernitätsdiskurses, innerhalb dessen die eigene K ultur einer N eub etrach ­
tung unterzogen und von der auch die R eligio n nicht ausgenom m en w ird.
D ieser D iskurs beschränkt sich keinesw egs auf m uslim ische V ordenker und er
ist auch kein rein arabisches Phänom en, sondern um fasst Intellektuelle in allen
Teilen des O sm anischen H errschaftsgebiets w ie auch angrenzender Regionen. A l­
banische und griechische G elehrte und P ublizisten nehmen ebenso daran teil, w ie
auch der sich form ierende Z ionism us von dieser E ntw icklung berührt w ird. Eng
einher m it diesem D iskurs gehen die einzelnen Sprachenfragen, deren Trans­
form ation zu N ationalsprachen m ittels Ü bersetzungen gezielt vorangetrieben
w ird.
D er U m fang und die Q ualität gerade der Ü bersetzungen klassischer grie­
chischer L iteratu r in m oderne nahöstliche und südosteuropäische Sprachen sind
im W esten fast völlig unbekannt. W enngleich ihre B lütezeit spätestens m it dem
2. W eltkrieg endet, so hält die Epoche neuzeitlicher A n tike-R ezep tio n in der Ö st­
lichen M ittelm eerw eit A nsätze bereit, die auch heute noch Im pulse für eine ge­
m einsam e M oderne zu geben im stande sind.
Maurus Reinkow ski
Zionismus, Palästina und Osmanisches Reich
Eine Fallstudie zu Yerschwörungstheorien im Nahen Osten
I. Antisemitismus und Verschwörungstheorien
D er britische H isto riker H ugh Trevor-R oper (1914-2003) ordnete in seinem Es­
say Jew ish and O ther Nationalism aus dem Jahre 1962 den Zionism us den ,ge­
schichtslosen' europäischen N ationalism en w ie denen der Tschechen und der
Südslaw en zu. A ls sekundäre N ationalism en hätten sie auf den D ruck der p rim ä­
ren N ationalism en der neu entstehenden N ationalstaaten w ie D eutschland und
U ngarn geantw ortet. D er arabische N ationalism us w iederum sei als ein tertiärer
N ationalism us zu verstehen, da er erst durch den A nsturm und die H erausfo rde­
rung des Zionism us entstanden se i.1
Was hier auf den ersten B lick w ie eine etw as verblichene nationalism ustheore­
tische E rörterung w irk en könnte, hat doch bis heute Sprengkraft. D enn es ist
im W ettstreit konkurrierender geschichtlicher A nsprüche so hilfreich w ie eh und
je, die E ntstehung der eigenen nationalen E rw eckungsbew egung auf einen sehr
frühen Z eitpunkt festzulegen und dam it auf eine schon seit Langem bestehende
Legitim ation zum N a tio n a lsta at“ hinzuw eisen. Wer als Erster ein originäres N a­
tionalbew usstsein nachweisen kann, besteht vor der Q uotenregelung der W elt­
geschichte und darf auf gerechte Z uteilung pochen. D ie arabische W elt stünde
dem nach m it ihrem tertiären N ationalism us ganz am Ende der A nspruchskette.
H isto riker w ie R ashid K halidi haben eben desw egen ihre gesam te w issenschaftli­
che A rb eit der A ufgabe gew idm et, die B ehauptung eines nachgeordneten C h arak ­
ters der arabisch-palästinensischen N ationalbew egung zu revidieren.2
Eine sonderbare Parallele, trotz gänzlich anderer Vorzeichen, findet sich in der
D ebatte der letzten Jahre über das Phänom en eines sich neu form ierenden ,islam i­
schen A n tisem itism us“. Wenn auch der deutsche N ationalsozialism us 1945 z er­
schlagen w urde und der H olocaust m ahnend vor A ugen stand, so w ar die A n z ie­
1 H ugh Trevor-Roper: Jew ish and O ther N ationalism . London 1962, S. 19, S. 24.
2 Siehe u.a. seine beiden M onographien: R ashid Khalidi: Palestinian Identity. The C on stru c­
tion of M odern N ational Consciousness. N ew York 1997; ders.: The Iron Cage. The Sto ry of
the Palestinian Struggle for Statehood. O xford 2007.
94
M a u ru s R e i n k o w s k i
hungskraft des A ntisem itism us nicht verloren gegangen. Gemäß der T ypologien­
kunde der A ntisem itism usforschung entstand nach dem H olocaust ein s e k u n ­
därer A ntisem itism us“, ursprünglich nur in D eutschland, w o er sich aus einem
G efühl der Scham und Schuldabw ehr speiste. D er islam ische A ntisem itism us hat
- so lautet die These - diesen sekundären A ntisem itism us aufgenom m en, ihn mit
Traum atisierungen vor allem der arabisch-islam ischen Welt (P alästina-K onflikt,
U S-am erikanische Intervention im Irak) unterfüttert und m it der Ideologie eines
politischen Islam aufgeladen.
G em äß dieser D efinition gibt es sehr w o h l einen U nterschied zw ischen einem
,A ntisem itism us in der islam ischen W elt1und einem ,islam ischen A n tisem itism us“.
Islam ischer A ntisem itism us existiert auch außerhalb der islam ischen Welt in der
nicht-islam ischen D iaspora - und er ist unterschiedlicher N atur: Dem A n tisem i­
tism us in der islam ischen W elt w ird der Status eines tertiären A ntisem itism us
überlassen. Z w ar m ag ein tertiärer A ntisem itism us w eniger gefährlich als ein se­
kundärer sein; zugleich aber klingt eine gew isse H erablassung heraus: D ie Plage
des A ntisem itism us hat die islam ische W elt zw ar nicht hergestellt, und sie muss
auch nicht die allererste V erantw ortung dafür übernehm en, aber sie hat den A n ti­
sem itism us im 20. Jah rh un dert - w ie so viele andere Ideologien - in einem blinden
P lagiat im portiert. D ie These eines ,islam ischen A ntisem itism us“ geht aber weiter.
Ihr zufolge ist durch die H inzum engung einer politisierten R eligion eine gefährli­
che Ideologie entstanden, die in ih rer A ggressivität und V irulenz einen prim ären
C h arak ter trägt.3
Was können w ir aber über die historische E ntw icklung des A ntisem itism us im
N ahen O sten des 20. Jahrhunderts sagen?4 Judenfeindliches Potential bestand in
der islam ischen T radition schon im m er - eine in der K onkurrenz der drei m ono­
theistischen R eligionen selbstverständliche Tatsache.5 A ntisem itism us in der isla­
m ischen W elt ist ein m odernes Phänom en - eine in der engen K ontaktgeschichte
m it E uropa und dem W esten unverm eidliche Tatsache. Dass diese neu übernom ­
m enen antisem itischen D eutungsm uster sich zum Teil m it traditionell herablas­
3 Siehe hierzu die zahlreichen Beiträge in Klaus Faber u.a. (Flg.): N eu-alter Judenhass. A n ti­
sem itism us, arabisch-israelischer K onflikt und europäische P olitik. Berlin 2006. D er p ro m i­
nenteste einzelne Verfechter in D eutschland der These eines .islam ischen A ntisem itism us“
mit seiner rezenten M onographie ist M atthias K iintzel: Islam ischer A ntisem itism us und
deutsche P olitik. „H eim liches E inverständnis“ ? (= P o litik aktuell, Bd. 6). Berlin u .a . 2007.
Als Beispiel für eine kritische Bew ertung dieser Interpretationsschule siehe M icha B rum lik:
A ntisem itism us und Islam feindlichkeit. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. In: Die Tages­
zeitung, 21. M ärz 2009.
4 D er Begriff des ,N ahen O stens“ ist nicht klar zu fassen. D ieser A rtikel beschränkt sich auf
die L änder der östlichen arabischen W elt (M aschrek) und die Türkei. Er lässt dam it vor allem
Iran beiseite, der in den meisten D efinitionen zum Kernbestand des Nahen O stens gehört.
5 Siehe hierzu als A usschnitt einer reichhaltigen L iteratur H eribert Busse: Die theologischen
Beziehungen des Islams zu Judentum und C hristentum . G rundlagen des D ialogs im Koran
und die gegenw ärtige Situation (= G rundzüge, Bd. 72). D arm stadt 1988; Jo sef van Ess: M u­
hammad und der Koran. Prophetie und O ffenbarung: Islamische Perspektiven. In: Hans
Küng u.a. (H g.): C hristentum und W eltreligionen. H inführung zum D ialog m it Islam , H in ­
duism us und Buddhism us. M ünchen 1984, S. 31-48.
Z ion ism us, Palästin a u n d O sm an isc h e s R eich
95
senden E instellungen gegenüber Juden, etw a m it der religiös legitim ierten H in t­
anstellung der nicht-m uslim ischen ,Schutzbefohlenen1 (dhimmi), verm engten, ist
ebenfalls nicht w eiter verw underlich.6
M an w ird für die Ü bernahm e antisem itischer M uster hinein in den islam isch
geprägten N ahen O sten viele Faktoren verantw o rtlich m achen können - unter an­
derem auch das W irken christlicher M issionare.7 D er Palästina-K onflikt hat die
A ufnahm e antisem itischen G edankenguts begünstigt: D ie erste sicher belegte
Ü bersetzung der Protokolle der Weisen von Zion ins A rabische erschien am 15. Ja ­
nuar 1926 in der von lateinischen K atholiken in Jerusalem herausgegebenen Z eit­
schrift Zionswächter (Raqib Sabyün). N ach der G ründung des Staates Israel
w urde die erste von einem M uslim angefertigte arabischsprachige Fassung veröf­
fentlicht.8 „W ie dem auch sei, die arabische R ezeption der Protokolle stand von
A nfang an im Schatten des P alästin ako n flikts.“9 Es kann aber nicht sein, dass der
A n tisem itism us in der islam ischen W elt nur eine Folge des Palästina-K onflikts
ist.10 D enn w arum sollten antisem itische M uster auch in Teilen der türkischen
P u b lizistik zu finden sein, für die, zum indest bis in die jüngste G egenw art, der Pa­
lästina-K onflikt eher m arginal w ar?
In der D ebatte üb er einen islam ischen A ntisem itism us w ird zudem übersehen,
dass antisem itische B ruchstücke und A rgum entationsbausteine oft in ein überge­
ordnetes E rklärungsm uster, näm lich dem der , V erschw örungstheorien', eingeord­
net sind - und in diesem nicht im m er die M einungsführerschaft übernehm en. A n ­
statt sich daher auf einen angeblich flächendeckenden und gleichförm igen is la m i­
schen A n tisem itism us' zu konzentrieren, sollten die in der nahöstlichen Welt
grassierenden V erschw örungstheorien w eitaus eingehender als bisher untersucht
w erd en .11
6 Die Interpretationen zum Status der D h im m is in der islam ischen W elt reichen von p ositi­
ven Einschätzungen w ie bei C laude C ahen: A rt. Dhim m a. In: The E ncyclopaedia of Islam,
Bd. 2. Leiden 1965, S. 227-231, über verhalten positive w ie bei Bernard Lewis: The Jew s of
Islam. London u. a. 1984, bis hin zu vehem ent-polem ischen V erurteilungen w ie bei Bat Ye’or:
Le D him m i. Profil de l ’opprim ee en O rient et en A frique du N ord depuis la conquete arabe.
Paris 1980.
^ Das erste gegen die Freim aurerei gerichtete W erk veröffentlichte der arabische Jesu it L üyls
Sayhü al-T säw i: A s-sirr al-m ästin fl sl'at al-farm asfln [D as Geheimnis der Freim aurer in der
Bruderschaft der Logen], Beirut 1909.
8 M uham m ad H allfa at-TönisI: A l-H atar al-yah üd i. B rütflkülät hukam ä’ Sihyaun [D ie jü d i­
sche Gefahr. Die P rotokolle der Weisen von Zion]. Kairo 1951, gefolgt von vielen w eiteren
Auflagen.
9 Stefan W ild: Die arabische R ezeption der ,P rotokolle der W eisen von Z ion“. In: R ainer
Brunner u.a. (H g.): Islam studien ohne Ende. Festschrift für W erner Ende zum 65. G eburts­
tag (= A bhandlungen für die Kunde des M orgenlandes, Bd. 54/1). W ürzburg 2002, S. 5 17528, hier: S. 520.
10 A ntisem itische Einstellungen vor allem als Reflex des Palästina-K onflikts sieht A lexander
Flores: Judeophobia in C ontext. Antisem itism among M odern Palestinians. In: Die Welt des
Islams. International Jo urnal for the Stu d y of M odern Islam 46 (2006) 3, S. 307-330, hier:
S. 308.
11 Als Beispiel für eine eher im pressionistische D urchsicht durch V erschw örungstheorien in
der arabischsprachigen Presse zum Tod von L ady Di und Dodi A l-F ayed 1997 oder zum
96
M aurus R einkow ski
A us guten G ründen ist bis heute eine fundierte W irkungsgeschichte der Ver­
schw örungstheorien im N ahen O sten nicht geschrieben w orden. U berlieferungsw ege und W irkungsw eisen lassen sich nur schw er belegen, ganz abgesehen davon,
dass das T hem a insgesam t heikel ist. A nstatt aus dem Stand heraus eine große S yn ­
these schreiben zu w ollen, w äre eine E rkundung der T hem atik in Teilstudien
sinnvoll. A nhand eines B eispieles, der B eziehung zw ischen zionistischer B ew e­
gung und dem osm anischen Staat in den Jahrzehnten vor dem Ersten W eltkrieg,
soll im Folgenden gezeigt w erden, w ie eigentlich un strittige historische Sachver­
halte in den Sog von V erschw örungstheorien gelangen und zudem von an tisem iti­
schen E rklärungsm ustern überlagert w erden.
II. Zionistische Bewegung und osmanischer Staat
A ngesichts der überragenden B edeutung des P alästina-K onflikts in der zw eiten
H älfte des 20. Jahrhunderts muss die Frage nach dem Verhältnis zw ischen z io n is­
tischer B ew egung und osm anischem Staat als randständig erscheinen. N ach clem
B eginn der ersten aliya im Jah r 1882, und dam it der zionistischen Zeitrechnung,
herrschte das O sm anische R eich noch 35 Jah re über Palästina. 1917 m ussten sich
die osm anisch-türkischen Truppen aus Palästina zurückziehen. In der Zeit vor
dem Ersten W eltkrieg w ar die zionistische B ew egung in Palästina selbst noch
nicht bedeutend genug, als dass die H altun g der osm anischen Behörden ihr
Schicksal entscheidend hätte beeinflussen können. Erst in der britischen M andats­
zeit gew ann die zionistische B esiedlung Palästinas einen so um fassenden C h arak ­
ter, dass die G ründung eines Staates Israel in greifbare N ähe rückte. Was kann also
die B eziehung zw ischen Zionism us und O sm anischem R eich m ehr sein als ein
m ehr oder w en iger zufälliges Zusam m entreffen in den Jahren zw ischen 1882 und
1917?
Das O sm anische R eich galt im späten 19. Jah rh un dert als form al gleichberech­
tigtes M itglied in der europäischen Staatengem einschaft; zugleich w ar es zu einem
als m inderw ertig geltenden A kteur herabgesunken. Palästina w urde von den eu­
ropäischen G roßm ächten als K ernbestand des O sm anischen Reiches anerkannt.
Ziel w ar daher nicht die U surpation Palästinas, sondern m axim ale Einflussnahm e.
Ideales E infallstor für europäische Interventionen w ar unter anderem der A n ­
spruch, die nicht-m uslim ischen M inderheiten im O sm anischen R eich in ,Schutz
zu nehmen*. „Wo anders als im ,FIeiligen L an d ' hätte die Einflußnahm e durch religiö s-ku ltu relle Penetration und durch ein ,religiöses P ro tekto rat“ auch größeren
Erfolg versprochen?“ 12 D ie hum anitär verbräm te Strategie der europäischen Staa11. Septem ber 2001 siehe A m r H am zaw y: Vom Prim at der Verschwörung: Z eitgenössische
arabische D ebatten. In: O rient. D eutsche Z eitschrift für Politik, W irtschaft und K ultur des
O rients 43 (2002) 3, S. 345-363.
12 A lexander Schölch: Palästina im U m bruch 1856-1882. U ntersuchungen zur w irtschaft­
lichen und sozio-politischen E ntw icklung. Stuttgart 1986, S. 49.
Z ion ism us, Palästin a und O sm an isc h e s R eich
97
ten, für den Schutz der nicht-m uslim ischen M inderheiten in Palästina gegenüber
osm anischen ,W illkü rakten “ (die oft berechtigte hoheitliche H andlungen waren)
einzutreten, begünstigte m ehrere ,id ealistisch -kolon ialistisch e‘ B ew egungen, un­
ter ihnen auch den Zionism us.
D ennoch änderte sich in den Jah ren vor dem Ersten W eltkrieg durch die jüdisch-zionistische E inw anderung das dem ographische K räfteverhältnis in Paläs­
tina zw ischen m uslim ischen und christlichen A rabern einerseits und den einhei­
m ischen und eingew anderten Juden andererseits nicht fundam ental: D ie jüdische
G em einde zählte um 1860 ungefähr 10000 M enschen, also w en iger als 3% der G e­
sam tbevölkerung. 1914, vor dem A usbruch des Ersten W eltkriegs, w ar m it rund
60000 M enschen der jüdische A nteil an der B evölkerung Palästinas auf 8,5% ge­
stiegen .13
A ls einer der vielen utopischen N ationalism en des 19. Jahrhunderts hatte der
Zionism us keinesw egs große E rfolgsaussichten. D ie zionistische B ew egung war,
w ie schon gesagt w urde, zudem n ur eine d er a u f ,W iedergew innung' und K oloni­
sierung Palästinas gerichteten B ew egungen. Ihr Erfolg gegenüber anderen, vor al­
lem christlichen K olonisationsbew egungen w ar zum indest bis zur britischen
M andatsherrschaft nicht ausgem acht und ist als „Folge der W eltkriegskonstella­
tion und der partiellen Interessenidentität des britischen Im perialism us und der
Z ionistischen B ew egung“ zu erk lären .14 D er zionistischen B ew egung kam zu
H ilfe, dass sie von osm anischer Seite als ein eher randständiges Problem angese­
hen w urde. D ie heftigen R eaktionen des osm anischen Staates gegenüber den A r­
m eniern bereits in den 1890er Jahren zeigen, dass der arm enische N ationalism us,
der sich im östlichen A natolien etablieren w o llte, als die w eitaus größere B edro­
hung angesehen w urde. A llerdings w iesen bereits in den 1890er Jah ren osm anische Beam te in Palästina darauf hin, dass sich m it der Festsetzung des Zionism us
in P alästina ein ähnliches Problem entw ickeln könnte w ie das der A rm enier im
östlichen K leinasien.15
D ie internationale H istoriographie teilt heute die A uffassung, dass sich unter
der H errschaft von Sultan A bdülham id II. (er regierte 1876-1909) und un ter den
ihm nachfolgenden Jun gtürken der osm anische Staat gegenüber der zionistischen
Einw anderung in aller R egel restriktiv verhielt. D er osm anische Staat erkannte
rasch, dass eine m assive E inw anderung von zionistisch gesinnten Juden nach P a­
lästina ein neues und zusätzliches N ationalitätenproblem geschaffen und die Zahl
der un ter ausländischem Schutz stehenden A usländer w eiter erhöht hätte. Jü d i­
sche E inw anderung sollte desw egen nur unter zw ei Bedingungen gestattet w er­
den: bei zerstreuter A nsiedlung der Jud en außerhalb Palästinas und nach A n ­
13 Ju stin M cC arthy: The Population of Palestine. Population H isto ry and Statistics of the
Late O ttom an Period and the M andate. N ew York 1990, S. 13, S. 18-24.
14 Schölch: Palästina (w ie Anm . 12), S. 4.
15 M ündliche A uskunft von Yuval Ben-Bassat (U niversität H aifa) am 19. 1. 2009. Ben-Bassat
bereitet derzeit eine M onographie, basierend auf einer an der U n iversity of C hicago abge­
schlossenen D issertation, zu r H altung der osm anischen Behörden in Palästina gegenüber der
zionistischen Bew egung vor.
98
M aurus R einkow ski
nähm e der osm anischen Staatsbürgerschaft.16 D ie H altung A bdülham ids gegen­
über dem A nsinnen T heodor H erzls, der auf die G ew ährung einer Q uasi-A uto nom ie für ein jüdisches Palästina zielte, w ar von A nfang an durch entschiedene
A blehnung gekennzeichnet. W ährend H erzls erster Reise nach Istanbul im Ju n i
1896 erteilte ihm A bdülham id in em otionaler Form eine A bsage:
„Das türkische Reich gehört nicht mir, sondern dem türkischen Volke. Ich kann davon nichts
hergeben. Die Juden sollen sich ihre M illiarden aufsparen. Wenn mein Reich zertheilt w ird,
bekom m en sie [die Juden ] vielleicht Palästina um sonst. A ber theilen w ird man erst unseren
Cadaver. Eine Vivisection gebe ich nicht z u .“ 17
III. Umdeutungen und Verdeutungen
W ir w issen heute, m it dem P rivileg des R ückb licks, dass der Zionism us keines­
wegs eine Episode geblieben ist. M an w ürd e denken, dass das Zusam m entreffen
von osm anischem Staat und zionistischer B ew egung in seinen w esentlichen E le­
m enten, w ie sie gerade ku rz geschildert w urden, bekannt ist, und dass deshalb die
historiographischen D eutungen nicht zu w eit voneinander abweichen. Dies ist
aber nicht der Fall: In den nationalistischen Flistoriographien der N achfolgerstaa­
ten der dam aligen A kteure, also in der türkischen, arabischen und israelischen
bzw. zionism usnahen H istoriographie, w urd e das V erhältnis von Zionism us und
osm anischem Staat in die jew eiligen ,großen“ nationalgeschichtlichen E rzählun­
gen eingefügt.
Für türkische H isto rik er scheint die H altun g des O sm anischen Reiches gegen­
über dem Zionism us desw egen größere B edeutung erlangt zu haben, w eil sich an
ihr ein H auptanliegen der türkischen H isto rio grap h ie scheinbar bew eisen lässt,
und zw ar die Z usam m enführung zw eier an sich w iderstreiten der Selbstbilder:
zum einen das Selbstbild des in der Tradition von ,T oleranz“ und ,L an gm u t“ agie­
renden osm anischen Im perium s und zum anderen das Selbstbild des im Kampf
gegen den europäischen Im perialism us und feindliche A nfechtungen hervorge­
gangenen türkischen N ationalstaates. In der arabischen H istoriographie w ird der
Zionism us als eine kom plem entäre K raft des europäischen Im perialism us be­
trachtet und als solche in seinem m oralischen A nspruch entw ertet. D er arabische
N ationalism us dagegen w ird zugleich als N otw ehr und ideelle K räftesam m lung
definiert, die in einer kontinuierlichen palästinensischen Identität und dem arab i­
schen W iderstand gegen Im perialism us und Zionism us zum A usdruck kom m en.
Die israelische bzw. zionism usnahe H isto rio grap h ie w iederum tendiert dazu, die
arabische B evölkerung zu ,verdrängen“ und die osm anische H errschaft auf eine
16 N eville J. M andel: The A rabs and Z ionism Before W orld W ar I. Berkeley, Los Angeles
1977, S. 3 -6 , S. 313 f.
17 Von N ew lenski am 18.6. 1896 überbrachte m ündliche M itteilung A bdülham id II. an
H erzl. In: Theodor H erzl: Briefe und Tagebücher. Bd. II: Zionistisches Tagebuch, 1895—
1899. Bearbeitet von J. W achten und Ch. H arel. H g. von A lex Bein u.a. Berlin u .a . 1983,
S. 3 6 7 f.: Eintrag vom 19. 6.1896, hier: S. 368.
Z ion ism us, Palästin a un d O sm an isc h e s R eich
99
bereits verblichene historische G röße zu reduzieren. Die jüdische E inw anderung
nach Palästina und die dagegen aufgebotenen osm anischen R estriktionen w erden
im Rahm en der nationalen G eschichte Israels behandelt und dam it als Teil des
Kampfes um nationale Selbstbehauptung gesehen.
Das A lles ist nicht überraschend. W ir sehen hier das vertraute Bild, w ie h isto ri­
sche Ereignisse, auch w enn sie von nicht so elem entarer B edeutung sind, in den
Sog ko n fliktb eladener G eschichtsbilder und nationalistischer G eschichtsschrei­
bung geraten.
Zugleich aber ist im letzten halben Jah rh un d ert ein riesiges Korpus p o p u lärw is­
senschaftlicher bis apologetischer L iteratur zum T hem engebiet A bdülham id II. F reim aurer - Jud en - Jun gtürken - ,K rypto jud en ‘ - Zionisten entstanden: In w ei­
ten Teilen der türkischen und arabischen historischen P ub lizistik hat sich der
D eutungskom plex einer jüdisch-zionistischen V erschw örung festgesetzt - ihr Ziel
sei gew esen, Sultan A bdülham id II. durch die Ju n gtü rk en stürzen zu lassen und
die zionistische Landnahm e in Palästina zu erm öglichen. D ie realen Belege hierfür
sind sehr spärlich:
(1) A ngesichts der eindeutigen A blehnung seiner Pläne erw og H erzl in seiner
F rustration im Jah r 1904 ernsthaft, durch einen Putsch A bdülham id II. zu stürzen
und an seiner Stelle einen Sultan einzusetzen, der die von ihm gew ünschte C h arter
für Palästina gew ähren w ürde. H erzl verw arf den Plan m ehrere Wochen später vor allem aus Furcht vo r m öglichen M assakern an der jüdischen B evölkerung im
O sm anischen R eich bei einem Fehlschlag des H andstreich es.18
(2) H offnungen der osm anischen R egierung auf eine finanzielle U nterstützun g
durch die Jü d isch en ' G roßbanken in Europa m ilderten phasenw eise ihre A b leh ­
nung der zionistischen B ew egung. M it dieser E inschätzung standen die O sm anen
keinesw egs allein: So haben m anche H isto riker die V erm utung geäußert, die b riti­
sche R egierung sei bei der B alfour-D eklaration vom N ovem ber 1917, die den J u ­
den eine nationale H eim stätte in Palästina zusicherte, vom antisem itischen Topos
des untergründigen, aber w eit reichenden jüdischen Einflusses m it geleitet gew e­
sen.19
(3) D ie R evolution der Jun gtürken 1908 gegen A bdülham id II. nahm im dam als
noch osm anischen Saloniki ihren A nfang. A us den B eziehungen der Jun gtürken
m it den dortigen Jud en und Sabbatäern, einer im 17. Jah rh un dert entstandenen
,k ryp to jüd isch en ‘ G em einschaft,20 w ird der Schluss gezogen, Juden und Zionis-
18 Theodor H erzl: Briefe und Tagebücher. Bd. III: Z ionistisches Tagebuch, 1899-1904. B ear­
beitet von J. W achten und Ch. H arel. H g, von A lex Bein u.a. Berlin u .a . 1985, S. 665-669:
Einträge unter 24. Februar, 5. M ärz und 10. A pril 1904.
19 Ehe Kedourie: Young Turks, Freem asons and Jew s. In: M iddle Eastern Studies 7 (1971) 1,
S. 89-104, hier: S. 104; Leon Poliakov: The Topic of the Jew ish C on sp iracy in R ussia (1905—
1920) and the International Consequences. In: C arl F. Graumann/Serge M oscovici (Fig.):
C hanging C onceptions of C onspiracy. N ew York u .a . 1987, S. 105-133, hier: S. I l l : Die
russischen Ju d en sollten als G egenleistung für das britische Z ugeständnis die neue russische
R egierung in der A llian z gegen das D eutsche Reich halten.
20 Siehe als Einführung zu den Sabbatäern den A rtikel von M arc David Baer: The D ouble
100
M aurus R einkow ski
ten hätten sich durch die G ründung oder zum indest U nterstützung der ju n g tü r­
kischen B ew egung an A bdülham id II. für seinen W iderstand gegen die zio n isti­
sche B ew egung gerächt. D ie V orwürfe gegen die Jun gtürk en , von den Juden oder
auch Freim aurern gesteuert zu sein, tauchten schon bald in der politischen A u sei­
nandersetzung zw ischen Ju n gtü rk en und O pposition auf21 und w urden w enig
später von der arabischen P ub lizistik aufgegriffen.
Eine um fassende W irkun g hat die These einer jüdisch -zio n istisch -freim aurerisch -jun gtiirkisch en V erschw örung erst in der zw eiten Plälfte des 20. Jah rh u n ­
derts entfaltet. W ir finden hier die V orstellung einer unablässigen Kette jüdischer
M achinationen, von denen eine der w ichtigsten die Verabredung war, Palästina
den Z ionisten in die H ände zu spielen. Solche V erschw örungstheorien finden w ir
bereits in der bis in die 1970er Jahre hinein dom inierenden n atio nalistisch -säkula­
ren arabischen G eschichtsschreibung, noch viel m ehr aber in der sich zunehm end
islam isch verstehenden L iteratur in den letzten Jahrzehnten - sow ohl in der T ü r­
kei als auch in arabischen Ländern. In dieser ,islam isierenden‘ (w eil alles in einem
doppelten Sinne in e in e ,Lösung Islam “ tauchenden) L iteratur ist die Ü berzeugung
einer von Juden tum und Im perialism us betriebenen V erschw örung zum E ckpfei­
ler der gesam ten A rgum entation gew orden.
A uffallend sind die strukturellen M erkm ale dieser bis heute produktiven L ite­
ratur, näm lich das D enken in Konglom eraten und Entitäten. D er als einer m ono­
lithischen E ntität aufgefassten islam ischen G em einschaft stehen ins N egative ge­
w endete K onglom erate entgegen: So spricht der libanesische H isto riker H assan
H alläq von „zionistisch-international-freim aurerischen Plänen“ oder einem „jüd isch -kryp tojüd isch -freim aurerisch -ju ngtiirkisch -in tern atio n alen Zentrum " in
Salon iki.22 D er K onflikt zw ischen den europäisch-zionistischen und den arabisch-osm anisch-islam ischen K räften (der so ohnehin nie existierte) w ird auf an ­
dere Zeiten und andere Schauplätze ausgew eitet: Begriffe aus der palästinensisch­
israelischen K onfrontation, w ie nakba (die K atastrophe des 1948 verlorenen K rie­
ges) oder sum ud (das käm pferische A usharren der P alästinenser un ter der israeli­
schen O kku patio n ), w erden auf die Zeit unter A bdülham id II. oder auf die Expe­
dition von N apoleon nach Ä gyp ten a u sg ew e ite t23
Bind of Race and R eligion. The C onversion of the D önm e to Turkish Secular N ationalism .
In: C om parative Studies in Society and H isto ry 46 (2004), S. 682-704.
21 Feroz Ahm ad: The Young Turks. The C om m ittee of U nion and Progress in Turkish P o li­
tics, 1908-1914. London 1969, S. 89 f.
22 H assän H alläq: M aw qif ad -daw la al-'u tm än lya min al-haraka as-sih yaw n lya, 1897-1909
[D ie H altung des O sm anischen Reiches gegenüber der zionistischen Bew egung, 1897-1909].
B eirut 1978, S. 286, S. 319.
23 M uham m ad al-H ay r 'A bdalqädir: N akbat al-'um m a al-‘arab lya bi-suqüt al-hiläfa al‘utm än iya: diräsa li-l-q ad lya al-‘arab lya fl ham sin “äman, 1875-1925 [D ie Katastrophe der
arabischen N ation durch den Fall des osm anischen Kalifats: Eine U ntersuchung über die ara­
bische Frage w ährend der fünfzig Jahre von 1875 bis 1925]. Kairo 1985, S. 63; Raflq Säkir anNatsa: A l-Isläm w a-F ilastln. M uhädara [D er Islam und Palästina. Ein Vortrag]. Beirut 31981,
S. 52.
Zion ism us, Palästin a un d O sm an isc h e s R eich
101
D ie w ohl bekannteste A usprägung der A nsicht, dass eine europäische A ggres­
sion gegenüber der arabisch-islam ischen Welt seit langer Zeit und unveränderlich
fortbesteht, ist das Ziehen einer K ontinuitätslinie von den K reuzzügen bis zu
w estlichem Im perialism us und Zionism us im 19. und 20. Jahrhundert. In der tü r­
kischen24 und - in einem größerem A usm aß - in der arabischen A pologetik und
P ub lizistik taucht die V orstellung eines K ontinuum s europäischer A ngriffe und
eines im m er w ährenden K reuzzugs auf. In der arabischsprachigen revisionistischislam isterenden L iteratur w ird sie sogar zu einem bestim m enden O rdnungsbild.25
V erschw örungstheorien, die den Juden eine w elthistorische R olle als A genten der
D estruktivität zuschreiben, greifen auf arabischer26 und tü rkisch er27 Seite auf die
Protokolle der Weisen von Zion zurück.
IV. Warum Verschwörungstheorien?
Wenn man den m odernen A ntisem itism us daran erkennen w ill, dass verschw öre­
rische M ächte am W erk gesehen w erden, die eigene G em einschaft und die frem de
G esellschaft gegenübergestellt w erden und die geheim nisvolle F igur des D ritten
auftaucht, so finden w ir diese Strukturelem ente in der eben vorgestellten apologe­
tischen L iteratur wieder. Stellt man sich die Frage, was an dieser G attung von ,G e­
schichtsschreibung' w ohl das prägende Strukturm erkm al ist, so fällt die A ntw ort
nicht eindeutig aus: Sind es die Funktionen der V erschw örungstheorien, die hier
im V ordergrund stehen und antisem itische Elem ente oft m it aufnehm en, aber
nicht unbedingt auf sie angew iesen sind? O der sind die V erschw örungstheorien
letztlich nur Träger und C ontainer antisem itischer Interpretationsm uster?28
W ir sehen in der T ürkei und der arabischen W elt eine ungebrochene N achfrage
nach verschw örungstheoretischer Literatur. A uch w enn w ir nichts G enaues über
ihren Einfluss sagen können, so muss sie doch angesichts der zahlreichen N euauf­
lagen und einer großen Publikationsfülle eine prägende W irkung auf die W ahr­
nehm ung großer Teile der B evölkerung haben.29 Seit dem späten 19. Jahrhundert
24 Säm iha A yverdi: T ü rk Tarihinde O sm anh A siriari [D ie osm anischen Jahrhunderte in der
türkischen G eschichte], Bd. 3. Istanbul 1976, S. 15.
25 Siehe als ein Beispiel ‘Abdal'azTz M uham m ad as-SinäwT: A d -d aw la al-'u tm än lya daw la
isläm lya m uftarä 'alayh ä [Das O sm anische Reich: ein verleum deter islam ischer Staat]. Kairo
1980, S. 6, S. 175, S. 690, S. 862 f.
26 Anis Säyig: Y aw m lyät H artzil [Die Tagebücher H erzls], In das Arabische übersetzt von
H ildä Sa'bän Säyig. Beirut 1968, (unpaginiertes) Vorwort: Die P rotokolle sind m it großer
W ahrscheinlichkeit echt.
27 H ikm et Tanyu: Tarih boyunca Y ahudiler ve T ü rkler [Juden und Türken im L auf der G e­
schichte]. Istanbul 1976, S. 468-523.
28 In diesem letzteren Sinne w ürden sicherlich die Verfechter von der These eines ,islam i­
schen A ntisem itism us' argum entieren.
29 G udrun K räm er: A ntisem itism in the M uslim W orld. A C ritical Review. In: Die W elt des
Islams. International Jo urnal for the Study of M o d em Islam 46 (2006) 3, S. 243-276, hier:
S. 256.
102
M a u ru s R e i n k o w s k i
finden w ir das in der öffentlichen M einung w irkun gsm äch tige E rklärungsm uster,
dass seit Jahrhunderten äußere M ächte gegen den Islam V erschwörungen ins W erk
setzen und dam it am politischen und gesellschaftlichen N iedergang des Islams die
Schuld tragen.
W oher also kom m en diese V erschw örungstheorien und w arum haben sie eine
solche B edeutung? D rei w ich tige Punkte sollte man sogleich festhalten:
(1) D er im m er auch abw ertende Begriff der ,V erschw örungstheorie' sollte nicht
überdecken, dass es in der G eschichte des N ahen O stens oft genug von außen u n ­
ternom m ene V erschw örungen gegeben hat. Ein berühm ter Fall ist der von der
C IA 1953 finanzierte und orchestrierte Sturz des iranischen M inisterpräsidenten
M oham m ad M ossadegh, der für eine größere E igenständigkeit Irans gegenüber
den V ereinigten Staaten eingetreten war. Das Sykes-P icot-A bkom m en von 1916
teilte den N ahen O sten in E influsszonen zw ischen F rankreich und G roßbritan­
nien auf.30 Das A bkom m en w urde, neben anderen geheim en D okum enten, nach
der O ktober-R evolution von Lenin veröffentlicht, um die w estlichen A lliierten
und ihre im perialistischen Interessen bloßzustellen.
(2) V erschw örungstheorien in der populärw issenschaftlichen bis ap o lo geti­
schen G eschichtsschreibung ergeben sich geradezu zw angsläufig aus dem in tel­
lektuellen H abitus der Verfasser. A ufbau sow ie A rgum entationsw eise der Texte
und die A usw ahl der verw endeten Sekun d ärliteratur üben einen verstärkenden
Einfluss aus oder bilden sogar den K eim boden für Verschwörungs-Topoi. D ieser
Typus von L iteratur ist geprägt von zahlreichen W iederholungen, un klarer G lie­
derung und einer generellen H o rizo n talität und Flachheit der D arstellung. D ie
ungeheure F ülle der Sekun därliteratur zu r G eschichte der zionistischen B ew e­
gung und der zionistisch-arabischen K onfrontation in Palästina berechtigt schein­
bar zu r Selektivität. D urch die oft bem ängelte Sub jektivität und U nsachlichkeit
der w estlichen Sekun d ärliteratur w ird den A utoren nach ihrer eigenen Ü b erzeu ­
gung die B erechtigung verliehen, eine freie A usw ah l aus der großen A nzahl von
A rgum enten, E rklärungen und Positionen auszusuchen - um dann aber im m er
w ieder zur V erw endung einiger w eniger W erke zurückzukeh ren . G eschichtliche
A bläufe w erden in einer m echanistischen A uffassung als determ inierte Prozesse
verstanden, aber nicht im Sinne von A bläufen, die durch ökonom ische oder so­
ziale K onstellationen bestim m t w erden, sondern als bew usste Entscheidungen
,der europäischen Staaten' und ,des Z ionism us'.
(3) B em erkensw ert ist die ,anthropologische K onstanz' von V erschw örungs­
theorien. Das aus anderen Kontexten gew onnene theoretische Wissen über die
W irkungsw eisen von V erschw örungstheorien lässt sich daher ohne w eiteres auf
die nahöstlichen Varianten anw enden: V erschw örungstheorien sehen die Inten­
tion als die zentrale W irkkraft der V erschw örung an, w ährend kausale V erknüp­
fungen oder gar R eaktionen auf soziale B ew eggründe nur eine zw eitrangige R olle
30 Bassam Tibi: Die Verschw örung. Das Trauma arabischer P olitik. A l-M u ’amara. H am burg
1993, S. 3, geht übrigens davon aus, dass erst mit dem Sykes-Picot-A bkom m en Verschw ö­
rungstheorien in den N ahen O sten cingedrungen sind.
Z io n ism u s, Palästin a un d O sm an isc h e s Reich
103
bei der E rklärung spielen. Funktion einer V erschw örungstheorie ist es deswegen
nicht, ein E reignis durch eine U rsache zu erklären, sondern das eigene Bild der
G esellschaft in das G eschilderte zu integrieren.31 V erschw örungstheorien leugnen
das Prinzip des Z ufalls in der G eschichte und gehen von der L enkbarkeit der G e­
schichte aus. D ie geographische Perspektive der V erschw örungstheorien ist un i­
versalistisch - sie gehen von der O m nipräsenz der V erschw örung aus.32 A ll diese
Elem ente verstärken die determ inistische Sicht der G eschichte. Serge M oscovici
sieht in den V erschw örungstheorien die „M atrix des kollektiven D enkens in unse­
rer Epoche“ .33 Eine ,m anichäistische P sych o lo gie'34 w ill w idersprechende W ahr­
nehm ungen abw ehren und die K om plexität der W elt reduzieren. Positiver gefasst:
In ihrer R eaktion auf die H erausforderungen der M oderne ideologisieren Ver­
schw örungstheorien M achtbeziehungen und politische W irklichkeiten, sie sind
aber dennoch - zum Scheitern verurteilte - Versuche, die K om plexität heutiger
G esellschaften in ihrer Totalität zu erfassen.35
A ngesichts der erstaunlichen Ä hnlichkeiten in Z usam m ensetzung und S tru k­
tur, die V erschw örungstheorien in verschiedensten politischen und kulturellen
K ontexten aufw eisen, sollte man nicht isoliert über die nahöstlichen Verschwö­
rungstheorien sprechen; allzu leicht nim m t ein solches Vorgehen einen denunziatorischen C h arak ter an.36 V erschw örungskom plexe sind als m enschliches B edürf­
nis nach W elterklärung zu verstehen. D araus folgt, dass nahöstliche V erschwö­
rungstheorien nicht als ein Fall sui generis zu betrachten sind, sondern sehr w ohl
m it anderen Form en, etw a denen der U S-am erikanischen paranoia, verglichen
w erden können und müssen.
Wo die A n tw orten liegen w ürden, w enn man sich an eine speläologische E r­
kundung der nahöstlichen V erschw örungslabyrinthe w agte, lässt sich erahnen: In
der besonderen sem i-kolonialen E rfahrung des N ahen O stens, die offensichtlich
in m ancherlei H in sich t verheerender w ar als die Form en von offener kolonialer
Flerrschaft (w ie etw a die G roßbritanniens in Südasien); in der durch den PalästinaK onflikt und den O lreichtum bedingten F ortdauer w estlicher Interventionen bis
in die unm ittelbarste G egenw art; in der M ö glich keit, K onfliktlinien als G egen­
stand religiö ser K onfrontation aufladen zu können. D ie islam ische W elt, und die
arabische im B esonderen, erlebte das durch den W esten dom inierte 19. und
31 Serge M oscovici: The C onspiracy M entality. In: G raum ann/M oscovici (H g.): C hanging
(wie Anm. 19), S. 151-169, hier: S. 1561.
3- D ieter Groh: The Tem ptation of C on sp iracy Theory, or: W h y Do Bad Things H appen to
Good People? Part I: Prelim in ary Draft of a T heory of C on sp iracy Theories. In: Graumann/
M oscovici (H g.): C hanging (w ie Anm. 19), S .1-13, hier: S. 3, S. 5, S. 9.
33 M oscovici: C o n sp iracy (w ie Anm. 31), S. 168.
34 C arl F. G raum ann: C onspiracy T heory and Social P sycho logy - A Synopsis. In: G rau­
mann/Moscovici (H g.): C hanging (w ie Anm. 19), S. 245-251, hier: S. 249: Der Begriff m an icb ea n p s y c h o l o g y w urde von Richard H ofstadter geprägt.
-b Ganz im Sinne dieser A m bivalenz argum entiert M ark Fenster: C onspiracy Theories. Se­
crecy and Pow er in A m erican C ulture. M inneapolis 2008.
36 Siehe etw a die herablassenden W ertungen von D aniel Pipes: The H idden H and. M iddle
East Fears of C onspiracy. Basingstoke 1996.
104
M aurus R einkow ski
20. Jah rh un dert als eigentlich nicht bew ältigbar, erst recht nicht durch rationale
Erklärungsm uster. Es gab und gibt daher ein gew altiges B edürfnis nach E rklärun ­
gen angesichts dieser tiefgreifenden ,V erw andlung der W elt'.37 Sicher ist jeden ­
falls: Was w ir hier herausfänden, w ären Ideologien prim ärer, sekundärer und ter­
tiärer O rdnung, vor allem aber die A usw irkun gen unm ittelbarer m enschlicher E r­
fahrungen.
Abstract
On the basis of a largely indisputable historical issue, the attitude of the O ttom an
governm ent tow ards the Z ionist m ovem ent and settlem ent in Palestine durin g the
last few decades before W orld W ar I, it can be dem onstrated how national h isto ri­
ographies, in p articular conspiracy theories (w ith the alleged principal actors:
Freem asons, im perialists, Jew s, Young T urks, and Z ionists), lead to the m isinter­
pretation of historical facts. B y an alyzin g A rabian and Turkish popular science
literatur from the second half of the 20th century, it is show n how anti-sem itic pat­
terns of explanation are em bedded into the superior context of conspiracy theo­
ries. Exhaustive analyses of the function and m ode of functioning of conspiracy
theories in the M iddle East are lacking so far. A com parison w ith other regions
w ill prove useful in order to w o rk out the “anthropological co n stan cy” of conspi­
racy theories.
37 Siehe Jü rgen O sterham m el: D ie V erw andlung der W elt. Eine Geschichte des i 9. Jah rh u n ­
derts. M ünchen 2009.
Yavuz Kose
„Ich bin Sozialist, gib mir die Hälfte deines
Vermögens“.
Rezeption des Sozialismus und Kommunismus in
spätosmanischer Zeit (1870-1914)
Das O sm anische R eich w ar für M arx und Engels sow ie für viele politisch Interes­
sierte in Europa M itte des 19. Jahrhunderts von besonderer B edeutung; und zw ar
w en iger als O rt einer m öglichen kom m unistischen R evolution, als vielm ehr als
Zankapfel europäischer P olitik. M arx und Engels lassen in der N ew -Y ork D aily
Tribune der Jah re 1853 und 1854 in ihren B eiträgen zum K rim krieg (1853-1856)
erkennen, dass das O sm anische R eich m ehr oder w en iger eine V erfügungsm asse
Europas darstellte, die für die einen als B o llw erk gegen R ussland erhalten werden
m usste, für die anderen jedoch besser heute denn m orgen aufgelöst w erden sollte.
F riedrich Engels fragt A nfang 1853 in einem L eitartikel „Was soll aus der europäi­
schen T ürkei w erd en ?“, kritisiert die H altung der w estlichen D iplom aten und de­
ren Leitm otiv der U nabhängigkeit der T ürkei „in ihrem gegenw ärtigen Z ustand“
und p lädiert dafür „in Europa auf den Trüm m ern des M oslem reiches einen un ab ­
hängigen christlichen Staat zu errichten“.1 M an garantierte aber m it der Pariser
K onferenz von 1856 dem O sm anischen R eich die Integrität und U nabhängigkeit
und nahm es in das „europäische K onzert“ auf. Dass die O sm anen dabei nicht
tonangebend w aren, zeigte sich spätestens an den Ergebnissen der B erliner K on­
ferenz von 1878, die im A nschluss an die vernichtende N iederlage gegen R ussland
einberufen w urd e: Serbien, M ontenegro, B ulgarien und R um änien w urden vom
E influssbereich des osm anischen Staates en dgültig abgetrennt, Bosnien sowie
H erzegow ina w urden Ö sterreich unterstellt. D ie sukzessive G ebietsschrum pfung
setzte sich dann in den kom m enden Jahrzehnten fort, und in deren Folge ver­
schob sich das dem ographische Zentrum von den europäischen Zentren gen Sü ­
den.2
1 Friedrich Engels: Was soll aus der europäischen T ü rkei w erden? [In: N ew -Y ork D aily T ri­
büne, Nr. 3748 (21. A pril 1853), L eitartikel], In: Karl M arx/Friedrich Engels: W erke, Bd. 9.
Berlin 1960, S. 31-35.
2 Donald Q uataert: The O ttom an Empire 1700-1922. C am bridge 22005, S. 112. Der Balkan
spielte nach w ie vor eine bedeutsam e R olle und w ies die größte Bevölkerungsdichte auf.
„Between 1783 and 1913, an estim ated 5 -7 m illion refugees, at least 3.8 m illion of whom w ere
Russian subjects, poured into the shrinking O ttom an state.“, ebd., S. 117.
106
Yavuz Köse
Die Frage, w ie m it diesem V ielvölkerstaat und seinen N ichtm uslim en um zuge­
hen sei, sow ie seine Ü berlebenschancen w urden auch nach M arx und Engels unter
den Sozialisten w eiter erörtert. Rosa Luxem burg zeigt in einem 1896 in der Säch­
sischen* A rb eiterzeitun g veröffentlichten B eitrag („D ie nationalen Kämpfe in der
T ürkei und die So ziald em o kratie“3), dass sich die Problem lage auch an der
Schw elle zum 20. Jah rh un d ert nicht w esentlich geändert hatte. Für sie stand aller­
dings das Ende „der T ü rk e i“ fest, den A uflösungsprozess müsse man „als eine ste­
hende Tatsache hinnehm en und sich nicht in den Kopf setzen, daß man ihn aufhal­
ten könnte oder so llte“. N icht nur sei den „Selbständigkeitsbestrebungen der
christlichen N ation en “ die vollste Sym pathie der Sozialdem okraten entgegenzu­
bringen, ihre U nterstützun g müsse man vor allem „aber als ein K am pfm ittel ge­
gen das zarische R ußland begrüßen und m it N achdruck für ihre U nabhängigkeit
ebenso gegen R ußland w ie gegen die T ürkei eintreten.“4 Für sie verhinderte die
türkische H errschaft eine kapitalistische E ntw icklung. N ur durch eine A b tren ­
nung der L änder könnten diese eine europäische Staatsform und bürgerliche In­
stitutionen im plem entieren und „allm ählich in den allgem einen Strom der kap i­
talistischen E ntw icklung hineingezogen“ w erden.5 D ie gesam te Problem atik, ja
Zukunft des O sm anischen Reiches k lin gt in den B eiträgen der m arxistischen In­
tellektuellen w ie M arx, Engels oder L uxem burg an.6 Ein Staat, der bereits sechs
Jahrhunderte von einer D ynastie geleitet w urde und sich über drei K ontinente
ausdehnte, w ar spätestens seit dem K rim krieg m it einer sich im m er schneller vo ll­
ziehenden gesellschaftlichen, politischen und w irtschaftlichen D esintegration
konfrontiert. M ilitärische, politische w ie soziale R eform en nach w estlichem M us­
ter hielten diesen Prozess nicht w irk lich auf. D er bis dahin nicht hinterfragte ge­
sellschaftliche Konsens, w onach der Sultan m it einer m ilitärischen w ie geistlichen
Elite die steuerzahlenden U ntertanen beherrschte und ihnen Schutz bot, b rö ­
ckelte. In zahlreichen nichtm uslim isch geprägten R egionen des Reiches setzten zu
Beginn des 19. Jahrhunderts A ufstände ein, die zunächst eher sozialen als nationa­
len B ew egungen ähnelten, schließlich aber doch in die U nabh än gigkeit führten.7
Die um die W ahrung des europäischen (Interessens-)G leichgew ichts bem ühten
G roßm ächte sorgten durch B esetzungen w eiterer osm anischer G ebiete dafür, dass
3 Rosa Luxem burg: Die nationalen Kämpfe in der T ü rkei und die Sozialdem okratie. [In:
Sächsische A rbeiter-Z eitung, 8., 9., 10. O ktober 1896]. In: Rosa Luxem burg: Reden und
Schriften. Berlin 2006, S. 57-69.
4 Ebd., S. 67-69.
5 Ebd., S. 64.
6 Die meisten osm anischen E ntscheidungsträger sahen dies etw as anders. So schreibt etwa
Fuad Pascha in seinem politischen Testament: „ [...] der einzige Weg den Ruin unseres Staates
abzuw enden, ist ihn von neuem zu errichten auf einem soliden und breiten Fundam ent, unter
Einbeziehung aller seiner Elemente ungeachtet ihrer Rasse und R eligio n .“ Aus dem E ngli­
schen YK, vgl. Jam es L ew is F arley: Turks and C hristians. A Solution of the Eastern Q ues­
tion. London 1876, S. 242.
7 H einz Kram er/M aurus R ein ko w ski: Die T ürkei und Europa. Eine wechselhafte B ezie­
hungsgeschichte. Stuttgart 2008, S. 67.
R eze p tio n des S o zia lis m u s un d K o m m u n is m u s
10 7
die „O rientalische F rage“ zw ar nicht an B risanz aber doch Stück für Stück an ter­
rito rialer Substanz verlor.8
D ie Reste der „w ohlbehüteten L änder“ (m em alik-i mahruse) des osm anischen
G ebietes gerieten zudem verstärkt ab 1870 in den W irkungskreis eines w irtsch aft­
lichen G lobalisierungsprozesses, dessen M otor m ultinationale U nternehm en bil­
deten.9 M it den und durch diese U nternehm en verbreiteten sich neben den Pro­
dukten neue Form en und Techniken des U nternehm ens sowie deren Träger, die
M anager.10 M arx und Engels hatten bereits 1848 in ihrem M anifest der K om m u­
nistischen Partei diesen Prozess angekündigt, statt von „M ultin atio n als“ aber
noch von ,,neue[n] Industrien“ gesprochen, deren „Fabrikat nicht nur im Lande
selbst, sondern in allen W eltteilen zugleich verbraucht“ w erden w ü rd e.11
Dass ihre Ideologie ebenfalls eine folgenreiche G lobalisierung erfahren w ürde,
hatten die V erfasser des M anifests sicher nicht ahnen können. D ie Losung „Prole­
tarier aller Länder vereinigt Euch“ brauchte aber länger als die „neuen Indus­
trien “, um im O sm anischen R eich ihre W irkung zu entfalten. Das M anifest der
K om m unistischen Partei sollte nicht vor 1923 ins T ürkisch e übersetzt werden.
A llein eine knapp vierseitige Z usam m enfassung, eingebunden in ein klein fo rm ati­
ges B üchlein üb er internationale revolutionäre Parteien von G eorge Turner aus
dem Jah r 1910, von H ayd ar R ifat [Yorulm az] übersetzt, lag interessierten O sm anen vor. Es ist zw ar zw eifelhaft, ob dieses W erk jem als große V erbreitung fand.
A ber im m erhin findet sich darin eine Ü bersetzung der berühm ten Losung. In Er­
m angelung einer griffigen türkischen E ntsprechung für Proletarier heißt es dort:
„Arm e aller L änder reicht Euch nun die H an d !“ 12 A uch w enn bereits 1912 der
Versuch gestartet w urd e, die zentralen A ussagen des M arxschen K apitals aus dem
Französischen zu üb ertragen ,13 sollte eine zusam m enfassende dreihundert Seiten
starke türkische Ü bersetzung nicht vor 1933 erscheinen - w iederum von H ayd ar
8 „Ohne Ü bertreibung aber läßt sich sagen, dass die zw iespältige Lage, als gleichberechtigtes
M itglied der europäischen Staatengem einschaft bezeichnet zu w erden und zugleich zu einem
randständigen und als m inderw ertig geltenden Staat herabgesunken zu sein, bis in die T ü rk i­
sche R epublik des 20. und 21. Jahrhunderts traum atische W irkungen entfaltet h at.“ Ebd.,
S. 79.
9 G eoffrey Jones: M ultinationals and G lobal C apitalism . From the N ineteenth to the
T w enty-First C entury. O xford 2005, S. 3.
10 M ira W ilkins: M ultination al Enterprise to 1930: D iscontinuities and C ontinuities. In: A l­
fred D. C handler Jr./Bruce M azlish (H g.): Leviathans. M ultinational C orporations and the
N ew G lobal H istory. C am bridge 2005, S. 45-81, S. 51.
11 Karl M arx/Friedrich Engels: M anifest der kom m unistischen Partei - zitiert nach C h ris­
toph H enning: N arrative der G lobalisierung. Zur M arxrenaissance in G lobalism us und
G lobalisierungskritik (= G esprächskreis P o litik und G eschichte im K arl-M arx-H aus Trier,
H eft 5). Trier 2006, S. 8-9.
12 T. N adir [H ayd ar Rifat Y orulm az]: B eynelinilel ih tilal F irk alan . Istanbul 1910, S. 23. Vom
selben A utor existiert aus demselben Jah r eine Ü bersetzung „Sosyahsm “, die ebenfalls
George Turner zugeschrieben w ird, http://kutuphane.tbmm.gov.tr/cgi-bin/koha/opacdetail.pl?bib=128836 (letzter Z ugriff am 2 5 .6 .2 0 0 9 ); vgl. auch M ehm et Ö. A lkan: B ilinm eyen bir Felsefe D ergisi C erid e-i Felsefiye ve bir Yahudi Sosvalist Bohor Israel. In: Tarih ve
Toplum 13 (1990) 77, S. 50-57.
13 A lkan: B ilinm eyen b ir Felsefe D ergisi (wie Anm. 12).
108
Y av uz Köse
R ifat. A ngesichts der spärlichen Ü bertragungen sozialistisch-kom m unistischer
Schriften liegt es nahe, der Frage nachzugehen, was m uslim ische O sm anen m ein­
ten, wenn vom Sozialism us oder K om m unism us die Rede war.
I. Frühe Wahrnehmung des Sozialismus - Kommunismus
(1870-1895)
D ie ersten B erichte üb er den Sozialism us und K om m unism us tauchten in den
1870er Jahren in Presseberichten zur Pariser Com m une auf. M ehrheitlich bezog
die osm anische Presse ihre Inform ationen aus den europäischen N ach rich ten ­
agenturen und B lättern. Z usätzlich w urden auch die B erichte der lokalen franzö­
sischsprachigen Presse üb ertragen .14
D ie arabische B ezeichung „i§tirak“ (teilen) fungiert in den Berichten als Ü b er­
setzung des Begriffs „Sozialism us“. Es tritt aber häufig als zusam m engesetztes
W ort auf, am häufigsten als „i§tirak-i em val“ (das Teilen von G ütern). Erst um
1885 findet sich im französisch-osm anischen W örterbuch von §em seddin Sami
der Begriff „i§tirakiyü n “ m it den B edeutungen „com m unistes, socialistes, nihilistes“ verzeichnet, in einem im Jahre 1911 veröffentlichten W örterbuch w ird der
B egriff nur noch m it „socialistes“ w iedergegeben. In den Presseberichten üb er­
w iegen also entsprechende U m sch reib un gen .15
A uch für andere sozialistische Begriffe w ie „K lasse“ oder „K lassengesellschaft“
gab es keine E ntsprechungen. D ie verw endeten Term ini stam m ten zum Teil aus
dem Z unftw esen. In Erm angelung einer „K lassengesellschaft“ half man sich mit
dem B egriff „sim f“, das aus dem W ort für Zunft „esnaf“ abgeleitet ist. D er A rb ei­
ter w urd e parallel als „i§$i“ oder „em ekgi“ bezeichnet, „am ele“ und „rencber“
w urden für ungelernte A rbeiter verw endet. W ie A hm ad Feroz anm erkt, fehlte ei­
n er G esellschaft, die über Jah rh un derte - durch soziale Klassen hindurch - über
religiöse Z ugehörigkeit klassifiziert w urde, überhaupt die Idee einer K lassenge­
sellschaft.16 Im Zuge der Industrialisierungsbestrebungen des Staates ko n stitu­
14 C hristoph N eum ann vergleicht die Beiträge in der Z eitung Basiret (Scharfsinn) mit denen
in der H ak ayik ü i-V ekayi (D ie W ahrheit der E reignisse); vgl. C hristoph K. N eum ann: M azdak, nicht M arx: Frühe O sm anische W ahrnehm ungen von K om m unism us und Sozialism us.
In: Raoul M otika/H ans G eorg M ajer (H g.): T ürkische W irtschafts- und Sozialgeschichte
(1071-1920). A kten des IV. Internationalen Kongresses, M ünchen 1986. M ünchen 1995,
S. 211-225.
15 So etwa „kom unizm y a ’ni h e y ’et-i m ü§terike k o m itesi“ (K om m unism us, das heißt das
K om itee des S y s t e m s der Teilhaber); „sosyalist y a ’ni id are-i ictim a’iye-i um um iye h e y ’et-i
cum h uriyesi(n i)“ (sozialistisch, das heißt die R epublikform der allgem einen gesellschaftli­
chen V erw altung); vgl. ebd., S. 217.
16 Feroz A hm ad: Some Thoughts on the Role of Ethnic and R eligious M inorities in the G e­
nesis and D evelopm ent of the Socialist M ovem ent in T urkey: 1876-1923. In: M ete Tunfay/
Erik Jan Zürcher (H g.): Socialism and N ationalism in the O ttom an Empire, 1876-1923. L on­
don, N ew York 1994, S. 13-27, hier: S. 21 f.
R e z e p tio n des S ozia lism us un d K o m m u n is m u s
109
ierte sich zwar ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Arbeiterschaft, ob
sie jedoch bereits über ein Klassenbewusstsein verfügte, ist nicht eindeutig eruier­
bar.17 Es sei angefügt, dass sich Begriffe wie „Sosyalizm “ oder „Grev“ (Streik) in
Listen von zu zensierenden Begriffen finden, die während der Regierungszeit Sul­
tan Abdülhamids II. (1876-1909), etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts angefertigt
w urden.18 Alles, was als oppositionelle Bewegung interpretiert wurde und damit
gegen den Sultan hätte gerichtet sein können, musste bereits begrifflich unterbun­
den werden.
Wenden w ir uns aber wieder den Berichten der 1870er Jahre zu, so zeigt sich,
dass zunächst keine genaue begriffliche Differenzierung zwischen Kommunismus
oder Sozialismus erfolgte.19 Der osmanische Leser bekam in den meisten Beiträ­
gen vielmehr ein vermeintliches Destillat dessen, was Sozialismus und Kommu­
nismus im Kern auszumachen schien, nämlich den als Vorwurf zu verstehenden
Umstand, dass beide Bewegungen die Gemeinsamkeit an Besitz und Weib - „i§tirak-i emval u iy a l“ (bzw. nisvan) propagieren würden.
Diese Verkürzung der Marxschen Doktrin mag am spezifisch islamisch-türkischen Vorwissen gelegen haben, mit dem man den Kommunismus gedeutet hat.20
Nun hatte aber die vermeintliche Absicht nicht nur Hab und Gut, sondern glei­
chermaßen die Frauen zu teilen, offenbar auch in der europäischen bürgerlichen
Gesellschaft recht früh für empörte Aufschreie gesorgt. So sagen Marx und Engels
denn auch im Kommunistischen Manifest: „Aber ihr Kommunisten w ollt die
Weibergemeinschaft einführen, schreit uns die ganze Bourgeoisie im Chor entge­
gen.“21 Die osmanischen Autoren zeigten sich nicht weniger entrüstet.
In einem Beitrag vom 10. Juni 1878 versuchte der Literat §em§eddin Sami (Fracheri)22 den Sozialismus vom Kommunismus zu unterscheiden und schlug vor,
„Sozialismus“ einfach „sosyalizm “ zu nennen. Dagegen würde „istirak-i emval“
(Gemeinsamkeit an Besitz) die Entsprechung für Kommunismus sein und keines­
wegs, w ie dies in der osmanischen Berichterstattung geschähe, für Sozialismus ste­
hen. Kommunismus sei nicht mit Sozialismus zu verwechseln, da ersterer unge­
recht, gegen die N atur des Menschen sei, ja diesen sogar zum Tier degradiere
(.hayavanla$tirmak ). Er verortete den U rsprung des Kommunismus im iranischen
und asiatischen Raum des frühen 7. Jahrhunderts, wo die Gemeinsamkeit an Weib
17 Mete C etik: Emek Tarihi L iteratüründe Sm if Bilinci Sorunu. In: M ehm et Ö. A lkan u.a.
(H g.): M ete T ungay’a A rm agan. Istanbul 2007, S. 253-277.
18 Francois Georgeon: Yasak Kelimeier. XX. y ü z y ilin ba§indaki O sm anli san siirüyle ilgili bir
beige üzerine. In: M ehm et O. A lkan u.a. (H g.): M ete T ungay’a Arm agan. Istanbul 2007,
S. 191-203.
19 Das Problem , dass sich unter dem Begriff „Sozialism us“ eine Vielzahl unterschiedlichster
Ansichten sam m elte, hatte Karl M arx recht früh bewogen, stattdessen den Begriff Kom m u­
nismus zu präferieren.
20 N eum ann: M azdak (w ie Anm. 14), S. 221.
21 Karl M arx/Friedrich Engels: M anifest der kom m unistischen Partei. In: Karl M arx/Fried­
rich Engels: W erke, Bd. 4. Berlin 61972, S. 478.
22 „Sosyalizm - I§tirak-i em val“, Tercüm an-i §ark (10. H aziran 1878), vgl. A. C errahoglu:
T ü rk iye ’de Sosyalizm in Tarihine K atki. Istanbul 21994, S. 104.
110
Yavuz Köse
und Kindern praktiziert worden sei. Der Sozialismus dagegen werde, so Sami, den
Menschen zu Wohlstand und Glück verhelfen.
Namik Kemal (1840-1888), einen der führenden Intellektuellen der jungosmanischen Opposition, konnte diese Differenzierung allem Anschein nach nicht
überzeugen und noch weniger die allzu positive Darstellung des Sozialismus. Ent­
gegen einiger früherer, die Pariser Commune wohlwollend darstellender Beiträge,
nahm er in seiner Antwort auf §em§eddin Sami eine eher kritisch-konservative
Haltung gegenüber dem Sozialismus ein. Er warf Sami vor, den Sozialismus zu
„leicht“ zu nehmen, da es auch unter seinen Anhängern solche gebe, die durchaus
die „Gemeinsamkeit an Besitz und Weib“ anstrebten. Setzten sie sich durch, so
würde Europa zugrunde gerichtet werden.23
N ur wenig später findet sich in einer Enzyklopädie ein weiterer Versuch, Kom­
munismus und Sozialismus zu definieren - diesmal ohne direkt auf die „Weiber­
gemeinschaft“ zu rekurrieren. In Ahmed R ifa t Efendis (1880) achtbändiger ge­
schichtlich-geographischer Enzyklopädie24 heißt es unter dem Eintrag sosyalism,
dass der Sozialismus anstrebe, das Geldkapital und den Zins abzuschaffen, und für
die Vergesellschaftung des Grundbesitzes eintrete. Der Kommunismus dagegen
wolle das Besitz- und Erbrecht ganz abschaffen. Aber auch nach R if’at scheinen
die letztlich verwerflichen Gemeinsamkeiten von größerer Bedeutung: Sie gäben
vor, das „vollkommene menschliche Heil auf Erden“ zu realisieren, wären aber
nichts anderes als „bösartiges politisches Gedankengut“, das nichts als Unheil
anrichten könnte.25
Ahmet Cevdet Pa§a (1822-1895), berühmter Staatsmann und Historiker, er­
teilte diesem „bösartigen politischen Gedankengut“ im Jahre 1888 ebenfalls eine
Abfuhr. Er verortete die historischen Wurzeln des Kommunismus bei den Mazdakiden des 6. Jahrhunderts, ihre Lehre hätte sich im islamischen Raum etwa unter
den Aleviten und N usayris verbreitet. Nach Europa sei sie über die Kreuzfahrer
gelangt - nicht nur Wissenschaft und Technik, sondern auch „das Gedankengut
von Freiheit und Libertinage“ hätten diese mitgenommen. Die Freimaurerlogen
hätten für das Überleben dieser Lehre gesorgt. Die späteren Sekten des Kommu­
nismus, Sozialismus und Nihilismus schließlich, seien nichts anderes als mazdakidisches Gedankengut. Abseits gewisser Unterschiede im Detail einige sie vor al­
lem eines: „die Auflösung des Eigentumsrechtes bei Besitz und der Ehe bei den
Frauen“.26 In Europa fanden diese Sekten großen Anklang, da dort die Kluft zw i­
schen Arm und Reich so groß sei, dass ein U m sturz zu befürchten sei. Angst, dass
auch das Osmanische Reich eine Revolution befürchten müsse, hatte Cevdet Pa§a
jedoch nicht. In seinem Land, so meinte er, existiere - anders als in Europa - keine
Neigung zu diesem verderblichen Gedankengut.
23 Ebd.
24 Ahmed R if’at Efendi: L ugat-i tarihiye ve cografiye, Bd. 4. Istanbul 1299/1300, S. 81 f.;
Neum ann: M azdak (w ie Anm. 14), S. 217.
25 Neum ann: M azdak (w ie Anm. 14), S. 218, Anm. 44.
26 Ebd., S. 223.
R e z e p tio n des S o zia lis m u s und K o m m u n is m u s
111
Während der Regierungszeit Sultan A bdülaziz“ (1861-1876) und Abdülhamids II. (1876-1909) fand das Begriffspaar Sozialismus/Kommunismus zunächst
im Rahmen der Darstellung von politischen Ereignissen in Europa Eingang in die
lokale Presse, um schließlich von muslimischen Intellektuellen erörtert zu wer­
den. Dabei wurde ohne eine eigentliche inhaltliche und differenzierende D iskus­
sion den beiden Doktrinen ein die gesellschaftliche Ordnung gefährdendes Poten­
tial konstatiert.
Der diskursive Umgang mit dem Kommunismus/Sozialismus beschränkte sich
bis zum Ende der Herrschaft Sultan Abdülhamids II. auf die Aussage, dass beide
wider die N atur des Menschen seien und sich gegen die dem Menschen von Gott
verordneten Tugenden und letztlich gegen die politische Ordnung richteten.
Setzte man den Kommunismus um, würden Züchtigkeit und Ehrhaftigkeit, die
den Menschen vom Tier unterschieden, aufgehoben, „jede mit jedem sich wie
Tiere vermehren und schwanzwedelnd durch die Gegend laufen“.27 Zwischen
1870 und 1908 herrschte aber insgesamt noch die Ü berzeugung vor, dass die os­
manische gesellschaftlich-politische Ordnung stabil genug sei, um diesen D oktri­
nen keine Entfaltungsmöglichkeit zu bieten.
II. Erste sozialistisch geprägte Bewegungen
(bis 1910)
In den 1890er Jahren formierten sich unter den nichtmuslimischen Minderheiten
zahlreiche oppositionelle Untergrundorganisationen, darunter auch einige mit so­
zialistischer und marxistischer Orientierung. Die 1887 gegründete armenische
Huntschak und die 1890 gegründete Dascbnak gehörten mit der Inneren Mazedo­
nischen Revolutionären Organisation (IM RO) zu den frühesten Organisatio­
nen.28 Die Bulgarische Sozialdemokratische Partei wurde bereits Ende des
19. Jahrhunderts M itglied der II. Internationale, 1907 folgten die revolutionären
DaschnaksP
Die für die W iedereinführung der Verfassung von 1876 und des Parlaments ver­
antwortliche Oppositionsgruppe, die jungtürkische Gesellschaft fü r osmanische
Einheit, aus der später die regierende Partei Komitee fü r Einheit und Fortschritt
hervorgehen sollte, fasste zunächst zw ar unterschiedliche Denkrichtungen aus
„nationalistischen, populistischen und positivistischen Bauelementen“30 zusam­
men, war aber im Grunde nicht sozialistisch orientiert. Alle diese Gruppen ver-
27 C errahoglu: T ü rk iy e ’de Sosyaliztnin (w ie Anm. 22), S. 59 f.
2S Vgl. Anaide Ter M inassian: Aux origins du m arxism e arm enien: les Specifistes. In: C ahiers
du M onde russe et sovietique 19 (1978) 1—2, S. 61-117.
29 George S. H arris: The O rigins of C om m unism in Turkey. Stanford 1967.
30 Klaus Kreiser: Das letzte osmanische Jah rh un dert (1826-1920). In: Klaus K reiser/C hris­
toph K. N eum ann: Kleine G eschichte der T ürkei. Stuttgart 2003, S. 315-382, hier: S. 351.
112
Y av uz Köse
band jedoch eines: Ihre Opposition zur absolutistischen Herrschaft Sultans Ab­
dülhamid II.31
Häufig wird angeführt, dass unter den M inderheiten der frühe Kontakt mit Eu­
ropa die Aufnahme sozialistisch-m arxistischer Ideen befördert hätte. Unter türki­
schen oppositionellen Intellektuellen, die in europäischen Städten (Paris, London,
Genf) ihre Oppositionspolitik betrieben, seien allerdings nicht wie etwa unter
russischen Dissidenten Hegel, Feuerbach, Blanqui oder Marx gelesen worden,
sondern Guiseppe M azzini, Auguste Comte, Victor LIugo, Ernest Renan und
Emile Dürkheim. Eine Ursache sei in der sprachlichen Barriere zu suchen. T ürki­
sche Intellektuelle hätten vornehmlich französisch gelesen.32 In der Tat spielten
unter den Jungtürken soziologische Ansätze von Auguste Comte und Emile
Dürkheim eine wichtigere Rolle. Nach Ahmad imponierte den Jungtürken vor
allem der soziale Radikalismus der nichtmuslimischen Sozialisten. Doch fragt er
wohl zu Recht, wie sozialistisch diese Gruppen eigentlich waren. In den meisten
Fällen ließe sich der Sozialismus von der nationalen Bewegung nicht trennen.
Ganz gleich ob deren Führer oder Anhänger Sozialisten waren, handelte es sich in
erster Linie um nationale Bewegungen. IMRO, Huntschak und Dasbnak waren
in dem Sinne anarchistisch und sozialistisch, als sie bereit waren, gegen das abdiilhamidische Regime auch gewalttätige M ittel einzusetzen.33
Die W iedereinführung der Verfassung von 1876 durch die jungtürkische Revo­
lution von 1908 vermittelte für eine kurze Zeit den Eindruck, dass die Losung
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ realisierbar sein könnte. M it der Aufhe­
bung der Zensur und des Versammlungsverbots bot sich für fünf Monate zw i­
schen Juli und Dezember 1908 - eine Phase, die als „ethnische Flitterwochen“34
bezeichnet wurde - die Möglichkeit, sich ethnienübergreifend zu verbünden. Es
ist auch die Phase der größten Streikwelle, die das Reich bis dahin erlebt hatte.
Zwischen Ju li und Oktober 1908 werden 111 Streiks gezählt, allein 30 in Saloniki,
einige mehr in Istanbul. Man vermutet, dass eine Mehrzahl der ca. 300000 Lohn­
arbeiter des Reiches auf die Straßen ging. Zahlreiche Gewerkschaften wurden ge­
gründet, viele jedoch nur für die Dauer eines Streiks.35 Die einflussreichste A rbei­
31 Zu A bdülham id II. vgl. Francois G eorgeon: A bdulham id II. Le sultan calife (1876-1909).
Paris 2003.
32 D ankw art R ustow : The Appeal of C om m unism to Islam ic Peoples. In: J. H arris Proctor
(H g.): Islam and International Relations. N ew York 1964, S. 40-61, nach M ete Tungay: Ttirk iy e ’de Sol A kim lar (1908-1925). Bd. 1. Ista n b u l41991, S. 25.
33 Ahm ad: Some Thoughts (w ie Anm . 16), S. 17 f.
34 Yavuz Selim Karaki^la: O sm anli Im paratorlugunda Solun Tarihine bir K atki: M e§rutiyet
ve H u k u k -i Avam Tarafdan Ermeni Firkasi (1908). In: M ehm et O. A lkan u .a . (Flg.): Mete
T ungay’a A rm agan. Istanbul 2007, S. 277-299. G aidz M inassian bezeichnet in seinem A rtikel
über die Beziehungen der arm enischen revolutionären Bew egung zu den Ju ngtürken diese
Phase als „ [lj’illusion dem ocratique“; vgl. G aidz F. M inassian: Les relations entre le C om ite
U nion et Progres et la Federation R evolutionnaire Arm enienne ä la veille de la Prem iere
G uerre m ondiale d ’apres les sources arm eniennes. In: Revue d ’histoire arm enienne contem poraine 1 (1995), S. 45-99, S. 48,
35 Yavuz Selim Karaki§la: The 1908 Strike Wave in the O ttom an Empire. In: Turkish Studies
A ssociation Bulletin 16 (1992), S. 153-177.
R e z e p t io n des S o zia lis m u s un d K o m m u n is m u s
113
terbewegung formierte sich in Saloniki unter der Führung von Abraham Benaroya, der mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterföderation Salonikis ver­
suchte, alle lokalen ethnischen Gewerkschaften unter einem Dach zu versam­
meln.36 Das Besondere an dieser Bewegung war ihr föderaler Charakter und ihr
Bestreben, allen ethnisch/nationalen Gruppen ihre Eigenart zu lassen, um ge­
meinsam unter dem zu erhaltenden osmanischen Staat leben zu können.
Die Fusion von gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten fällt nicht 111 die
kurze freiheitliche Phase, sondern in eine Zeit, in der die Jungtürken, die im Par­
lament die Mehrheit stellten, aufgeschreckt durch einen Gegenputschversuch im
April 1909, oppositionellen Bewegungen zunehmend ablehnend gegenüberstan­
den. Die Verabschiedung einer strengen Anti-Streikverordnung der Regierung im
Sommer 1909 führte in Saloniki nicht nur zur Demonstration von 26 Gewerk­
schaften und rund 6000 Menschen, sondern auch zur Gründung der besagten A r­
beiterföderation.37 Die Phase ab 1910 ist gekennzeichnet durch eine zunehmende
Opposition gegen die jungtürkische Partei fü r Einheit und Fortschritt. Die ersten
Versuche muslimischer Intellektueller den Sozialismus zu etablieren, fallen eben­
falls in diese Zeit.
III. Die Gründung der ersten „Osmanischen Sozialistischen
Partei“ (1910-1912)
Hüseyin H ilm i gilt als der erste türkische Sozialist, der nach 1908 einem kleinen
Kreis von Intellektuellen Vorstand und versuchte, zunächst über diverse Publika­
tionen, später dann mit der Gründung einer sozialistischen Partei, den Sozialis­
mus unter den M uslimen zu etablieren.
Auf welche Weise „I§tirak<ji H ilm i“ (also „Sozialist H ilm i“, wie er genannt
wurde) mit dem Sozialismus in Verbindung kam, ist nicht eindeutig geklärt. Ein
maßgeblicher, aber doch umstrittener Einfluss auf Hilmi w ird Baha Tevfik (1881—
1916), einem Materialisten, der Werke von Ernst Häckel und Ludwig Büchner ins
Osmanische übersetzte und ab 1912 unter anderem eine der ersten Zeitschriften
für Philosophie (Felsefe) publizierte, zugeschrieben. Mete Tungay bezeichnet
Baha Tevfik als „etwas materialistisch, etwas anarchistisch und freigeistig“ 38
Mehmet Ö. Alkan hat Flliseyin Hilm is publizistische Aktivitäten in Izmir, die
vor seine sozialistische Phase fallen, untersucht und darauf hingewiesen, dass in
36 H . §ükrii Ilieak: Jew ish Socialism in O ttom an Salonica. ln : Southeast European and Black
Sea Studies 2 (2002) 3, S. 114—146, hier: S. 125; vgl. auch Paul D um ont: A Jew ish, Socialist and
O ttom an O rganization: the W orkers’ Federation of Thessaloniki. In: M ete Tun^ay/Erik Jan
Zürcher (H g.): Socialism and N ationalism in the O ttom an Empire, 1876-1923. London,
N ew York 1994, S. 49-77 und die D arstellung der G ew erkschaftslandschaft im O sm anischen
Reich durch den G ründer der Föderation Abraam Benaroya: D ie türkische G ew erkschafts­
bewegung. In: Sozialistische M onatshefte 16 (1910), S. 1079-1081.
37 Dumont: O rganization (w ie Anm. 36).
38 Tun^ay: T ü rk iy e ’de Sol (w ie Anm. 32), S. 31 und S. 46.
114
Y avuz Köse
seinen Beiträgen zur osmanischen Gesellschaft eine islamische Perspektive vor­
herrsche. Danach sei die osmanische Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaft,
weil hier der islamische Grundsatz der Gleichheit der Menschen - „ob groß oder
klein, reich oder arm, Chef oder Beamter“ - gelte. Auch wenn sich Hilm is Vor­
stellung später von einer klassenlosen hin zu einer Klassengesellschaft wandelte,
blieb die islamisch inspirierte Idee der Gleichheit gleichwohl auf seiner Agenda.
Hilm is frühe publizistische A ktivität weist ihn zunächst also nicht unbedingt als
Anhänger des Sozialismus aus. In einem Beitrag - wohl als Verteidigung gegen
zuvor erfolgte Vorwürfe - nahm er sogar eine Gegenposition ein und lehnte die
Doktrin ab. Eine Konstante in Hilmis politischem Leben war dagegen die Geg­
nerschaft zu den Jungtürken und ihre zunehmend repressive Politik. Seine sozia­
listische Haltung war geprägt von islamischen Grundsätzen (Gleichheit, Solidari­
tät, Gerechtigkeit) sowie liberalen Ideen (selbständiges Handeln, Fortschritt).39
H ilm i und seine Gruppe starteten gegen Ende Februar 1910 mit der Publika­
tion einer wöchentlichen Zeitschrift mit dem Titel „I§tirak“ (Le Socialisme, von
Jule Guesde) 40, die bis zur 16. Ausgabe regelmäßig erschien. Mit dem Erscheinen
einer Sondernummer über Ahmed Samim (1884-1910), dem Publizisten der Zei­
tung „Seda-i M illet“ (Stimme der Nation), der einem Anschlag zum Opfer gefal­
len war, wurde die Zeitschrift verboten. Hilm i publizierte nun unter dem Namen
„Insaniyet“ (THumanite von Jean Jaure) weiter, bis zur Aufhebung des Verbots
im September 1910. „Ijtirak“ setzte mit der 18. Nummer seine Publikation fort.
In der 20. Nummer wurde am 15. September die Verlautbarung der Osmanischen
Sozialistischen Partei (Osmanli Sosyalist Firkasi, OSF) sowie ihr Parteiprogramm
publiziert. Abermals wurde die Zeitung verboten, doch Ende Oktober erschien
sie mit dem neuen Namen „Sosyalist“ (Le Socialiste, Parteiorgan der französi­
schen Sozialisten). Auch diese Parteizeitung wurde nach nur zwei Heften wegen
kränkenden Inhalts verboten. Hilmi und seine Freunde, die gleichzeitig Partei­
gründungsmitglieder waren, ließen zum 1. Dezember 1910 abermals ein Blatt
unter dem Namen „Insaniyet“ folgen, doch auch dieses wurde nach nur drei
Nummern verboten. Die Aktivisten ließen sich von ihrem Vorhaben dennoch
nicht abbringen, und man versuchte es nun mit einem Periodikum unter dem N a­
men „M edeniyet“ (Zivilisation). Die Publikationstätigkeit lässt sich bis ins Jahr
1912 verfolgen.
Zahlreiche Beiträge sowie die Titel der Zeitungen und Zeitschriften der Partei
sind Übersetzungen aus dem Französischen. Einige der nicht signierten Beiträge,
die der Gruppe um Hilmi zugeschrieben wurden, konnten von Mehmet Alkan
39 M ehm et Ö. A lkan: B ir Ittihat Ve Terakki M uhalifi O larak L ib eral-So syalist H ilm i. In:
Tarih ve Toplum 14 (1990) 81, S. 39-42.
40 Jan ske H aan: Politieke Taal in H et Laat-O sm aanse R ijk: Een O nderzoek N aar Betekenisverschuivingen En Innovaties in H et O sm aans M et A ls M eetpunt H et Tijdschrift Istirak/Political Language in the Late O ttom an Empire: A Stu d y of Significant C hanges and Innova­
tions in the O ttom an w ith the M easurem ent of the M agazine Istirak. U trecht 1999. Die in
Klamm ern angegebenen französischen Titel w aren jew eils die V orbilder für die wechselnden
Namen.
R e ze p tio n des S o zia lis m u s un d K o m m u n ism u s
115
ebenfalls als Passagen eines übersetzten Werkes identifiziert werden.41 Eine eigens
auf die osmanischen Verhältnisse angewandte sozialistische Theorie lässt sich an­
hand der Publikationen nicht nachweisen. Auch lässt sich keine klare Linie in ih­
rer parteipolitischen Ausrichtung erkennen. Wirft man einen Blick auf das Partei­
programm der OSF, so fällt zunächst seine Kürze auf. Es sind insgesamt
22 Punkte aufgeführt.42 Generell wurden - so Tank Tunaya - Forderungen
gestellt, die im klassischen Repertoire der Opposition gegen die jungtürkische Re­
gierung enthalten waren.43 Mete Tungay kommt zu dem Schluss, dass das 22Punkte-Programm der Partei weniger sozialistische als liberale Merkmale auf­
weise, da die meisten Forderungen die politische Freiheit beträfen. Die Publika­
tionen in den diversen Blättern der Partei verstärkten zusätzlich diesen Ein­
druck.44
Ein Vergleich mit dem Gothaer-Programm45 der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands zeigt indes große Übereinstimmungen. Zudem scheint der Entwurf
sich am Parteiprogramm der französischen Reformsozialisten um Jean Jaures
orientiert zu haben. Eine sozialistische Gesellschaftsordnung lässt sich aus der
Agenda aber dennoch nicht ableiten.
Wesentlich umfangreicher ist das Parteiprogramm von Dr. Refik Nevzat, der
das Pariser Büro der Partei ab Herbst 1911 leitete. Nevzat gehörte zunächst der
jungtürkischen Bewegung an und kämpfte von Paris aus gegen das abdülhamidische Regime. Nach 1908 richtete sich seine Opposition dann gegen die jungtürki­
sche Partei fü r Einheit und Fortschritt. M it der Eröffnung des Pariser Parteibüros
der OSF publizierte er eine monatlich erscheinende Zeitung („Be§eriyet“ Menschheit). Anfang Februar 1912 wurde darin ein weiteres Parteiprogramm
publiziert. Es ist umfassender und in seinem Anspruch auch teilweise progressi­
ver. U nter anderem finden sich darin folgende Forderungen:
- Rechtliche Gleichstellung der Frau,
- Verwaltung der nationalen Güter/des Reichtums durch die Allgemeinheit,
- keine Nachtarbeit von Kindern und Frauen,
- Arbeitssicherheitsschutz, Mindestlohn,
- Schwangerschaftsschutz (sechs Wochen vor und nach der Geburt),
- Versicherungsschutz gegen natürliche und wirtschaftliche Gefahren (von Fir­
men),
- Sozialversicherung,
41 Vgl. Tuncay: T ü rk iy e ’de Sol (wie Anm. 32), S. 51, Anm. 45; M ehm et Alkan: Baha Tevfik
ve Ijjtirak’teki im zasiz yazilari. In: Tarih ve Toplum 83 (1990), S. 7.
42 Das Program m (O sm anh Sosyalist P'irkasi Program i) ist in Fethi Tcvetoglu: T ü rk iy e ’de
Sosyalist ve Komünist Fäaliyetler. A nkara 1967, S. 29 abgedruckt und w urde erstm als in: t§tirak G azetesi, 12. E yliil 1326 (1910), Nr. 20, S. 281-283 publiziert.
43 Tank Zafer Tunaya: T ü rk iy e ’de Siyasal Partiler. Bd. 1: Ikinci M e§rutivet Dönem i 190S—
1918. Istanbul 1984.
44 Tuncay: T ü rk iy e ’de Sol (w ie Anm. 32), S. 32.
‘b http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1875/gotha.htm (letzter Z u­
griff am 12. 3. 2009).
116
Y av uz Kose
- Bürgerwehr (ordu-yu millet) statt einer Armee, Herabsetzung der M ilitär­
pflichtzeiten.
Es ist leider nicht bekannt, welche Auflagezahlen die diversen Publikationen der
Hilm i-Gruppe hatten, so dass es schwer fällt, ein klares Urteil über die Reichweite
der Partei zu fällen. Fest steht, dass keines ihrer M itglieder im Parlament vertreten
war. Die Gründung von Gewerkschaften scheint geplant worden zu sein, womit
die Position der Partei hätte gestärkt werden sollen. Deutlich ist auch, dass Hüseyin Flilmi versuchte, den Sozialismus seinen muslimischen Lesern im Lichte des
Islams nahe zu bringen. Bereits in der Deklaration der Partei, noch vor dem ei­
gentlichen Text, sind erste Hinweise darauf in Form von zwei Zitaten zu finden.
Bezug genommen wurde auf eine „göttliche O rder“ (ferman-i ilaki), die besagte:
„1/40 des Vermögens der Reichen ist das Recht der Arm en“. Dieser Anordnung
folgte eine Zeile des berühmten persischen Dichters §eyh Sädi aus dem 13. Jah r­
hundert, die besagt: „Die Menschen sind Teil eines Körpers“.46 Auch im Text wird
auf den Koran und die Hadithe verwiesen. In jedem Land seien sozialistische Par­
teien gegründet worden, deren Ziel es sei, die Rechte der Arbeiter zu schützen und
ihnen erträgliche Bedingungen zu schaffen. Bereits im Koran und den Hadithen
werde die Unterstützung der Armen vorgeschrieben. Diese Verweise auf den
Islam erscheinen angesichts Hilm is islamischer Prägung nur folgerichtig, mögen
also von Anfang an beabsichtigt worden sein, können aber auch als eine Antwort
auf die harschen Angriffe gegen die Gruppe im Vorfeld der Gründung der Partei
gedeutet werden.
Die Gruppe um Flilmi sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Doktrin des Sozia­
lismus richte sich gegen die Religion. Offenbar verursachte bereits die A nkündi­
gung der Parteigründung eine gewisse Aufgeregtheit. In einem Beitrag in der
jungtürkischen Zeitung „§uray-i Um m et“ (Parlament) werden Sozialisten als gif­
tige M ikroben und M ilchbrüder der Anarchisten tituliert. Der A utor bezeichnet
sie als Träumer, die keinerlei Programm aufzuweisen hätten. Sie seien einzig be­
strebt, das gesamte Vermögen zu plündern und unter allen gleichmäßig zu vertei­
len. Die Anklage schließt mit der bereits in der frühen Perzeption des Sozialismus
kolportierten Ansicht: Glücklicherweise stehen dieser aus Europa kommenden
Verderbtheit ein emotional starker und beachtlicher Staat sowie eine Nation ge­
genüber.47
Hilmi deklariert in seiner Antwort auf diese Vorwürfe Jesus als ersten Sozialis­
ten, das Christentum als Religion w ider die tyrannischen Männer Roms, die ihre
Millionen mit der Hände Arbeit ihrer Sklaven gemacht hätten. Im Koran und den
Hadithen würde der Schutz der Mittellosen sich in der Aufforderung der zakat
(Almosensteuer) manifestieren. Heute fände sich niemand unter den Sozialisten,
der sagt: „Ich bin Sozialist, gib mir die Hälfte deines Vermögens“. Einen Hilfs46 Tevetoglu: T ü rk iy e ’de Sosyalist (w ie Anm. 42), S. 27; vgl. hierzu auch R. Davis: Art. Sa’di,
Shaykh. In: E ncyclopaedia of Islam, Bd. 8. Leiden 1995, S. 719-723, hier: S. 719.
47 C errahoglu: T ü rk iy e ’de Sosyaiizm in (w ie Anm. 22), S. 131 tt.
R e ze p tio n des S o zia lis m u s un d K o m m u n is m u s
117
fond für Arbeiter einzurichten, könne wohl nicht zu viel verlangt sein, während
die Kapitalisten aller Länder sich zu Trusts vereinen würden. Die Reichen sollten
nie vergessen, mit wessen Hilfe sie ihre Millionen scheffelten, nämlich mit der der
mittellosen Arbeiter, die sich kaum über Wasser halten könnten. Hilmi kündigte
an, dass alle Arbeiter der Scharia folgend, die „uns alle als Geschwister betrach­
tet“, sich vereinigen würden. Niemandem werde damit geschadet. Man werde w e­
niger arbeiten wollen, notfalls die Arbeit niederlegen und sich seinen gerechten
Anteil der unrechtmäßig erworbenen Reichtümer einfordern.48
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es Bestrebungen, Parallelen zw i­
schen Islam und Sozialismus herauszustellen. Als gemeinsame Merkmale wurden
folgende Punkte festgehalten: Der Islam sei ebenso wie der Sozialismus gegen die
Ausbeutung des Menschen durch Menschen, er verabscheue gleichfalls den Wu­
cher, ordne die Solidarität und gegenseitige Hilfe an, sorge durch die Almosen­
steuer für eine gerechte Verteilung der Güter und predige schließlich die Gleich­
heit aller Menschen ungeachtet ihrer Rasse und Religion.49
In Hilm is Zeitschrift findet sich ein entsprechender Beitrag eines Gelehrten, der
schildert, wie ein islamischer Sozialismus auszusehen habe.-'’0 A bdülaziz Mecdi
Efendis Betrachtung setzt mit der K ritik der westlichen kapitalistischen Welt,
ihres wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Niedergangs, an. Trotz all der
technischen Errungenschaften müssten dort tausende Menschen ihr Dasein in
Leid zubringen. Ursache hierfür sei die Gier des Menschen, die all das Unheil der
Welt verursache.
Für ein Paradebeispiel einer idealen Gesellschaft musste Mecdi Efendi weit zu­
rückblicken, nämlich auf die Flucht des Propheten Mohammed von M ekka nach
Medina. Diese bezeichnete er als ein segensreiches Ereignis für die Menschheit.
Die erste Tat Mohammeds sei die Verbrüderung der Araber, die gegenseitige H ille­
stellung (Solidarität) und das Beseitigen der Armut gewesen. Er habe in Medina
die Gier besiegt; seine Anhänger (wohl arme Mekkaner) vermischten sich dann
mit den (reichen) Medinensern. Dass sich der Islam in so kurzer Zeit global aus­
breiten konnte, habe an der Verbrüderung, der Solidarität und echten Gütertei­
lung gelegen („insanhgin birle§mesidir, ger§ek ortakla§ma ve yardimla^madir“).31
Hatte nicht Mohammed schon gesagt: Solange du das, was dir gefällt, deinem Bru­
4S Ebd., S. 133; vgl. Kerim Sadi (A. C errahoglu): Isläm iyet ve O sm anh Sosyalistleri. Isläm iyet ve Yöncü Sosyalistler. o.O . 1964.
49 Paul D um ont: Turquie. In: Bertrand Badie u.a. (H g.): C ontestations en pays lslamiqucs.
Paris 1984, S. 89-115, hier: S. 99; vgl. auch C errahoglu: Isläm iyet (w ie Anm. 48).
50 C errahoglu: Isläm iyet (w ie Anm . 48), S. 7-9.
51 W enn überhaupt, dann könnte man - natürlich überspitzt und unter anderen Vorzeichen sagen, dass die Güter- und Frauengem einschaft in jener Zeit in M edina von M oham m ed
selbst, w ie Tilm an N agel schreibt, zum indest m einem Fall p raktiziert w urde. Tilm an Nagel:
Kämpfen bis zum endgültigen Triumph. R eligion und Gewalt im islam ischen G ottesstaat. In:
Klaus Schreiner (Flg.): H eilige Kriege. R eligiöse Begründungen m ilitärischer G ew altanw en­
dung: Judentum , C hristentum und Islam im Vergleich (= Schriften des H istorischen Kollegs,
K olloquien, Bd. 78). M ünchen 2008, S, 43-55, hier: S. 47.
118
Y av uz Köse
der nicht gönnst, bist du kein Gläubiger („Kendi ho§una giden §eyi karde§ine de
ho§ görmedikcje mümin sayilm azsm “).52
Da das Land, d.h. das Osmanische Reich, nun in Freiheit regiert werde, könne
man - so Mecdi Efendi - schnelle Entwicklungen im Bereich der Landwirtschaft,
der Industrie sowie des Handels erwarten. Die Arbeitskraft sei dabei der eigent­
liche Schatz. Umso dringlicher sei damit aber der Schutz der Arbeiter, ihre recht­
liche Absicherung und gerechte Bezahlung. Für ihn lag nun die Aufgabe der os­
manischen Sozialisten darin, die Rechte der Arbeiterschaft zu schützen und ihre
Bildung zu fördern. Damit würden sie der Menschheit einen großen Dienst erwei­
sen. Der Sozialismus könne sich - nach Mecdi Efendi - aber nur innerhalb dieser
engen Grenze bewegen. Alles, was darüber hinausginge, betrachtete er sowohl für
die Sozialisten als auch für das Land als gefährlich.
Manch ein islamischer Gelehrter wusste auch wie man diese Gefahr einzig und
allein abwenden könne: durch den Islam. Wer die richtige Religion habe, brauche
sich nicht vor solchen Ideologien ängstigen. Die sozialen Verwerfungen, wie sie
im christlichen Europa aufträten, könnten im islamischen Kontext nicht existie­
ren. Die Institution des zakat reiche vollkommen aus, um allen das, was ihnen
zukomme, zu geben. W ürden die Reichen den Armen nichts geben, würden letz­
tere auf nicht lauteren Wegen versuchen, ihren Anteil zu erhalten. Dann würde
sich die soziale Ordnung auflösen. Folgte man aber dem islamischen Weg, d. h. der
Scharia, und gebe den Armen ihren notwendigen Anteil, bliebe niemand unbe­
friedigt.53
Die in der Literatur gelieferte Einschätzung, nach der man Hilmi und seine Par­
tei nicht als sozialistisch bezeichnen kann, scheint indes auch Zeitgenossen be­
wusst gewesen zu sein. Bohor Israel - Leiter der Istanbuler Schule der Alliance Is­
raelite - ist einer der Autoren in der „I§tirak“. Seine Beiträge erklären den Lesern
die sozialistische Doktrin und heben sich qualitativ von den restlichen türkischen
Beiträgen ab. Er gibt an, weder mit der Hilm i-Gruppe bekannt noch Parteim it­
glied zu sein.54 In einem seiner Beiträge, der in derselben Ausgabe erschien wie
das Parteiprogramm der OSF, legt er dar, dass eine intensivere Auseinanderset­
zung mit den Schriften wichtiger Sozialisten Voraussetzung für das wissenschaft­
liche Verständnis der sozialistischen Lehre sowie die korrekte Verbreitung sei. Er
äußerte zw ar keine explizite Kritik am Sozialismusverständnis der osmanischen
Sozialistischen Partei, riet aber dazu, sozialistische Schriften übersetzen zu lassen.
Er empfahl vor allem, das „Kapital“ von Karl Marx übertragen zu lassen. Offen­
bar plante die Gruppe um Hilm i tatsächlich, eigens eine Ubersetzungskommission einzurichten, was Israel in seinem Beitrag begrüßte.
52 C errahoglu: T ü rk iv e’de Sosyalizm in (w ie Anm. 22).
53 Ebd.
54 A lkan: B ilinm eyen B ir Felsefe D ergisi (w ie Anin. 12), S. 51.
R e ze p tio n des S o zia lis m u s und K o m m u n is m u s
119
IV. Sozialismus - Marxismus und das jungtürkische Regime
(1912-1918)
Es ist von George H arns darauf hingewiesen worden, dass die sozialistische Be­
wegung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die türkische N ationalbe­
wegung gehabt habe, und zw ar in Saloniki. Dort sei Ziya Gökalp, führender Ideo­
loge des türkischen Nationalismus, mit sozialistischen Ideen in Kontakt gekom­
men. Später in Istanbul seien insbesondere die anti-imperialistischen Aspekte so­
wie sozialreformerische Konzepte mit nationalistischen Ideen verbunden w or­
den.55 Von Francois Georgeon u.a. wird dagegen Alexander Isreal Helphand
(Parvus), eine der schillerndsten politischen Figuren des 20. Jahrhunderts, der sich
zwischen 1910 und 1914 in Istanbul aufhielt, ein maßgeblicher Einfluss auf die
Jungtürken und ihre W irtschaftspolitik konstatiert.56 Parvus publizierte ab 1912
zahlreiche Beiträge - vor allem in dem pantürkischen Blatt „Türk Yurdu“ (Heimat
der Türken) - zur wirtschaftlichen Situation sowie den Ursachen der Schwäche
des Osmanischen Reiches. Als Hauptgrund für die schlechte Situation sah er die
imperiale W irtschaftspolitik Europas, die sich in den ausbeuterischen, als Kapitu­
lationen bezeichneten Wirtschaftsabkommen manifestieren würde.57 Zugleich
kritisierte er auch die osmanische W irtschaftspolitik, die untätig sei, sich nur auf
die fiskale Seite (Staatsfinanzen) konzentriere, sich aber nie um die Wirtschaft als
Ganzes gekümmert habe. Zudem werde mit den vorhandenen Ressourcen inef­
fektiv umgegangen, statt sie für die einheimische W irtschaftsentwicklung einzu­
setzen.
Die häufig auf Parvus (Helphand) zurückgeführte anti-imperialistische Rheto­
rik wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Ahmed Riza, einem der führen­
den Köpfe der Jungtürkischen Bewegung und Parlamentspräsidenten, in Artikeln
verwendet. Bekannt für seine positivistische Prägung, darf er als Befürworter ei­
ner anti-imperialistischen Politik gelten und als Gegner einer Intervention von au­
ßen. In seinen Beiträgen aus dem Jahr 1896 kritisierte er die europäischen Mächte,
die weniger an der Lösung der Minderheitenproblematik interessiert seien als am
Erhalt der Kapitulationen und ihren Privilegien.58 In seiner Zeitung „Me§veret“
33 H arris: The O rigins of C om m unism (w ie Anm. 29). Kemal Karpat aber wendet sich gegen
diese These: „Because G ökalp attached suprem e value to all collective and statist entities as
the best defense against anom ie caused by individualism , he was labeled w ith the m isleading
epithet of socialist. In fact, he had nothing to do w'ith socialism as generally understood,
rejecting the existences of class division and the class struggle and accepting only the division
of the labor force into occupational categories.“ Vgl. Kemal H . Karpat: The P oliticization of
Islam. Reconstructing Identity, State, Faith and C om m unity in the Late O ttom an State. N ew
York 2001, S. 385 f.
1,6 M. A sim K araöm erlioglu: H elphand-Parvus and H is Impact on Turkish Intellectual Life.
In: M iddle Eastern Studies 40 (2004) 6, S. 145-165.
57 Z aferT oprak: T ü rk iy e ’de M illi Iktisat 1908-1918. A nkara 1982.
58 §erif M ardin: C o n tin uity and C hange in the Ideas of the Young Turks. In: Robert C ollege
School of Business A dm inistration and Economic O ccasional Papers (1969), S. 3-31, hier:
S. 7.
120
Yavuz Köse
(Beratung) finden sich zeitgleich Beiträge, die einen der führenden Köpfe des
Reformsozialismus, Jean Jaures, zitieren. Die Offenheit, mit der Sozialisten die
imperiale und ausbeuterische Politik der europäischen Staaten anprangerten, im­
ponierte offenbar den osmanischen Autoren. Die Ausbeutung des Reiches seitens
des westlichen Kapitals wurde auch von ihm angeklagt. §erif Mardin weist darauf
hin, dass Ziya Gökalp eben diese Themen in seinen Beiträgen zur „Nationalen
W irtschaft“ aufgriff und sich in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Idee
des Solidarismus bezog - allerdings nur, um den islamischen ummah-Ge danken
zu rekonstituieren. Für Mardin zeigt sich in der Bevorzugung der „Solidarität“
(solidaristischen Doktrin) unter den Jungtürken die Kontinuität ihres Denkens, ja
Gefangenseins in der traditionellen Ideologie, der sie nicht entkommen konnten.
Das Problem sieht er in dem Fehlen jeglicher Referenz auf den Marxismus als
Doktrin innerhalb der jungtürkischen Schriften. Die Vorliebe für die solidaristische Doktrin müsse aus der Vernachlässigung von Marx verstanden werden:
„It then appears as a special selection of a doctrine b y young radicals who thought they were
getting aw ay from traditional ideology but w ho w ere caught in the finer meshes of this ideo­
logy in the sense that they had been directed to select an ideology of conciliation, rather than
one of conflict.“59
Die eher versöhnende Doktrin verhinderte letztlich, eine Politik zuzulassen, die
auch den Konflikt als legitimen Teil der Auseinandersetzung akzeptiert. Und da­
rin unterscheidet sich Alexander Helphand sicherlich von seinen osmanischen
Vorläufern. Seine weitere Kritik, die er gegen die Jungtürken anbrachte, mag das
unterstreichen: Nicht nur warf er ihnen vor, sie hätten westliche liberale Theorien
blindlings übernommen, auch äußerte er harsche Kritik am Politikverständnis der
Jungtürken. Er meinte, sie ließen keine demokratische Regierung zu und würden
die öffentliche Meinung unterdrücken. Aber eine Regierung, die die öffentliche
M einung nicht respektiere, könne nicht erwarten, von den Europäern ernst ge­
nommen zu werden.60
V. Resümee - Die junge Republik
Die aufkeimende Arbeiterbewegung und die ersten Versuche, diese mit der sozia­
listischen Bewegung zusammenzubringen, fielen in eine denkbar ungünstige
Phase des Osmanischen Reiches. In den Jahren 1908 bis 1912 wurden zwar zahl­
reiche Gewerkschaften gegründet; auch sehen w ir Versuche diverser sozialisti­
scher Gruppierungen sich - über nationale, ethnische Grenzen hinweg - zu ver­
bünden. Eine aufkeimende muslimisch-sozialistische Bewegung lässt sich ab
Herbst 1910 ebenfalls verfolgen. Doch gelang es diesen Bewegungen weder die
Arbeiterschaft, die insgesamt zahlenmäßig noch zu gering war, für die sozialisti59 Ebd., S. 26.
60 K araöm erlioglu: H elphand-Parvus (w ie Anm. 56), S. 153.
R eze ptio n des S o zia lis m u s und K o m m u n is m u s
121
sehe Sache zu gewinnen noch eine ernsthafte oppositionelle Kraft zu bilden - zu
schwer wogen die nationalen Partikularinteressen der ethnischen Gruppen.
Die zunehmend repressive Politik der Jungtürken zielte zudem nach 1909 auch
gegen die sozialistischen Bewegungen. Deren Führer wurden regelmäßig verhaf­
tet, ihre Publikationsorgane unterdrückt. Mit den ab 1911 einsetzenden Kriegen
verschärfte sich die Haltung gegenüber jeglicher Opposition. Ende 1912 wurde
die jungtürkische Regierung gestürzt, die „liberale“ H ürriyet ve Itilaf Partei über­
nahm die Macht.61 In ihre Regierungszeit fiel der verlustreiche Erste Balkankrieg.
Das Osmanische Reich verlor als Folge seine europäischen Gebiete, ab November
1912 auch Saloniki, wo die aktivste sozialistische Arbeiterbewegung tätig war. Be­
reits im Oktober 1912 wurde die Zeitung „I§tirak“ von H üseyin Hilmi abermals
geschlossen. Mit der neuerlichen Machtübernahme der Jungtürken ab Januar 1913
und spätestens mit dem sogenannten Triumvirat Enver - Cemal - Talat Pasas
endete die oppositionelle Bewegung. Im Juni 1913 wurden Aktivisten, unter ihnen
auch Hüseyin Hilm i, nach Sinop verbannt.
Spätestens seit den Balkankriegen sehen wir einen aufkeimenden türkischen
Nationalismus, und die jungtürkischen Machthaber propagierten nun nicht mehr
einen alle verbindenden Osmanismus. Eine Rede von Cavid Bey, Finanzminister
im Kabinett, die er nach den Wahlen von 1912 in Saloniki hielt, verdeutlichte, was
nun Priorität haben sollte: ein hartes Vorgehen gegen die Sozialisten, Schutz der
sich neu formierenden „türkischen Bourgeoisie“ sowie der Interessen der Kapita­
listen. Gewerkschaften, Parteien und deren Anliegen könnten erst danach berück­
sichtigt werden. Die türkische Industrie dürfe nicht gehindert werden. Alle, die
die öffentliche Ordnung stören würden, die Wirtschaft der Türkei bedrohten,
müssten hart bestraft werden. Die Unionisten würden alsbald im Parlament gegen
die Umtriebe der Sozialisten ein Gesetz verabschieden.62
Rosa Luxemburgs Diktum aus dem jah r 1896, dass die Türkei untergehen
müsse, „nicht als Regierungsform, sondern als Staat, nicht durch den Klassen­
kampf, sondern durch den Nationalitätenkampf“,63 stand zu diesem Zeitpunkt
endgültig fest. Die marxistische Doktrin hielt in die junge Türkei kaum später
Einzug als in Europa. Auf dem Kongress von Baku (Aserbaidschan) im Septem­
ber des Jahres 1920 schlossen sich mehrere kommunistische Gruppierungen Ana­
toliens zusammen und die Parteigründung der Türkischen Kommunistischen Par­
tei (TKP) erfolgte im selben Jahr. Türkische Intellektuelle sahen den Marxismus
als „Rezept“ zur nationalen Rettung und Entwicklung an. Dennoch gab es keine
Klassengesellschaft, die Unterschiede wurden in der Ethnizität wahrgenommen,
nicht in den Klassenunterschieden.64 Die spätosmanische Praxis des Sozialismus
61 Tevetoglu: T ü rk iy e ’de Sosyalist (w ie Anm. 42); Tunaya: T ü rk iy e ’de Siyasal P artiler (w ie
Anm. 43).
6- Dieses Vorhaben ist nicht um gesetzt w orden; vgl. Paul Dumont/George H aupt: Osmanh
Im paratorlugunda Sosyalist H areketler. Istanbul 1977, S. 56.
(u Luxem burg: Die nationalen Kämpfe (wie Anm. 3), S. 63.
64 M urat Beige: T ü rk iy e ’de Sosyalizm Tarihinin Ana C izgiieri. In: Taml M urat/G iikekingil
122
Y av uz Köse
führte schließlich nicht wie in (West-)Europa zu einer ,,kollektive[n] Interessen­
vertretung im Kampf der Klassen“ noch konnte sie zur „Einübung von Demokra­
tie“65 taugen.
Abstract
Socialism and communism are certainly not the most influential political ideo­
logies that were exported from Europe to Ottoman society. Apart from the fact
that it was quite impossible to deal with the works of Marx and Engels in the
original language, as translations of the fundamental texts were only available
when the Republic of Turkey was founded, it was mainly the ethnically, reli­
giously, and politically fragmented late Ottoman society that prevented a nation­
wide spread of communist/socialist ideas. A hardly existant working class was
organized along ethnic/national lines; the ideological leaders differed not only in
their (decidedly national) goals, but ethnically homogenous communities were
also divided into politically divergent interest groups. The sultan, and later the
Young Turks, regarded any oppositional groups with scepticism, and later when
socio-political conditions took a turn for the worse from 1908 onwards, with
increasing hostility. The M uslim population - far from having developed a class
consciousness - had no affinity for ideologies that were critical of religion; the
early reception of socialism/communism, starting around 1870, shows a clear
ambivalence. M uslim followers kept trying to establish a convergence between the
teachings of Islam and socialism; however, to little avail.
The article starts with a short overview of the early reception history (18701895) of socialism/communism. This is followed by a short presentation of devel­
opments until 1910, which shows that especially Non-M uslim minorities adapted
these ideologies for their national goals. The next part of the article deals with the
first socialist party that was founded by Muslims and which was active between
1910 and 1912. The founder, H iiseyin Hilm i, seems to have believed that the
spread of socialist ideas among Muslims could only be successful if these ideas
were conciliated with Islam. This undertaking was doomed from the beginning not just because of the political situation, but also because Elilmi and his partners
had not developed the ideas of their propagated doctrine far enough. Finally, the
last part deals with the regime of the Young Turks and its ideological roots. It is
shown that a few single elements were borrowed from socialist thinkers; however,
traditionalists premises (the solidaric ummah-community) were still prevalent.
Bora (H g.): M odern T ü rk iy e ’de SiyasI Dü§ünee. Bd. 8: Sol. Istanbul 2007, S. 19-49, hier:
S. 30.
65 Jü rgen O sterham m el: Die V erw andlung d er Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.
M ünchen 2009, S. 865.
Sektion 3
Gesellschaftliche Integration und Bewahrung
der Identität
Sektionsleiter: Professor Dr. M ichael Brenner (L u d w ig-M axim ilian s-U niversität M ünchen)
Referenten:
Professor Dr. John M. Efron (U n iversity of C alifornia)
Professor Dr. Reinhard Schulze (U niversität Bern)
Professor Dr. M icha Brum lik (G oethe-U niversität F rankfurt am M ain)
Einführung
Juden und Muslime sind in einem christlich dominierten Europa zu unterschied­
lichen Zeiten mit der gleichen Frage konfrontiert: Wie können sie sich in die
Mehrheitsgesellschaft integrieren, ohne ihre eigene Identität in Frage zu stellen?
Dieser Prozess hat im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer Vielzahl von A nt­
worten europäischer Juden geführt, die von völliger Assimilation über eine teil­
weise A kkulturation bis hin zur Identifikation mit neuen Bewegungen wie dem
Zionismus und dem Sozialismus reichten. Können Muslime heute aus dieser Er­
fahrung lernen? Führen gemeinsam beschrittene Wege zu einer Annäherung?
Überschattet der Holocaust die Errungenschaften der Emanzipation? Dies sind
einige Fragen, die in dieser Sektion gestellt wurden.
Reinhard Schulze betonte in seinem Beitrag „Islam und Judentum im Angesicht
der Protestantisierung der Religionen im 19. Jahrhundert“, dass man unter „Protestantisierung“ im 19. Jahrhundert jenen Prozess verstehen könne, der einen nor­
mativen Religionsbegriff schuf und zur intellektuellen Richtschnur für die Selbstfindung „religiöser“ Traditionen wurde. Für die nichtchristlichen Konfessionen
(wie auch für den Katholizismus und die Orthodoxie) stellte das protestantische
Paradigma einen fast unausweichlichen Kontext für die entstehende „Wissen­
schaft des Judentum s“, aber auch für eine „islamische Wissenschaft vom Islam“
dar. In diesen vom Protestantismus vorgegebenen Rahmen mussten im ^ .J a h r ­
hundert andere christliche Konfessionen passen, aber eben auch nichtchristliche
wie Judentum und Islam. Dies bedeutete eine Erneuerung ihres Selbstverständnis­
ses von Grund auf.
John Efron nahm einen Aspekt dieser Erneuerung auf und widmete sich der
Umwertung hebräischer Ästhetik seit Beginn der Haskala, der jüdischen Aufklä-
i 24
M ic h a e l Brenner
rung. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Verschiebung von der vorwie­
gend aschkenasischen zu einer nun immer mehr dominierenden sephardischen
Aussprache. Die ausschließlich aus dem aschkenasischen Sprachraum stammen­
den Intellektuellen, die er untersuchte, gaben damit dem Gefühl Ausdruck, ihre
eigene Herkunft zurückzuweisen und einen „neuen Juden“ schaffen zu wollen.
Damit legten sie eine der Grundlagen für den modernen Zionismus, der ebenfalls
die sephardische Aussprache bevorzugte. Efron argumentiert, dass diese ästheti­
sche „Neuerschaffung“ des Juden im 19. Jahrhundert Teil der umfassenden Ant­
wort auf die Forderung der Emanzipation bedeutet, sich als moderne Bürger in
die jeweiligen Gesellschaften anzupassen. Fichtes Forderung, den Juden über
Nacht ihre alten Köpfe abzuscheiden und neue aufzusetzen, kann man auch in
diesem Kontext lesen. Die Veränderung der hebräischen Sprache w ar eine der ge­
wünschten Neuerungen.
Micha Brumliks Überlegungen zu einem künftigen jüdisch-islamischen Dialog
führten die Sektion vom 19. ins 21. Jahrhundert. Brum lik wandte sich in seinem
Beitrag gegen die Rede von den „abrahamitischen“ Traditionen. Die Suche nach
einem gemeinsamen Stammvater führe zwangsläufig zu Verfälschungen und Pauschalisierungen der jeweiligen Religion. Statt eines Trialogs, in dem - zumindest in
christlich geprägten Gesellschaften - das Christentum eine vermittelnde Stelle
zwischen Judentum und Islam einnimmt, rief Brum lik zu einem ernsthaften jüdisch-islamischen Dialog auf, zu dem es gehört, offen und ehrlich die Probleme zu
benennen. Ein Ansatz wäre die kritische Untersuchung des Bildes von Juden und
Tora im Koran. Zudem untersuchte Brum lik genauer die Rolle jüdischer Konver­
titen im Islam. Er gelangte zu dem Schluss, dass Tora und Koran im Grunde die­
selbe Wahrheit, wenn auch in unterschiedlichen Kontexten, offenbaren.
Die Sektion verband historische und aktuelle Debatten, ohne die wesentlichen,
dem jeweiligen Kontext geschuldeten Unterschiede außer Acht zu lassen. Allen
Rednern und Diskussionsteilnehmern war gemeinsam, dass ein sinnvoller Dialog
oder Trialog nur unter Offenlegung der gewachsenen Differenzen möglich sei.
Dabei wurde allerdings auch klar, dass der kritische Blick in die Religionsge­
schichte des 19. Jahrhunderts manch neue Perspektiven für unsere eigene Zeit öff­
nen kann.
Michael Brenner
John M. Efron
Sephardische Schönheit im Auge des
aschkenasischen Betrachters
In der Geschichte der europäischen Juden stellt das 19. Jahrhundert eine Epoche
der tiefen Widersprüche dar. Im Fall von M ittel- und Westeuropa bestanden
diese Widersprüche aus zunehmender Assimilierung bei gleichzeitiger Etablie­
rung von jüdischen Organisationen auf kommunaler Ebene; einem abnehmen­
den Interesse an jüdischen Belangen und einer wachsenden Bedeutung von
Deutschland als weltweitem Zentrum einer modernen Wissenschaft des Juden­
tums; der Säkularisierung und dem Selbstverständnis der meisten westeuropäi­
schen Juden, die sich eher als M itglieder einer Religionsgemeinschaft sahen und
sich weniger einer bestimmten Nation zugehörig fühlten; der Ablehnung eines
jüdischen Nationalismus der meisten westlichen Juden bei gleichzeitiger Entste­
hung des zionistischen Gedankens bei Teilen der jüdischen Bevölkerung in M it­
teleuropa; der fast vollständigen kulturellen Identifikation mit den Ländern, in
denen sie lebten, und stark begrenzter sozialer Integration; in Deutschland, ei­
nem enormen Fortschritt im Prozess, „deutsch“ zu werden, den man über den
universitären Bildungsweg erlangte, und zunehmender Alarmrufe von Seiten der
Antisemiten, welche behaupteten, dass es sich bei der Assimilierung um eine
großangelegte Täuschung handele und dass sich Juden- und Deutschtum aus­
schlössen.
Richtet man den Blick auf Osteuropa, so stellt man fest, dass sich enorme mate­
rielle Not und eine nur begrenzte Teilnahme am wirtschaftlichen Leben mit einer
gleichzeitigen explosionshaften Zunahme der jüdischen Bevölkerung keinesfalls
ausschlossen; religiöse Tradition war einerseits überall vorhanden, und wurde an­
dererseits doch immer stärker vernachlässigt; eine abnehmende Bereitschaft zum
Glauben wurde begleitet von der Entstehung eines lebendigen und neuartigen
säkularen Lebens, wobei dem Jiddischen und Hebräischen eine tragende Rolle zu­
kam; und in Russland, einem Land, in dem jegliche politische Aktivität verboten
war, zeigte sich die jüdische Jugend zunehmend politisiert, wenn nicht gar radikalisiert, wobei der Sozialismus oder die eine oder andere Form des jüdischen N a­
tionalismus viele Anhänger gewann. Und zu guter Letzt sahen M illionen von rus­
sischen Juden ihre Zukunft in Europa, während viele andere in die Vereinigten
Staaten emigrierten, um ein neues Leben zu beginnen, und um, wie nicht wenige
hofften, die Fesseln der jüdischen Geschichte abzustreifen.
126
J o h n M. Efron
All diese gegensätzlichen Bewegungen und Ideen schufen ihrerseits antagonis­
tische Kräfte in der jüdischen Bevölkerung. Dies kam zum Ausdruck in einem op­
timistischen Gefühl, was die Zukunft der Juden anging, bei einem gleichzeitigen
Pessimismus in Bezug auf die Gegenwart. In diesem Beitrag konzentriere ich
mich auf eine Dimension dieser Krise, und zw ar auf die, wie ich sie nennen
möchte, der „ästhetischen Vertrauenskrise“. Eine Art, die überschäumende kultu­
relle und politische Kreativität der europäischen Juden um die Jahrhundertwende
zu deuten, besteht darin, sie als Ausdruck des Wunsches nach ästhetischer Verän­
derung zu betrachten. Dieser Wunsch trat erstmals im 18. Jahrhundert in Erschei­
nung. In ganz Europa teilten reformorientierte, christliche Beamte und die Maskilim, Vertreter der jüdischen Aufklärung, das Verlangen, die äußerliche Erschei­
nung der jüdischen Bevölkerung, ihre Sprache, ihre Art sich zu kleiden, ihre be­
rufliche Stellung, ja sogar ihr Benehmen zu verändern. Unter den vielen Vorwür­
fen gegen die Juden, die von Seiten von mehr und weniger Wohlmeinenden und
auch von jüdischen weltlichen und religiösen Führern erhoben wurden, stach die
Behauptung heraus, dass es den Juden an Schönheit, ästhetischer Harmonie und
dem rechten Augenmaß fehle, und zwar sowohl in äußerlicher und geistiger H in­
sicht als auch in Bezug auf die materiellen Aspekte ihrer Kultur.
Im 19. Jahrhundert trug der massenhafte U m lauf von Zeitungen, Zeitschriften
und Pamphleten dazu bei, Karikaturen über Juden zu verbreiten, welche das ne­
gative ästhetische Urteil widerspiegelten, das seit der Aufklärung bestanden hatte.
Diese Darstellungen von Juden fanden größtenteils ihre Herkunft im Stereotyp
des „inauthentischen Juden“. Zu jener Zeit sah man die Juden als „gefallenes“
Volk. Während sich das einst vorherrschende Vorurteil über die Juden auf die
christliche Theologie bezog, welche vorgab, dass ihr „Fall“ von der göttlichen
Gnade aus ihrer Ablehnung von Jesus Christus resultierte, fand um die Jahrhun­
dertwende eine neu überdachte Vorstellung des „Falls“ ihre Quelle im modernen,
säkularisierten Nationalismus. W ir finden diese Vorstellung im gesamten politi­
schen und religiösen Spektrum, von der Rechten zur Linken, beim Antisemiten
wie auch beim überzeugten Juden.
Als Reaktion auf diese Vorstellung des „Falls“ entstand ein stark ausgeprägter
Wunsch, die Juden neu zu erschaffen, eine neue Authentizität zu schaffen, eine
Authentizität, die dem Zeitalter angemessen wäre. So entstanden Pläne, eine neue
jüdische Ästhetik zu schaffen: Stadtbewohner sollten Landwirte werden, Bewoh­
ner von Shtetls in die Städte ziehen, kosmopolitische Intellektuelle sollten sich in
Krieger verwandeln, Sprecher von Jiddisch sollten Hebräisch lernen oder gleich
eine Meisterschaft der europäischen Sprachen erlangen, Juden in der Diaspora
sollten sich zu Zionisten wandeln, oder bärtige Gläubige zu sauber rasierten Säkularisten. Das Aussehen der Juden zu verändern, bedeutete nicht nur eine äußer­
liche Transformation; in einem tieferen Sinne bedeutete es eine grundlegende Ver­
änderung der A rt von Jude, der man war.
Die Suche nach einer perfekten und authentischen jüdischen Ästhetik führte
dazu, dass man das Aussehen von Juden - sowohl was die Vergangenheit als auch
was die Gegenwart betraf - einer näheren Betrachtung unterzog, denn die ästheti­
S ep hard ische Sch ön heit im A u g e des asch ken asis ch en Betrachters
127
sehe Neuerschaffung der Juden setzte voraus, dass man sich auf die Suche nach
passenden Vorbildern machte. Welche Juden und welche jüdischen Gemeinschaf­
ten konnte man als „authentische“ Referenz für jene Juden heranziehen, welche
um die Jahrhundertwende eine ästhetische Veränderung vornehmen wollten? In
den meisten Fällen ließen sich europäische Juden im späten 19. Jahrhundert von
erfundenen Vorstellungen von Hebräern aus alten Zeiten - oder öfter noch - von
sephardischen Juden inspirieren. Im letzten Falle erhoben sie die Juden der iberi­
schen Halbinsel zum Idealtypus, und dabei schufen sie einen orientalistischen
M ythos und ein M ysterium der Schönheit und auch der kulturellen Überlegenheit
der Sepharden.1
Was dieses Manöver zu einer höchst komplexen Sache machte, war die Tatsa­
che, dass die Befürworter dieses Mythos allesamt aschkenasische Juden waren.
Aber alle Aschkenasim in einen Topf zu werfen, würde bedeuten, diese Denk­
weise im Kern zu übernehmen und die wichtigen Unterscheidungsmerkmale zu
unterschlagen. Jene osteuropäischen Juden, die sich eine neue Ästhetik wünsch­
ten, und von denen die meisten Zionisten waren, feierten die Sepharden, ganz
besonders, wie w ir noch sehen werden, wenn es zum Hebräischen kam, aber bei
ihrer Suche nach dem idealtypischen Juden spielte die Antike eine noch größere
Rolle. Denn die Zionisten unter ihnen glaubten, dass die erhoffte Rückkehr in das
Land Israel nicht nur eine Wiedergeburt der Juden zur Folge haben würde, son­
dern m erkwürdigerweise auch, dass eine solche Rückkehr den modernen Juden
jenem der Antike auch auf äußerliche Art nahe bringen würde. So dachte man,
dass die Hinwendung zum Ackerbau und zur Viehzucht dazu führen würde, dass
die zionistischen Pioniere eine physische (wie auch eine kulturelle) Transforma­
tion durchlaufen würden. Diese Metamorphose zu den „wiederentdeckten W ur­
zeln“ würde zu einem neuen Auftreten von Menschen im Lande Israel führen,
von starken, sonnengebräunten Juden, die eins mit dem Land wären. Tatsächlich
zog man in der Terminologie den Ausdruck ivri (Hebräer) dem Wort Jehudi
(Jude) vor, um den neuen Menschen zu beschreiben und um die Verbindung mit
der Vergangenheit zu festigen. Wie Yael Zerubavel festgestellt hat, nahm die A n­
tike in der kollektiven Vorstellung der Zionisten als das „goldene Zeitalter“ eine
prominente Stellung ein.2
Für jene mitteleuropäischen und sonstigen angepassten aschkenasischen Juden,
welche ihre Erscheinung ändern wollten, dienten die sephardischen Juden fast
ausschließlich als der perfekte jüdische Typus. Der schöne sephardische Jude
diente jüdischen Kommentatoren jeglicher politischen C ouleur nicht nur als Kon­
trastfigur zu dem entfremdeten aschkenasischen Juden, sondern er repräsentierte
auch den Urjuden, jenen Juden, der mit einer uralten und glorreichen Vergangen­
1 Ismar Schorsch: The M yth of Sephardic Suprem acy. In: Leo Baeck Institute Yearbook 34
(1989), S. 47-66.
2 Yael Zerubavel: Recovered Roots. C ollective M em ory and the M aking of Israeli N ational
Tradition. C hicago 1995, S. 26.
128
J o h n M. Efron
heit in Verbindung gebracht werden und der darüber hinaus als Vorbild für eine
zukünftige, verjüngte Judenheit dienen konnte.
Der Topos der Abgrenzung der Sepharden von den Aschkenasim muss in einen
größeren Kontext gesetzt werden, und zwar den der sogenannten jüdischen „Ras­
senfrage“, wie sie um die Jahrhundertwende gestellt wurde. An diesem Punkt fand
eine tiefgehende Diskussion statt, die von einem anthropologischen Standpunkt
aus geführt wurde, und in der sich alles um die pathologischen und psychischen
Züge der Juden drehte. In der allgemeinen Debatte um die rassische Charakteris­
tik der Juden, wie sie von jüdischen Rassetheoretikern geführt wurde, kristalli­
sierte sich ein faszinierender Subtext heraus: Es ging um das Bedürfnis, so wie es
allen Debatten um Rassenfragen inhärent war, eine Hierarchie der Rassen zu
schaffen.3 Im Kern ging es darum, Gruppen nach solch subjektiven Kategorien
wie schön/hässlich, fleißig/faul, weit entwickelt/primitiv zu klassifizieren.
Einer der wichtigsten Bezugspunkte jeglicher anthropologischer Diskurse im
19. Jahrhundert war die Verbindung zwischen Rasse und Sprache. Im Kern wurde
postuliert, dass beide miteinander verbunden waren und dass Sprache sowohl den
Charakter als auch die biologische oder „rassische“ Herkunft reflektierte. Da sich
dies auf die jüdischen Sprachen bezog, kann man Ernest Renans Sicht des H ebräi­
schen als typisch für die A rt und Weise sehen, wie man die Ästhetik einer Sprache
(Schönheit, Klarheit, Logik und Ordnung) in Verbindung brachte mit menschli­
cher Schönheit und Perfektion. Der französische H istoriker hielt in seinem mehr­
bändigen Werk History of the People of Israel fest:
„The languages of the Aryans and the Semites differed essentially, though there were points
of connexity between them. The A ryan language was im m ensely superior, especially in re­
gard to the conjugation of verbs. This m arvellous instrum ent, created by the instinct of
prim itive man, contained in the germ all the m etaphysics w hich w ere afterw ards to be devel­
oped through the H indoo genius, the G reek genius, the German genius. The Sem itic lan­
guage [H ebrew ], upon the contrary, started by m aking a capital fault in regard to the verb [...
m aking] the expression of tenses and moods [ ...] im perfect and cum bersom e.“4
Renan, der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb, brachte ein ras­
sisches Element in eine Sichtweise des Hebräischen ein, die bereits seit über einem
Jahrhundert existent war. Seine Auslegung der hebräischen Grammatik baute auf
einer Auseinandersetzung über die Beschaffenheit der Sprache auf, die schon zw i­
schen Alciphron und Euthyphron stattfand. Die beiden werden in Johann Gott­
fried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie aufgeführt, wobei der erstere sich
folgendermaßen beschwert:
„Wie unvollkom m en ist sie [die Sprache]! wie arm an eigentlichen N am en und bestim m ten
Beziehungen der D inge auf einander! W ie unstät und ungew iß sind die Zeiten ihrer Vcrbo-
3 John M. Efron: Defenders of the Race. Jew ish D octors and Race Science in Fin-de-SiecIe
Europe. N ew H aven 1994.
4 Ernest Renan: H istorv of the People of Israel. Till the Tim e of King David. Boston 1890,
S. 7 f.
S ep hard ische Schönheit im A u g e des asch ken asis ch en Betrachters
12 9
rum, daß man ja niemals w eiß, ob von heut oder gestern oder von tausend Jahren rück- und
vorw ärts die Rede se i!“3
Zwischen Juden waren die Beschaffenheit und die Natur des Hebräischen lange
ein Diskussionsthema gewesen. Man bezcichnete Hebräisch als „lashon ha-kodesh“ (Sprache der H eiligkeit), und es wurde, wie der Name impliziert, schlicht
als perfekt angesehen. Einen jüdischen Alciphron gab es somit nicht. Stattdessen
bezog sich eine der interessantesten Diskussionen zwischen Juden über das H e­
bräische auf die unterschiedliche Aussprache der Sepharden und Aschkenasim;
diese Diskussion begann in der Frühmoderne und zog sich bis weit in die M o­
derne fort. Und hier lässt sich das Thema des Perfekten und Unperfekten überall
finden, wenn auch nicht in grammatikalischer Hinsicht.
Im Mittelalter, so scheint es, machte man ob der unterschiedlichen Aussprache
kein Aufhebens, aber im 17. Jahrhundert gab es erste Versuche von Seiten promi­
nenter Rabbiner, die aschkenasische Aussprache zu verteidigen. Der führende
Rabbiner von Prag, Judah Loew ben Bezalel (ca. 1520-1609), riet seinen aschkena­
sischen Mitbürgern eindringlich, „die Aussprache, die uns von unseren Vorfahren
seit alten Zeiten überliefert worden ist, beizubehalten, und, um Gottes Willen,
nichts zu verändern, und zwar aufgrund dessen, was man in den Büchern der spä­
teren sephardischen Gelehrten der Grammatik findet, die sich nicht einmal selber
einig sind.“6 Weiter östlich wandte sich Mordechai Jaffe, der Rabbiner von
Grodno, auf ähnliche Weise gegen jegliche Veränderung in der Aussprache be­
stimmter hebräischer Vokale, wobei er die Sprüche Salomons 1,8 beschwor: „So
höre, mein Sohn, auf die Anweisung deines Vaters und verwirf nicht die Lehren
deiner Mutter.“7
Im 18. Jahrhundert stellt man jedoch in Deutschland eine etwas weniger ausge­
prägte Verteidigungshaltung fest. Jacob Emden (1697-1776), der bekannte Talmu­
dist aus Altona, nahm in Norddeutschland eine selbstkritischere Haltung ein.
Emden warnte vor verfälschender Aussprache, und er betonte die N otwendigkeit,
es zu vermeiden, einen Buchstaben durch einen anderen zu ersetzen (aleph und
ayin und heh und chet), und es nicht so
„as w e A shkenazim do w ith the pronunciation of the latter tav, w hich to our great shame
sounds like the letter sam ekh. H owever, w ith regard to the pronunciation of the vowels
happy are we and goodly is our portion, unlike the Sephardim w ho do not distinguish be­
tween a kam ez and a pathah, thus m aking the holy profane [.. .].“s
Johann G ottfried von H erder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine A nleitung für die
Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des m enschlichen Geistes. Z wei Bände.
L eipzig 31825, hier: Bd. 1, S. 5.
6 H enoch Yalon: Kontresim le-inyanei ha-lashon haivrit. In: Bulletin of H ebrew Language
Studies 1 (1937) 2, hier: fn. 6, 116 and fn. 4, 316; Zitat aus dem Englischen übersetzt von Flo­
rian N eubert, der auch den Text des Aufsatzes ins D eutsche übertragen hat.
7 Zitat aus H. J. Zimmels: A shkenazim and Sephardim : T heir R elations, Differences, and
Problems as Reflected in the Rabbinical Responsa. London 1958, S. 85; ins D eutsche üb er­
setzt von Florian N eubert.
s Zimmels: A shkenazim and Sephardim (w ie Anm. 7), S. 86.
130
J o h n M . Efron
Was die korrekte hebräische Aussprache angeht, so kann man Emden als Figur des
Übergangs sehen. Obwohl er tief in der Tradition verwurzelt war, zeigte er doch
eine gewisse Offenheit, was die Aneignung von säkularem Wissen anging; so un­
ternahm er es, wenn auch mit eher geringem Erfolg, Latein und Holländisch zu
lernen. Letztlich ist es jedoch der Beginn des Haskala im 18. Jahrhundert, mit dem
w ir eine fortwährende Beschäftigung mit der jüdischen Ästhetik feststellen, und
somit das Hervortreten eines tiefergehenden Diskurses der aschkenasischen
Selbstkritik, besonders, was das Thema der Sprache betraf. Für die frühe Genera­
tion der M askilim in Berlin lag die Reform der Sprache im Zentrum ihrer Versu­
che, der aschkenasischen Judenheit ein neues Gesicht zu verleihen. Da dies bedeu­
tete, das Jiddische aufzugeben, wurde sogar die hebräische Aussprache der Aschkenasim abgelehnt, da diese tief im gesprochenen Jiddisch verwurzelt war.
Naftali Herz Wesselys (1725-1805) D ivrei Schalom Ve-Emet (Worte des Frie­
dens und der Wahrheit) aus dem Jahr 1782 war gedacht, die galizischen Juden dazu
zu ermutigen, das Toleranzedikt von Kaiser Joseph II. anzunehmen, einen Erlass,
in dem gefordert wurde, dass die Juden kein Jiddisch mehr in juristischen und ge­
schäftlichen Dokumenten verwenden und stattdessen Deutsch benutzen sollten.
Dabei ging Wessely auch auf die Frage der Sprache seiner jüdischen M itbürger in
M itteleuropa ein. Wessely bezog sich indirekt auf das Jiddische und behauptete,
dass „die Sprache [der Juden], was weltliche Dinge angeht, nicht vernunftskon­
form ist“, und dass „jene unter uns, die in Deutschland und Polen leben [...] nicht
einmal die Grammatik der heiligen Sprache beherrschen, und sie erkennen nicht
die Schönheit ihrer Diktion, die Regeln ihrer Syntax und die Reinheit ihres Stils.“9
Es gäbe jedoch eine Ausnahme unter den Juden - die Sepharden. Wessely gab der
sephardischen Aussprache des Hebräischen den Vorzug und formulierte die Vor­
stellung, dass Sprache als Schlüssel zur moralischen Verfassung zu sehen sei:
„One cannot believe how superior the correct pronunciation of our brethren in the East and
West is to that in use am ong ourselves; for the beauty and pleasantness of the sound of their
vowels for the ear m akes an im pression on the soul of the speaker and that of the listener [...].
But w hat can we do, seeing that this pronunciation has been forgotten among ourselves for
m any years! There is no hope of im proving m atters [... for it] w ould require the consent of
all Jew s living in G erm any and Poland [ ...] a task w hich is beyond us and alm ost im pos­
sib le.“ 10
In deutschen Kreisen der M askilim, besonders jener, die unter dem Einfluss von
Moses Mendelssohn standen, hielt die sephardische Aussprache bei der Tran­
skription von hebräischen Worten in säkulare Texte Einzug, obwohl sich die ein­
zigartige deutsche Aussprache des Hebräischen auf einem Höhepunkt befand. Im
Jahr 1815 entschieden sich Führungspersonen der Reformbewegung dazu, ihre
9 N aphtali H erz W essely: W ords of Peace and Truth (1782). In: Paul M endes-Flohr/Jehuda
R einharz (H g.): The Jew in the M odern W orld. A docum entary H istory. N ew York 21995,
S. 71, ins Deutsche übersetzt von Florian N eubert.
10 W essely: D ivrei shalom ve-em et. Vienna 1826. Fourth Letter, „R ehovot“ chapter 17, 2 0 2f.,
zit. nach: Zimmels: A shkenazim and Sephardim (w ie Anm. 7), S. 87; auch zitiert bei: Simcha
Assaf: M ekorot le-toldot H a-khin ukh be-Y israel, Bd. 1. N ew York, Jerusalem 2001, S. 234.
S ep hardische Sch ön heit im A u g e des asch ken asisch en Betrachters
131
Aussprache des Hebräischen zu verändern und das Sephardische zu übernehmen.
Und im gesamten Rest des 19. Jahrhunderts stellte die Bewegung der Wissenschaft
des Judentums in ihrem gelehrten Werk die sephardische Kultur, besonders ihre
Kreativität im Umgang mit dem Hebräischen, als Vorbild dar.
U nter allen Hebraisten, unabhängig davon ob M askilim oder später Zionisten,
wurde die sephardische Aussprache als authentisch angesehen und gleichzeitig als
die dem hebräischen Inhalt des gesprochenen Jiddisch am wenigsten ähnlich. Und
aufgrund der Verpflichtung des Zionismus, das Jüdische (jehudi) in das H ebräi­
sche zu transformieren, wurde der sephardischen Aussprache der Vorzug gegeben
- der Aussprache, von der die Befürworter annahmen, dass sie am ehesten der
Sprechweise der alten Juden entsprach. Die Verbindung zwischen einer imaginierten Aussprache des alten Hebräischen und der Vorliebe für das sephardische H e­
bräisch beruhte auf einer romantischen Verklärung der äußeren Erscheinung des
Sephardischen durch die Aschkenasim. Die zionistischen Siedler in Palästina hat­
ten mehrere Gründe, warum sie die sephardische Aussprache vorzogen.11 Für die­
ses Verhalten gab es mindestens drei ideologische Gründe: Die aschkenasische
Aussprache lag dem Jiddischen, das sie so sehr ablehnten, zu nahe; durch die
Übernahme der sephardischen Aussprache w ollte man die großen Differenzen
überwinden, welche die verschiedenen aschkenasischen Dialekte des Hebräischen
voneinander unterschieden; und nicht zuletzt glaubte man, dass die Erlernung ei­
nes sephardischen Akzentes Brücken zwischen den europäischen Immigranten
und den jüdischen Einwanderern aus dem Nahen Osten bauen w ürde.12
Praktische Überlegungen, wenn es denn überhaupt welche gab, spielten im Ver­
gleich mit ästhetischen nur eine untergeordnete Rolle. Die wichtigste w ar die Vor­
stellung, dass die sephardische Aussprache des Hebräischen Voraussetzung für
das große Projekt war, die Juden wieder näher an ihren kulturellen und somit p sy­
chologischen Ursprung heranzuführen. Für Eliezer Ben-Yehuda (1858-1922),
einem der H auptbefürworter der Wiederbelebung des modernen Hebräischen, lag
die Verbindung von Sprache, Aussprache und Charakter auf der Hand:
„W hy should I deny it? It is a better, much nicer im pression that was made on me by the Sephardim . M ost of them were dignified, handsom e, all w ere splendid in their O riental clo th ­
ing, their m anner respectable, their behavior pleasant, alm ost all of them spoke H ebrew [...]
and their language was fluent, natural, rich in w ords, rich in fixed idiom s of speech, and the
dialect was so original, so sw eet and O rien tal!“
Unter dem Einfluss des Konzeptes des „Sephardi tabor“ (des reinen Sephardi­
schen) ging Ben-Yehuda sogar noch weiter. Dieser litauische Jude bemerkte ohne
jegliche Ironie oder Fähigkeit zur Selbstbetrachtung:
„H ow much the Sephardi Jew s love cleanliness and how strict they are about it even in the
secret places, the most private rooms. [...]. A nd all household and cooking utensils were
tru ly sparkling w ith cleanliness.“
11 Zu P o litik und Sprache vgl. Ron Kuzar: H ebrew and Zionism. A D iscourse A n alytic C u l­
tural Study. Berlin 2001, S. 2 5 9 f.
12 Benjam in H arshav: Language in Time of R evolution. B erkeley 1993, S. 155.
132
J o h n M . Efron
Ihre Sprache, ihre Körper und sogar ihre Häuser waren Vorbilder an ästhetischer
Perfektion.
Die Welt von neuen jüdischen Ideen wurde von einer beunruhigenden kulturel­
len Gleichung beherrscht: Schönheit + Reinheit = Stärke. Die empfundene Macht
des Sephardischen und die behauptete Schwäche der aschkenasisehen Aussprache
bedeutete, dass für M änner wie Ben-Yehuda, Menachem Ussishkin (1863-1941),
dem fanatischen Verfechter des Hebräischen und Führungsgestalt des Jewish N a­
tional Fund, und David Yellin (1864-1941), M itbegründer des Hebrew Language
Committee und erster Präsident des Hebrew Teachers Seminary, das Sephardische
vorzuziehen war. Sie glaubten, dass, wenn die Sprache von Juden übernommen
werden würde, das Ergebnis eine vollständige Metamorphose sein würde, eine
Umwandlung, die für das Verschwinden von Rathenaus „unordentlichem, unter­
setztem“ Juden sorgen würde. Das Hebrew Language Committee (v a ’ad ha-lashon ha-ivrit), das 1889 als Zweigorganisation von Seifa Brura (die reine Sprache)
gegründet wurde, verehrte alles Orientalische und spielte bei der Wiederbelebung
des gesprochenen Hebräischen eine große Rolle. Ben-Yehuda stellte in einer
Schrift zur Mission der Organisation 1912 klar heraus, dass eines der Hauptziele
darin bestand, „die orientalischen Merkmale der Sprache zu erhalten.“ Mit diesem
Ziel empfahl er, dass Lehrer des Hebräischen jene orientalischen Juden sein soll­
ten, die sowohl Hebräisch als auch Arabisch sprachen. Geeignet seien insbeson­
dere solche, die den Dialekt der syrischen Juden beherrschten. Ben-Yehuda führte
zur Begründung dafür an,
„[because we, A shkenazim lost the O riental ring of the letters, tet, ayin, kuf] we deprive our
language of its force and pow er by the contem pt we have for the emphatic consonants, and
because of that, the w hole language is soft, w eak, w ithout the special strength the emphatic
consonant gives to the w o rd .“ 13
Die aschkenasischen Orientalisten, die alle einen jiddisch-sprachigen Hintergrund
hatten, setzten sich durch, und die sephardische Aussprache des Hebräischen
wurde in Schulen gelehrt und normativ. Das war in der Diaspora genauso der Fall
wie im Land Israel. Gegen diese Bewegung gab es, wie Benjamin Harshav be­
merkte, nur bei zwei Gruppen Widerstand: bei religiösen Juden, welche sowohl in
der Wiederbelebung des Hebräischen als gesprochener Sprache als auch im Ge­
brauch von sephardischer Aussprache eine Herausforderung der religiösen A uto­
rität und Tradition sahen, und bei den frühen zionistischen Dichtern, Individuen,
die ein Ohr für den Rhythmus, die Lyrik und M usikalität des aschkenasischen
Hebräisch hatten.14 Der hebräische Akzent, der von den Zionisten geschaffen
wurde, entsprach jedoch gar nicht der sephardischen Aussprache, sondern nur der
Vorstellung dieser Aschkenasim, wie sephardisches Hebräisch klingen sollte;
diese Tatsache spielt jedoch keine R olle.13 Was wichtig ist, ist der Trieb der Asch13 Ben-Yehuda im Vorstehenden zitiert nach H arshav: Language (w ie Anm. 12), S. 158 f.;
deutsche Passagen übersetzt von Florian N eubert.
14 H arshav: Language (w ie Anm. 12), S. 162.
15 G h il’ad Zuckerm ann: Abba, w h y was Professor H iggins tryin g to teach Eliza to speak like
S ep hard ische Sch ön heit im A u g e des asch ken asisch en Betrachters
133
kenasim, sich selbst zu orientalisieren, sich neu zu erhnden im Sinne eines imaginiertem (und besserem) jüdischen Anderen, denn hinter diesem Verhalten verbarg
sich mehr als eine reine Veränderung der Aussprache. Die sprachliche Neuerfin­
dung beschränkte sich nicht nur auf reine Worte, sondern war ein Akt der Purifikation, durch den der aschkenasische Jude seine Identität verändern würde, indem
er die Eigenschaften des „sephardischen tahor“ annehme. Die harten Wortendun­
gen und zusammengeschnurrten Vokale der sephardischen Aussprache des He­
bräischen sollten die weichen Endungen und betonten Vokale des aschkenasi­
schen Hebräisch genauso ersetzen wie das harte und direkte ivri idealerweise das
feminine yehudi ersetzen sollte, dessen übertriebene Süße seine Herkunft aus der
Nervosität und U nterwürfigkeit der Diaspora verriet.
Die Idealisierung des sephardischen Juden beschränkte sich nicht nur auf die
Zionisten. Vielmehr war sie eine Einstellung, die weithin von Aschkenasim geteilt
wurde, im Osten wie im Westen und quer durch alle politischen Parteien. Und die
sephardische Ästhetik verführte auch nicht-jüdische Beobachter. Lassen Sie uns
jedoch an diesem Punkt unsere Beobachtungen auf die Meinungen der jüdischen
Gelehrten beschränken, da sie die meisten Beobachtungen über die Juden anstell­
ten. Darüber hinaus w ar es für sie wohl auch am wichtigsten, dass es einen idealen
jüdischen Typus geben sollte, sowohl schön als auch ehrenhaft.
Bei den Nicht-Zionisten herrschten Ideen über physische und sprachliche
Schönheit und Reinheit im Diskurs über den Unterschied zwischen Sepharden
und Aschkenasim vor. Einer der ersten, der sich auf formale Weise mit der Frage
beschäftigte, was die „rassischen“ Unterschiede zwischen den zwei jüdischen Ty­
pen sein sollten, w ar der bekannte Oxforder Gelehrte und Bibliothekar der Bod­
leian Library, Adolf Neubauer (1831-1907). In seiner (in Abwesenheit gehalte­
nen) Rede vor dem Royal Anthropological Institute im Jahr 1885 bemerkte N eu­
bauer, dass die Trennung zwischen den zwei jüdischen Typen
„ [... ] is o n ly a revival of the old legend w hich existed for a long tim e am ongst the Jew s them ­
selves in the m iddle ages, viz., that the noble Spanish race are descended from the tribe of
Judah and the rougher G erm an-Polish Jew s from the tribe of Benjam in. This legend had such
effect that interm arriage between the Spanish and Germ an Jew s was for a long time
avoided.“ 16
Die Bedeutung, die Neubauer der stammesgeschichtlichen Herkunft Israels bei­
misst, verrät einiges. Nach der biblischen Erzählung hielt sich Judah getrennt von
den anderen Stämmen auf, nachdem sich die Israeliten in Kanaa angesiedelt hat­
ten. Die Linie der Davidianer, und somit des Messiahs, ging auf Judah zurück.
Benjamin hingegen wird als das Produkt verschiedener Völker dargestellt, und
sein Stamm hatte einen niedrigeren Status als der Judahs.
our cleaning lady? M izrahim , A shkenazim , prescriptivism and the real sounds of the Israeli
language. In: A ustralian Jo urnal of Jew ish Studies 19 (2005), S. 210-231.
16 A do lf N eubauer: N otes on the Race-Types of the Jew s. In: Jo urnal of the R o yal A n thro ­
pological Institute of G reat Britain and Ireland 15 (1885), S. 17-23, hier: S. 19.
134
J o h n M . Efron
Indem sie solche rassischen M ythen Schuten, versuchten die jüdischen Anthro­
pologen, Ethnographen und H istoriker die Kategorien von Ort, Sprache und Lo­
gik auszublenden. Neubauer bemerkt:
„W hat is curious to notice is that the manners and habits of the so-called distinct tribes are
also different, in accordance w ith the features, viz., the Spanish and Eastern Jew s have a kind
of refinem ent in speech and gesture, w hile the G erm an-Polish Jew s are rougher in both [.. .J.
We shall go further; there is even a difference in the literature of the m ediaeval Jew s of the two
so-called tribes. The Spanish Jew s are much more logical and clear in their casuistic com posi­
tions, and dislike scholastic discussions, w hilst the con trary is the case w ith the Germ anPolish Jew s, w hose casuistry reaches the clim ax of logical m istakes, of scholastic torture, and
absurd thin kin g.“ 17
Neubauers K ritik an den aschkenasischen Juden stimmt ganz mit einer langen
Tradition von jüdischen Gelehrten überein, die aus dem 17. Jahrhundert stammt;
diese kritisierten explizit die talmudisch-kasuistische Tradition der osteuropä­
ischen Juden. Moses Mendelssohn w ar berüchtigt dafür, dass er eine kausale Ver­
bindung zwischen dem Jiddischen und unlogischem Denken herstellte. Dies war
selbst ein höchst unlogischer Gedanke.
Wenn w ir uns dem bedeutendsten jüdischen Nachschlagewerk des Fin-deSiecle zuwenden, der großen Jewish Encyclopedia, veröffentlicht in N ew York
zwischen 1900 und 1906, so bemerken w ir den Eintrag unter „Sephardim“ im elf­
ten Band. Interessanterweise gibt es unter „Aschkenasim“ keinen Eintrag. Der
Grund hierfür liegt höchstwahrscheinlich in der Tatsache, dass die Autoren, selber
alle Aschkenasim, ihre Betrachtungen niemals auf sich selbst richteten, sich selbst
nicht als interessant oder exotisch genug empfanden. Im Gegensatz dazu stellt der
Eintrag „Sephardim" ein perfektes Beispiel dafür dar, was w ir als inner-jüdischen
Orientalismus bezeichnen können. Sein Autor w ar M eyer Kayserling (1829—
1905), der in Deutschland geborene H istoriker des iberischen Judentums und
Rabbiner in Budapest.18
Ohne überhaupt auf die Aschkenasim einzugehen, bemerkte Kayserling, so wie
vor ihm Neubauer, dass die Sepharden „sich als eine überlegene Klasse ansehen,
als den Adel der Juden“, und er untermauerte diese Vorstellung, indem er behaup­
tete, dass:
„[tjhis sense of d ign ity w hich the Sephardim possessed manifested itself in their general de­
portm ent and in their scrupulous attention to dress. Even those among them w hose station in
life was low, as, for exam ple, the carriers in Salonica, or the sellers of ,pan de Espana' in the
streets of Sm yrna, m aintained the old Spanish ,gran d ezza‘ in spite of their poverty.“ 19
Nicht nur glaubte Kayserling, dass das ehrwürdige Auftreten ein grundlegender
Charakterzug der spanischen Juden war, sondern dass diese Eigenschaft unabhän­
gig von äußerlichen Einflüssen war. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien
17 Ebd., S. 20.
1S M eyer K ayserling: Biblioteca E spanola-P ortugueza-Judaica. N ew York 1971, bes. die
E inleitung von Yosef H ayim Ycrushalm i.
19 M eyer K ayserling: A rt. Sephardim . In: Jew ish E ncyclopedia, Bd. 11. N ew York 1905,
S. 197'
S ep hardische S chönheit im A u g e des a sch ken asisch en Betrachters
13 5
im Jahr 1492, so behauptete Kayserling, widerstand die „Ehrwürdigkeit“ und das
„allgemeine Auftreten“ der Sephardim sogar den schwächenden Auswirkungen
der großen Armut im osmanischen Reich. Kaum ein Autor vor dem Ersten Welt­
krieg bezog sich derartig auf die Ehrwürdigkeit der verarmten aschkenasischen
Juden im Ansiedlungsrayon im zaristischen Russland.20 Tatsächlich bezog sich ein
Großteil der Kritik an den aschkenasischen Juden auf Klassenunterschiede und
eine Ablehnung der proletarischen Eigenschaften der Juden der Arbeiterklasse.
Ein solcher Unterschied wurde jedoch nicht mit Bezug auf die sephardischen Ju ­
den gemacht. Ob Poet oder Arbeiter, alle Sepharden wurden als Repräsentanten
einer glorreichen Vergangenheit gesehen, und als solche umgab sie ein Nebel der
zeitgenössischen M ystik, der dazu diente, sie als lobenswert und außergewöhnlich
in der Vorstellung jüdischer Gelehrter erscheinen zu lassen.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war New York die größte jüdische Stadt in der
Welt. Obwohl sich die Stadt weit entfernt von den Weltgegenden befand, in denen
der Diskurs über sephardische Schönheit - Emanzipation, Assimilation, Antise­
mitismus und Zionismus - stattfand, behielt der Drang zur Orientalisierung den­
noch die Oberhand. Im Jahr 1911 veröffentlichte Maurice Fishberg (1872-1934),
ein Anthropologe, Professor der M edizin an der New York University und dem
Bellevue Hospital Medical College und ein aktives und engagiertes M itglied der
jüdischen Gemeinde, seine bedeutende Arbeit The Jews: A Study o f Race and
Environment, Fishberg gab sich alle Mühe, Argumente gegen die Vorstellung jü ­
discher rassischer Merkmale zu finden, und sah, zum Entsetzen seiner jüdischen
Mitbürger, voraus, dass die Juden eines Tages vollständig in der weißen dominan­
ten Gesellschaft aufgehen würden.21
Wenn die jüdischen Immigranten in die Vereinigten Staaten alle ein vom Sephardentum geprägtes Verhalten und Außeres an den Tag gelegt hätten, wäre
Fishberg vielleicht weniger begierig gewesen, das Verschwinden der Juden in die
Mehrheitsgesellschaft zu beobachten. Aber so wie er es sah, hatten die Aschkenasim nur wenige Eigenschaften, die es wert waren, erhalten zu werden. Fishberg
schuf eine Verbindung zwischen Morphologie und Typologie und bemerkte, dass
die Sepharden
„are m edium -sized, slender, narrow -shouldered, but graceful people, w ith a som ew hat m e­
lancholy and thoughtful expression. O n ly very rarely is to be seen a Spanish Jew d isp layin g a
servile or cringing attitude in the presence of superiors, as is often to be seen among German
and Polish Jew s. The Sephardim are very proud, and their sense of d ign ity manifests itself
even in their dress and deportm ent, to which they p ay scrupulous attention.“22
Hierbei handelte es sich um ideale Juden von äußerlicher Schönheit und Anmut.
Ihre Manieren waren besonders lobenswert, da sie auf einen Stolz schließen lie­
20 Steven Aschheim : Brothers and Strangers. The East European Jew in German and Germ an-Jew ish C onsciousness, 1800-1923. M adison 1982, S. 100-214.
21 Eric L. G oldstein: The Price of W hiteness. Jew s, Race, and Am erican Identity. Princeton
2006, S. 114.
22 A rthur M aurice Fishberg: The Jew s. A studv of race and environment. London 1911,
S. 110.
136
J o h n M . Efron
ßen, der auf großem Selbstvertrauen und einer weit entwickelten ästhetischen
Sensibilität gründete. Dazu kommt noch, dass das große Interesse an ethnischen
und rassischen Gruppen um die Jahrhundertwende und die Überhöhung von
subjektiven Vorstellungen von Schönheit und Hässlichkeit zu wissenschaftlichen
Kategorien zu sexuell aufgeladenen Phantasien führten, die ebenfalls als wissen­
schaftliche Ideen ausgegeben wurden:
„The traditional Sem itic beauty, w hich in w om en often assumes an exquisite nobility, is gen­
erally found am ong these Jew s, and w hen encountered among Jew s in Eastern or C entral
Europe is alw ays of this type. Indeed, it is hard to im agine a beautiful Jew ess, w ho looks like
a Jew ess, presenting an y other p hysical type. [ ...] The Spanish and A ndalusian w om en are
said by some to owe their charms to these beautiful eyes, w hich are alleged to have their o ri­
gin in the sm all quantities of Sem itic blood w hich flow s in their veins.“23
Fishbergs erotische Beschreibungen der sephardischen Frauen verraten eine A n­
ziehungskraft und eine Faszination, deren W urzeln wohl in der kulturellen und
physischen Distanz zu diesen Menschen liegen, die er als Jude aus Kamenetz-Podolsk in der U kraine verspürte. In Fishbergs Vorstellung der jüdischen Schönheit
wurde aschkenasischen Frauen jegliche inhärente Attraktivität versagt, da er be­
hauptete, dass, sollte eine aschkenasische Frau jemals ein schönes Außeres besit­
zen, dieses auf eine sephardische Abstammung zurückzuhihren sei. Tatsächlich
behauptete Fishberg, dass sich der Ursprung der Schönheit spanischer Frauen ei­
nem semitischen Einfluss verdankte. Alles in allem steht der exotische und sinnli­
che Sepharde im Gegensatz zu dem plumpen und äußerlich unattraktiven Aschkenasim.
Es ist eindeutig, dass der orientalistische Diskurs über die Juden zum Fin-deSiecle, die Schaffung eines fein ausgearbeiteten rassischen M ythos - der der Ü ber­
legenheit des sephardischen Juden über den aschkenasischen - den Juden die
M öglichkeit verschaffte, vor dem H intergrund ihrer eigenen historischen Erfah­
rung eine eigene Version zeitgenössischer europäischer M ythen über rassische
und nationale Herkunft zu vertreten. Für all diese Beobachter, unabhängig davon
welche Politik sie vertraten oder welche Stellung sie in der Gemeinde hielten, lag
der Schlüssel zur jüdischen W iederherstellung im Zeitalter der „Autoemanzipa­
tion“, wie es der zionistische Denker Leon Pinsker ausdrückte, in der N euer­
schaffung des gebrechlichen, unattraktiven aschkenasischen Juden aus dem
Ghetto nach dem Vorbild des robusten, schönen und kulturell „überlegenen“ Se­
pharden.
Abstract
In the eighteenth century Jewish leaders experienced what might be termed an
aesthetic crisis of confidence and sought to institute changes to Jewish cultural
23 Ebd., S. 109 f.
S ep hard ische S chönheit im A u g e des aschkenasischen Betrachters
137
forms that they believed would bespeak a more fundamental and long-lasting
transformation of Jews. This article treats one specific aspect of this aesthetic crisis
of confidence - language, and specifically, the privileging of the Sephardic over the
Ashkenazic pronunciation of Hebrew. That preference was informed by eight­
eenth-century aesthetic theory, contemporary standards of taste, and an imagined
sense of authenticity. Later, Zionist Hebraists, nearly all of whom grew up with
the Ashkenazic pronunciation, vehemently rejected it as unsuitable to the creation
of a new Jew, or Hebrew (ivri), as they preferred to say and likewise opted for the
Sephardic mode. They were inspired by contemporary theories that linked race
and language, seeing Sephardic Jews as living successors to ancient Israelites. This
article on Hebrew pronunciation first during the Berlin Haskalah of the eight­
eenth century and later by nineteenth-century Zionism is a subject that stands at
the center of the aesthetic changes experienced by Jews with the advent of mo­
dernity.
Reinhard Schulze
Islam und Judentum im Angesicht der
Protestantisierung der Religionen im 19. Jahrhundert
I. Protestantisierung als Konzept
Mit dem Begriff „Protestantisierung“ soll im Folgenden jener Prozess bezeichnet
werden, der im 19. Jahrhundert einen normativen Religionsbegriff schuf, der als
Standard auf eine Vielzahl von sich nun als Religion verstehender Traditionen
angewandt und zur intellektuellen Richtschnur für die Selbstfindung „religiöser“
Traditionen w urde.1 Die Paradigmatisierung - also der Übergang eines Elements
aus einer offenen Klasse in eine geschlossene Klasse (Paradigma) - ist insofern
„protestantisch“, als es der protestantischen Tradition gelang, „Religion“ als ge­
schlossene Klasse zu definieren und letztlich auch den Übergang von Elementen
(also dann als Religion gefasster Traditionen) in diese geschlossene Klasse zu kon­
trollieren. Das Protestantische an diesem Prozess ist allerdings nicht die „Erfin­
dung der Religion“. Wie an anderer Stelle zu zeigen ist, gründet die Bildung von
Religion als geschlossene Klasse auf einer Konvergenz einer Vielzahl von Tradi­
tionen, indem sie sich entsprechend eines übergeordneten Schemas differenzier­
ten. Es geht also nicht um klassische Konvergenztheorien, die alle geschichtlich
auftretenden Exemplare einer Gattung sozialer Systeme in dieselbe Richtung sich
entwickeln sehen, wobei angenommen wird, dass das M odell des Telos schon in
der Gegenwart existiert. Das heisst, Konvergenz ergibt sich durch eine „Entwick­
lung“ unter sich angleichenden Bedingungen und Kontexten. Ich gehe von einer
konvergenten Evolution aus, die die Entwicklung von ähnlichen Merkmalen bei
nicht miteinander verwandten Arten bezeichnet, die im Laufe der Evolution
durch Anpassung an eine ähnliche Funktion und ähnliche Umweltbedingungen
ausgebildet wurden. Diese Konvergenz wurde dort erleichtert, wo sich die Tradi­
1 In diesem Sinne versteht Friedrich W ilhelm G raf Protestantism us pluralisch als ein globales
Phänomen, das sich unter anderem durch die D ialektik von erw eckter Verinnerlichung und
fromm inspirierter W irksam keit in der W elt ausw eist. Friedrich W ilhelm Graf: Der P ro tes­
tantism us. G eschichte und G egenw art. M ünchen 2006. Protestantism us als konfessionelle
Sam m elbezeichnung w urde im 17. Jahrhundert im englischen Sprachgebrauch geprägt und
dann im 18. Jah rh un dert ins Deutsche übernom m en. Erst zw ischen 1770 und 1820 gew ann
der Begriff auch eine prinzipielle Bedeutung.
140
R ein h a rd S ch ulze
tionen selbst genealogisch aufeinander bezogen (vor allem Judentum, Christen­
tum und Islam).2
Es ist unbestritten, dass der Protestantismus nicht nur das Modell dieser Diffe­
renzierung darstellte, sondern dass er selbst sich auch als der Telos einer solchen
Konvergenz betrachtete.3 Diese Selbstverortung in der Konvergenz führte im pli­
zit die alten Konvergenzvorstellungen des 18. Jahrhunderts fort, denen zufolge
konkrete Religionen in einer „natürlichen Religion“ münden und aufgehoben
würden oder gar sich in der Konvergenz selbst annihilierten. Das Protestantische
ist also primär die behauptete und clurchgesetzte Deutungshoheit über Konver­
genzprozesse. Insofern erscheint die evolutionäre Konvergenz von Traditionen
hin zu einer geschlossenen Klasse „Religion“ als Protestantisierung, und dies
umso mehr, als konvergierende Traditionen (hier Judentum und Islam) selbst das
Protestantische als Referenzrahmen ihrer Konvergenz begriffen.4
Die protestantische Selbstvergewisserung in einer „Theologie der historischen
Methode“5 fand in dem Begriff „Kultur“ eine bedeutsame Stützung, besonders
seit Albrecht Ritschl den Protestantismus von jeder Eschatologie befreit auf eine
innerweltlich-ethische Aufgabe bezog und ihn zum Kennzeichen eines Berufs­
menschentums erhoben hatte.6 Kultur wurde gleichsam ein Zielbegriff der R eli­
gion, wobei, wie der französische protestantische Theologe August Sabatier 1897
sagte, „die Revolution, welche im 16. Jahrhundert durch Luther begonnen wurde,
sich vollenden“ werde.7 Der Psychologismus einer K ulturentwicklung spiegelte
sich in der Idee einer Finalität der Religion im (protestantischen) Christentum.
Entsprechend w ar es ein Gemeinplatz zu behaupten: „It was only in the Protes­
tant countries - Holland and England took the lead here - that modern culture
was developed.“8 Mit dieser impliziten „Theologie der Kultur“, die „die Verwirk­
2 M ehr dazu dem nächst in Reinhard Schulze: D ie D ritte U nterscheidung: Islam, R eligion
und Säkularität. In: W olfgang Lienem ann/W alter D ietrich (H g.): R eligionen - W ahrheitsan­
sprüche - K onflikte. Theologische Perspektiven. Z ürich 2010.
3 Ernst Troeltsch: Die A bsolutheit des C hristentum s und die R eligionsgeschichte (19021912): m it Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen. H g. von Trutz R endtorff in
Zusam m enarbeit m it Stefan Pautler (= K ritische G esam tausgabe, Bd. 5). Berlin 1998.
4 Vgl. z. B. Jen nifer W asmuth: D er Protestantism us und die russische Theologie. Zur R ezep­
tion und K ritik des Protestantism us in den Z eitschriften der G eistlichen A kadem ien an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. G öttingen 2007.
5 Friedem ann Voigt: Vorbilder und Gegenbilder. Zur K onzeptualisierung der K ulturbedeu­
tung der R eligion bei Eberhard G othein, W erner Som bart, G eorg Sim m el, G eorg Jelhnek,
M ax W eber und Ernst Troeltsch. In: W olfgang Schluchter/Friedrich W ilhelm G raf (H g.): A s­
ketischer Protestantism us und d e r ,G eist' des m odernen K apitalism us. Max W eber und Ernst
Troeltsch. Tübingen 2005, S. 155-184.
6 F riedrich W ilhelm Graf: A rt. Albrecht Benjam in R itschl. In: N eue deutsche Biographie,
Bd. 21. Berlin 2003, S. 649-650, hier: S. 649.
7 A ugust Sabatier: Die R eligion und die m oderne Kultur. Vortrag auf dem ersten religion s­
w issenschaftlichen Kongress in Stockholm gehalten am 3. Septem ber 1897, L eipzig, T ü b in ­
gen 1898, S. 49.
8 W ilhelm Bousset: W hat is R eligion? London 1907, S. 271 f. (= ders.: Das Wesen der R e li­
gion dargestellt an ihrer Geschichte. H alle an der Saale 1903).
Islam u n d J u d e n tu m im A n g e sich t d er P ro testantisierun g
141
lichung des absoluten Paradox in der Teleologie der Kulturschöpfung sieht“,9
wurde der theologische Geltungsanspruch über die Deutung der „modernen Kul­
tur“ festgeschrieben, der im späten 19. Jahrhundert zum Prinzip erhoben
w urde.10
Die Bezugnahme von Konfessionen auf Kultur, die sich in Komposita wie Kul­
turprotestantismus (seit etwa 1900), K ulturkatholizism us (seit etwa 1910), Kul­
turjudentum (seit etwa 1910, oft auf Heinrich Graetz rückbezogen1*) und Kultur­
islam (seit etwa 191Q12) zeigte, bezeichnete nun erstmals einen qualitativen Ober­
begriff, der zur Richtschnur für eine „moderne Religionsauffassung“ geriet. Die
ab den 1860/1870er Jahren inflationäre In-Wertsetzung des Begriffs „Kultur“
selbst w ar also selbst wieder Teil einer protestantischen Selbstvergewisserung, zu ­
gleich wurde Kultur eng mit dem protestantischen Telos verknüpft. Schon im frü­
hen 19. Jahrhundert wurde die Reformation als Bedingung für den Fortschritt der
Kultur (Karl Gottlieb Bretschneider, 1822) gedeutet. In theologische Sprache
übersetzt hieß dies, die individuelle Autonomie mit der protestantischen Gewis­
sensfreiheit gleichzusetzen. Damit w ar für alle als Religion gefassten Traditionen
ein Maßstab gesetzt. Sie mussten sich mit der „modernen Kultur“ messen lassen,
wobei diese „moderne Kultur“ wiederum als Privileg der protestantischen R eligi­
onsgeschichte erachtet wurde.
Für die nichtchristlichen Konfessionen (aber auch für den Katholizismus und
die Orthodoxie) stellte das protestantische Paradigma einen fast unausweichlichen
Kontext dar. Er stellte sich aber für jede Tradition anders dar. Das Judentum stand
in einem direkten öffentlichen, auch akademischen Zusammenhang zu den pro­
testantischen Diskursen, ja verschmolz vielfach mit diesen. Hierzu beispielhaft
w irkte die „Wissenschaft vom Judentum “ von Leopold Zunz bis Abraham Gei­
ger, M oritz Steinschneider und Hermann Cohen.13 Ja, man sah sogar direkte Ent­
sprechungen: Orthodoxie (Samson Raphael Hirsch), Vermittlungstheologie (Za­
9 Paul T illich: R echtfertigung und Zweifel (1917/1924). In: ders.: R eligion, Kultur, G esell­
schaft. U nveröffentlichte Texte aus der deutschen Z eit (1908-1933), Bd. I. H g. v. E rdm ann
Sturm . B erlin 1999, S. 182.
10 H einrich Frickhöffer: Die G rundfrage der R eligion. M it Bezug auf W [ilhelm ] Bender: Das
W esen der R eligion und die G rundgesetze der K irchenbildung. H am burg 1887, S. 22 f.
11 Roland D eines: Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen
Forschung seit W ellhausen und G raetz. Tübingen 1997, S. 38.
12 Vgl. z.B . M artin H artm ann an C arl H einrich Becker, 31. 3. 1915. In: C arl H einrich Be­
cker: Islam kunde und Islam w issenschaft im D eutschen K aiserreich. Der Briefwechsel z w i­
schen C arl H einrich Becker und M artin H artm ann (1900-1918). Eingel. und hg. von L u d ­
m ila H anisch. Leiden 1992, S. 89.
13 C hristian W iese: W issenschaft des Judentum s und protestantische Theologie im w ilh elm i­
nischen D eutschland. Ein Schrei ins Leere? Tübingen 1999; N ils H . Roem er: Jew ish scholar­
ship and culture in nineteenth-century Germany. Between h isto ry and faith. M adison 2005;
Andreas G otzm ann: Jüdische Theologie im Taumel der Geschichte: R eligion und h isto ri­
sches D enken in der ersten H älfte des 19. Jahrhunderts. In: U lrich W yrw a (H g.): Judentum
und H istorism us. Zur Entstehung der jüdischen G eschichtswissenschaft in Europa. F ran k­
furt am M ain 2003, S. 173-202.
142
R ein h a rd Sch ulze
charias Frankel), Liberalismus (Abraham Geiger) und Rationalismus (Samuel
H oldheim ).14
Anders der Islam: H ier w ar das Kommunikationsgeflecht nur vermittelt in die
protestantischen theologischen Diskussionen eingebunden. Eine „islamische Wis­
senschaft vom Islam“, wie sie im späten 19. Jahrhundert ägyptische, türkische und
indische Reformer ausformulieren sollten, gab es in Deutschland nicht. Ansätze
hierzu gab es allein in England und Schottland in den 1860er und 1870er Jahren,
als indische Immigranten (Syed Ahmed Khan u.a.) einen akademischen Diskurs
über den Islam aus islamischer Absicht zu entwickeln versuchten. Ihr Kontext
w ar prim är die angelsächsische Theologie. Für den Islam bedeutsamer war das
protestantische Paradigma in seiner als öffentliche Meinung popularisierten
Form. Zudem kommunizierten islamische Intellektuelle mit dem protestantischen
Kontext meist über die Orientalistik, die seit etwa 1870 die normativen Bestim­
mungen über „Religion“ in die islamische Tradition einschrieb. Die in dieser Zeit
entstehende „islamische Wissenschaft vom Islam“ korrespondierte auf einer ver­
mittelten Ebene mit den Vorgaben des protestantischen Paradigmas.
Die W irkung des „protestantischen Paradigm as“ auf den Islam wurde sehr un­
terschiedlich bewertet. Malise Ruthven sah keine Alternative zur Herausbildung
eines „islamischen Protestantismus“ durch die M oderne.15 Ruthven sieht hier das
erfüllt, was der Islam hätte sein können, wenn Muhammad sich auf „universelle
ethische Werte“ beschränkt hätte. Dann hätte sich der Islam wahrscheinlich, wie
das protestantische Christentum, in Richtung einer rein ethischen Religion entw i­
ckelt, fähig zu einer großen Varietät von unterschiedlichen Anwendungen, je nach
den zeitlichen und lokalen Um ständen.16 Auch wurde eine prinzipielle theologi­
sche Nähe von Islam und Protestantismus gesehen, die sich in analogen Fundamentalisierungsprozessen spiegele.17 Doch Reinhard Bendix sah einen grundsätz­
lichen Unterschied, da die islamische Textgläubigkeit eine Theonomie ausgestalte,
während der Protestantismus den Text nur als „rock upon which the individual
believer bases his faith“ erachte.18
Die Vermessung des Islam am protestantischen Paradigma, das selbst nicht sel­
ten radikal stereotypisiert wurde, bezog sich vielfach auf die Relation zwischen Is­
lam und Calvinismus. Hier sahen viele Autoren die größte Nähe19 und sahen gar
Max Webers „protestantische Ethik“ im Islam verwirklicht. Diese weberianische
Konkretisierung des Protestantismus wurde seit den 1960er Jahren zum Maß aller
Dinge. Maxime Rodinsons Buch „LTslam et Capitalism e“, quasi analog zu „W irt­
14 M ichael A. M eyer: Jüdisches Selbstverständnis, In: M ichael Brenner/Stefi Jersch-W enzel/
M ichael A. M eyer (H g.): D eutsch-jüdische G eschichte in der N euzeit. Bd. 2: E m anzipation
und A kku lturatio n, 1780-1871. M ünchen 1996, S. 135-176, hier: S. 146-149.
15 M alise Ruthven: Islam in the W orld. N ew York 32006, S. 363. Z itiert Francis Robinson:
Technology and R eligious Change: Islam and the Impact of Print. In: M odern A sian Studies
27 (1993) 1, S. 229-251, hier: S. 230.
16 Ruthven: Islam (w ie Anm . 15), S. 111.
17 Steve Bruce: Fundam entalism . C am bridge, M alden 22008, S. 101.
18 Reinhard Bendix: Kings or people. Pow er and the m andate to rule. B erkeley 1980, S. 47.
19 So ausführlich A li A. M azrui: C ultu ral forces in w orld politics. London 1990, S. 73 ff.
Islam u n d J u d e n tu m im A n ge sich t d er P ro testantisie run g
143
schaft und Gesellschaft“ betitelt, griff indirekt eine Diskussion auf, die schon Carl
Heinrich Becker, Martin Hartmann und andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts
geführt hatten. Rodinson erkannte zw ar eine Beziehung zwischen islamischer
Dogmatik und wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in der arabisch-islatnischen Welt an, doch sah er im Islam weder ein Hindernis gegenüber einer Kapita­
lisierung der arabischen Gesellschaften noch eine normative Grundlage für eine
egalitäre soziale Ordnung; der Islam erschien bei ihm funktional neutral.
Ein Höhepunkt der Protestantisierungsdiskurse ergab sich dort, wo Autoren
versuchten, den Protestantismus als das „authentisch Religiöse“20 in der islami­
schen Religionsgeschichte wiederzufinden. Dabei spielte die protestantische
Ethik‘-These von Max Weber erneut eine entscheidende Rolle.21 Denn wenn ge­
zeigt werden könnte, dass der Islam per se über eine Ethik verfüge, die funktional
mit der der Weberschen ,protestantischen Ethik“ übereinstimme, dann wäre der
Islam auch per se eine Tradition, die die Moderne erschaffen habe. Bryan Turner
stellte aber schon 1974 klar, dass die protestantische Ethik“ des Islam sekundärer
Natur und nur deshalb wirksam sei, weil sie „came to fit Islamic modernization
sim ply because Muslims came to accept a European view of how to achieve capi­
talist development.“22 Trotz dieses Vorbehalts ging die Suche nach einer p ro tes­
tantischen Ethik“ im Islam munter weiter, sogar selbst als die Weber-These nur
noch wissenschaftsgeschichtlich als relevant erkannt wurde. M arietta Stepaniants
zum Beispiel erkannte im protestantischen Paradigma den prinzipiellen Bezugs­
rahmen für eine radikale Modernisierung in den Hindu-Traditionen, im Buddhis­
mus und im Islam des 19. Jahrhunderts und bemerkte, dass der Übergang zu einer
kapitalistischen Ordnung nicht ohne eine Reformation traditioneller Religionen
und all ihrer dogmatischen Setzungen möglich sei.23 Die in den 1980er und 1990er
Jahren beliebte K ritik an Webers Islaminterpretation, die den Islam gegen den
20 Jose Casanova: Secularization R evisited: A R eply to Talal Asad. In: David Scott/Charles
H irschkind (H g.): Pow ers of the Secular M odern. Talal A sad and H is Interlocutors. Stanford
2006, S. 12-30, hier: S. 23.
21 So interpretiert G eorg Stauth die „Protestantisierung des Islam “ vornehm lich als positive
Einbettung des Islam in das Paradigm a der sogenannten W eberschen Protestantism us-These,
siehe G eorg Stauth: ,Protestantisierung des Islam s“. A uthentizität, A nerkennung, E ntw ick­
lung? M ainz 2006.
22 B ryan S. Turner: Islam, C apitalism and the W eber Theses. In: The British Jo urnal of Socio­
logy 25 (1974) 2, S. 230-243.
23 Vgl. M arietta [Tigranovna] Stepaniants: The Impact of the Protestant Paradigm . In: dies.:
Introduction to Eastern Thought. H g. v. Jam es Behuniak. W alnut C reek, Lanham 2002,
S. 90-96, hier: S. 91; vgl. N orm an J. G irardot: The Victorian text of C hinese religion: w ith
special reference to the protestant paradigm of Jam es E egge’s R eligions of C hina. In: C ahiers
d’E xtrem e-A sie 12 (2001), S. 23-57. Zur W 'irkung des „protestantischen P aradigm as“ auf
Bakhtin schreibt C harles Lock: „,R eligio n “ or ,th eo lo gy“ are terms that w ithin a Protestant
paradigm - to speak h isto rically and conceptually, rather than of essences - invoke the cate­
gories of ethics (behavior) and belief (intellectual conviction).“ Siehe C harles Lock: Bakhtin
and the tropes of O rthodoxy. In: Susan A. Felch/Paul J. C ontino (Hg-): Bakhtin and religion.
A feeling for faith. Evanston, 111. 2001, S. 97-120, hier: S. 100. A ußerdem Ju an R icardo Cole:
C om paring M uslim societies. Knowledge and the state in a w orld civilization. Ann A rbor
1992, S. 199ff. („The Protestant P aradigm “).
144
R ein h a rd Sch ulze
protestantischen Typus setzte,24 verdeutlichte nur, dass Webers Kernaussagen
zum Islam (islamischer Typ religiöser Ethik, Weltbeherrschung als Welteroberun­
gen und Weltanpassung, islamischer Typ politischer Herrschaft, orientalischer
„Feudalismus“, orientalische Stadt und Anarchie in derselben, islamischer Typ des
Rechts, Theokratie, Patrimonialismus und Kadi-Justiz, Zentralismus und die Be­
ziehung zwischen diesen Ordnungen und der sozialen Integration) unhaltbar
seien.25 Letzten Endes blieb von Webers Sicht der Dinge nicht viel übrig, lediglich
Webers Deutungskategorie ,Patrim onialismus1 hatte Bestand. Dies aber bedeutete
zugleich, dem Protestantismus im Islam eine Tür zu öffnen. Denn wenn Webers
Negation nicht stimme, dann könnte der Islam durchaus im Sinne einer p ro tes­
tantischen Ethik“-These gelesen werden. Der H istoriker Syed Anwar Husain
(Dhaka, Bangla Desh) rehabilitierte den Islam gerade dadurch, dass er betonte, er
erfülle das protestantische Paradigma der Moderne.26
Die Zurückweisung von Webers negativer Vermessung des Islam am protestan­
tischen Paradigma verfolgte im plizit das Ziel, den Islam funktional dem Protes­
tantismus gleichzustellen. Anders ausgedrückt: Webers Soziologie konnte auf den
Islam bezogen werden, ohne dessen Deutung des Islam übernehmen zu müssen.27
M it der Rückbindung der Weber-These an den Calvinismus konnte zugleich eine
innerislamische Differenzierung vorgenommen werden, die es erlaubte, einen
„islamischen Puritanismus“ dem Calvinismus gleichzustellen. Für Clifford Geertz
gewann so die „,Muslim Puritans1 thesis“ an Plausibilität.28 Sukidi M ulyadi, des­
sen Beitrag Geertz hier kommentierte, erachtete gerade in dem emanzipatorischen
Charakter der Weber-These zum Protestantismus eine Möglichkeit, eine liberale
islamische Theologie auszuformulieren. M it seiner H istorisierung des „protestan­
tischen Islam“,29 dessen Genealogie er - wie viele andere auch - auf den persischen
Journalisten Jamal ad-Din al-Afghani (gest. 1897) zurückführt, verhalf er dem
Protestantismus zu einer islamischen Heimat.
Die protestantische Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hatte so
einen Begriff generiert, der Emanzipationsansprüche in anderen Religionen kenn­
zeichnen konnte. Die Differenz von Kulturprotestantismus und liberaler Theolo­
24 Ira M. Lapidus, N ehem ia Levtzion, R ichard M. Eaton, Peter H ardy, R udolf Peters, B ar­
bara D. M etcalf, Francis R obinson, Patricia C rone, M ichael C ook und S. N. Eisenstadt.
25 W olfgang Schluchter (Hg-): M ax W ebers Sicht des Islams. Interpretation und K ritik.
Frankfurt am M ain 1987.
26 Syed A n w ar H usain: M ax W ebers Sociology of Islam. A C ritique: http://www.
bangladeshsociology.org/M ax% 20W eber-A nw ar% 20H osain.htm # „ftnl (letzter Z ugriff am
8. 10. 2009).
27 So z .B . M. R. N afissi: R econcevoir l’orientalism e: W eber et l ’Islam: M ax Weber. In: La
Pensee 314 (1998), S. 25-38.
2S Sukidi [M u lyad i]: M ax W eber’s R em arks on Islam: The Protestant Ethic am ong M uslim
Puritans. In: Islam and C h ristian -M uslim R elations 17 (2006) 2, S. 195-205, hier: S. 195. S u ­
kidi gehört zum indonesischen Liberal Islam N etw o rk (Jaringan Islam Liberal, JIL ), das U lil
Abshar A bdalla 2001 in Jak arta ins Leben gerufen hat.
29 Sukidi [M u lyad i]: The Traveling Idea of Islamic Protestantism : A Study of Iranian L u ­
thers. In: Islam and C h ristian -M uslim R elations 16 (2005) 4, S. 401-412.
Islam und J u d e n tu m im A n ge sich t der P ro testantisierun g
145
gie wurde faktisch aufgehoben, indem der „protestantische Islam" mit einem
„Kulturislam“ und einem „liberalen Islam“ gleichgesetzt wurde. Die „liberale
K ultur“ wurde zur Wegmarke einer innerislamischen Emanzipation.30 Die Ä qui­
valenz von Protestantismus und Islam ermöglichte es zudem, die Differenz von
Christentum und Islam zu bewahren. Der „protestantische Islam“ oder seltener
„der islamische Protestantismus“ (arabisch meist in dieser Form: al-protestantiya
al-islamiya) bedeutete also in der Selbstsicht seiner Protagonisten nicht die C hris­
tianisierung des Islam, sondern die Deutung des Islam als Protestantismus jenseits
des Christentums. In diesem Sinne entfaltete der Protestantismus im Islam eine
positive, als emanzipatorisch erachtete Ursprünglichkeit;-51 zugleich aber diente
der Begriff auch der innerislamischen Polemik gegen Fundamentalisten32 oder
dem Tadeln von islamischen „Quietisten“ aus der Sicht radikaler Islamisten. In je­
dem Fall aber wurde der Islam auf ein universalisiertes „protestantisches Prinzip“
bezogen.
Der so universalisierte, entchristlichte Protestantismus konnte sogar dazu die­
nen, das Schema der Differenz zu bewahren und das Religionsmodell an die
christliche Tradition zurückzubinden. Der protestantische Soziologe Friedrich H.
Tenbruck betonte:
„Der Begriff ,R eligio n ' [ist] der ausschließliche Besitz der europäischen Z ivilisation gewesen
[ ...] und [ist es] w eitgehend noch heute [...]. W ohl haben alle V ölker ihre eigenen Vorstellun­
gen von G öttern und M ächten besessen, in den H ochkulturen darüber auch intensiv nachge­
dacht. Doch w eder die Griechen noch andere antike K ulturen besaßen ein W ort für ,R eli­
gion“, noch haben sonst außereuropäische Kulturen einen solchen Begriff gekannt, den sie
erst jüngst von Europa übernom m en haben.“33
30 So schon Leonard Binder: Islam ic liberalism . A critique of developm ent ideologies. C h i­
cago, London 1988.
31 Zu den bekanntesten Verfechtern eines „islam ischen P rotestantism us“ zählen der iran i­
sche H isto riker S ayyed H ashem A ghajari, der 2002 w egen A postasie zum Tode verurteilt,
dann aber zu einer G efängnisstrafe begnadigt w urde, der Ä gyp ter ‘U m ar Khalid, der schiitische Theologe D h iyal-M u saw i (Bahrain) und der syrische L iteraturw issenschaftler Bassam
Tahhan (Paris). Im plizit auf den Protestantism us verw eisen die vielen islam ischen Intellektu­
ellen, die heute eine „islam ische R eform ation“ fordern, siehe M ichaelle Brow ers/Charles
Kurzm an (H g.): A n Islam ic reform ation? O xford 2004, S. 4 f.
32 Barbara A llen Roberson (H g.): Shaping the current Islam ic reform ation. London 2003;
W ilfrid R eid C lem ent: Reform ing the prophet. The quest for the Islam ic reform ation. To­
ronto 2002; Abu Zayd/N asr H am id: Reform ation of Islam ic thought: a critical historical
analysis. Am sterdam 2006. Einen kurzen Ü berblick bietet: C harles M acD aniel: C ontem pla­
ting Protestant Islam: A L ook at Islam ic Reform M ovements through the Lens of SixteenthC en tu ry C hristian ity, C E SN U R 2004 International C onference: R eligious M ovem ents,
C onflict, And D em ocracy: International Perspectives, Ju ne 17-20, 2004 - B aylor U niversity,
Waco, Texas: http://www.cesnur.org/2004/waco_mcdaniel.htm (letzter Zugriff am 10. 9.
2009).
33 Friedrich H. Tenbruck: Die R eligion im M aelstrom der Reflexion. In: Jö rg Bergmann/
Alois Hahn/Thomas Luckm ann (H g.): R eligion und Kultur. Sonderheft der K ölner Z eit­
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie. O pladen 1993, S. 31-67, hier: S. 37.
146
R ein h a rd Sch ulze
Diese bekannte Passage wurde von Wolfgang Stegemann zum Anlass genommen,
den Religionsbegriff vom Islam zu trennen.34 Die Tenbrucksche Interpretation
wurde von Joachim Matthes rezipiert, der eine „versteckte kulturelle Christiani­
sierung der Religionen“ behauptete, die zur Korruption des ursprünglichen Ge­
halts der anderen Religionen beigetragen habe.35 Die Christianisierung habe die
grundsätzliche Andersartigkeit des Anderen zunichte gemacht. Diese Sichtweise
wurde von dem malaysischen islamischen Vordenker Syed Farid Alatas übernom­
men, der Matthes folgend betonte: „The allegedly universal concept,,religion“, is
defined in particularistic, that is, Christian terms. The result is the construction of
Islam in terms of Christian categories and concepts.“ Dies nannte er Syed Hussein
Alatas36 zitierend „conceptual deflation“.37 Die hier versteckte „Theorie der A n­
dersartigkeit“ behauptet also eine Individualität des Islam und implizit auch des
Judentums, obwohl beide Traditionen durch die Religionsgeschichte der Neuzeit
zu Religionen im protestantischen Sinne eingefasst worden sind.38 Allerdings
bleibt ein normativer Gehalt von ,Religion“ auch bei Stegemann bestehen, indem
er gerade den „modernen Diskurs über Religion“ als christlich bestimmt und gar
das Christentum zur ,„Religion“ avant la lettre“ macht. Das frühe paulinische
Christentum ist also der Maßstab dessen, was als Religion bezeichnet werden
könne. Indem das Christentum durch den Religionsbegriff privilegiert wird,
scheidet es gleichzeitig andere de facto als Religion verfasste Traditionen aus. Da
aber zugleich Christentum als Religion und Protestantismus als Deutungspara­
digma differenziert wurden, konnten auch muslimische Denker eine Autonomie
des Islam behaupten, indem sie ihn protestantisch fassten.
Während die Reintegration des Religionsbegriffs in die christliche Geschichte
vollzogen w ird,39 während also wie Talal Asad betont, der Religionsbegriff als
34 W olfgang Stegem ann: Die E rfindung der R eligion durch das C hristentum : http://www.
augustana.de/new sletter/N um m er3/stegem annerfindungreligion.pdf (letzter Z ugriff am
10. 9. 2009).
35 Stegem ann zitiert positiv Joachim M atthes: Was ist anders an anderen R eligionen? A nm er­
kungen zu r zentristischen O rganisation religionssoziologischen Denkens. In: Bergmann/
H ahn/Luckm ann (H g.): R eligion und K ultur (w ie Anm . 33), S. 16-30. Tenbruck und
M atthes w erden w ieder positiv aufgegriffen in: Volkhard Krech: W issenschaft und R eligion.
Studien zur G eschichte der R eligionsforschung in D eutschland 1871 bis 1933. Tübingen
2002, S. 9 f.
36 Syed H ussein A latas: Problems of defining religion. In: International Social Science Jo u r­
nal 29 (1977) 2, S. 213-234, hier: S. 229. Syed H ussein A latas (1928-2007) ist der ältere Bruder
von Syed M uham m ad al A ttas (geb. 1931). Dessen Sohn Syed Farid A latas ist L eiter des
Fachbereichs für M alaiische Studien sow ie A ssociate Professor am Fachbereich Soziologie
der N ational U n iversity of Singapore.
37 Syed Farid A latas: C ontem porary M uslim Revival: The Case of „Protestant“ Islam. In:
M uslim W orld 97 (2007), S. 508-520, hier: S. 516.
38 Tilm an N agel: Die E benbürtigkeit des Frem den - U ber die Aufgaben arabistischer Lehre
und Forschung in der G egenw art. In: Z eitschrift der D eutschen M orgenländischen G esell­
schaft 148 (1998), S. 367-378.
39 H ierzu allgem ein Jö rg D ie rk e n :,R eligio n “ als Them a E vangelischer Theologie. Zur relig i­
onstheoretischen Bedeutung einer konfessionellen D isziplin. In: N eue Zeitschrift für Syste-
Islam un d J u d e n t u m im A n ge sich t d er P ro testantisie run g
147
„zentrale“ Kategorie der „westlichen Geschichte“ anzusehen sei,40 während also
„Religion“ wieder partikularisiert und in Konfessionen aufgelöst wird, bleibt mit
dem Protestantismus ein universelles normatives Paradigma bestehen, das diese
Partikularisierung selbst sogar fordert. Die Versuche, durch die Kulturalisierung
des Religionsbegriffs andere Traditionen dessen normativer Kraft zu entziehen,
sind so wieder das Ergebnis eines „authorizing discourse“ (Asad). Hier spiegelt
sich auch das protestantische Programm für eine Überwindung der Religion
durch eine Theologie des Glaubens (Karl Barth, Rudolf Bultmann, radikalisiert
bei Dietrich Bonhoeffer, revidiert bei Gerhard Ebeling, dann Ernst Jüngel, Wolfhart Pannenberg,41 Jürgen Moltmann u.a.),42 die von Wilfred Cantwell Smith in
die islamische Traditionsgeschichte eingeschrieben wurde. Ganz im Sinne von von
Harnack und Tillich verschob der Presbyterianer Smith den semantischen Gehalt
des koranischen Begriffs irnan von belief (im Sinne eines Glaubens an ein be­
stimmtes Dogma) auf faith (im Sinne eines autonomen Glaubens).43 Die radikale
Differenzierung zwischen historischem Glaubenssystem und personalisiertem
individuellen Glauben entsprach deutlich dem protestantischen Paradigma des
19. Jahrhunderts.
Diese Differenzierung war schon in der pietistisch motivierten Übernahme des
Begriffs „Protestantismus“ u. a. durch Herder angelegt, aber gewiss erst im frühen
19. Jahrhundert so formuliert, dass Protestantismus zur Kennzeichnung einer
„Autonomie des Geists“ und geradewegs als „Prinzip der Autonomie“ (Ferdi­
nand Christian Baur) angesehen wurde.44 Religion und damit auch konkrete als
Religion gefasste Traditionen einschließlich des Christentums wurden als Heteronomie oder gar als Theonomie aufgefasst, wobei allein dem Christentum das Pri­
vileg zukomme, den Übergang von Heteronomie zu Autonomie selbst bedingt zu
haben. Wenn also der Religionsbegriff in dem Sinne dekonstruiert wurde, dass er
auf die Genealogie christlicher Traditionen beschränkt wird, dann erfüllt sich der
protestantische Telos in doppelter Hinsicht: Zum einen wird die protestantische
matische Theologie und R eligionsphilosophie 43 (2001) 2, S. 253-264; ders.: Zwischen Innen
und A ussen, Relativem und A bsolutem . D im ensionen des R eligionsbegriffs. In: K erygm a
und Dogma 49 (2003) 3, S. 180-209.
40 Talal Asad: G enealogies of Religion. D iscipline and Reasons of Pow er in C hristian ity and
Islam. Baltim ore 1993; ders.: Form ations of the Secular: C hristian ity, Islam, M odernity. Stan­
ford 2003.
41 H orst Seidl: M ensch, R eligion und O ffenbarung bei W olfhart Pannenberg. In: A lbrecht
Graf von Brandenstein-Zeppelin/Alm a von Stockhausen (ITg.): Luther und die Folgen für
die G eistes- und N aturw issenschaften. W cilheim -Bierbronnen 2001, S. 203-227.
42 D orin Oancea: C hristsein, R eligion und R eligionen - Eine U ntersuchung im Zusam m en­
hang von D ietrich Bonhoeffers K ritik am Religionsbegriff. In: Spannweite. Theologische
Forschung und kirchliches W irken (Festgabe für Flans K lein). LIg. v. C hristoph Klein u.a.
Bukarest 2005, S. 265-287.
43 W ilfred C antw ell Sm ith: The M eaning and End of R eligion. M inneapolis 1981; ders.: On
understanding Islam. The Flague 1981.
44 Jö rg Lauster: Prinzip und M ethode. Die Transform ation des protestantischen Schriftprin­
zips durch die historische K ritik von Schleierm acher bis zu r G egenw art. Tübingen 2004,
S. 177 ff.
148
R ein h a r d Sch ulze
Bestimmung einer „Autonomie des Glaubens“ Maß aller Dinge, zum anderen
wird dieses Maß wieder in den Telos des Protestantismus zurückgebunden. Mit
anderen Worten: Die Behauptung, Judentum, Islam und andere Traditionen kenn­
ten keinen Religionsbegriff und jede Interpretation dieser Traditionen als Religion
wäre ein Akt kultureller Hegemonie, ist selbst wieder Teil des protestantischen
Paradigmas. Trotz dieser Aporie beklagte Frits Staal weiter diesen „christlich-pro­
testantischen Ethnozentrismus“:
„I found that the most serio usly m isleading m istakes in the stud y of the so-called religions of
India have been made b y scholars who adhered to the idea that the C hristian, especially Pro­
testant, idea of religion is un iversally valid. That p rejudice is not confined to m issionaries; it
is part of E uro-A m erican civilization and modern cultu re.“45
Staal folgerte: „ [...] religion does not seem to constitute a meaningful, let alone a
universal category that may be studied profitably by itself [. ,.].“46 Der Skepti­
zismus von Staal wurde von vielen geteilt,47 und Frank J. Lechner gibt ihnen
zum Teil Recht. Einerseits sei zu akzeptieren, dass „religion is no universal cate­
gory, it has no universal core“. Andererseits gibt er aber zu bedenken, dass die
Globalisierung eine Vereinheitlichung „religiöser Antworten“ provoziere, w es­
halb „religion is becoming a universal, in the sense of globally meaningful and
applicable, category“.48 Andere, wie Carl W. Ernst, erachteten die Dekonstruktion des Religionsbegriffs und seine Entlarvung als protestantisches Programm
nur für historische Forschungen etwa zur Missionsgeschichte sinnvoll. Für eine
Religionsanalyse hingegen sei diese Dekonstruktion m angelhaft49 Tatsächlich
spielte historisch gesehen das protestantische Paradigma in der M issionsge­
schichte eine große Rolle. Allerdings war dieses Paradigma im frühen 19. Jahr­
hundert, als die Missionsbewegung an Schub gewann, noch keineswegs voll aus­
gearbeitet. Dominant war die Betonung der Moral als Kernelement einer „guten
R eligion“50 oder die Semantisierung des Begriffs ,Glauben' als personalisiertes
inneres Erleben.51
45 Frits Staal: There is no religion there. In: Jo n R. Stone (H g.): The C raft of Religious Stu­
dies. Basingstoke, N ew York 22000, S. 52-75, hier: S. 67.
46 Ebd., S. 75.
47 Vgl. z.B . Benson Saler: C onceptualizing R eligion. Im m anent A nthropologists, Transcen­
dent N atives, and U nbounded C ategories. N ew York 2000.
48 Frank J. Lechner: D efining Religion: A Pluralistic A pproach for the G lobal Age. D raft
prepared for presentation at the Society for the Scientific Study of R eligion meeting. EIouston, O ctober 2000.
49 C arl W. Ernst: Situating Sufism and Yoga. In: Jo urn al of the R o yal A siatic Society, Series 3,
15 (2005) 1, S. 15-43.
50 W illiam W ard: View of the H istory, L iterature, and R eligion of The Flindoos: Including a
m inute D escription of their M anners and C ustom s and Translations from their Principal
W orks. In Two Volumes. Vol. I. London 1817, S. X X X IIIf.; Sharada Sugirtharajah: Im agi­
ning hinduism : A postcolonial perspective. London 2003, zu W ard S. 74-89.
51 Joseph W olff: Reise des M issionars Joseph W olff durch K leinasien, Turkestan, Bokhara,
Afghanistan, C abul und C ashtnire nach dem nördlichen und südlichen Indien in den Jahren
1831-1834. In: M agazin für die neueste Geschichte der evangelischen M issions- und BibelG esellschaften (1837), S. 571-738, hier: S. 618.
Islam u n d J u d e n tu m im A n ge sich t d er P ro testantisierun g
14 9
Der „harte Kern“ des protestantischen Paradigmas als onomasiologisches M us­
ter für gleichgestellte Traditionen52 umfasst konventionell drei Bereiche: (1) die
Definition von Glaube als ein verinnerlichtes Erleben von voraussetzungsloser
Gewissheit, (2) eine Umdeutung „statutarischer Gesetze" zu einer praktischen
Ethik und (3) eine Trennung von Glauben und Geschichte, indem der Traditions­
bestand radikal historisiert und der Glaube von historischer Kritik befreit
w urde.53
II. Verinnerlichung
Das Syntagma „Verinnerlichung des Glaubens“ ist selbst eine hermeneutische Ka­
tegorie, mit der sich die protestantische Tradition seit etwa 1820 ihre als Pietismus
gedeutete Geschichte aneignete. Der Pietist M ärklin, Freund und Verteidiger von
David Friedrich Strauß, stellte schon 1839 fest:
„Der Pietism us w ill auch das C hristenthum nicht als einen bloßen C om plex von Lehren be­
trachten, sondern es soll eine Bestim m theit des innern Lebens w erden, oder w enn w ir es
gleich theologisch ausdrücken w ollen, er macht die Forderung, w ir sollen nicht blos einen
C hristus für uns, sondern auch in uns haben; und darum sind ihm auch die eigentlich soteriologischen L ehrsätze das W ichtigste, darum w ird auch unter seinen A nhängern so viel von
inneren Erfahrungen, von geistlichen Anfechtungen und dergleichen geredet, was alles ein
Produkt jenes Strebens nach Verinnerlichung des G laubens-Inhaltes ist.“54
Zugleich vertrat das Syntagma auch den Telos des Protestantismus. So bemerkte
der Basler H istoriker Johann Heinrich Geizer 1863:
„Aber diese V erinnerlichung des G laubens sow ohl für das Leben (in w elcher H insicht schon
früher der Pietism us das Seinige gethan hat) als für die w issenschaftliche Erkenntniß ist nur
die eine Seite der A ufgabe; die A rbeit, deren Vollendung dem evangelischen C hristenthum
unserer Tage obliegt, geht ebenso sehr in die Breite als in die Tiefe. A us dem Streben, den
Inhalt meines G laubens zu m einem vollen geistigen Eigenthum zu machen, ihn zur vollen
D urchsichtigkeit für m ein inneres A uge zu verarbeiten, fließt von selbst das w eitere ab, ihn
auch mit meinem sonstigen W eltbew ußtsein in E inklang zu setzen.“55
52 Peter L. Berger: The heretical im perative: C ontem porary possibilities of religious affirm a­
tion. Garden C ity, N.Y. 1979, S. 57. W ie stark das protestantische Paradigm a bei Berger am
W erk ist, zeigt M ichael D ellw ing: Die entprivatisierte R eligion. R eligionszugehörigkeit jen ­
seits der W ahl? W iesbaden 2007, S. 58-63. A ußerdem G eorge A rm strong K elly: Faith, F ree­
dom and D isenchantm ent: Politics and the Am erican R eligious C onsciousness. In: Daedalus
111 (1982) 1 ,S . 127-148, hier: S. 128.
33 Dies bestim m te auch die Trennung von Glauben und D ogm a, die D avid Friedrich Strauss
in seiner bekannten Form el „Die w ahre K ritik des Dogmas ist seine G eschichte“ ausdrückte;
D avid Friedrich Strauss: D ie christliche G laubenslehre, in ihrer geschichtlichen E ntw icklung
und im Kampf m it der m odernen W issenschaft dargestellt, Bd. 1. Tübingen, Stuttgart 1840,
S. 71.
54 C hristian M ärklin: D arstellung und K ritik des m odernen Pietism us. Ein w issenschaft­
licher Versuch. Stuttgart 1839, S. 16 f.
55 Johann H einrich G eizer: P o litik und C hristenthum in D eutschland, In: Protestantische
M onatsblätter für innere Zeitgeschichte 21 (1863), S. 217-249, hier: S. 243.
150
R einh ard Sch ulze
Zudem diente diese Begriffskombination der Situierung eines theosophischen Pro­
testantismus, als dessen Ahne immer wieder Schleiermacher angeführt wurde,36
wie auch seiner Ethisierung, die Gustav von Schmoller wie folgt zuspitzte: „Die
Verinnerlichung der Religion durch den Protestantismus steigerte sich in ihrem
Extrem zu einem mystischen Rigorismus, der den Eigenwillen und die Eigenexis­
tenz des Individuums gegenüber dem Aufgehen in einer transcendental A llge­
meinheit einfach negirte.“57
Das Buch von Friedrich Schleiermacher „Uber die Religion: Reden an die Ge­
bildeten unter ihren Verächtern“, das 1799 erstmals veröffentlicht wurde, stellt be­
kanntlich den Abschluss innerprotestantischer Diskussionen über den Stellenwert
rationaler Urteilsfindungen über das Religiöse dar. M it seiner Forderung, den
Amts- oder Kirchglauben in „reinere Begriffe der Religion“ zu transformieren,
pointierte er einen zweiten Wandel in der Semantik der Kategorie „Religion“. A n­
gekündigt war dieser Wandel schon in Schriften protestantischer Puritaner und
Pietisten wie Philipp Goodwin, Pierre Poiret und vor allem Johann Salomo Seni­
ler. Alle drei hatten danach getrachtet, durch einen Differenzierungsprozess des
Begriffs „Religion“ Glauben auf eine gemeinschaftsbezogene subjektive Erfah­
rungskategorie z,u beschränken. Die drei genannten Autoren identifizierten aber
jeweils unterschiedliche Differenzkriterien. Goodwin semantisierte das alte Kon­
zept der religio domestica neu,58 Poiret definierte als M ystizist eine religio interna,
und Semler schließlich erkannte eine religio privata als eine positive, gegen die
Amtsreligion gerichtete Kategorie.59 Gemein war ihnen der Versuch, Religion von
der Amtslehre religiöser Institutionen radikal zu trennen, die nun ihrerseits w ie­
der als religio publica beschrieben und damit in der Tradition der religio der römi­
schen res publica gestellt wurde.
Damit radikalisierten sie konzeptionell den Übergang des Geltungsanspruchs
des Religiösen aus der sichtbaren Welt des Kultgeschehens und der normativen
Institutionen und ihres „gesatzten Rechts“ in einen internalisierten und spiritualisierten Glauben. N atürlich ergab sich hieraus keine einheitliche Religionsdefini­
tion. So kollidierte Schleiermachers eher romantische Sicht weiterhin mit dem
theologischen Rationalitätsanspruch, den zum Beispiel die Supranaturalisten er­
hoben hatten. Dennoch zeigte sich, dass die Aufklärungstheologie einen Religi­
onsbegriff freigesetzt hatte, der das Individuelle und das Absolute synthetisierte.
In dieser Synthese würde ein Glauben bestimmbar, der in Opposition zur institu­
tionalisierten Dogmatik trat.60
56 Friedrich v. O sten-Sacken: E inleitung. In: Franz von B aad ers säm m tliche W erke, Bd. 12/
2. H g. von Franz Hoffmann. L eipzig 1860, S. 13.
57 Gustav von Schm oller: D ie nationalökonom ischen A nsichten in D eutschland w ährend
der R eform ation. In: Z eitschrift für die gesammte Staatsw issenschaft 16 (1860), S. 692.
58 G oodw in, Philip (gest. 1699): R eligio dom estica rediviva: or, F am ily-religion revived [...].
London 1655.
59 Johann Salom o Sem ler: Ob der G eist des W iderchrists unser Z eitalter auszeichne? In freim üthigen Briefen zu r E rleichterung der P rivatreligion der C hristen beantw ortet. H alle 1784.
60 H erm an N ohl (Flg.): H egels theologische Jugendschriften nach den H andschriften der
kgl. B ibliothek Berlin. Tübingen 1907, S. 48.
Islam und J u d e n tu m im A n ge sich t d er P ro testantisierun g
151
Dieser wohlbekannte Prozess cler Verinnerlichung und Entsinnlichung des
Glaubens wurde im 19. Jahrhundert zu einer Standardinterpretation ties Religiö­
sen überhaupt.61 M it diesem Konzept konnte „wahre Religiosität“ erfasst (als Bei­
spiel sei nur der Göttinger Alttestamentler Bernhard Duhm genannt, der Glauben
als Inbegriff der Verinnerlichung der Religion definierte, als „ein Gefühl für das,
was den Sinnen unzugänglich ist“62) und sogar das es eigentlich tragende C hris­
tentum aufgehoben werden.63
Damit war eine positive Norm „guter Religion“ geschaffen, die alsbald in an­
dere Religionsgeschichten übertragen wurde. Im M ittelpunkt stand meist die Ka­
tegorie „Verinnerlichung“, die vor allem in den als mystisch erachteten Tradi­
tionsteilen wiedererkannt wurde. Bertold Spuler zum Beispiel charakterisierte die
islamische M ystik von Abu Hamid al-G hazzali (gest. 1111) explizit als „Verinner­
lichung der R eligion“, die sich gegen die „Alt-O rthodoxie“ durchgesetzt habe
und schließlich allgemein rezipiert worden sei.64 Analog stellte Johann M aier für
das Judentum fest: „Die dcbequt wird im Chasidismus im Anschluss an die Müs^r-Tradition des Judentums, die stets auf ,Verinnerlichung' drang, zum eigentli­
chen Um und A uf der Frömmigkeit. Sie wird nicht mehr im kabbalistischen Sinne
als Verbindung mit Sefirot-Manifestationen ( Tif’ärät und Malküt), sondern als
Verbindung von Seele und immanenter Gottheit verstanden.“65
Als Universalie festgeschrieben konnte die Verinnerlichung selbst enthistorisiert werden. Für Ernst Troeltsch zeigte sich in der Verinnerlichung der Religion
gar ein Prozess des Durchbrechens der Konfessionen,66 und von Plarnack hatte
61 Im 19. Jah rh un dert oft gefasst als „Verinnerlichung des M enschen durch das C hristen ­
tum “, z.B . [Friedrich] W ilhelm Baur: Art. Gesangbuch. In: K arl A do lf Schmid u.a. (Flg.):
E ncyklopädie des gesam ten Erziehungs- und U nterrichtsw esens, Bd. 2. Gotha 1860, S. 770775, hier: S. 773.
62 Bernhard D uhm : Israels Propheten. Tübingen 1916, S. 154.
63 Friedrich W ilhelm N ietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur G enealogie der M oral
(= N ietzsches W erke, Bd. 7). Stuttgart 1921, S. 2S7-484, hier: S. 380.
64 Bertold Spuler: H ellenistisches D enken im Islam. In: ders.: G esam m elte Aufsätze. Leiden
1980, S. 21 [zuerst erschienen in: Saeculum 5 (1954) 2, S. 179-193].
65 Johann M aier: G eschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit A lexander des Großen bis
zur A ufklärung mit einem A usblick auf das 19./20. Jah rh un dert. Berlin, N ew York 1972,
S. 513, mit Verweis auf G. Scholem und J. G. Weiss.
66 Ernst Troeltsch: K ritische Gesam tausgabe. Bd. 7: Protestantisches C hristentum und K ir­
che in der N euzeit (1906/1909/1912). Hg. von Volker D rehsen in Zusam m enarbeit mit
C hristian A lbrecht. Berlin, N ew York 2004, S. 406. A ußerdem Ernst Troeltsch: Renaissance
und R eform ation (1913). In: Ernst Troeltsch: K ritische G esam tausgabe. Bd. 8: Schriften zur
Bedeutung des Protestantism us für die m oderne W elt (1906-1913). Flg. von Trutz Rendtorff
in Zusam m enarbeit m it Stefan Pautler. Berlin, N ew York 2001, S. 329-374, hier: S. 349:
„Dem gegenüber ist der Individualism us der R eform ation nur eine Verinnerlichung und Ver­
geistigung von rein objektiven, übernatürlich bindenden R ealitäten, aber in keiner Weise eine
bedingungslose religiöse A utonom ie“; D ilthey zur V erinnerlichung der Fröm m igkeit nach
dem 12. Jahrhundert: „Von da ab [seit dem 11. Jahrhundert] jedoch w irk t manches auf Bele­
bung, V erinnerlichung und individuelle G estaltung des religiös-m oralischen Seelenvor­
gangs“; W ilhelm D ilthey: G esam m elte Schriften. Bd. 2: W eltanschauung und A nalyse des
M enschen seit Renaissance und Reform ation. H g. von G eorg M isch. G öttingen 1977, S. 19.
152
R ein h a rd S ch ulze
keine Probleme, den Begriff in die Frühzeit der christlichen Religionsgeschichte
zu projizieren.67 Dabei konnte die „Verinnerlichung“ auch jenseits mystischer
Traditionen verortet werden. In einer Besprechung von Delitzschs „Bibel und Ba­
bel“, die der österreichische Rabbiner Nathan Porges (1848-1924) 1903 veröffent­
licht hatte, heißt es explizit: „Und ferner, dass auch die Propheten das Opfer nicht
als wesentlichen Bestandteil der Religion anerkennen und mehr die Verinnerli­
chung der Gotteserkenntnis nebst deren Frucht, Übung des Sittengesetzes for­
dern [.. ,].“6SA rtur Weiser erkannte einen „Kampf der Propheten um die Verin­
nerlichung der Religion gegenüber einer kultischen Fehlentwicklung“.69 Günter
Stemberger griff dies auf und meinte Max Weber70 fortschreibend, dass die Phari­
säischen Bruderschaften sowie die Kreise der Schriftgelehrten zur Zeit des Tem­
pels eine Verinnerlichung der Religion vorbereitet hätten.71 Die Verinnerlichungs­
vorschrift des Religionsbegriffs erlaubt schließlich, als Objekt der Verinnerli­
chung ganze religiöse Traditionen zu erkennen (Sufismus als „Verinnerlichung des
Islam“,72 „internalization of Jewish traditional values“ etc.). M it diesem Universa­
lismus brechend versuchten hingegen andere, die Verinnerlichung weiterhin als
Privileg des Christentums zu definieren.73
Die Zahl der Belege für die Anwendung des neuen protestantischen Standards
auf die Vermessung von nichtchristlichen Religionen ist erstaunlich hoch. N atür­
lich ist damit nicht immer explizit ein protestantischer Deutungskontext gemeint.
Vielmehr erschien das Protestantische als die ultima ratio des Religiösen. Die
schon fast heilsgeschichtliche Stellung des Protestantismus wurde auch von Ernst
Troeltsch in seiner groß angelegten Studie „Die Bedeutung des Protestantismus
für die Entstehung der modernen Welt“ von 1906/1911 behauptet.74 Auf den
67 „Die eine Linie, auf die M .Jarcion] gehört, ist dam it bezeichnet: er hat die R eligion der
Innerlichkeit bis zur äußersten K onsequenz vollendet. Er bringt einen A bschluß einer fünf­
hundertjährigen E ntw icklung in Bezug auf die V erinnerlichung der R eligio n.“ A dolf von
H arnack: M arcion: Das Evangelium vom frem den Gott. Eine M onographie zu r Geschichte
der G rundlegung der katholischen Kirche. L eip zig 21924, S. 5.
68 N athan Porges: B ibelkunde und Babelfunde. Eine kritische Besprechung von Friedrich
D elitzsch’s Babel und Bibel. L eipzig 1903, S. 33.
69 A rtu r W eiser: D ie Psalm en I. Psalm 1-60. G öttingen 101987, S. 113.
70 „Die pharisäische Praxis kam den ökonom ischen Interessen der From m en - die an ihnen
als den Vertretern ve rinne d ich ter Fröm m igkeit hingen - entgegen: namentlich die U ebernahme der K etubah-V erschreibung und anderer ehegüterrechtlicher Schutzm aßregeln
scheint ihr W erk gew esen zu sein. Der ethische R ationalism us zeigt sich in der Behandlung
der T radition.“ M ax W eber: G esam m elte A ufsätze zur R eligionssoziologie, Bd. 3. Tübingen
1988, S. 405.
71 G ünter Stem berger: D er Talmud: E inführung, Texte, E rläuterungen. M ünchen 1982, S. 10.
Dieselbe Aussage in D aniel Judah Elazar: People and P o lity: The O rganizational D ynam ics
of W orld Jew ry. D etroit 1989, S. 160.
72 Vgl. z.B . R ichard H artm ann: Das Süfitum nach al-K uschairi. G lückstadt, H am burg 1914,
S. 5; A nnem arie Schim m el: M ystische D im ensionen des Islam . A alen 1979, S. 33.
73 Berthold von Kern: Die R eligion in ihrem W esen und W erden. Berlin 1919, S. 29.
74 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantism us für die Entstehung der modernen
W elt (1906/1911). In: Ernst Troeltsch: K ritische G esam tausgabe. Bd. 8: Schriften zu r Bedeu-
Islam un d J u d e n tu m im A n ge sich t d er Pro testa n tisie run g
15 3
Punkt gebracht hat sie von Harnack in seiner Rektoratsrede von 1901: „Wer diese
Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt
alle!“75 N atürlich stimmten nicht alle frühen Religionswissenschaftler dem zu.
Der „lutheranische K atholik“ Friedrich H eiler (1892-1967) zum Beispiel griff die
Formulierung des Mythologen Max M üller (1823-1900) „Wer eine Religion
kennt, kennt keine“76 emphatisch auf.
Paul Tillich hat schließlich in seinem Essay „Die protestantische Gestaltung“
von 1930 die U niversalität protestantischer Religionsdeutung in deren einzigarti­
ger Beziehung zum Säkularismus gesehen. Protestantismus sei eine spezielle his­
torische Verkörperung von einem in allen Zeiten der Geschichte wirksamen ew i­
gen Prinzip, nämlich die beurteilende und verwandelnde Gnade Gottes. Der Pro­
testantismus habe sich der entscheidenden Frage zugewandt, nämlich wie er „den
Protest gegen sich innerhalb seiner Selbst integrieren“ kann, ohne seine eigene
Grundlage zu zerstören. Der notwendige Protest kann nicht direkt aus dem pro­
testantischen Korpus kommen, denn:
„Speaking d ialectically against one’s self can be a more refined form of speaking for one’s self.
[ ...] The Protestant protest against itself must become concrete, and it has, in fact, become
concrete in its h isto ry: it is concrete in the v ery existence of a secular w orld. [...] The fathers
of C ontinental religious socialism f ...] understood that the church w hose nature it is to be a
G estalt of grace m ay lose its true nature and that a secular group or m ovement m ay be called
to become a bearer of grace, though latently. [ ...] Protestantism bears a unique relationship to
secularism : Protestantism , by its very nature, demands a secular reality. It demands a concrete
protest against the sacred sphere and against ecclesiastical pride [...]. If Protestantism sur­
renders to secularism , it ceases to be a G estalt of grace. If it retires from secularism , it ceases
to be Protestant, nam ely, a G estalt that includes w ith in it the protest against itself.“77
Der amerikanische methodistische Theologe Arthur R oy Eckardt (1919-1998)
deutete Tillichs D ialektik von Protestantismus und Säkularismus in eine Dialektik
von Protestantismus und Judentum um. In einem Essay aus demjahre 1950 argu­
mentierte er gegen jede Form protestantischer Mission unter den Juden, da das Ju ­
dentum eine entscheidende funktionale Bedeutung für die von Tillich verfochtene
Selbstreflexivität des Judentums habe: „The function of Judaism “, so schrieb er,
„is uniquely related to the special revelation of God which appears in the HebrewChristian strand of history, although we freely grant that God’s power and grace
are at work in all religions and among all men. [...] if Protestant Christianity sur­
renders to Judaism , it ceases to be a Gestalt of divine grace manifest in Jesus
Christ. But, if Protestantism seeks to do away with Judaism , it ceases to be Protes­
tant, namely, a Gestalt that includes the religious protest against itself.“78
tung des Protestantism us für die m oderne W elt (1906-1913). H g. von Trutz R endtorff in Z u­
sam m enarbeit m it Stefan Pautler. Berlin, N ew York 2001, S. 199-316.
7:> Adolf [von] H arnack: Die A ufgabe der theologischen F akultäten und die allgem eine R eligionsgeschichte, nebst einem N achw ort (1901). In: ders.: R eden und A ufsätze, Bd. 2. Gießen
1904, S. 159-187, hier: S. 168.
76 Friedrich H eiler: Erscheinungsform und Wesen der R eligion. Stuttgart 1961, S. 16.
77 Paul Tillich: The Protestant Era. C hicago 1948, S. 213 f.
7S A. Rov Eckardt: C hristian Faith and the lew s. In: The fournal of R eligion 30 (1950) 4,
S. 235-245, hier: S. 237.
15 4
R ein h a r d Sch ulze
Eckardt nannte diese Gestalt79 „Protestant Judaism “. Er behauptete damit
nicht, dass das Judentum selbst sich protestantisch geändert hätte. Doch durch die
Integration des Judentums als Teil einer „divine economy" in den Protestantismus
würde es dem Protestantismus das Protestpotential sichern, das dieser benötige,
um Protestantismus zu sein. Protestantismus erscheint hier als religionsgeschicht­
liche Universalie, als eine Heilsaussage, die letztendlich in jeder religiösen Tradi­
tion wirksam werden könne. Die religiösen Traditionen selbst dienten nur als dia­
lektischer Kontext für die Bestimmung des Glaubens als raison d ’etre des M en­
schen.
Die diskursive Machtstellung des Protestantismus, die sich seit dem 18. Jahr­
hundert durchgesetzt hatte, bewirkte, dass jedwede Religion an dem Standard ge­
messen werden konnte, den der Protestantismus für das Religiöse festgeschrieben
hatte. Das protestantische Deutungsschema des Religiösen beruhte auf der InWert-Setzung von drei Grundannahmen:80 (1) Autonomie des Glaubens, der ganz
aus dem Gewissen gestaltet ist [so/a fide]; (2) Bestimmung des religiösen Gesetzes
als Gesamtheit eines ethischen Gebots [sola gratia}; (3) Bestimmung cies religiösen
Kanons als historisches, mythologisches Traditionsgeschehen [sola scriptura].
III. Glauben
Protestantische Religionsdeutungen beruhten so auf der Bewertung der Vorgefun­
denen Beziehung zu den drei Maßbegriffen „Innerlichkeit“, „praktische Ethik“
und „Textlichkeit“. Diese drei Parameter definierten zugleich die Anerkennung
einer Tradition oder eines Kanons als Religion überhaupt. Wurden diese Parame­
ter in Religionsdefinitionen übersetzt, so wurde oft auf das Merkmal „Textlich­
keit“ verzichtet. Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Gustav
Mensching etwa nahm nur die ersten beiden Parameter auf und bestimmte R eli­
gion als „erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln
des vom Heiligen bestimmten Menschen“.81
Die protestantische Setzung des Religiösen als Glauben konnte noch dadurch
radikalisiert werden, indem als Glaube im absoluten Sinne nur noch der fides qua
creditur anerkannt wurde, während der Glaube als partikulare Ausdrucksweise
zum fides quae creditur wurde. Dies ließ sich noch w eiter radikalisieren. Indem
79 T illich form ulierte seine D eutung des Protestantism us auch im Rahm en der M etatheorie,
die die G estaltpsychologie hervorgebracht hatte. Einer ihrer Vordenker w ar bekannterm aßen
der Ö sterreicher C hristian von Ehrenfels (1859-1932). Dessen Sohn R olf (1901-1980) w ar
1927 in Berlin zum Islam übergetreten und hat die G estalttheorie auf die islam ische Situation
übertragen.
80 Das vierte reform atorische Prinzip solus Christus blieb ein protestantisches Proprium , das
die lctztendliche D ifferenzierung zw ischen universalisiertem R eligionsbegriff und „christ­
lichem G lauben“ erm öglichte.
81 Gustav M ensching: Die Religion. Erscheinungsform en, Strukturtypen und Lebensge­
setze. Stuttgart 1959, S. 18 f.
Islam un d J u d e n t u m im A n ge sich t d er P ro testa n tisie run g
155
Religion als soziales Konkretum als historisches Traditionsgefüge definiert wurde,
wurde Glauben von Religion getrennt.
Der Erfolg des protestantischen Paradigmas zeigte sich also primär in einer
Standardisierung der Bezeichnung des Religiösen. Wie stark dieser Religionsstan­
dard auf die islamische Selbstdefinition w irkte, mögen zwei Beispiele zeigen. Der
syrische Journalist ‘Abdarrahman al-Kawakibi (gest. 1902) schrieb 1899:
„Allgem ein gesprochen bedeutet R eligion das spirituelle Erleben einer Übergrossen M acht,
die sich in den Dingen der W eit m anifestiert und die m oralische Bescheidenheit im Angesicht
dieser M acht in der Form , dass sie eng angebunden ist an die Erkenntnis der menschlichen
B edingtheit.“82
Muhammad Rashid Rida (gest. 1935), der als der intellektuelle Ahne der M uslim ­
brüder angesehen w ird, betonte:
„In jeder R eligion gibt es drei große Problem e: Vorherbestim m ung, Gnade und Gewissen.
Diese drei Begriffe haben einen religiösen C harakter, der der Seele die Ü bersetzung von der
Schw ierigkeit dieses W eges aufzeigt, sofern R eligion nur kognitiv anerkannt w ird. R eligion
ist das M ittel, das dem M enschen es erm öglicht, Gottes G egenw art zu erreichen.“83
In diesem Zitat verweist Rida explizit auf drei protestantische Konzepte: Prädes­
tination, Gnade und Gewissen. W ährend die ersten beiden Konzepte durchaus im
Kanon der islamischen Tradition gelesen werden können (qada’ wa-qadar,
rahma), ist es nur sehr schwer möglich, das Gewissen mit diesem Kanon in Bezie­
hung zu bringen. H ier teilten sich Islam und Judentum ein Problem. In beiden
Traditionen wurde das Gewissen im protestantischen Sinne wahrscheinlich erst
im 19. Jahrhundert ausformuliert. Gershon Weiler wies darauf hin, dass Gewissen
als „authoritative conscience“ keinen Platz in der Halacha gehabt habe und daher
erst säkularisiert die Bedeutung „Gewissen“ annehmen konnte.84 Der jüdische
Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz (1903-1994) bezeichnete das Gewissen
gar als eine atheistische Kategorie. Michael Wyschogrod forderte die konzeptio­
nelle Integration des Begriffs „Gewissen“ in die zeitgenössische jüdische Religi­
onsdeutung.85 Wyschogrod sah in Karl Barths Fassung des Begriffs „Gewissen“
die beste Repräsentation dessen, worauf der Begriff gerichtet ist („mit Gott w is­
sen, was Gott w eiß“). Heute ist zumindest in der islamischen Religionssprache
das Gewissen fest verankert und aus dem islamischen Sprachgebrauch nicht mehr
82 ‘A bdarrahm an al-K aw akib i: unim al-qura. In: A l-m an ar (1902), S. 172. Die hier angespro­
chene V erinnerlichung findet sich auch in K oran-Ü bersetzungen wieder. Sure 2:3 (alladbm a
yu'm inüna bi-l-gbaybi), w örtlich „diejenigen, die an das Verborgene glauben", w ird gerne
w iedergegeben als: „Es sind diejenigen, die den Iman an das Verborgene verinnerlichen“
übersetzt, z.B . A m ir Zaidan: K oran-Ü bersetzung: A t-tafsir - Eine philologisch, islam ologisch fundierte Erläuterung des Quran-Textes. O ffenbach 2000.
83 M uham m ad Rashid R ida: tarikh al-im am M uham m ad ’A bduh. In: A l-m anar 1324-1350H
[1906-1931], II, S. 388.
84 Siehe Gershon W eiler: Rights of Man and Vision of M an. In: Israel Yearbook on H um an
Rights 12 (1989), S. 157-175, hier: S. 175, Anm. 44.
83 M ichael W yschogrod: Judaism and Conscience. In: A sher Finkel/Law rence Frizzell (H g.):
Standing before God: Studies 011 P rayer and in Scripture w ith E ssays in H onor of John M.
Oesterreicher. N ew York 1981, S. 313-328.
156
R ein h a r d Sch ulze
wegzudenken.85 Der ägyptische Literat und Journalist Sayyid Qutb (1906-1966)
rückte in seinem islamischen Erstlingswerk a l- ’adala al-ijtim a’iya fi l-Islam („So­
ziale Gerechtigkeit im Islam“, verfasst 1949) das Gewissen in den M ittelpunkt
seines Versuchs, den Islam in vollkommener Harmonie mit den drei Idealen der
Französischen Revolution zu konfigurieren. Gerechtigkeit interpretierte er als
Recht und Eigenschaft eines Kollektivs, das sich durch eine kohärente moralische
Praxis ausweise. Freiheit hingegen interpretierte er als Recht und Eigenschaft des
Individuums. Die Freiheitsgrenzen werden nicht durch eine fixierte Normativität
bestimmt, sondern allein durch das Gewissen, das prinzipiell individuell ist. Indi­
viduum wie Kollektiv sind zwei absolute Größen, wobei das Kollektiv (jama’a )
keinesfalls als die Summe von Individuen begriffen werden dürfe. Vielmehr stelle
das Kollektiv einen eigenen „Körper“ dar, der eigens handelt und eigens begrenzt
ist. Islamische Norm ativität ist die Setzung moralischer Grenzen für diesen Kör­
per. Das Individuum kennt als solches keine solcher Grenzen, vielmehr unterliegt
es allein dem Glauben stiftenden Gewissen (damir ). Nach Qutb kann das Indivi­
duum ohne einen solchen Körper nicht existieren, und umgekehrt kann es keinen
solchen Körper geben, ohne dass er sich in den Individuen verwirklicht. Freiheit
und Gerechtigkeit stellen nach Qutb die Geltungsansprüche dar, die der Dualität
von Individuum und Kollektiv entsprechen. Freiheit ist somit grundsätzlich Ge­
wissensfreiheit, verstanden als autonomer und selbstreflexiver Prozess (taharrur
al-wijdan oder ad-damir).S7
Offensichtlich bereitete es Qutb kein Problem, ein Konzept, das nicht unmit­
telbar aus der islamischen Traditionsgeschichte abgeleitet werden kann, seiner Is­
lamdeutung zugrunde zu legen. M it einer gleichen Selbstverständlichkeit hatte
schon der syrisch-ägyptische Prediger und Reformer Muhammad Rashid Rida
„Gewissen“ in seine Koraninterpretation integriert und es zur raison d’etre einer
islamischen „Brüderlichkeit“ erhoben88 und an anderer Stelle den Islam als Aus­
druck einer Gewissensfreiheit (hurriyat ad-damir) bestimmt.89 Dies wiederum
findet sich schon bei dem Inder Syed Ameer Ali (1849-1928), der in seinem über­
aus breit rezipierten Werk „The Spirit of Islam“ (1891) schrieb:
„Of all the religions of the w orld that have ruled the conscience of m ankind, the Islam of
M oham m ed alone com bines both the conceptions w hich have in different ages furnished the
86 O ddbjo L eirvik: K now ing by Oneself, K nowing w ith the O ther: Al-D am ir, H um an
Conscience and C h ristian -M uslim R elations. O slo 2002 (gekürzte Fassung: H um an C on ­
science and M u slim -C h ristian Relations. M odern E gyptian T hinkers on al-D am ir. London
2006); Fatma Dasan: Das G ewissen im Islam. In: Pawel Jan D ybel (H g.): Schuld, G ewissen,
M elancholie. A kten des D eutsch-Polnischen Sym posium s. W arschau, O ktober 1997. W ar­
schau 2000, S. 113-116.
87 H eutige islam ische K ritiker werfen S ayyid Q utb hier eine N ähe zu sufisehen Traditionen
vor. Sie behaupten, dass Q utb die Individualität höher w erte als das durch das gesatzte Recht
definierte Kollektiv.
88 M uham m ad Rashid Rida: A l-ukh uw a w a-s-sadaqa. In: A l-m anar 1 (1316/1899), S. 936.
89 M uham m ad R ashid Rida: Q alil min al-haq a’iq ‘an T urkiya. In: A l-m anar 3 (1318/1900),
S. 283.
Islam u n d J u d e n t u m im A n g e sich t d er P ro testa n tisie run g
157
m ainspring of human conduct, - the consciousness of hum an dignity, so valued in the ancient
philosophies, and the sense of human sinfulness, so clear to the C hristian apologist.“90
Hierzu wieder gibt es eine Passung zu islamwissenschaftlichen Deutungen: So
wurde darauf verwiesen, dass das großangelegte Werk „The Venture of Islam“ von
Marshall S. Hodgson91 ganz aus einer Gewissenslehre der Q uäker heraus ge­
schrieben sei und dass es den Islam und seine intellektuellen Protagonisten als
Quäkertum beziehungsweise als Quäker neu erfindet.92
IV. Ethik
Neben dem Gewissen charakterisiert die praktische Ethik entscheidend den
neuen protestantischen Religionsstandard. Um eine „gute“ Religion sein zu kön­
nen, muss das, was Kant als statutarisches Gesetz beschrieben hat, in eine prakti­
sche Ethik transformiert werden. Kant hatte ja in Bezug auf das Judentum explizit
erklärt:
„Der jüdische G laube ist, seiner ursprünglichen E inrichtung nach, ein Inbegriff bloß statuta­
rischer G esetze, auf w elchem eine Staatsverfassung gegründet w ar; denn w elche moralische
Zusätze entw eder dam als schon, oder auch in der Folge ihm angehängt w orden sind, die sind
schlechterdings nicht zum Judentum , als einem solchen, gehörig. Das letztere ist eigentlich
gar keine R eligion, sondern bloß Vereinigung einer M enge M enschen, die, da sie zu einem
besondern Stamm gehörten, sich zu einem gem einen Wesen un ter bloß politischen Gesetzen,
m ithin nicht zu einer Kirche form ten; vielm ehr sollte es ein bloß w eltlicher Staat sein.“93
Der Kantianer Herrmann Cohen setzte nun alles daran, das Judentum mit Kants
Religionsverständnis zu harmonisieren. Seine Religion der Vernunft vermittelt in
erster Linie ein ethisches Verständnis von Religion. Die von ihm apostrophierte
Verinnerlichung sollte den Vorwurf Kants überwinden und das Judentum in eine
Religion transformieren. Cohens religionsphilosophische Deutung fand auch eine
Parallele in der orthodoxen Bewertung des religiösen Kanons. Typisch hierfür ist
die Aufwertung des Buchs Genesis als Quelle für das derech erez, das nun als M o­
ral, die der Tora voranginge, definiert wurde. Samson Raphael Hirsch (1808-1888)
von der sogenannten Frankfurter Orthodoxie übersetzte derech erez mit „bürger­
liche Angelegenheiten“,94 und der Reformer Leopold Zunz als „bürgerliche Sitt­
90 Am eer A li: The Spirit of Islam. A H isto ry of the Evolution and Ideals of Islam. W ith a Life
of the Prophet. London 1922, S. 175 f.
91 M it dem bezeichnenden U ntertitel „conscience and h isto ry in a w orld civilizatio n “, 3 Bde.,
C hicago 1974.
92 Edmud Burke, III: C onclusion: Islamic h isto ry as w orld histo ry: M arshall G. S. H odgson
and The Venture of Islam. In: M arshall G. S. H odgson: R eth inking w orld history. Essays on
Europe, Islam , and w orld history. Flg. mit einer Einführung und einem Schluss v. Edmund
Burke, III. C am bridge 2002, S. 301-311, hier: S. 305.
93 Im m anuel Kant: Die R eligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: ders.:
W erke in zehn Bänden. H g. von W ilhelm W eischedel. Bd. 7. D arm stadt 1981, S. 789f. H er­
vorhebungen im O riginal gesperrt.
94 M atthias M orgenstern: Von F rankfurt nach Jerusalem . Isaac Breuer und die G eschichte
158
R ein h a rd Sch ulze
lichkeit“.95 Schon 1832 definierte er das Judentum einfach als Glauben und Tu­
gend.96 Und Gottlieb Klein (1852-1914) bestimmte Religion als: „Die mittels der
Vernunft erkannte und vorn Gewissen eines jeden Menschen bezeugte Norm der
Sittlichkeit. Mit einem Wort: Derech erez ist identisch mit ,natürlicher R eli­
gion“.“97
Das Gleiche galt auch für den Islam. Auch hier machte sich die Tendenz breit,
die Sunna nicht mehr als statutarisches Gesetz zu begreifen, sondern als Gesamt­
ausdruck einer praktischen Ethik. Dies konnte sogar bedeuten, wie es der 1954
hingerichtete M uslimbruder ‘Abdalqadir ‘Awda gefordert hatte, dass der juristi­
sche Diskurs (fiqh), dem die Sunna bislang zugeordnet war, gar gänzlich abzu­
schaffen sei. Dieser Prozess konnte schließlich sogar die Deutung des Korans
selbst betreffen. Der 1985 hingerichtete Führer der sudanesischen Republikani­
schen Brüder, Muhammad Mahmud Taha, erkannte im Koran zwei verschiedene
Botschaften: die Offenbarungen der mekkanischen Periode würden die Sittlich­
keit des Menschen anthropologisch bestimmen, die zweite Botschaft, die in den
medinensischen Offenbarungen zum Ausdruck käme, würde nur eine historische
Ausformulierung einer praktischen Ethik umfassen, deren normativer Wert heute
nicht mehr gelten würde.98 Es verwundert so nicht, dass der sudanisch-amerika­
nische Jurist ‘Abdallahi an-N a’im, der der wichtigste Tradent von Taha ist, diese
Deutung zur Grundlage seiner Forderung nach einer Reformation im Islam ge­
macht hat.99
V. Historische Kritik
Damit w ar auch die dritte Säule des protestantischen Religionsparadigmas ange­
sprochen, nämlich die historische Kritik. Die Übertragung der historischen Kritik
auf den Islam hatte bekanntlich schon Abraham Geiger in seiner berühmten
Schrift „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ vorgenom­
men. Dabei klassifizierte er Religionen schon ganz nach dem protestantischen
Standard:
des ,A u strittsstreits“ in der deutsch-jüdischen O rthodoxie (= Schriftenreihe w issenschaftli­
cher A bhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 52). Tübingen 1995.
95 [Leopold] Zunz [eigentlich Yom Tov Lipm an Zunz, 1794-1886]: Die gottesdienstlichen
Vorträge der Juden, historisch entw ickelt. Ein Beitrag zur A lterthum skunde und biblischen
K ritik zu r L iteratur- und R eligionsgeschichte. Berlin 1832.
96 Ebd., S. 141.
97 D er erste christliche Katechismus. Berlin 1910, S. 63, zitiert nach Stefan M eissner: Die
H eim holung des Ketzers. Studien zu r jüdischen A useinandersetzung mit Paulus. Tübingen
1996, S. 46.
98 M uham m ad M ahm ud Taha: A r-risala ath-th aniya min al-Islam . U m m D urm an 1971.
99 ’A bdallah Ahmad A n -N a’im: Toward an Islam ic reform ation: C ivil liberties, human
rights, and international law. M it einem Vorwort von John Voll. Syracuse 1990.
Islam und J u d e n tu m im A ngesich t der P ro testantisie run g
159
„Um die verschiedenartigsten Ansichten hier nach einer gew issen O rdnung aufzählen zu
können, theilen w ir sie w iederum in solche, die sich auf’s G lauben (dogm atische), in solche,
die sich aufs H andeln (sittliche und gesetzliche) und in solche, die sich auf die A uffassung des
Lebens beziehen.“ 100
Die historische K ritik führte zu einer konzeptionellen Trennung von Glauben
und Geschichte. Und sie erlaubte es, dass sie als Metatheorie religionsübergreilend wirksam werden konnte. Die frühe H istorisierung des Lebens Jesu zum Bei­
spiel stammte aus der Feder des französischen jüdischen Arztes Joseph Salvador
(1796-1873) „Jesus Christ et sa doctrine“ aus dem Jahre 1838.101 Im Vorwort zur
deutschen Ausgabe von 1841 verwies er auf David Friedrich Strauss102 und stellte
fest: „Endlich hat das Werk des Tübinger Professors eine besondere große Be­
deutsamkeit als der äußerste Ausdruck des Geistes des Protestantismus. Die Re­
formation hatte sich selbst getäuscht, als sie sich für eine rein christliche Bewe­
gung, für eine reine und einfache Rückkehr zu den evangelischen Lehren hielt.“103
Die Strausssche Reduktion von Jesus zu einer „symbolischen Idee der Mensch­
heit“ mochte Salvador nicht vollkommen nachvollziehen, wohl aber die U nter­
scheidung zwischen einer „historischen Privatperson“ Jesus und der „intellektu­
ellen Auffassung, die er darstellt“. Glaube ist hier also vollkommen enthistorisiert,
und das Privileg, diese fundamentale Unterscheidung unternommen zu haben,
entstamme nicht dem Christentum, sondern dem „unverwüstbarefn] Saft des Hebraism us104 von moralischer Energie und Schöpfungskraft“.
Diese Historisierung wird heute auch bei einigen muslimischen Gelehrten
nachvollzogen. Gemeinhin wird eine radikale H istorisierung des religiösen Texts
angestrebt, wodurch Text und Offenbarung getrennt werden. Offenbarung wird
dann in der H ermeneutik des religiösen Texts erkannt, die stets neue Bedeutungen
produziere. Weiterhin ist eine Differenzierung von Vernunft und Text gemeint,
indem nicht der Text als vernünftig erkannt, sondern die Vernunft als hermeneu­
tische Erkenntnisträgerin des Texts gefasst wird. Dies bedingt eine Trennung von
historischem Wahren und moralisch Gutem, indem der Hadith, also die Textüber­
lieferung über den usus des Propheten Muhammad, nicht nach seiner A uthentizi­
tät, sondern nach seinem moralischen Erfolg bewertet wird, indem also der Sachgehalt der einzelnen Überlieferung rationalistisch beurteilt w ird; all dies bedeutet
100 Abraham G eiger: Was hat M ohammed aus dem Judcnthum e aufgenom m en? Eine von der
Königl. Preussischen R heinuniversität gekrönte Preisschrift. Leipzig 21902, S. 60 f.
101 Joseph Salvador: Jesu s-C h rist et sa doctrine, I-II. Paris 1838.
102 O bw ohl die erste A usgabe von David Friedrich Strauss „Das Leben Je su “ im Jah r 1835
erschien, hat Salvador w'ohl erst von der dritten Auflage 1838 Kenntnis genommen.
103 Joseph Salvador: Das Leben Jesu und seine Lehre, die G eschichte der Entstehung der
christlichen Kirche, ihrer O rganisation und Fortschritte w ährend des ersten Jahrhunderts.
Erster Band. D resden 1841, S. X.
104 Ich nehme an, dass der altertüm liche Begriff „H ebraism us“ hier auf die von W ilhelm
M artin Leberecht de Wette in seinem 1813 erstm als veröffentlichten „Lehrbuch der ch ristli­
chen D ogm atik“ getroffene U nterscheidung zw ischen vorexilischer R eligion („H ebrais­
m us“) und nachexilischer R eligion („Judentum “) verw eist. H ierzu Lothar Perlitt: D eutero­
nom ium -Studien. Tübingen 1994, S. 248.
160
R ein h a rd Sch ulze
faktisch eine Trennung von Glauben und Kult, indem der Glauben nicht auf die
Kultpraxis reduziert wird. Religion ist dann nicht wahr, sondern gut. Diese Aus­
deutung ermöglicht auch, den Freiheitsbegriff theologisch in den Islam einzu­
schreiben.
VI. Religionswissenschaft
Der protestantische Deutungskontext von Islam und Judentum war unmittelbar
verbunden mit der Ausprägung einer Religionswissenschaft. Die Genealogie der
Religionswissenschaft ist oft beschrieben worden. Ihr protestantischer Kontext
scheint unbestritten.105 Für unseren Zusammenhang allein ist wichtig, dass sie
sachlich eine direkte Fortsetzung der Bestrebungen der 1840er Jahre gewesen ist,
Philologie „vergleichend“ zu fassen. Dies bedeutete, den inzwischen etablierten
Diskurs des Sprachvergleichs auf die Sachphilologie auszudehnen. Schulbildend
war hier gewiss die U niversität Leipzig gewesen, wo Friedrich Max M üller unter
anderem bei dem lutherischen Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (18011888) studiert hatte. In den 1850er Jahren vollzog M üller in Oxford den Übergang
zu einer vergleichenden M ythologie106 und erweiterte diese dann um 1870 zur
„science of religion“; hierbei griff er explizit auf die von Emile-Louis Burnouf
(1821-1907) in einer erstmals in der „Revue des Deux M ondes“ unter dem Titel
„La science de religion“ veröffentlichten Artikelserie benutzte Bezeichnung „sci­
ence of religion“ zurück.107 1872 meinte Friedrich Max M üller feststellen zu kön­
nen: „During the years that have elapsed since the delivery of my first course of
lectures, the Science of Language has had its full share of public recognition.“108
In der Tat hatte schon 1871 der Leidener Theologe und spätere Professor für Ge­
schichte und Philosophie der Religion, Cornelis Petrus Tiele (1830-1902), auf
M üllers „Science of Religion“ aufmerksam gemacht und dabei die Bezeichnung
Religionswissenschaft eingeführt.109
105 Volker Krech: W ie protestantisch w ar die ältere R eligionsw issenschaft? In: Richard Faber/Gesine Palm er (H g.): Der Protestantism us. Ideologie, Konfession oder K ultur? W ü rz­
burg 2003, S. 207-230; m ehr hierzu in: R einhard Schulze: Islam w issenschaft und R eligio ns­
wissenschaft. In: Friedrich W ilhelm Graf/Friedemann Voigt (H g.): R eligion(en) deuten.
Transform ationen der Religionsforschung (= Troeltsch-Studien N.F., Bd. 2). Berlin 2010,
S. 73-174.
106 Friedrich M ax M üller: C om parative M ythology. An Essay. H g. m it Anm erkungen von
A. Sm ythe Palmer. London 1909.
107 Emile Burnouf: La Science des R eligions. Paris ’ 1876, S. 8.
108 [Friedrich] M ax M üller: Lectures on the Science of R eligion. W ith a Paper on Buddhist
N ihilism , and a Translation of the D ham m apada or „Path O f V irtue“. New' York 1872, S. 4.
109 C ornelis Petrus Tiele: M ax M üller und Fritz Schultze über ein Problem der R eligio nsw is­
senschaft. L eipzig 1871. Sein Buch „Elements of the Science of R eligion, I—II. Edinburgh,
London 1897“ setzte die M üllersche Tradition fort. Tiele bezieht sich zudem auf das viel
zitierte W erk des D resdener N eukantianers, Pädagogen und Spencer-Ü bersetzers Fritz
Islam un d J u d e n t u m im A n ge sich t d er P ro testantisierun g
161
Der Schüler von Fleischer, Ignaz Goldziher, war nun einer der ersten, der ver­
suchte, den Islam in die neu entstehende akademische Religionswissenschaft zu
integrieren. Dies bedingte, in der aufkeimenden vergleichenden M ythenforschung
Fuß zu fassen. Anders aber als etwa Max (M aier) Grünbaum (1817-1898), der
nach seiner Rückkehr aus New York in München als Privatgelehrter lebte und
seine Studien zur vergleichenden M ythologie fast ausschließlich in der Zeitschrift
der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft veröffentlichte, trachtete G oldzi­
her nach einer akademischen Adelung der vergleichenden Mythenforschung. Das
Sachwissen, das arabischen Texten entnommen werden konnte, sollte von einem
„vergleichenden mythologischen Standpunkt“ aus geordnet werden, also jener als
„Vergleichende M ythologie“ bezeichneten Disziplin zugeordnet werden, die aka­
demisch etwa seit den frühen 1850er Jahren anerkannt w ar.110 Sie war zuvor ge­
rade in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen präsent gewesen.111 Noch
1865 beklagte der Berliner Philologe [Chajim ] Heymann Steinthal: „Während ge­
gen die vergleichende Sprachforschung sich keine Stimme mehr erhebt, wollen die
meisten unserer Philologen, und darunter vortreffliche Männer, die vergleichende
M ythenforschung noch immer nicht anerkennen.“112 Gewiss ging es ihm auch um
eine „M odernisierung“ der Philologie arabischer Texte, indem die damals um sich
greifende Mode des Vergleichs in Bezug auf den oftmals geschmähten „islami­
schen Gehalt“ dieser Texte bezogen wurde. Denn in den meisten Handbüchern
zur „vergleichenden M ythologie“ tauchte der Islam nicht auf.113 Goldzihers Zu­
griff auf die M ythologie erfolgte über hebräische Texte, wobei er betonte:
,,[E]s w ar unsere nächste A ufgabe nur die, zu zeigen, dass sich der Sem itism us im allgem ei­
nen und das H ebräische im besondern den C onsequenzen der auf psychologische und
sprachw issenschaftliche Basis gegründeten Gesetze der M ythosforschung nicht entziehen
müsse, dass sich vielm ehr eine w issenschaftliche sem itische M ytho logie psychologisch und
sprachw issenschaftlich aus dem Sem itism us heraus construiren Hesse.“ 114
Goldziher stellte sich zwar bewusst in die Tradition von Adalbert Kuhn und M ül­
ler („Der Verfasser bekennt sich in mythologischen Dingen zu der durch Ad.
Schultze (1846-1908), vgl. F ritz Schultze: D er Fetischism us. Ein B eitrag zu r A nthropologie
und Religionsgeschichte. L eipzig 1871.
110 G ewiss auch befördert durch Schellings Vorlesung „Philosophie der M ythologie Vorle­
sung“ (1842). Vorbereitet u.a. durch Karl O tfried M üller: Prolegom ena zu einer w issen­
schaftlichen M ytho logie. G öttingen 1825.
111 Vgl. z.B . Friedrich N. N ork: Vergleichende M ytho logie zum nähern Verständniss vieler
B ibelstellen. L eipzig 1836. F riedrich N . N o rk lebte 1803-1850. Zur Begriffsgeschichte siehe
A rchiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), S. 60 ff.
112 H eym ann Steinthal: N euere Schriften über vergleichende M ytho logie. In: Z eitschrift für
die österreichischen G ym nasien 16 (1865), S. 36-53, hier: S. 38. Zu Steinthal (1823-1899)
siehe H artw ig W iedebach/Annette W inkelm ann (H g.): C hajim H. Steinthal, Sprachw issen­
schaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert. Leiden 2002.
113 A nton Edmund W ollheim da Fonseca: A llgem eine vergleichende M ytho logie, Bd. 1,
Abt. 1, B erlin 1856. Anton Edmund W ollheim da Fonseca lebte 1810-1884.
114 Ignaz G oldziher: Der M ythos bei den H ebräern und seine geschichtliche E ntw ickelung.
U ntersuchungen zu r M ythologie und R eligionsw issenschaft. L eipzig 1876, S. VII.
16 2
R ein h a r d Sch ulze
Kuhn und Max M üller auf arischem Gebiete begründeten Richtung“115), doch
kritisierte er deutlich den Arianismus der „Kuhn-Müller-Schule“ und unterstrich,
dass es „zu allererst [...] der um die psychologische Vertiefung der neuesten Rich­
tung der M ythologie vielverdiente Steinthal [war], dem das Verdienst zuerkannt
werden muss, die vergleichende Mythoswissenschaft für Hebräisches fruchtbar
gemacht zu haben.“116
Diesen Arianismus sah er am deutlichsten bei Ernest Renan vertreten, den er als
Verfechter des Ausschlusses der Semiten aus der Mythengemeinschaft porträ­
tierte:
„Ein zw eiter G esichtspunkt, von w elchem man ausgegangen ist, um einem Theil des M en­
schengeschlechts die m ythosbildende F ähigkeit und Tendenz abzusprechen, ist ein ethnolo­
gischer, und als O pfer dieser A nschauung fielen entw eder die Sem iten im allgem einen oder
die H ebräer im besondern. Die A usschliessung der Sem iten vom Reiche der M ythosbildung
hat am schärfsten der geistvolle französische A kadem iker Ernst Renan betont: ,Les Semites
n ’ont jam ais eu de m yth o lo g ie'.“ 117
Tatsächlich teilte Renan hier die Meinung von Burnouf, der gerade durch die De­
finition der M ythologie eine radikale Unterscheidung zwischen Ariern und Semi­
ten vollzogen hatte. Goldzihers Versuch, den „Semiten“ eine M ythologie zuzu­
ordnen, wurde offenbar nicht besonders geschätzt, da dies, wie ein Kritiker sagte,
zu einer „Zerstörung der historischen Grundlagen der Religion“ führen w ürde.118
Das europäische Christentum, so der Konsens der „Arianer“, hätte allein das Pri­
vileg, den historischen M ythos und die rationalistische K ritik in eine fortschritt­
stiftende Symbiose gebracht zu haben.119
Wie vorsichtig die Kritiker Renans vorgingen, zeigte auch Steinthals Reaktion
auf Renans Vorwurf, dass die Juden innerhalb der semitischen Rasse eine Art Son­
derweg bei der Herausbildung des Monotheismus beschritten hätten. Steinthal
beharrt auf der Gleichheit der Juden unter den „Semiten“ und polemisierte gegen
1>s Ebd., S. VIII.
116 Ebd., S. XXII.
117 Ebd., S. 4. Renans Aussage, die er so schon 1855 form uliert hatte, steht im Kontext der
Interpretation islam ischer W ahhabiten: „De nos jours, le m ouvem ent des W ahhabis n’a-t-il
pas failli aboutir ä un nouvel islam , sans autre prestige que l ’eternelle idee de l’A rabie: sim p li­
fier D ieu, ecarter sans cesse toutes les superfetations qui tendent ä s ’ajouter ä la nudite du
culte pur? De lä ce trait caracteristique, que les Sem ites n’ont jam ais eu de m ytho logie.“ E r­
nest Renan: H istoire generale et system e com pare des langues sem itiques. Prem iere partie.
Elistoire generale des langes sem itiques. Paris 1863, S. 7.
118 Sidney H . Morse: C hips from M y Studio. In: R adical R eview (M ai 1877), S. 603-624,
hier: S. 613.
119 D ieser M ythos-V orstellung hing noch G eorge Sorel an: „EUn M ythos kann nicht w id er­
legt w erden, da er im G runde das gleiche ist, w ie die Ü berzeugungen einer Gruppe, da er der
A usdruck der Ü berzeugungen in der Sprache der B ew egung ist, und da es folglich nicht
angeht, ihn in Teile zu zerlegen.“ Z itiert nach K urt Lenk: Das Problem der D ekadenz seit
Georges Sorel. In: H eiko Kauffmann/Helmut Kellershohn/Jobst Paul (H g.): Völkische
Bande. D ekadenz und W iedergeburt - A nalysen rechter Ideologie. M ünster 2005, S. 49-65,
hier: S. 56.
Islam u n d J u d e n t u m im A n ge sich t der P ro testantisierun g
163
Renans Auffassung von einer prinzipiellen Differenz zwischen Juden und Semi­
ten.120 Goldziher hingegen betonte:
„Diese psychologische G leichartigkeit aller M enschenrassen ist von der Frage über m onoge­
netische oder polygenetische Entstehung der Rassen unabhängig. Die psychologische
G leichartigkeit der V ölkerrassen tritt besonders hervor, w enn w ir die Individuen der ein zel­
nen Rassen im kindlichen A lter betrachten und vergleichen, w o die U nterschiede noch nicht
vorhanden sind, w elche die Geschichte, w elche Erziehung und U nterricht u.s.w. begründen
Es verwundert so nicht, dass viele, die sich der vergleichenden M ythologie ver­
schrieben, aus einer jüdischen Tradition stammten. Der junge Goldziher über­
nahm nun schon die von M üller geprägte Gleichsetzung von „vergleichender M y­
thologie“ und „Religionswissenschaft“.122 Der Sache nach ging es ihm also (a) um
die Aufwertung der jüdischen Tradition, indem sie einer M ythologie zugeordnet
wurde, und (b) um die H istorisierung der Religion, indem sie einer M ythologie
zugewiesen wurde. Vergleichend zu arbeiten bedeutete für Goldziher nun auch,
den Islam mit der modernen M ythologie zu vermessen. Doch hier musste er
Grenzen ziehen, denn der Islam schien den europäischen Religionsforschern am
wenigsten mythenfähig zu sein. Die arabische Literatur erscheint bei Goldziher
als ein Steinbruch mythischen Erzählens, dem die „Predigt des epileptischen Krä­
mers von M ekka“123 vollkommen entgegengesetzt gewesen sei. Kein Wunder also,
dass Forschungen über „das vorislamische, heidnische System arabischer Theolo­
gie“ 124 und zur Philologie vorislamischer Dichtung äußerst populär w aren.125
120 Fley mann Steinthal: Z ur C harakteristik der sem itischen Völker. In: Z eitschrift für V öl­
kerpsychologie und Sprachw issenschaft 1 (1860), S. 328-345; gegen Ernest Renan: N ouvelles
considerations sur le caractere general des peuples sem itiques, et en p articulier sur leur ten­
dance au m onotheism e. Pans 1859. Renans A nti-Judaism us bezeichnete M oritz Steinschnei­
der in seiner Besprechung von Steinthals A rbeit (F lam askir 3 (1860), S. 16) bekanntlich als
„anti-sem itisch“, siehe David Joshua Engel: The C oncept of A ntisem itism in the H istorical
Scholarship of Am os Funkenstein. In: Jew ish Social Studies 6 (1999) 1, S. 111-129. A uf diese
Begriffsprägung w urde schon 1924 aufm erksam gem acht (O zar Yisrael 2 (1924), S. 130 ff., z i­
tiert nach A lex Bein: M odern A nti-Sem itism and Its Place in the F listo ry of the Jew ish Q ues­
tion. In: ders.: The Jew ish Q uestion. Biography of a W orld Problem. M adison 1990, S. 5 93622, hier: S. 593 [Ü berarbeitung von A lex Bein: D er m oderne A ntisem itism us und seine Be­
deutung für die Judenfrage. In: V ierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 340-360]).
Siehe auch Friedrich N iew öhner: R eizbare Volksseele. W arum ein Jude den Begrif f ,antisem i­
tisch“ prägte. In: Frankfurter A llgem eine Z eitung, 21. 8, 2002, Nr. 193, S. N3.
121 G oldziher: M ythos (w ie Anm . 114), S. X, Anm. 1.
122 A llerdings w ar der term inologische G ebrauch - w ie bei M ü ller - keinesw egs stabil. Theo­
logie konnte die Forschung zu r R eligion bezeichnen (sow ohl in vergleichender w ie h isto ri­
scher H insicht), Religionsw issenschaft aber auch den religionsspezifischen norm ativen D is­
kurs. In diesem Sinne sprach G oldziher von einer „islam ischen R eligionsw issenschaft“
(G oldziher: M ytho s (w ie Anm. 114), S. 98), meinte also die D iskurse, die eine islam ische
N orm ativität definierten.
123 G oldziher: M ythos (w ie Anm. 114), S. 350.
124 Ebd., S. 349.
125 Ernst O siander: Studien über die vorislam ische R eligion der Araber. In: Zeitschrift der
Deutschen M orgenländischen Gesellschaft 7 (1853), S. 463-505, bes. S. 483.
164
R ein h a r d S ch ulze
Während so die jüdische Tradition durch die M ythologie in den damaligen Ka­
non der vergleichenden Religionsforschung aufgenommen wurde, blieb dem Is­
lam, von M üller als „Wasserschoss“, also als unfruchtbarer Trieb des Christen­
tums bezeichnet, dieses Privileg vorenthalten. Er tradierte zwar „Reste arabischen
Heidentums“ 126 und war insofern für die vergleichende M ythologie relevant, aber
als Gesamttradition konnte er diesem Kanon nicht zugeordnet werden.
Das protestantische Paradigma hatte so zum einen die Normen für die Bestim­
mung von Judentum und Islam als Religion etabliert, zum anderen aber - zum in­
dest in der Verbindung mit dem Arianismus des 19. Jahrhunderts - dazu beigetra­
gen, dass beide Traditionen gleich wieder aus der Einheitlichkeit des Religiösen
ausgeschlossen wurden. Dies mag erklären, warum Judentum und Islam bis in die
1970er Jahre nicht in den Kanon der Religionswissenschaft integriert wurden.
Das bleibende Dilemma des Islamwissenschaftlers Goldziher, der sich mit dem
protestantischen Religionsparadigma identifiziert hatte, aber w ar die scheinbare
Resistenz der muslimischen Theologen und Intellektuellen, die historische Kritik
als Metatheorie zu übernehmen. Dies war praktisch ein islamischer point de resistence. Die Protestantisierung des Islam schien ein unvollendetes Projekt zu blei­
ben, solange diese Kritik nicht aufgenommen wurde. Erst mit einer w irklich ge­
lungenen historischen K ritik des Korans sei die Bedingung erfüllt, den Islam als
moderne Religion anzuerkennen. Doch auch wenn diese Aufgabe heute stellver­
tretend für die Muslime meist von Islamwissenschaftlern übernommen w ird, so
stellt doch allein schon die Standardisierung einer guten Religion durch die Praxis
dieser Kritik einen Diskursrahmen dar, dem sich nur noch wenige muslimische
Denker entziehen können. Ihnen ergeht es nicht anders als den neo-orthodoxen
jüdischen Gelehrten wie Samson Raphael Hirsch (1808-18 8 8),127 Nathan Marcus
Adler (1803-1890) und Hermann Adler (1839-1911), die den Geltungsanspruch
einer „absoluten Religion“ akzeptierten und als Konsequenz den jüdischen Kult
neu verhandeln mussten, wobei sie nicht selten lutherische Standards übernah­
men. Dies bedeutet, dass muslimische Denker heute begründen müssen, warum
der Koran keiner historischen K ritik unterzogen werde oder warum es keiner ge­
sonderten Leben-Muhammad-Forschung bedürfe. Die hieraus entwachsende Ko­
ran- oder M uhamm ad-Apologetik ist also auch ein Reflex auf die Protestantisie­
rung des Religionsverständnisses.
126 Ju liu s W ellhausen: Reste arabischen H eidentum es. Berlin 1887. W ellhausen lebte von
1844-1918.
127 Samson Raphael H irsch: Jüdische A nm erkungen zu den Bem erkungen eines Protestan­
ten ueber die Konfession der 22 Brem ischen Pastoren; von einem Juden (S. R. H irsch).
Frankfurt am M ain 1923.
Islam und J u d e n t u m im A n ge sich t der P ro testantisie run g
165
VII. Ausschluss
Heute wird der Protestantismus in folgender Hinsicht auf den Islam bezogen:
(a) als Bestimmung spezifischer islamischer Traditionen (zum Beispiel der Wahhabiya, seit etwa 1840), (b) als Bezeichnung einer Rede, die den Islam strukturgleich
mit dem Protestantismus setzt, (c) als Bezeichnung einer Parole kultureller Eman­
zipation sowie pejorativ als Kritik an Relormbestrebungen, (d) als Bezeichnung
eines historischen Prozesses im 19. Jahrhundert, die die islamische Religionsge­
schichte parallel zur Reformation im 16. Jahrhundert setzt und (e) als Benennung
des Prozesses der Säkularisierung des Islam. Protestantismus ist damit zu einem
wirkungsmächtigen Deutungsparadima für die islamische Religion geworden. Die
früher auf die altprotestantische Dogmatik der solas bezogene Islamdeutung ist
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr durch ein neuprotestantisches
Paradigma ersetzt worden, das den Islam durch die Beziehung von Kultur, Ge­
schichte, Glauben und Gewissen konfiguriert.
Mag man es bedauern oder befürworten: Wir kommen nicht an der Tatsache
vorbei, dass historisch gesehen der Protestantismus als Katalysator die Transfor­
mation religiöser Traditionen wie den Islam oder auch das Judentum nachhaltig
bestimmt hat. Insofern ist die zum Beispiel von Salman Rushdie in seinem R e fo r­
mation of Islam '-Projekt erhobene Forderung, der Islam müsse eine Reformation
erfahren, unpräzise. Die heterogene intellektuelle Landschaft in der gegenwärti­
gen islamischen Tradition zeigt, wie tief das protestantische Ideal schon einge­
schrieben ist. Was offenbar Sorgen bereitet, ist die Tatsache, class der Protestantis­
mus offenbar keine religiöse Ordnung garantiert, die den Werten einer säkularen
Welt entspricht.
Abstract
In the 19th century, discussions on religion were strongly influenced by a Protes­
tant paradigm. It defined “good religion” as a form of religious speech which de­
termines the autonomy of self-interpreting faith in contrast to the autonomy of
world-discerning rationality, defines conscience as an inner instance of faith, and
interprets religious norms not as ethnic law-making, but as a code of practical
morals, and thus exposes its own traditional standards to historical criticism in
such a w ay that the “true core” of religion transcends history as “nature”. The
Protestant paradigm had gained such discursive force that other traditions felt
compelled to reinvent themselves according to this worldview - even if opposing
it. For parts of Jew ry and Islam, this meant radical “reform”, even conformance.
This process became significant insofar as it allowed Islam and Jewdom to be­
come a public religion which was comprised of, and was standardized by, its sub­
stantiality, functionality, and symbolism. This convergence was produced by di­
rect interaction between the confessions which emerged from the context of the
Protestant mission.
Micha Brumlik
Juden, M uslim e, Konvertiten Begründer eines jüdisch-islam ischen Dialogs"
I. Vorbemerkung
Der Konflikt zwischen der jüdischen Bevölkerungsmehrheit des Staates Israel
und den in den Grenzen von 1967 lebenden Palästinensern, zunehmend auch den
israelischen Staatsbürgern arabischer Ethnizität, überlagert zu Beginn des dritten
Jahrtausends alle Gespräche zwischen Juden und Muslimen - obwohl der Islam
keineswegs der einzige Glaube ist, der im palästinensischen Volk bekannt wird.
Viele der Anschläge, denen jüdische Israeli in jüngster Zeit zum Opfer fielen, w ur­
den von einer Organisation der El Fatah, der „Aqsa Brigade“ verübt, die sich nicht
zufällig auf den Tempelberg beruft. Indem darüber hinaus die arabischen Staaten
mit ihren ganz unterschiedlichen Interessen an diesem Konflikt beteiligt sind,
spielt die Frage nach dem völkerrechtlichen Status Jerusalems, dessen Tempelberg
für den islamischen Glauben ein zentrales Heiligtum ist, eine verschärfende Rolle.
Entsprechend gibt es im Mittleren Osten - sieht man von gelegentlichen Kontak­
ten der strikt antizionistischen chassidischen Sekte „Neturej Karta“ etwa mit offi­
ziellen iranischen W ürdenträgern ab - kaum Gespräche miteinander.
In der Diaspora, zumal in den Vereinigten Staaten oder auch hier in Deutsch­
land, waren und sind es vor allem die christlichen Kirchen, die ein entsprechendes
Gespräch immer wieder unter der Devise des „Trialogs“ bzw. dem gemeinsamen
Nenner der sogenannten „abrahamitischen Religion“ in Gang zu bringen versu­
chen und sich dabei eine gern gesehene M ittlerfunktion zuschreiben. Diese zen­
trale Rolle christlicher Kirchen für das Gespräch zwischen Judentum und Islam
ist indes kein Zufall, sondern das Ergebnis einer historischen Konstellation, die
Judentum und Islam in Europa spätestens seit der Reconquista als in der Regel un­
terdrückte Minderheiten kennt, die spätestens im Zeitalter der Aufklärung eine
W iederabdruck des A rtikels „Ü berlegungen zu einem künftigen jüdisch-islam ischen D ia­
log. In: N iklas Günther/Sönke Z ankel (H g.): Abraham s Enkel. Juden, C hristen und die
Shoah (= H istorische M itteilungen im A uftrag der R anke-G esellschaft, Bd. 65). Franz Stei­
ner Verlag, Stuttgart 2006, S. 83-91. Es w urden lediglich kleinere K orrekturen und Anpassunge n vorgeno m m en.
168
M ic h a B r u m lik
gewisse Rehabilitierung erfuhren.1 Dafür steht der Name des Aufklärers Gott­
hold Ephraim Lessing. Die vermittelnde Rolle der christlichen Kirchen scheint
aus einer systematischen Konstellation zu resultieren: als vermeintliche Tochter-,
in W irklichkeit Schwesterreligion2 des rabbinischen Judentums komme dem
Christentum eine gleichsam natürliche, systematische M ittlerfunktion zu. In
Frage steht nun, ob Judentum und Islam auch unvermittelt, genauer gesagt ohne
das Christentum, miteinander ins Gespräch kommen können. Immerhin sind die
Gemeinsamkeiten gegenüber dem Christentum beträchtlich: Beide Religionen be­
kennen nicht nur einen, sondern auch einen einfältigen, gnädigen und gerechten
Gott, beide lehnen jede Abbildung Gottes ab, beide sehen als zentrale Gabe der
göttlichen Gnade an die Menschen eine praktikable Weisung zum Leben, die Tora
und den Q u r’an, beide Religionen, rabbinisches Judentum und jedenfalls islami­
sche Orthodoxie, stehen messianischen Vorstellungen bzw. einem verwirklichten
Messianismus zumindest skeptisch gegenüber, im Zentrum beider Religionen
steht - wie im Christentum - das Wort Gottes, das im Christentum Mensch, in Ju ­
dentum und Islam hingegen Buch wurde. Man könnte es bei diesen Gemeinsam­
keiten belassen und sich ansonsten auf die von M ontesquieu bis Lessing und Goe­
the3 entfaltete aufklärerische Lesart des Islam beschränken, die in diesem Glauben
eine A rt universalistische, deistische Toleranzreligion gesehen hat, was - wie alle,
die sich nur ein wenig auskennen, einräumen müssen - in dieser Schlichtheit ein­
fach falsch ist.
II. Das Bild der Juden im Q ur’an und die Frage
nach der Tora
Ich will daher im Folgenden einige kritische Fragen bezüglich der Wahrnehmung
dessen, was der Islam für das Judentum hält, stellen. In diesem Zusammenhang
werden sich auch einige neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Jerusalemfrage
ergeben, die nur auf den ersten Blick theologisch sekundär und politisch aufgela­
den wirkt.
Einen Dialog zu führen, heißt ehrlich zu sein und dem Partner auch jene Fragen
nicht zu ersparen, die unter Umständen schmerzen können - ohne diesen
Schmerz kann es jedoch keinen Fortschritt geben. Die Hauptschwierigkeit des
jüdisch-islamischen Dialoges besteht meines Erachtens darin, dass - wenn ich das
richtig verstanden habe - für den Islam der Glaube, dass der Q ur’an, der ja die
Basis aller islamischen Meinungen über das Judentum darstellt, vom ersten bis
1 K arl-Josef Kuschel: Vom Streit zum W ettstreit der Religionen. Lessing und die H erausfor­
derung des Islam. D üsseldorf 1998.
2 Shaye J. D. Cohen: D ie Anfänge des Judeseins. In: Kirche und Israel 2 (2001), S. 101-111;
D aniel B oyarin: A ls C hristen noch Juden w aren. In: Kirche und Israel 2 (2001), S. 112-129.
3 K atharina M omm sen: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt am M ain 1988.
J u d e n , M u s lim e, K onvertiten
16 9
zum letzten W ort von G ott stam m t und dam it w ahr ist. Wenn ich recht verstan­
den habe, ist diese Ü berzeugung für gläubige M uslim e ebenso zentral w ie für
C hristen der G laube daran, dass das Grab Jesu am dritten Tage leer war. Diese
P roblem atik w ar dem U rheber des Q u r’an, der das existierende Judentum und
C hristentum vorgefunden hat, von allem A nfang bew usst. So heißt es in der neun­
un dzw anzigsten Sure, der „Spinne“, in den Versen 45—51:
„Und streitet nicht mit dem Volk der Schritt, es sei denn in bester Weise, außer mit jenen von
ihnen, die ungerecht handelten; und sprechet: ,W ir glauben an das, was zu uns herabgesandt
ward zu euch; und unser G ott und euer G o tt ist ein einiger G ott, und ihm sind w ir ergeben.“
Und also sandten w ir zu dir das Buch hinab, und diejenigen, denen w ir die Schrift gaben,
glauben daran; auch von diesen [Arabern] glauben manche daran, und nur die Ungläubigen
bestreiten unsere Zeichen. Und nicht verlasest du vo r ihm ein Buch und schriebst es nicht mit
deiner Rechten; dann w ürden wahrlich diejenigen, die es für eitel halten, gezweifelt haben.
Vielm ehr ist es ein deutliches Zeichen in den Brüsten derer, denen das Wissen gegeben ward,
und nur die Ungerechten bezweifeln unsere Zeichen. Und sie sprechen: ,Warum wurden
nicht Zeichen von seinem H errn auf ihn herabgesandt?' S p rich :,Siehe, die Zeichen sind allein
bei Allah, und ich bin nur ein offenkundiger W arner.1 Genügt es ihnen nicht, dass w ir das
Buch auf Dich herabsandten, ihnen verlesen zu werden? Siehe, hierin ist wahrlich eine Barm ­
herzigkeit und eine Ermahnung für gläubige Leute. Sprich: ,A llah genügt zwischen m ir und
euch als Zeuge.1“
Das heißt nichts anderes, als dass das zentrale W under eine O ffenbarung ist, die
von ihrem A utor, G ott, als w ahr beglaubigt w ird. D ie Sch w ierigkeit, die uns auch
heute noch beschäftigt, näm lich die historische und textkritische Infragestellung
einzelner A ussagen des Q u r’an ist von seinem A uto r hellsichtig vorw eggenom ­
men w orden. D ie zentrale A ussage findet sich in Vers 47 der 29. Sure: „Und nicht
verlasest du vor ihm ein Buch und schriebst es nicht mit deiner R ech ten .“
D ie genannte Sch w ierigkeit besteht nun darin, dass der Q u r’an A ussagen über
das Juden tum enthält, die jedenfalls un in terpretiert und auf den ersten B lick
offensichtlich falsch sind. Was w eiß der Q u r’an über die Juden ?
Sie glauben - w ie C hristen und Sabäer - an A llah (2,59). Ihnen w urde die Tora
hinabgesandt, die eine Leitung und ein L icht enthält, die ihnen durch die Prophe­
ten zum G ericht w urde (5,45); auch ihre R abbinen und Lehrer richteten nach die­
sem Buch, der Tora, die ihnen anvertraut w ar und die sie bezeugten. G leichw ohl
haben die Juden A llahs W ort w issentlich verkehrt (2,70) und behaupten sogar,
dass A llah nicht m ehr in die m enschlichen G eschicke eingreift (5,69), akzeptieren
jedoch ihrerseits nur jene, die ans Juden tum glauben (2,114), sind m issionseifrig
(2,129); es gibt unter ihnen einige, die den Sinn der Schrift verkehren (4,48/5,45)
und A llah hat sie für ihren U nglauben verflucht (4,49), sind sie doch neben den
G ötzendienern die schlim m sten Feinde der G läubigen (5,85); sie haben so sehr
gesündigt, dass A llah ihnen gute D inge, die ihnen erlaubt w aren, verw ehrt hat
(4,158/6,147), da sie W ucher genom m en haben (4,159) und bestreiten, dass A llah
einem M enschen etwas offenbart hat (6,91); sie sind Geschöpfe G ottes, denen er,
wenn er w ill, verzeiht (5,21) und die er am Tag der A uferstehung richten w ird
(22,17); sie sehen Esra als A llahs Sohn und die Rabbinen als H erren an (9,30), w es­
wegen A llah sie zu r A usw anderung trieb (59,2 ff.). D ie Juden, die m it der Tora be-
170
M ic h a B r u m lik
lastet w urden und sie nicht tragen w ollten, gleichen som it einem Esel, der Bücher
trägt (62,5).
Im U nterschied zum C hristentum , das stets behauptete, über die ungenügende
und unvollendete Tora hinaus eine substantielle E rfüllung und Erneuerung erfah­
ren zu haben, zeiht der Q u r’an die Tora an keiner Stelle der U nvollständigkeit
oder - w ie etw a bei Paulus - gar der Todesverhaftung. D ie P olem ik des Q u r’ans
g ilt nicht der Tora, sondern den Jud en , die sie nicht angem essen erfüllen und sogar
verfälscht haben und darüber hinaus bezw eifeln, dass der Prophet ebenfalls die
Tora em pfangen hat.
Es ist im D ialog von C hristentum und Judentum m it dem Islam üblich gew or­
den, diese drei R eligionen als abraham itische4 zu bezeichnen und som it - gew is­
serm aßen als kleinsten gem einsam en N enner - den gottergebenen G läubigen
A braham ins Zentrum zu stellen. Das w ird dann verständlich, w enn es um die In­
klusion des C hristentum s geht, das sich im B ilde des gottergebenen G laubenden
ebenfalls w iedererkennen kann: M indestens die paulinische T heologie stellt ja den
G lauben ungleich höher als Gottes W eisung, die Tora. Es ist freilich keinesw egs
zw ingend, A braham in den M ittelp un kt zu stellen - zum indest Juden und M us­
lim e könnten auch die Tora in den M ittelp un kt eines D ialogs stellen, die Tora, die
nach Sure 5,45 eine W eisung und ein L icht enthält und w elche im Juden tum jeden
Sabbat bei der Lesung aus ihr als „Leben der W elt“ gepriesen w ird , die G ott Israel
gegeben hat. D er Q u r’an ist ausw eislich Sure 46,11 nichts anderes als eine in
arabischer Sprache gehaltene B estätigung der Tora: „A ber vor ihm w ar das Buch
M osis, eine R ichtschnur und eine B arm herzigkeit. U nd dies ist ein Buch, das es in
arabischer Sprache bestätigt, um die U ngerechten zu w arnen, und eine frohe B ot­
schaft für die R echtschaffenen.“ Beides, die dem M oses geoffenbarte Tora und die
M oham m ed gesandte arabische B estätigung gehen jedoch auf eine U rschrift z u ­
rück, die bei G ott selbst verw ah rt ist, w ie Sure 43,1-3 bestätigt: „H a M im bei dem
deutlichen Buch. Siehe w ir m achten es zu einem arabischen Koran, auf dass ihr
vielleicht begriffet. U nd sieh, es ist in der M utter der Schrift bei uns - w ah rlich ein
hohes, w eises.“
D ie q u r’anische O ffenbarung bestätigt sich selbst als Kopie einer präexistenten,
das heisst vor der Schöpfung zu G ott gehörenden U rto ra, ein G edanke, der sich in
B ezug auf die Tora auch in der rabbinischen T heologie findet. So w ird Rabbi
A kiba unter anderem folgende A ussage zugeschrieben:
„G eliebt sind die Israeliten, denn ihnen w urde das W erkzeug gegeben, m it dem die Welt er­
schaffen ist. N och größere Liebe ist es, dass ihnen kundgetan wurde, dass sie das W erkzeug
der W eltschöpfung erhalten haben; denn es heißt (Spr 4,2) ,Eine gute Lehre habe ich gegeben;
laß nicht los meine Tora“. U nd in Sifrej D euteronom ium können w ir lesen: ,Und so findest
du es in der A rt Gottes, das alles, was von G o tt geliebt ist, dem anderen vorausgeht. Die Tora,
w eil sie das Geliebteste von allem ist, w urde vo r allem erschaffen. [.. .]“‘5
4 K arl-Josef Kuschel: Streit um Abraham . Was Juden, C hristen und M uslime trennt - und
was sie eint. München u.a. 1994.
5 G ottfried Schimanowski: Weisheit und Messias. Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie. Tübingen 1985, S. 217 , S. 222.
J u d e n , M u s lim e , Konvertiten
171
Es sei nicht unterschlagen, dass dieser M idrasch auch das H eiligtum in Jerusalem
und das Land Israel für präexistent erklärt, gleichw ohl: Judentum und Islam ge­
hen beide von einer U rschrift der Tora aus, die dem Leben der M enschen Licht
und W eisung gibt und zugleich W erkzeug seiner Schöpfung gewesen ist. Es sei nur
ergänzend darauf hingew iesen, dass w iederum aus historisch kritischer Perspek­
tive jüdische G elehrte des 19. und 20. Jahrhunderts w ie Abraham G eiger,6 Ignäc
G oldziher7 und zuletzt Solom on Dob Fritz G oitein8 die These vertreten und
belegt haben, dass in den G rundschichten des Q u r’ans als eines D okum ents einer
Zeit nicht w enige jüdisch-rabbinische R egelungen Eingang gefunden haben.9
Stellt man also - anders als im bisherigen D ialog - nicht A braham , sondern Gottes
U rschrift, die Tora, ins Zentrum der B etrachtung, so ließe sich p ointiert sagen,
dass die jüdische R eligion die Tora vollenden, w ährend das C hristentum sie revo­
lutionieren und der Islam sie restaurieren w ollte.
Das w ird an der A useinandersetzung des Q u r’ans m it einer historischen jü d i­
schen G estalt, die nicht zufällig für die jüdische R eligio n im G anzen steht, beson­
ders deutlich. R eligionsgeschichtlich m einen w ir heute zu w issen, dass das Ju d en ­
tum in seiner heutigen G estalt, als rabbinisches Judentum , kaum älter ist als die
ältesten G ruppen des C hristentum s. Beide, rabbinische Juden und m essianische
Juden, en tw ickelten sich freilich auf der Basis einer jüdischen R eligion, die als so l­
che und un ter diesem Begriff - anders als „Israel“ bzw. die israelitische R eligio n vergleichsw eise spät, näm lich erst nach der R ückkeh r aus dem babylonischen Exil
entstanden ist und für die die N am en und Personen von Esra und N ehem ia ste­
hen. „Esra“ 10 ist nun eine dem Q u r’an bekannte G estalt, die dort unter dem N a­
men „U zair“ auftritt und eine prekäre R olle spielt.
III. Das Esra/Uzair Problem
So schreibt die neunte Sure, die R eue, Vers 30-32:
„Und es sprechen die Juden: ,Esra ist Allahs Sohn.“ Und es sprechen die Nazarener: ,D er
Messias ist A llahs Sohn.' Solches ist das W o rt ihres Mundes. Sie führen ähnliche Reden wie
die Ungläubigen von zuvor. A llah schlag sie tot. W ie sind sie verstandeslos. Und sie nehmen
ihre Rabbinen und M önche neben A llah und dem Messias, dem Sohn der Maria zu H erren
an, w o ihnen doch allein geboten ward, einem einzigen G o tt zu dienen, außer dem es keinen
G o tt gibt. Preis ihm, [er steht hoch] über dem, was sie neben ihn setzten.“
6 Abraham Geiger: Was hat M ohammed aus dem Judenthum e aufgenommen? Eine von der
Königl. Preussischen Rheinuniversität gekrönte Preisschrift. Bonn 1833.
7 Ignäc G oldziher: Muhammedanische Studien. Halle 1889.
s Solom on D ob Fritz Goitein: Jew s and Arabs. Their C ontacts through the Ages. N ew York
1974.
9 Dazu kritisch: G ünter Lüling: Die W iederentdeckung des Propheten Muhammad. Eine
K ritik am christlichen Abendland. Erlangen 1981, S. 223 f.
10 A rt. Pjzra. In: Encyclopedia Judaica, vol. 6. Jerusalem o.J., S. 1 1 0 3 -1 1 0 7 .
172
M ic h a B r u m lik
D ie offensichtliche Falschheit der A ussage über das Juden tum w ird an der offen­
sichtlichen R ich tigkeit der A ussage über das C hristentum besonders deutlich:
Kein C h rist w ürd e bestreiten, dass der von ihm bekannte M essias, Jesus von N a­
zareth, der C hristus, Gottes Sohn, ist. Indem der Q u r’an die Sohnschaft des M es­
sias Jesus m it der verm eintlichen Sohnschaft Esras p arallelisiert, unterstellt er, dass
Esra, neben all seinen historischen und politischen V erdiensten um die B egrün­
dung der jüdischen R eligio n nach dem babylonischen Exil im Juden tum auch eine
- sagen w ir - theologische und soteriologische R olle spielt. Das ist jedoch nicht
der Fall. A ngesichts dieses U m standes scheint eine aussichtslose Lage zu entste­
hen: Wenn der Q u r’an vom ersten bis zum letzten B uchstaben Gottes W ort ist, hat
sich G ott in dieser Frage entw eder geirrt, oder: w enn diese Fehleinschätzung nur
als historisch gilt, dann gerät das zentrale D ogm a des Islam - dass der Q u r’an vom
ersten bis zum letzten W ort Gottes sei - ins W anken.
N un ist dieses Problem nicht neu. D ie m ittelalterliche islam ische A pologetik
und P olem ik etw a bei Tabari im 9. Jah rh un d ert ch ristlicher Z eitrechnung oder bei
dem spanischen Polem iker Ibn F lazm 11 (994-1064) im 10. Jah rh un dert hat in d ie­
sem Zusam m enhang schon früh auf die legendenartige F ortschreibung einer kurz
nach der röm ischen Z erstörung Jerusalem s w ahrscheinlich auf hebräisch verfass­
ten, zunächst jedoch nur auf griechisch, dann in anderen Sprachen vorliegenden
Schrift, auf das sogenannte „Vierte B uch E sra“, das als die im A ltertum verb rei­
tetste A p o kalyp se gilt, hingew iesen. So berichtet Tabari eine Legende, gemäß de­
rer das Volk Israel nach seinen Sünden von G ott dadurch bestraft w urde, dass ihm
die B undeslade w ied er genom m en w urde, w as zum Vergessen der Tora führte.
Esras R eform führte schließlich nach Tabari dazu, dass Israel der Tora w ieder inne
w urde. A ls dem Volk die B undeslade zurückerstattet w urde, stellte es fest, dass
der W ortlaut der geschriebenen Tora m it jenem identisch gewesen sei, was es
durch Esra erfahren habe. D aher habe das Volk geglaubt, dass Esra der Sohn G ot­
tes gew esen sei. D er israelische G elehrte H irschberg behauptete 1947 unter Bezug
auf den m ittelalterlichen P olem iker Ibn H azm , dass eine sich selbst als „G erechte“
bezeichnende jüdische G ruppe im Jem en an Esra als den Sohn Gottes glaubte.
A ndere M uslim e w aren der A uffassung, dass einige zum Islam konvertierte Juden
im Jem en in diesem Sinn an Esra glaubten. U nabhängige historische oder ethno­
graphische Belege für diese These liegen allerdings nicht vor.
A uf jeden Fall scheint Ü bereinstim m ung darin zu bestehen, dass diese Legen­
den auf das ap o kryp h e, nichtkanonische „Vierte Buch E sra“ 12 zurückgehen, z u ­
mal auf die Verse 18-27 im vierzehnten Kapitel:
„Ich antw ortete und sprach:“, so lässt der A u to r hier Esra sprechen, „Laß mich, Herr, vo r dir
sprechen! Ich scheide jetzt, w ie du mir befohlen, und w ill das Volk, das jetzt lebt, unterw ei11 Ebd., S. 1 1 0 6 f.
12 Das 4. Buch Esra. In: Die A p ok ryp h en und Pseudepigraphen des A lten Testaments. Bd. 2:
Die Pseudepigraphen des A lten Testaments. Ü bersetzt und hg. von Emil Kautzsch. H ildes­
heim, N ew Y ork 1975, S. 3 3 1 -4 0 1 ; 4 Esdras. In: Paul Riessler: Altjüdisches Schrifttum außer­
halb der Bibel. Freiburg, Pleidelberg 1928, S. 2 5 5 -3 0 9 ; A rt. Ezra, A pocalypse of. In: Ency­
clopedia Judaica (wie Anm . 10), S. 110 8 f.
Ju d e n , M u s lim e , K onvertiten
173
sen. A ber die später Geborenen, w er w ird die belehren? Denn die Welt liegt in Finsternis,
ihre Bewohner sind ohne Lieht. Denn dein Gesetz ist verbrannt; so kennt niemand deine
Thaten, die du gethan hast und die du noch thun willst. Wenn ich also Gnade vor dir gefun­
den habe, so verleihe mir den heiligen Geist, daß ich alles, was seit Anfang der Welt gesche­
hen ist, niederschreibe, wie es in deinem Gesetze geschrieben stand, damit die Menschen dei­
nen Pfad finden, und damit, die das ewige Leben begehren, es gewinnen können.“
Das Buch berichtet im Folgenden, w ie Esra die Tora m ithilfe von fünf M ännern
neu geschrieben hat, die heiligen Schriften w iederherstellte, um schließlich für alle
E w igkeit von G ott entrückt w orden zu sein: „Damals ist Esra entrückt und an die
Stätte seiner Genossen aufgenom m en w orden, nachdem er dies A lles geschrieben.
Er heißt der Schreiber der W issenschaft des H öchsten in E w igkeit.“
Das rabbinische Judentum schätzte die B edeutung Esras etwas vorsichtiger ein
und sah ihn in einer Tossefta (zu Sanhedrion 4:7) als einen m öglichen zw eiten M o ­
ses: „W äre M oses ihm nicht vorausgegangen, so hätte Esra die Tora em pfangen.“
Dem lässt sich entnehm en, dass es in rabbinischer Zeit zum indest einzelne
G ruppen oder Personen gegeben hat, für die Esra eine bedeutsam e G estalt gew e­
sen ist.13 Freilich geht w eder die biblische noch die rabbinische T radition an ir­
gendeiner Stelle sow eit w ie das vierte Esrabuch, das eine E ntrückung des Esra zu
seinesgleichen annim m t, also eine E ntrückung entw eder zu M ose oder mehr noch
- und dies w äre tatsächlich häretisch - zu G ott selbst.
W ir wissen historisch nur über den G lauben jener jüdischen Stäm m e auf der
arabischen H alb in sel, der H im y ariten ,14 bzw. über das auf der Plalbinsel verb rei­
tete Jud en ch risten tu m ,15 m it dem M oham m ed konfrontiert war. Freilich erw ägt
die Forschung die M ö glich keit juden ch ristlich er B estandteile jener jüdischen
Stäm m e, m it denen sich der Prophet auseinanderzusetzen hatte. A ndererseits be­
sagt eine Legende aus Südarabien, dass die Jud en Jem ens sich w eigerten, ihre
Söhne „E sra“ zu nennen, da dieser sie verflucht habe, als sie sich w eigerten, auf
seine E inladung hin zurück ins Land Israel zu zieh en .16
Fragt man sich, w arum der Q u r’an den Jud en vorhält, den Esra zu verehren,
dann bleibt - betrachtet man die A ngelegenheit historisch - keine andere M ö g­
lichkeit, als dass der Prophet entw eder von entsprechenden G ruppen gehört hat
oder - was freilich äußerst unw ahrscheinlich ist bzw. sich in keiner W eise belegen
lässt - K enntnis vom Esrabuch gehabt haben muss. System atisch fallen eine R eihe
von P arallelen auf, die den Propheten in einer K onkurrenzsituation zu Esra er­
scheinen lassen könnten: W ie auch M oham m ed, so gilt Esra als der Em pfänger
einer erneuerten W eisung, nachdem das Volk Israel der Ü berlieferung nach die
Tora aufgegeben oder verfälscht hatte. M it seiner K ritik am Verhältnis der Juden
13 Ephraim Elimelech Urbach: The Sages. Their concepts and beliefs. Cam bridge 1979,
S. 588.
14 A rt. Himyar. In: Encyclopedia Judaica, vol. 8. Jerusalem o.J., S. 498 f.
13 G ünter Liiling: Die W iederentdeckung des Propheten Muhammad. Erlangen 1981; C ars­
ten Colpe: Das Siegel der Propheten. H istorische Beziehungen zwischen Judentum , Ju d en ­
christentum, H eidentum und frühem Islam. Berlin 1990, S. 1 6 6 f.; Ludwig Hagemann: C h ris­
tentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen. Darmstadt 1999.
16 A rt. Ezra (wie Anm . 10), S. 1107.
174
M ic h a B ru m lik
zu Esra bestreitet der Q u r’an nicht die W ahrheit der Tora, sondern durchaus
scharfsinnig die L egitim ität des Judentum s, denn: „Die Epoche der R estauration
unter N ehem ia und E sra“ - so der A lttestam entler H erbert D onner - „war die
G eburtsstunde des Jud en tu m s.“ 17
IV. Die Argumente der Konvertiten
Da nach m uslim ischem G lauben A braham der erste M oslem w ar und bekannter­
m aßen vom paganen G lauben seiner V äter zum einzigen G ott gefunden hat, sp iel­
ten K onvertiten im Islam stets eine bedeutendere und auch geachtetere R olle als
im Judentum . Von besonderem Interesse sind daher für uns jene Juden, die schon
frühzeitig zum Islam konvertierten. A uf jeden Fall erscheint m ir die U n tersu­
chung ihrer M otive und ihres W irkens m ethodisch fruchtbarer zu sein, als die
im m er w ied er beschw orene, klischeehafte Rede vom goldenen, toleranten Z eit­
alter in Spanien. D ie wesentlichen D ialoge zw ischen Juden tum und Islam haben
sich w ohl früher, zw ischen jüdisch-islam ischen K onvertiten und Juden, die Juden
blieben, abgespielt. A uch hier steht w iederum der G edanke der Tora im Zentrum .
Es mag dieser gem einsam e G rundgedanke der Tora gewesen sein, der es früher
oder später Juden im H errschaftsbereich des Islam erm öglichte, nicht nur aus
G ründen des Schutzes vor D iskrim in ierung zum Islam überzutreten. A n der G e­
stalt dieser K onvertiten, die seit dem siebten Jah rh un dert bekannt sind, lassen sich
Schw ierigkeiten und Chancen eines jüdisch-islam ischen D ialogs p rägnant aus
einer historischen Perspektive betrachten.
K a’b al ah b ar18 w ar ein Zeitgenosse des Kalifen O m ar und stam m te aus Südara­
bien. W ahrscheinlich ein A ngehöriger des H im yaritenstam m es, konvertierte er
zu r R egierungszeit O m ars zum Islam . Seinen A uslegungen w ird zugeschrieben,
erhebliche B ezüge zur M ischna, der m ündlichen Lehre des Judentum s, zu en th al­
ten. D er H isto rik er Tabari berichtet im 9. Jah rh un dert, dass K a’b al ahbar den
Kalifen bei der Eroberung Jerusalem s von den B yzan tin ern begleitete und m it ihm
in einen D isput über den Status Jerusalem s und die richtige G ebetsrichtung gera­
ten sei:
„Als O m ar nach Aelia kam“, so Tabari, „sprach er: ,Bringt m ir K a’b.“
K a’b w urde zu ihm geführt, und O m ar fragte ihn: ,Wo meinst du, sollten w ir die Gebetsstätte
errichten?“
,A m Felsen“, antw ortete K a’b.
,Bei A llah “, sprach Omar, ,du folgst dem Judentum . Ich sah dich deine Sandalen abJegen.“
,Ich w ollte die Berührung mit meinen Füßen spüren“, entgegnete K a ’b.
,Ich sah dich“, sprach Omar. ,Doch nein ... unser G ebot galt nicht dem Felsen, es lautet viel­
mehr, w ir sollten uns zur Kaaba wenden.““ 19
17 H erbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in G rundzügen,
Bd. 2. G öttingen 1986, S. 431.
18 A rt. K a ’b al ahbar. In: Encyclopedia Judaica, vol. 10. Jerusalem o. J., S. 488.
19 Bernard Lewis: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen M ittelalter bis ins 20. Jahr-
Ju d e n , M u s lim e , K onvertiten
175
K a’b blieb gleichw ohl bei O mar, und zw ar trotz dessen Entscheidung, die Q ibla
südlich des Felsens und nicht nördlich festzulegen. Tabari berichtet, dass er O m ar
vor seiner E rm ordung gew arnt haben soll, und er w ar auch noch am H ofe des
dritten Kalifen und geriet angesichts einer A useinandersetzung m it einem m usli­
m ischen Pietisten, A bu Dharr, in einen D isput üb er M odi des G eldausleihens, bei
der A bu D harr K a’b vorhielt, dass Juden M uslim e nicht zu belehren hätten. M an
kann an dieser Stelle die Frage nach der historischen A uthen tizität dieser B ege­
benheit außer A cht lassen und sich darauf beschränken, festzustellen, dass die
H ochschätzung Jerusalem s und des Felsens, auf dem nach jüdischer Ü berliefe­
rung die geplante O pferung Isaaks vor sich ging, w enigstens zeitw eise als A us­
druck jüdischen Einflusses und einer judaisierenden G eisteshaltung angesehen
w urde. So sehr die oft blutige A useinandersetzung um den Tem pelberg in Jeru sa­
lem auch schm erzt, so sehr kom m t darin - jedenfalls auf islam ischer Seite - auch
ein B ekenntnis zu den abraham itischen und - w ie ich m eine - eben auch jüdischen
W urzeln des Islam zum A usdruck.
Sam aw al al M agrib i20 (1125-1175) w ar M athem atiker und Physiker. Er w urde
in Bagdad als Sohn eines hebräischen D ichters geboren und konvertierte im reifen
A lter von etw a vierzig Jah ren in A serbaidschan. Er schrieb eine antijüdische
Streitschrift „Ifham al Y ahud“ - „Die Juden zum Schw eigen zu b rin gen “. Die
1167 p ub lizierte überarbeitete Fassung dieser Streitschrift enthielt autobiographi­
sche Elem ente, w onach der A uto r im Traum den Propheten Sam uel und M oham ­
med begegnet w ar - was ihn jedoch nur in seiner Ü berzeugung bekräftigte, dem
Juden tum rationale A rgum ente entgegensetzen zu können. Es w ar Sam aw al, der
auf der B asis des Q u r’an die B ehauptung aufstellte, dass die hebräische B ibel, der
Tenach, eine Z usam m enstellung Esras gewesen sei, die zu einer fehlerhaften und
unzuverlässigen T radierung der Tora geführt habe. Esra, ein aaronitischer Priester,
so behauptete Sam aw al, habe das H aus D avid als A bköm m ling des illegitim en
Stam m baum s L o t-M o ab -R uth sow ie Judah-T am ar diffam iert und dam it den N eid
der Priesterschaft gegen das K önigshaus zum A usd ruck gebracht. Zugleich habe
er die G egnerschaft zw ischen H ebräern und ihren N achbarvölkern w ie M oab und
A m m on überm äßig betont - Esra forderte nach der R ückkeh r bekanntlich die Is­
raeliten auf, sich von ihren nichtjüdischen Frauen zu trennen und es w urde zu ­
gleich ein anthropom orphes G ottesbild m it der unsinnigen Annahm e eines reu­
m ütigen Gottes postuliert. Das neugefasste kultische G esetz des Esra habe zudem
das ursprüngliche m osaische G esetz verfälscht. Ebenso w ie die Karäer, eine im
achten Jah rh un d ert in Bagdad entstandene jüdische Sekte, die den Talm ud ab ­
lehnte,21 kritisierte er die F o rtentw icklun g des synagogalen G ottesdienstes sowie
hundert. München 1987, S. 70; Richard Andrew s: Tempel der Verheißung. Das Geheimnis
des Heiligen Berges von Jerusalem. Bergisch Gladbach 20 01, S. 285 f.
20 A rt. Sam au’al. In: Encyclopedia Judaica, vol. 14. Jerusalem o.J., S. 760£.; M aurice-Ruben
H ayoun: Maimonides. A rz t und Philosoph im Mittelalter. Eine Biographie. München 1999,
S. 58-67.
21 Simon Szyszm an: Le Karai'sme. Ses doctrines et son histoire. Lausanne 1980, übersetzt aus
dem Französischen.
176
M ic h a B r u m lik
die F o rtbildung der Speisegesetze. M aurice R üben H ayo un , der Sam aw al in sei­
nem W erk über M aim onides viel R aum gibt, paraphrasiert Sam awals P olem ik ge­
gen Esra so:
„Das Studium der Tora, von dem die Rabbinen des Talmud so viel Aufhebens machen, w ar in
Israel nicht verbreitet, nur die Söhne Aarons kannten und studierten sie. Erst als Esra sah,
dass der Tempel in Trümmern lag, der jüdische Staat zerstört war, beschloss er alle alten
Schriften zu sammeln, die ihm in die Hände fielen. Esra stellte eine Tora zusammen, die
nichts mit dem auf dem Sinai geoffenbarten Buch G ottes zu tun hatte. Samawal schließt:
,Dies beweist, dass der Mann, der diese verstreuten Texte form uliert hat, das Wesen Gottes
nicht begriffen hatte. Wie konnte man von G o tt sprechen, als sei er ein Wesen aus Fleisch und
Blut? W ie konnte man G o tt so unwürdige Gefühle beilegen wie Trauer und R eue?“'22
G leichw ohl sah Sam aw al in dieser von Esra angeblich verfälschten Tora A n k ü n d i­
gungen des Propheten M oham m ed und bezog sich dabei auf Gen 17:20 sowie
Dtn 18:15-18, in dem es heißt:
„Einen Propheten aus deiner M itte von deinen Brüdern gleich mir, w ird der Ewige dein G ott
dir aufstehen lassen, auf ihn sollt ihr hören ... Einen Propheten werde ich ihnen autstehen
lassen, aus der M itte ihrer Brüder, gleich dir, und meine W orte ihm in den Mund legen, und er
soll zu ihnen reden, alles, was ich ihm gebieten w erde.“
A ls R atio n alist erklärt er endlich, dass die von den jüdischen R ationalisten vor­
gebrachten Schlüsse zur B eglaubigung der A uthen tizität der m osaischen O ffen­
barung genauso gut auf Jesus und M oham m ed angew andt w erden können, w es­
wegen es nur konsequent sei - w ie der Islam - alle drei anzuerkennen.
Im G egenzug entw ickelte er dann eine eigene T heorie des jüdischen Volkes, in
der er die aktuelle politische Situation der Juden m it den im Q u r’an getroffenen
A ussagen zur D eckung bringen w ollte: A ls eines der ältesten V ölker der W elt hät­
ten die Jud en so viele falsche Lehren w eitergegeben, dass es ihm nicht m ehr m ög­
lich sei, alle Fehler auf einm al zu berücksichtigen. A uch hätten V erfolgungen das
Volk nicht geläutert. Von C haldäern, Persern, G riechen und C hristen verfolgt,
stets davon bedroht, dass ihre Bücher verbrannt und sie selbst ausgerottet w ürden,
hätten sie ein zig und alleine im H errschaftsbereich des Islam Zuflucht und Schutz
gefunden. A nstatt alles zu tun, die B ürde der W eisung zu lockern, hätten sie mit
einer V erschärfung der Tora durch die rabbinischen A uslegungen ih r tägliches L e­
ben w eiter erschw ert. Sam aw al kritisiert die K aschruth, die zw ar für das Ü b er­
leben des jüdischen Volkes im Exil notw endig war, aber dafür zum A ufkündigen
des K ontaktes m it N ich tjuden führte - ein innerjüdischer K onflikt, der sich in der
A useinandersetzung zw ischen Karäern und R abbinen, die Sam aw al denunziatorisch k arikiert, niederschlug.
M aim onides, der selbst, um sein Leben zu retten, einm al zum Schein ko n ver­
tierte, setzte sich in einem B rief m it Sam aw als V orwürfen auseinander und w id er­
legte vor allem die B ehauptungen, dass M oham m ed selbst im Tenach vorhergesagt
w orden sei, m it dem schlüssigen H in w eis, dass noch nicht einm al die M uslim e
diese B ehauptung aufstellten. Ganz im Sinn der rabbinischen Tradition beglau­
22 Ebd., S. 63.
Ju d e n , M u s lim e , K onvertiten
177
bigte M aim onides, dass Gottes O ffenbarung am Sinai von G eneration zu G enera­
tion getreu w eitergegeben w orden sei und die Tora eindeutig für Isaak und eben
nicht für Ism ael Partei genom m en habe. A uch in diesen A useinandersetzungen
w erden w ir w ied er Zeugen einer A useinandersetzung nicht um das Prinzip der
Tora, sondern um die historisch konkrete Form , die sie jew eils angenom m en hat.
M aim onides hat sich in seinem Sendschreiben an die jem enitischen Juden po lem i­
scher B em erkungen nicht eben enthalten - in einem aber w ar er sich mit seinem
G egner im G rundsatz einig, näm lich darin, dass man sich G ott in keiner Weise anthropom orph vorstellen dürfe, eine A nsicht, die vor dem H intergrund der dam als
allgem ein anerkannten aristotelischen Philosophie verständlich ist, aber w eder mit
dem Text des Tenach (der H ebräischen B ibel) noch dem des Q u r’an überein­
stim m t. Beide bestim m en G ott als barm herzigen G ott, eine Eigenschaft, die mit
dem unbew egten B ew eger des A ristoteles nichts zu tun hat.
V. Das jüdische Bild vom Islam - Jehuda Halevis „Kusari“
M an muss also nicht im m er w ieder das goldene Z eitalter in Spanien beschw ören,
um sich zu verdeutlichen, dass Judentum und Islam einander system atisch nicht
ausschließen, w as man etw a an dem religionsphilosophischen Traktat des 1080 ge­
borenen spanisch-jüdischen D ichters Jehuda H alevi sehen kann, der in seinem
Traktat „K usari“,23 in dem es um einen G laubensw ettstreit von C hristen, M u sli­
men und Jud en um die Konversion eines C hasarenkönigs24 geht, eine Selbstdar­
stellung des Islam zu W ort kom m en lässt, die fair und objektiv erscheint. D er
islam ische G elehrte stellt seinen G lauben in diesem T raktat eines jüdischen R eli­
gionsphilosophen folgenderm aßen dar:
„W ir bekennen die Einheit und Ewigkeit G ottes und dass alle Menschen von Adam und
Noah abstammen. W ir lehnen jede Inkarnationslehre entschieden ab und wenn derlei in der
Schrift auftaucht, erklären w ir es für eine M etapher oder Allegorie. Gleichzeitig behaupten
wir, dass unser Buch G ottes W ort ist, ein W under, an das w ir um seiner selbst willen gebun­
den sind, da niemand in der Lage ist, etwas Ähnliches hinzuzufügen oder seine Verse zu
übertönen. U nser Prophet ist das Siegel der Propheten, der jedwedes vorherige Gesetz abschalfte und alle N ationen einlud, zum Islam überzutreten. D er Lohn des Fromm en besteht
in der R ückkehr seines Leibes in Paradies und G lanz, w o er niemals aufhören w ird zu trin ­
ken, zu essen und die Liebe einer Frau zu genießen, und alles zu erhalten, was er begehrt. Die
Q uittung des Ungehorsam en besteht darin, dem H öllenfeuer ausgesetzt zu werden und eine
Strafe ohne Ende zu erleiden.“25
A uf diese A n tw o rt entgegnet der C hasarenkönig in Jeh uda H alevis Traktat, dass er
nur allgem eine Fakten akzeptiere, die nicht w iderlegb ar seien und er als C hasar das
W under des Q u r’ans, da er des A rabischen nicht m ächtig sei, nicht überprüfen
könne. D arauf antw ortet der islam ische G elehrte, dass im Islam an keiner Stelle ir­
23 Jehuda Halevi: The K uzari. N ew York 1964.
24 Douglas M. D unlop: The H istory o f the Jew ish Khazars. Princeton 1967.
25 Eigene Übersetzung nach Halevi: Kuzari (wie Anm . 23), S. 42 f.
17 8
M ic h a B r u m lik
gendw elche W under für die G ültigkeit der q u r’anischen W eisung bem üht w ürden,
w oraufhin der C hasarenkönig in rationalistischem Zw eifel die Vorstellung einer d i­
rekten Interaktion zw ischen Gott und M ensch in Frage stellt. A uf diesen Einw and
lässt Jeh ud a H alevi den islam ischen G elehrten m it einer Frage antw orten:
„Ist unser Buch nicht voll mit Geschichten von Moses und den Kindern Israel? Niemand
kann bestreiten, was er Pharao zugefügt hat, wie er das Meer teilte [...] ist all dies nicht so
w ohl bekannt, dass kein Misstrauen über Täuschung und Einbildung möglich ist?“- 6
D er C hasarenkönig gibt dem von einem jüdischen A utor skizzierten M oslem
R echt und erklärt, nunm ehr die Jud en zu fragen, seien sie doch das Ü berbleibsel
der Israeliten und seiner M einung nach der schlagende, evidente B eweis für die
G eltung d er göttlichen W eisung auf der E rde.27
Jeh ud a H alevis A rgum ent der Juden als eines G ottesbeweises hat bis in die A uf­
klärun gszeit hinein gew irkt, aber darum kann es hier nicht gehen. W orauf Jehuda
H alevi hinw eisen w ill, ist, dass der Q u r’an gleichsam in sich zusam m enfallen
w ürde, w enn man das Zeugnis Israels, das eben nur in der Tora des Judentum s
enthalten ist, aus ihm entfernte. A nders als im C hristentum hat im Islam auch n ie­
m and, sow eit ich sehe, jem als versucht, dies zu tun und sich einen Islam zusam ­
m enzureim en, der ohne Bezug zur alttestam entlichen Ü berlieferung auskom m t.
D er Islam setzt die W ahrheit der Tora in dem selben A tem zug voraus, in dem er sie
bestreitet. Dass sich dabei U ngereim theiten ergeben m üssen, hatte schon M aim o ­
nides in seiner A useinandersetzung m it Sam aw al und dessen A bleitung des P ro ­
pheten aus alttestam entlichen Versen gezeigt - über ein K riterium , am Text zu u n ­
terscheiden, was echt und was falsch ist, verfügt der Q u r’an jedoch nicht. Er löst
dieses Problem , indem er den Q u r’an selbst als absolut w ahres göttliches W ort
postuliert, handelt sich dam it freilich ein w eiteres Problem ein: Sogar w enn man
annim m t, dass G ott den Q u r’an in seine spezifische Zeit hinein offenbart hat,
muss man - w ie oben bem erkt - entw eder annehm en, dass er sich eben geirrt hat
oder dass die von ihm auf arabisch gegebene w ahre Tora nicht mit dem W ortlaut
des Buches identisch ist, das der Islam als Q u r’an ebenso verehrt w ie die Juden die
Tora.
W äre es tatsächlich gotteslästerlich, den G eist von Tora und Q u r’an von der F ä­
higkeit endlicher M enschen, diesen G eist zu em pfangen und niederzuschreiben,
zu unterscheiden? In Sure 13, der „D onner“, lese ich in Vers 39: „A llah löscht aus
und bestätigt, was er w ill, und bei ihm ist die M utter der Schrift.“
Abstract
T his paper attem pts to leave behind the so-called trialo gical com m unication p ro ­
cesses between Jew ry, C h ristian ity, and Islam and focuses instead on the question
26 Ebd., S. 43.
v Ebd., S. 44.
J u d e n , M u s lim e, Konvertiten
179
if there is still other com m on ground betw een Je w ry and Islam besides the com ­
mon reference to the “ancient fath er” A braham . To achieve this goal, the phenom ­
enon of Jew ish convertites to Islam w ill be an alyzed, since these convertites were
aw are of the affin ity and distance betw een the tw o religions on another level than
that of a shared Bible. H owever, questions as to incorrect assertions about Je w ry
in the Koran rem ain unansw ered - a problem that w ill continue to aggravate an
objective-m inded dialogue in the future. A possible solution to the problem m ight
be to in itially ignore the question of the “ancient fath er” as w ell as the question of
“the Je w s ” and to analyse the Koran in regard to its treatm ent of the Torah. P er­
haps a fruitful dialogue between Je w ry and Islam m ight be established by con­
sidering that Torah and Koran reveal the same truths, even though in different
contexts.
Sektion 4
Kultur, Bildung, Fremdwahrnehmung
Sektionsleiter: Professor Dr. Dr. h.c, mult. Hans M aier (Ludwig-M axim ilians-U niversität
München)
R eferenten:
P rofessor Dr. Peter Heine (H um boldt-U niversität zu Berlin)
P rofessor Dr. Wolfgang Loschelder (U niversität Potsdam)
Dr. Roland L öffler (H erbert Q uandt-Stiftung, Bad Homburg)
Einführung
N eben K atholiken, Protestanten, O rthodoxen leben heute rund 4,2 M illionen
M uslim e, ca. 100000 M itglieder jüdischer G em einden, ca. 100000 B uddhisten und
ca. 800000 A ngehörige anderer nichtchristlicher R eligionen in D eutschland nicht zu reden von der (kaum organisierten) M illio n enzah l der R eligions- und
K onfessionslosen. D ie Sektion „Kultur, B ildung, Frem dw ahrnehm ung“ w idm ete
sich un ter der L eitun g von Hans M aier aktuellen Fragen des Zusam m enlebens der
R eligionen in D eutschland; im V ordergrund standen - der Them atik des K ongres­
ses entsprechend - Jud en tum , C hristentum , Islam. A usgangspunkt w ar die Fest­
stellung, dass das Problem des Zusam m enlebens der Konfessionen - jah rh un derte­
lang ein zentrales T hem a deutscher Innen- und V erfassungspolitik - heute zuneh­
mend abgelöst w ird durch die Fragen des Z usam m enlebens der Religionen in
unserem Land. Kann man aus der ersten Phase des „konfessionellen K onfliktm a­
nagem ents“ in D eutschland (m it seiner Tradition der R eligionsfrieden) für die
heutigen Problem e und K onflikte, aber auch für die künftige friedliche G estaltung
des Z usam m enlebens der R eligionen etw as lernen?
Peter H eine referierte über die w echselseitige W ahrnehm ung von Juden und
M uslim en in der N ach kriegszeit - eine T hem atik, über die es bisher kaum aus­
führliche E rhebungen und U ntersuchungen gibt. Das Spektrum seiner B eobach­
tungen reicht vom Bereich der Pädagogik, w o die E instellung von Jugendlichen
arabischer H erkun ft zum Judentum untersucht w ird , bis zu r H altung des o rgan i­
sierten Islam s in D eutschland zum Judentum . Sein Fazit: „Die jüdischen und
m uslim ischen O rganisationen haben in den vergangenen Jah ren erkannt, dass sie
als religiöse M inderheiten in D eutschland und in Europa gegenüber den je w e ili­
gen M ehrheitsgesellschaften und der M ehrheitsreligion des C hristentum s in der
konkreten L ebenssituation durchaus vergleichbare negative Erfahrungen m achen.
182
H a n s M a ie r
Zum indest in D eutschland sind diese E rfahrungen für Juden subtiler, für M uslim e
sehr viel direkter. A ngesichts der gem einsam en A lltagserfahrungen liegt es daher
nahe, dass die beiden betroffenen Seiten sich austausehen und kooperieren.“
Wolfgang Lösch elder stellte in seinem R eferat die w echselvolle G eschichte der
religiösen U nterw eisun g für M uslim e in den deutschen Schulen seit 1970 dar. B e­
gnügten sich die m eisten B undesländer zunächst dam it, den einer E G -R ichtlinie
folgenden „M uttersprachlichen E rgänzungsunterricht“ durch religionskundliche
Elem ente zu ergänzen, um den „G astarbeiter“-K indern den A nschluss an die Tra­
ditionen ihrer H erkunftsländer zu erleichtern, so erw ies sich dieses Verfahren seit
den 1990er Jah ren in zunehm endem M aß als unzureichend, w eil sich herausstellte,
dass die E inw anderer nunm ehr in ihrer M ehrheit entschlossen w aren, dauerhaft in
D eutschland zu bleiben. D am it stellte sich die Frage nach einem flächendecken­
den „islam ischen R eligio nsun terrich t“ auf der Basis des G rundgesetzes; und z u ­
gleich tauchten eine R eihe schw er lösbarer Problem e auf, an denen bis heute mit
w echselnden Ergebnissen gearbeitet w ird: das Fehlen zentraler organisatorischer
Strukturen bei den deutschen M uslim en und dam it eines „A nsprechpartners“ für
die staatliche V erw altung und außerdem das Fehlen einer - den christlichen und
jüdischen R eligionen vergleichbaren - verbindlichen L ehrautorität. W olfgang Loschelder zeigt eine R eihe m öglicher Lösungen auf; er ist überzeugt, dass „die reli­
giöse U nterw eisun g für junge M uslim e [ ...] für die Integration der m uslim ischen
B evölkerung in die deutsche G esellschaft insgesam t zen tral“ ist und dass sich auf
diesem Feld „das künftige M iteinander oder G egeneinander“ entscheiden w ird.
R oland Löffler ging in seinem R eferat auf die R olle der Schulen und auf das
Schulw issen bezüglich der „abraham itischen R eligio n en “ in Europa ein. D er P rä­
senz von Jud en und M uslim en in der G eschichte Europas w ird in den Lehrplänen
entw eder gar nicht oder zu w enig R echnung getragen. U nd auch die fortdauernde
Präsenz des C hristentum s im heutigen E uropa w ird kaum gew ürdigt. Juden und
M uslim e erscheinen m eist nur im K ontext geschichtlicher K onflikte. D er N ach­
druck liegt auf der gegenseitigen „Frem dheit“ der drei m onotheistischen H au p t­
religionen. Ihr Zusam m enleben, ihre w echselseitigen A bhängigkeiten in einem
Europa, das zunehm end vom N ebeneinander verschiedener R eligionen geprägt
ist, kom m t kaum in den B lick. Es käm e aber darauf an, den Schülern grun dlegen ­
des und kritisches W issen über Juden und C hristen und M uslim e zu verm itteln auch dam it sie die seit jeher vorhandene pluralistische N atu r der europäischen
G esellschaft in ihrer neuen G estalt positiv begreifen und V erschiedenheiten a k ­
zeptieren und respektieren lernen.
In der D iskussion w urden verschiedene Fragen berührt, von denen hier nur
drei hervorgehoben seien: Erstens: Ist die hier skizzierte „abraham itische“ Per­
spektive ein tragfähiges K onstrukt? Ist sie geeignet, ein besseres w echselseitiges
V erständnis zw ischen den drei m onotheistischen H auptreligionen zu schaffen?
O der trägt sie eher zu M issverständnissen bei, w eil die Figur A braham s in Ju d en ­
tum , C h ristentum , Islam sehr verschieden gesehen w ird ? Zweitens w urde an die
heute vor allem diskutierten Problem e und K onflikte erinnert - vom Z entralbe­
reich des G ebets, der G ottesdienste, des Baus von G otteshäusern, der Feste und
E in fü h ru n g
J83
Feiertage bis hin zu B art- und H aartracht, K leidungs- und Essensvorschriften,
Sehächtgeboten, B estattungsregeln und dem in jüngster Zeit in den Vordergrund
gerückten K opftuchstreit. W ie w eit herrscht zw ischen den drei m onotheistischen
R eligionen w echselseitige K onversionsfreiheit? Was aus dem Bündel von P roble­
men lässt sich pragm atisch, im G eist des „schonenden A usgleichs“ (Peter Lerche)
lösen? W elche V oraussetzungen für Problem lösungen m üssen beachtet w erden
(staatliches G ew altm onopol, V erzicht auf gew altsam e D urchsetzung der eigenen
R eligion im fam iliären und gesellschaftlichen U m feld usw.)? D rittens: Welche
R olle spielt - erschw erend oder erleichternd - die unterschiedliche G em engelage
von „privat“ und „öffentlich“ im Judentum , C h ristentum , Islam ? Was bedeutet es,
dass in einer säkularen G esellschaft die „alten R eligio n en “ ihre öffentliche Präsenz
und rituelle E igenart zurücknehm en und sich aufs Innere zurückzuziehen pfle­
gen, w ährend sich die „neuen R eligionen“ - vor allem der Islam - gerade durch
ausgeprägte Sichtbarkeit und H ö rb arkeit und einen hohen Ö ffentlichkeitsan­
spruch auszeichnen?
Hans M aier
Peter Heine
Muslime und das Judentum - Das deutsche Exempel
Zunächst muss festgestellt w erden, dass bisher für den deutschen Bereich kaum
ausführliche seriöse U ntersuchungen zur Frage des Verhältnisses zw ischen Juden
und M uslim en in D eutschland vorgelegt w urden. Einen ersten A uftakt zu dieser
T hem atik findet man in dem Tagungsband zum V erhältnis von Juden und M u sli­
men in D eutschland des dam aligen D eutschen O rient-Instituts/H am burg von
1999.1 W eitere A rbeiten zu dieser Problem atik ließen dann fast ein Jah rzeh n t auf
sich w arten .2 Zu nennen ist inzw ischen ein von Lars R ensm ann und Juliu s Fi.
Schoeps herausgegebener Sam m elband zum m odernen A ntisem itism us in Europa
von 2008, in dem auch die feindliche H altung von M uslim en zum Judentum the­
m atisiert w ird . A llerdings fehlt hier ein ausführlicher B eitrag zur diesbezüglichen
Situation in D eutschland.3 A ndere A rbeiten legte das Z entrum für A n tisem itis­
m usforschung vor.4 Die verschiedenen A rbeiten sind ab 2006 pub liziert w orden.
Und jün gst ist von Jose B runner und Shai Lavi herausgegeben w orden „Juden und
M uslim e in D eutschland“.5 K ürzlich veröffentlicht w urde auch eine U n ter­
suchung der A m adeu A ntonio Stiftung m it dem Titel: „Die Juden sind schu ld“.6
1 Kai Hafez/Udo Steinbach (Hg.): Juden und M uslim e in Deutschland, M inderheitendialog
als Zukunftsaufgabe. Tagung des Deutschen O rient-Instituts, des Zentralrates der Juden in
Deutschland, des Zentralrates der Muslime in Deutschland und der Katholischen Akadem ie
Hamburg, am 21. Januar 1999 in Hamburg. H amburg 1999.
2 Barbara Schäuble/Albert Scherr: „Ich habe nichts gegen Juden, aber . . . “. W idersprüchliche
und fragm entarische Formen von Antisem itism us in heterogenen Jugendszenen. In: Bernd
Fechler (Hg.): N eue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit
dem globalisierten Antisem itism us. Frankfurt am Main, N ew Y ork 2006, S. 5 1-7 9 .
3 Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hg.): Feindbild Judentum . Antisem itism us in Europa.
Berlin 2008.
4 Zu nennen sind: Jochen Müller: Zwischen Abgrenzen und Anerkennen. Überlegungen zur
pädagogischen Begegnung von antisemitischen Einstellungen bei deutschen Jugendlichen
muslimisch/arabischer H erkunft. In: Jahrbuch für Antisem itism usforschung 17 (2008),
S. 9 7 -10 3 ; Sina A rnold/G ünther Jikeli: Judenhass und Gruppendruck. Z w ö lf Gespräche mit
jungen B erlinern palästinensischen und libanesischen H intergrunds. In: Jahrbuch fü r A n ti­
semitismusforschung 17 (2008), S. 10 5-12 8.
3 Jose Brunner/Shai Lavi (Hg.): Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Iden­
tität (= Tel A viver Jahrbuch fü r deutsche Geschichte, Bd. 27). Göttingen 2009.
6 Claudia Danschke u.a. (Hg.): „Die Juden sind schuld“ . Antisem itism us in der Einwande­
rungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus. Beispiele, Erfahrungen und
Handlungsoptionen aus der pädagogischen und kom m unalen A rbeit. Berlin 2009.
186
Peter H e in e
Zwischen der genannten V eröffentlichung des D eutschen O rient-Instituts und
den w eiteren U ntersuchungen liegen die E reignisse des 11. Septem ber 2001, die
den Islam im w issenschaftlichen Bereich und für die Ö ffentlichkeit in eine ver­
schärfte Perspektive rückten. U ber die beiden Tagungen zum Them a „Juden und
M uslim e in E uropa“ auf Schloss Elmau in den Jah ren 2007 und 2008 sind bisher
keine T agungsbände erschienen.7
Wenn man diese V eröffentlichungen durchsieht, lässt sich ein fachlicher
Schw erpunkt im Bereich der Pädagogik oder der Sozialpädagogik feststellen. U n ­
tersucht w ird die E instellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen arab i­
scher, speziell palästinensischer oder libanesischer H erkunft zum Judentum . Die
Probanden stam m en in der Regel aus einfachen V erhältnissen und leben in den
W ohngebieten von B erlin oder Frankfurt am M ain, deren W ohnbevölkerung
durch einen hohen P rozentanteil von Fam ilien m it M igrationshintergrund und/
oder schw ierigen sozialen V erhältnissen gekennzeichnet ist. Ich nenne hier nicht
die N am en der entsprechenden W ohnviertel, w eil die Stadtsoziologie darauf hin ­
w eist, dass die M o b ilität der W ohnbevölkerung derartiger V iertel außerordentlich
hoch ist. D abei stellt sich diese M o b ilität gegenläufig dar. G erade m uslim ische F a­
m ilien bem ühen sich, diese Problem bezirke zu verlassen, um sich in Stadtteilen
anzusiedeln, die geringere soziale Spannungen aufw eisen. Künstler, Intellektuelle,
Young U rban Professionals w erden dagegen von diesen V ierteln angezogen, was
zu dem Phänom en der G entrifizierung führt. D er G roßraum von B erlin bietet
sich für dieses Phänom en als günstiges Studienobjekt an. Es ist abzusehen, wann
einige der entsprechenden Stadtviertel ihren C h arak ter völlig verändert haben
werden. D ie em pirischen U ntersuchungen in den pädagogischen Studien sind m e­
thodisch als Form en der qualitativen D atenerhebung zu bezeichnen. Eine A u s­
nahm e bildet eine quantitative U ntersuchung des B undesm inisterium s des Inne­
ren aus dem Jah r 2007.8
U ntersuchungen zur H altung des organisierten, des „offiziellen Islam s“ in
D eutschland zum Judentum liegen dagegen m eines W issens nicht vor. H ier ist
man also auf entsprechende Selbstäußerungen der O rganisationen angew iesen
und auf M eldungen der verschiedenen M edien. Im V erlauf dieser U ntersuchung
beziehe ich mich vor allem auf jüngere V erlautbarungen des organisierten Islams
in D eutschland. D er G rad ihres Einflusses auf die M uslim e in D eutschland ist je ­
doch noch nicht endgültig bew ertet w orden. D ie Frage der V erbindlichkeit der
Ä ußerungen des offiziellen Islams für M uslim e in D eutschland hängt zunächst
einm al m it der V ielgesichtigkeit des organisierten Islams in D eutschland zusam ­
men. W ie bekannt, gibt es verschiedene D achorganisationen. Zu nennen sind vor
7 Dazu: Janek Schmidt: Neues Wir. Muslime und Juden in Europa: Eine Tagung in Elmau.
In: Süddeutsche Zeitung, 26. 6. 2008.
8 K atrin Brettfeld/Peter Wetzels: Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrie­
ren sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös m otivierter G e ­
walt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer m ultizentrischen Studie in städtischen
Lebensräumen. H amburg 2007.
M u s lim e un d das J u d e n t u m - D as d eu tsche Exempel
187
allem der „Z entralrat der M uslim e in D eutschland", der „Islam rat für die B undes­
republik D eutsch lan d“ und die Staatliche R eligionsbehörde der T ürkei, „D iyanet
islen T ürk Islam B irlig i“ (D ITIB, T ürkisch-Islam ische U nion der A nstalt für
R eligion). D ie D achorganisationen fassen verschiedene kleinere O rganisationen
unterschiedlicher religiöser und program m atischer A usrichtung zusam m en.9 Der
staatliche D ruck der verschiedenen für R eligionen in D eutschland zuständigen
Institutionen auf diese D ach-O rganisationen, eine einheitliche Struktur zu schaf­
fen, w ar lange Zeit nicht erfolgreich. D ie von dem B undesm inister des Inneren,
W olfgang Schäuble, 2006 einberufene Islam konferenz hat dann jedoch dazu ge­
führt, dass die O rganisationen einen gem einsam en R at, den M uslim ischen K oor­
dinierungsrat (M K R), eingerichtet haben, der bisher überraschend effektiv fun k­
tio n iert.10 D ennoch bleiben die U nterschiede zw ischen den O rganisationen beste­
hen. E igentliche U rsache dafür sind die niedrigen hierarchischen Strukturen des
sunnitischen Islam s im A llgem einen. N atürlich finden sich religiöse A utoritäten,
die m it ihren Ä ußerungen zu dogm atischen, ethischen oder lebenspraktischen
Fragen Einfluss auf die G läubigen ausüben. W enn man hier jedoch von einem
Lehram t im Sinn der christlichen K irchen sprechen w o llte, w äre das sicherlich
falsch. Den sunnitischen religiösen A utoritäten fehlt vor allem eine hierarchisch
organisierte Struktur. D ieser geringe O rganisationsgrad w ird inzw ischen durch
das Internet noch w eiter aufgelöst. D ie geringe V erbindlichkeit von dogm atischen
oder ethischen A ussagen w ird sich w eiter verstärken, da die N utzun g dieses M e­
dium s inzw ischen in der islam ischen W elt in einem w eiteren schnellen W achstum
begriffen is t.11
N ach der genannten quantitativen B efragung des BMI zu der E instellung von
„m uslim ischen Jugen d lich en “ der Jahrgangsstufen 9 und 10 stim m en 15,7% der
A ussage zu: „M enschen jüdischen G laubens sind überheblich und g eld gierig.“ Im
V ergleich stim m en dieser A ussage auch 7,4% von befragten Jugendlichen m it ei­
nem anderen M igrationshintergrund zu und 5,7% der H erkunftsdeutschen dieser
A ltersgrup p e.12 B etrachtet man die Ergebnisse der qualitativen U ntersuchungen,
dann w erden die quantitativen Erhebungen im G runde nicht bestätigt. Denn nur
zwei von zw ölf befragten palästinensischen/libanesischen m ännlichen Ju g en d li­
chen oder jungen Erwachsenen äußern sich in einer differenzierteren A rt und
Weise. Die anderen zehn geben M einungen kund, die als antisem itisch aufgefasst
w erden m üssen. Einige der befragten Jugendlichen sind auch schon durch A ggres­
sionen gegen Personen, die einen D avidstern trugen, aufgefallen. A ndere haben
9 Dazu: Thom as Lemmen: Islamische Organisationen in Deutschland. Bonn 2000.
10 Dazu: Schirin Am ira-M oazam i: Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung. Die deutsche Islamkonferenz. In: Brunner/Lavi (Hg.): Juden (wie Anm . 5), S. 185—
205.
11 Peter Heine: Islam und Fußball. In: O rientierung 70 (2007), S. 1 0 9 -1 1 1 .
12 Brettfeld/Wetzels: Muslime (wie Anm . 8), S. 275. Zum Vergleich - nach einer Um frage
von Emnid/Infratest stimmten 44% der West- und 2 9 % der Ostdeutschen der Feststellung
zu: „Heute, ebenso wie in der Vergangenheit, üben die Juden zu viel Einfluss auf die W eltge­
schehnisse aus“ (Q uelle: Inform ationen zur Politischen Bildung 271 (2005), S. 53).
188
Peter H e in e
sich bei von den jew eiligen Schulen veranstalteten Besuchen in Synagogen durch
feindselige Ä ußerungen gegenüber dem Personal oder gegenüber Zeitzeugen her­
vorgetan. Ihre M otivationen beruhen einerseits in ihrer H erkunft. Ihre Eltern
haben häufig Fluchterfahrungen. Es gibt in ihrer V erwandtschaft auch Personen,
deren gew altsam er Tod israelischen Soldaten oder den von Israel unterstützten
libanesischen M ilizen zugeschrieben w ird . D aneben besteht auch ein entspre­
chender G ruppendruck innerhalb von libanesisch-palästinensischen Jugendgangs,
der eine differenzierte A useinandersetzung m it der eigenen bzw. der G eschichte
der F am ilie verhindert. Sozialpädagogen führen dieses aggressive Verhalten auch
auf die P ersp ektivlo sigkeit der Jugendlichen zurück, für die der H ip-H o p -Sän ger
Skarabeuz w ährend des Som m erkriegs Israels im Südlibanon rappt: „Wie lange
noch w ird jed er M uslim angeguckt w ie ein T errorist? W isst ihr nicht, dass das für
uns w ie P sych o terro r ist? W ie viele Pässe braucht m ein Vater noch und w ie viel
Steuern muss man zahlen, um einer von euch zu w erd en ?“ 13 „H ier w erden aus E r­
zählungen und M edienberichten erfahrene G eschichte und G egenw art des N ahostkonflikts m it konkreten Erfahrungen der Jugen dlich en in Beziehung gesetzt.
D er K onflikt im N ahen O sten w ird zur P rojektionsfläche für eigene Erfahrungen
m it R assism us, M argin alisierun g und P ersp ektivlo sigkeit in der deutschen G esell­
schaft. Er gilt als B estätigung, einer unterdrückten und diskrim inierten G ruppe
anzugehören. U nd w ie im N ahen und M ittleren O sten erfüllt das Feindbild Israel
auch hier m ehrere Funktionen: Es dient der K om pensation und A ggressionsab­
fuhr im Sinne eines als gerecht em pfundenen Zorns; es stiftet eine G em einschaft
(Iden tifizierun g als Palästinenser, Libanesen, A raber, M uslim e), in der sich die J u ­
gendlichen stark zeigen können und die ihnen O rien tieru ng und ein G efühl von
Z ugehörigkeit gibt; und es w ird ein Sündenbock geschaffen, m it dem man sich
von eigener V erantw ortlichkeit befreien kann. N ich t zu letzt dienen Ä ußerungen
des H asses auf Israel auch als gezielte P rovokation der deutschen M ehrheitsgesell­
schaft - einschließlich ihrer Pädagogen.“ 14 Es sind aus der befragten G ruppe zw ei
Teilnehmer, die sich zum Judentum d ifferenzierter äußern und in einem Fall auch
ausdrücklich gegen die Positionen innerhalb der eigenen Fam ilie zur W ehr setzen
müssen. B eide besuchen G ym nasien und streben das A b itu r an. Ein 16-jähriger
A nalphabet in der G ruppe der Befragten hat die am w enigsten konkreten V orur­
teile gegen Juden. Er gibt aber freim ütig zu, sich an antisem itischen H andlungen
beteiligt zu h ab en .15 Von den Befragten w erden Juden durchw eg als K ollektiv
wahrgenom m en. U nterscheidungen zw ischen „Juden in Israel“ und „Juden in
B erlin “ w erden nicht gem acht.16 A ls B egründung für den H ass auf Juden w erden
Stereotypen w ie deren R eichtum (den Jud en gehöre das KaDeWe), deren un ver­
hältnism äßiger Einfluss und verschiedene V erschw örungstheorien genannt.17
13
14
15
16
'7
Müller: Abgrenzen (wie Anm . 4), S. 98 f.
Ebd., S. 99.
Arnold/Jikeli: Judenhass (wie Anm . 4), S. 126.
Ebd., S. 107.
Ebd., S. U l f .
M u s lim e un d das J u d e n tu m - Das d eu tsche Exempel
189
Eine von ihnen ist, dass Juden hinter dem A ttentat vom 11. Septem ber stehen, eine
V orstellung, die auch sonst unter M uslim en durchaus zu finden ist.18 W eiterhin
finden sich T ötungsphantasien. Besonders häufig sind Ä ußerungen im Zusam ­
m enhang m it dem N ahostkonflikt, w obei der B egriff „Z ionism us“ bem erkens­
w erter W eise bei den Befragten keine R olle spielt, w o h l w eil er nicht bekannt ist.19
Z um indest ein Teil der türkisch-stäm m igen B evölkerung in D eutschland hat
eine andere E instellung gegenüber den verschiedenen Form en des A ntisem itis­
mus. A uf das A ttentat auf eine Synagoge in Istanbul von 2003 hin organisierte eine
m igrantische Initiative gegen A ntisem itism us einen Protestm arsch gegen diesen
Vorfall; bem erkensw erter Weise am 22. N ovem ber, dem Jah restag des A ngriffs auf
eine türkische F am ilie in M ö lln .20 D er Sprecher des säkularen T ürkischen Bund
B erlin-B randenburg (TBB), Safter Cinar, w andte sich aus dem selben A nlass an
das M itteilun gsb latt der Jüdischen G em einde in B erlin „Jüdisches B erlin “, in dem
er feststellte, dass die T ürken Berlins m it der Jüdischen G em einde So lidarität
übten. Das nächste H eft von „Jüdisches B erlin “ veröffentlichte dann etliche Inter­
views und A rtikel zum Them a, T ürken und türkische Juden und Fotos von einer
gem einsam en C h an ukah -F eier des Jüdischen K ulturvereins.21 B em erkensw ert ist
auch eine Rede, die C in ar am 23. N ovem ber 2002 gehalten hat. D arin hat er die
E reignisse von M ö lln m it der Reichspogrom nacht verglichen. Dann w ies er darauf
hin, dass auch D eutsch-T ürken D eutsche seien. D aher m üssten sie die deutsche
G eschichte auch als Teil ihrer G eschichte akzeptieren. Er lehnte die Form ulierung
H elm ut Kohls von der G nade der späten G eburt ab und m einte, entsprechend
gäbe es auch keine G nade eines anderen G eburtsortes:
„Als Einw ohner dieses Landes müssen w ir einen Teil der Verantw ortlichkeit fü r dieses alte
Verbrechen übernehmen. Ich weiß nicht, wie man diesen A nteil bestimmen soll - vielleicht
bedarf er keiner Festlegung - , aber w ir müssen unseren Ted der Verantw ortlichkeit auf uns
nehmen. Meine Dam en und H erren, ich möchte es so form ulieren: ,Es gibt keine Gnade der
späten G eburt und es gibt keine Gnade eines anderen G eb urtsorts.'“22
Auch bei anderen G elegenheiten suchte der TBB die Z usam m enarbeit m it der
Jüdischen G em einde.23
Die T ürkische G em einde zu B erlin sah P arallelen in Fragen des A ufbaus der
m uslim ischen und der jüdischen G em einden. V ielleicht etwas euphorisch und
wohl in U nkenntnis über die internen A useinandersetzungen innerhalb der jü d i­
schen G em einschaft in D eutschland sagte er:
18 Zu dieser Verschw örungstheorie z.B.: Barbara Lerner: D o n ’t call them Arabs. In: N atio­
nal Review, 30. 1. 2002.
19 Arnold/Jikeli: Judenhass (wie Anm . 4), S. 113, S. 1 1 6 f.
20 Jüdisches Berlin 59 (2003), S. 4.
21 Jüdisches Berlin 59 (2003), S. 4, S. 15; Jüdisches Berlin 60 (2004), S. 12 f.
22 Rückübersetzt aus dem Englischen: Gök^e Yurdakul/Y. Michal Bodemann: „We D o n ’t
Want to Be the Jew s o f T om orrow “. Jews and Turks in G erm any after 9/11. In: Germ an
Politics and Society 24 (2006) 2, S. 4 4 -6 7 , hier: S. 54.
23 Ebd.
190
Peter H e in e
„Ich bitte A llah darum, dass keine andere N ation die Schwierigkeiten erfahren muss, die die
jüdische N ation erfahren hat. [...] Es gibt eine jüdische Gemeinde, die für alle Juden spricht.
Mein H erz wünscht, dass alle türkischen O rganisationen sich unter einem Dach sammeln
und gleichen Abstand zu allen Parteien halten.“-4
A uch hier ist das Beispiel der jüdischen O rganisationsform w ohl prägend.
Kommen w ir nun zu der H altung des organisierten Islam s in D eutschland zum
Judentum , w obei ich m ich auf Ä ußerungen der D achverbände beziehe. G enerell
kann deren E instellung seit dem Jah r 2000 als neutral oder als freundlich beschrie­
ben w erden. M ehrfach konnte ich bei G esprächen m it M uslim en, die zu christlich-m uslim ischen Begegnungen eingeladen w urden, die B itte hören, auch einen
Vertreter des Judentum s einzuladen, da diese „ähnlich denken w ie w ir“.
B etrachten w ir auch hier zunächst einige em pirische D aten. Im Jahresbericht
des Islam -A rchivs-D eutschland für das Jah r 2007 w urde festgehalten, dass 83%
der in der B undesrepublik lebenden M uslim e christlich-islam ische B egegnungen
für sehr w ich tig halten, 13% für w ichtig. N ach derselben Q uelle konnten sich
70% der B efragten vorstellen, an einem islam isch-jüdischen D ialog teilzunehm en.
D agegen lehnten 19% der Befragten bei dieser U m trage einen solchen D ialog
ab.25
V erlautbarungen und Ä ußerungen zum Juden tum stam m en von allen drei m us­
lim ischen D achorganisationen. Besonders prononciert m eldet sich in der Regel
der Islam rat für die B undesrepublik D eutschland in Soest. Das liegt w ohl an des­
sen führendem M itglied , dem heutigen A lt-D irekto r des im Islam rat beheim ateten
Islam -A rchivs, M uham m ad Salim A b dullah, der vom Beginn der A rbeit des Islam -A rchivs in Soest den K ontakt zu Vertretern des Judentum s in D eutschland
gesucht hat und den dam aligen V orsitzenden des Zentralrats der Juden in
D eutschland, Ignatz B ubis, als M itglied des K uratorium s des Islam -A rchivs ge­
w innen konnte. In der Folge bem ühte sich die Leitung des A rchivs w eiterhin um
R epräsentanten des Judentum s im K uratorium und um K ontakt zu den jew eiligen
V orsitzenden des Zentralrats der Juden in D eutschland. Dies w ird deutlich in ei­
nem Text, in dem K uratorium , Vorstand und L eitung des Islam -A rchivs-D eutsch­
land das W irken des verstorbenen V orsitzenden des Zentralrats der Juden in
D eutschland, Paul Spiegel, w ürdigen. D ort heißt es, der verstorbene Präsident
[...] habe sich sehr um die B egegnung von Jud en und M oslem s bem üht und im m er
w ieder davor gew arnt, die in D eutschland lebenden A nhänger des Islams im R ah ­
men der T errorbekäm pfung mit einem G eneralverdacht zu überziehen. D afür
schulde ihm die islam ische G em einschaft D ank und A nerkennung auch über sei­
nen Tod hinaus.26 Ferner heißt es in einem G lückw unschschreiben an C harlotte
Knobloch vom 7. Ju n i 2006 aus Anlass ihrer W ahl zu r V orsitzenden des Z entral­
rats der Juden: „Der G ott unseres Vaters A braham gebe Ihnen Kraft und schütze
24 Aus dem Englischen rückübersetzt, ebd., S. 55.
25 K oordinierungsrat vertritt M ehrheit der Muslime:
www.islamarchiv.de/akver/in_online.html (letzter Zugriff am 3. 12. 2008).
26 Paul Spiegel hat Begegnung mit Moslems gefördert:
www.islamarchiv.de/akver/in_online.html (letzter Zugriff am 3. 12. 2008).
M u s lim e un d das J u d e n tu m - Das deu tsche Exempel
191
ihre W ege“. Bei dieser G elegenheit w ird auch darauf hingew iesen, dass 2006 die
V orsitzende der Jüdischen Landesgem einde Brem en, Frau Elvira N ora, im K ura­
torium des Islam -A rchivs vertreten sei.27
D er Islam rat nahm auch Stellung zu den Israel feindlichen A usfällen des iran i­
schen Staatspräsidenten A hm adinedschad, verurteilte dessen Leugnung des H o lo ­
caust und riet ihm , A usch w itz zu besuchen. D er Islam rat erinnerte in diesem Z u­
sam m enhang daran, dass auch rund 200000 m uslim ische R om a aus Südosteuropa
in deutschen K onzentrationslagern erm ordet w orden seien und ferner auch M us­
lime aus N ordafrika. „Die M oslem s auf dem B alkan haben sich dam als gegen die
D eportation von Jud en und Rom a durch die SS gew ehrt. Zu W iderstand gegen die
deutsche B esatzungsm acht aufgerufen hatten die H odschas in den M oscheen.“
Die M oslem s haben von daher allen G rund, der Kam pagne des iranischen P räsi­
denten entgegenzutreten.28
A uch bei anti-jüdischen V orkom m nissen m eldet sich das Islam -A rchivD eutschland zu W ort. So bei einem A ngriff auf einen jüdischen R abbiner in
Frankfurt am M ain, als dem Vorsitzenden des Z entralrats der Juden in D eutsch­
land ein Schreiben folgenden Inhalts überm ittelt w urde:
„W ir sind erschüttert über die Bluttat in Frankfurt am Main, deren O p fer ein Rabbiner ge­
w orden ist. Falls es sich bewahrheiten sollte, dass der flüchtige Täter ein Muslim gewesen ist,
steigt in uns Entsetzen und Verbitterung auf. Seien Sie gewiss, dass unsere Gebete in diesen
Stunden dem O pfer gelten. W ir hoffen inständig, dass bei aller Verbitterung die gebotene
Freundschaft und N ähe zu unseren jüdischen Schwestern und Brüdern keinen Schaden neh­
men wird. Dem O p fer wünschen w ir baldige Genesung.“29
Das Islam -A rchiv-D eutschland verleiht einm al im Jah r den M oham m ad-N afiT schelebi-M edienpreis. Er erinnert an den Syrer M oham m ad N afi Tschelebi, der
1927 in B erlin das Islam -A rchiv-D eutschland gegründet hat. D er P reisträger für
das Jah r 2005 w ar der ehem alige Landesrabbiner für W estfalen-Lippe, Dr. H en ry
Brandt, der unm ittelbar nach seiner A m tsübernahm e auch das Islam -A rchiv be­
sucht und w eiterhin K ontakt zu dieser Institution gehalten hatte.30
Die besonderen A ktivitäten des vom Islam rat für die B undesrepublik D eutsch­
land getragenen Islam -A rchivs-D eutschland im Bereich des jüdisch-m uslim ischen
D ialogs sind nicht zuletzt auf seinen Leiter, M uham m ad Salim A bdullah zu rü ck ­
zuführen. D ieser gelernte Jo urn alist hat eine abenteuerliche B iographie, die als
Vorlage für einen R om an dienen könnte. Er soll in den 1950er Jahren zum Islam
konvertiert sein. F ür die „D eutsche W elle“ w ar er der Fachm ann für die islam i­
sche W elt und vertrat internationale islam ische O rganisationen in D eutschland.
27 Islam -Archiv-D eutschland begrüßt Wahl von C harlotte K nobloch: www.islamarchiv.de/
akver/in_onlinc.html (letzter Z ugriff am 3. 12. 2008).
28 Antisem itische Kampagne verurteilt: www.islamarchiv.de/akver/in_online.html (letzter
Zugriff am 3. 12. 2008).
29 Islam-Institut reagiert mit Verbitterung auf Anschlag auf Rabbiner der jüdischen G e­
meinde Frankfurt: www.islamarchiv.de/akver/in_online.html (letzter Z ugriff am 3. 12. 2008).
jüdischer Theologe erhält islamischen Medienpreis: www.islamarchiv.de/akver/in_
online.html (letzter Z ugriff am 3. 12. 2008).
19 2
Peter H e in e
Er arbeitete bei der E ntw icklung eines Lehrbuchs für den islam ischen R eligio ns­
unterricht für einen entsprechenden Schulversuch in N ordrhein-W estfalen mit.
Seine Z usam m enarbeit m it verschiedenen m uslim ischen O rganisationen in
D eutschland ist unübersichtlich. Seine heutige B edeutung für den Islam in
D eutschland ist schw er einzuschätzen.31 A bdullah hätte seine V erlautbarungen
aber nicht m achen können, w enn ihm die w ichtigsten M itgliedsorganisationen des
Islam rats dafür nicht freie H and gegeben hätten. H auptm itglied dieses D achver­
bands ist die türkische M illi G örüsch-O rganisation, die als V ertretung eines m ili­
tanten oder politischen Islam s gilt. D ie O rganisation hat aber keine Problem e, mit
Vertretern jüd isch er G em einden zusam m enzuarbeiten, w enn es um die D urch­
setzung gem einsam er Interessen geht. D ie türkischen M uslim e m achen dabei inte­
ressante E rfahrungen - so berichtet der L eiter des juristischen Büros der M illi
G örüsch-B ew egung in einem Interview:
„Einmal nahm ich an einer Diskussion im Parlament von N ordrhein-W estfalen über die
Schlachtung nach islamischem Ritual teil. Ich habe sehr lange zu diesen Leuten gesprochen.
Ich trug alle vernünftigen Argum ente vor: Religionsfreiheit, Antidiskrim inierungsgesetze
etc. A b er sie argum entierten sehr unfreundlich und em otional gegen uns. Sie hörten nicht auf
meine Argum ente. Nach mir sprach ein Rabbiner. Er sagte: ,Sie haben nicht das Recht so zu
sprechen. Im Jahr 1933 w urde die rituelle Schlachtung als eine anti-semitische Maßnahme
verboten. In der Folge dieser anti-semitischen Maßnahme w urden sechs M illionen Menschen
erm ordet.“ Plötzlich w ar es still. Niemand w ollte noch etwas sagen. Ich denke, wenn ich in
einer derartigen Situation wäre, würde ich derartig drastische Argum ente nicht akzeptieren
und die Diskussion verlassen. A b er in diesem Land w urden in der Folge der anti-semitischen
Politik sechs M illionen Menschen ermordet. D aher kann niemand den Raum verlassen, wenn
ein Rabbiner spricht. Das wäre ein Skandal. D aher hörte jeder bis zum Ende zu. A ls w ir gin­
gen, sagte ich zu ihm: ,Vielen Dank. So muss man sich ausdrücken. Unsere Situation ist eine
andere.“ Er sagte: ,Ich weiß natürlich, dass sie G ro ll gegen mich hegen. Das ist in ihren G e­
nen. Das Beste, was Sie machen können, ist, sich an uns Juden zu halten. Als M inderheiten
müssen w ir uns gemeinsam gegen D iskrim inierungen wehren. Uns müssen sie zuhören. Ih­
ren W orten werden sie nicht zuhören.““32
N icht m inder aufschlussreich sind die Ä ußerungen zum Juden tum bei der z w ei­
ten D achorganisation, dem Z entralrat der M uslim e in D eutschland. Wohl auf A n ­
regung des V orsitzenden des Z entralrats der Jud en in D eutschland, Ignatz Bubis,
veranstaltete das D eutsche O rient-Institut/H am burg im Jan u ar 1999 eine Tagung,
an der von jüd isch er Seite B ubis und von m uslim ischer Seite der Vorsitzende des
Z entralrats der M uslim e in D eutschland, N adeem E lyas, teilnahm en. In den G e­
sprächen dieses Treffens w urd e neben einem guten E invernehm en zw ischen Bubis
und E lyas deutlich, dass die beiden M inderheitenreligionen in D eutschland ge­
m einsame T hem en gegenüber der M ehrheitsgesellschaft haben. Bubis hatte m ehr­
fach eine E inbeziehung der M uslim e in den interreligiösen D ialog gefordert. Er
31 Eine bem erkenswert detailreiche, aber auch deutlich polemische Äußerung zu Abdullah
ist: D er Kim Schmitz des deutschen Islam: ww w .burks.de (letzter Zugriff am 8. 1. 2009).
32 Yirdakul/Bodemann: Jew s (wie Anm . 22), S. 59; dazu auch: Shai Lavi: Unequal Rites Jews, Muslims and the H istory o f Ritual Slaughter in Germany. In: Brunner/Shavi (Hg.):
Juden (wie Anm . 5), S. 16 4 -18 4 .
M u s lim e un d das J u d e n t u m - D as deu tsc h e E xem pel
193
stellte fest, dass in der deutschen Ö ffentlichkeit noch viele V orurteile gegenüber
dem Islam bestünden. Viele R essentim ents gegenüber dem Islam beruhten auf den
gleichen Fehlinform ationen, die „früher zur V erachtung des Juden tu m s“ geführt
hätten. In der türkischen Tageszeitung „ F lü riyet“ beschrieb er das eigentliche
Problem in D eutschland w en iger als eine A usländer-, sondern vielm ehr als eine
F rem denfeindlichkeit. D iese richte sich seiner A nsicht nach nicht nur gegen A us­
länder ohne deutsche Staatsbürgerschaft, sondern auch gegen deutsche Staatsbür­
ger türkischer w ie jüdisch er H erkunft.33 A uf der K onferenz w iederholte Bubis
seine Forderungen und E lyas verteidigte seine Teilnahm e an einer V eranstaltung
m it dem Z entralrat der Jud en gegen K ritik von m uslim ischer Seite. „Dies haben
w ir in K auf genom m en, w eil w ir uns als M uslim e in D eutschland für Transparenz,
Ö ffnung und für Z usam m enarbeit einsetzen w ollen. M uslim e in D eutschland
m üssen sich daran gew öhnen, dass ihre V ertreter auch solche Trägerschaften über­
nehmen und gem einsam m it C hristen und Jud en antreten.“34 A uch m it dem
N achfolger im Vorsitz des Z entralrats der Juden hatte E lyas gute B eziehungen.
Beide trafen sich bei verschiedenen G elegenheiten, zu denen die beiden Zentralratsvorsitzenden eingeladen w aren. Zu einem offiziellen Zusam m entreffen kam es
am 5. Ju li 2002 in D üsseldorf. D ie anschließende V erlautbarung m achte deutlich,
dass beide G laubensgem einschaften zahlreiche gem einsam e Interessen im G rund­
sätzlichen w ie auch in praktischen Fragen haben. Beide verstanden sich als Spre­
cher einer M inderheit und sahen daher G em einsam keiten in der H altun g gegen­
über der M ehrheitsgesellschaft. In praktischen Fragen w iesen sie auf gem einsam e
Interessen in Fragen des R eligionsunterrichts und des A n tidiskrim inierungsgesetzes hin, verabredeten regelm äßige Treffen und gem einsam e Projekte des m usli­
m isch-jüdischen D ialogs, vor allem im Bereich der Jugen darb eit.35 A us dem Zen­
tralrat der M uslim e in D eutschland ist m ir bekannt gew orden, dass Spiegel z u ­
sam men m it M itglied ern des Z entralrats der M uslim e bei dem nordrhein-w estfälischen M in isterium für U m w elt und V erbraucher gegen eine V erw altungsvor­
schrift gegen das Schächten interveniert hat. In der gleichen A ngelegenheit hat der
Z entralrat der Jud en auch m it der „Türkischen G em einde in D eutschland“ gegen­
über der D eutschen T ierärztekam m er zusam m engearbeitet.36 K oordiniert w ar
der Protest des Z entralrats der Jud en und des Z entralrats der M uslim e, als die
Bundesm inisterin für Fam ilie, Frauen, Senioren und Jugend, U rsula von der
Leyen, zu einem „Bündnis für E rziehung“ Vertreter der christlichen Kirchen ein­
lud. A ufgabe des Bündnisses sollte es sein, L eitlinien für eine christliche W erteer­
ziehung zu erarbeiten. D azu gehörten, so die M in isterin , R espekt vor anderen,
A ufrichtigkeit und V erantw ortung für Schwache. D ie beiden Verbände zeigten
33 Kai Hafez/Udo Steinbach: Die gesellschaftliche Stellung von Juden und Muslimen. In:
Hafez/Steinbach (Hg.): Juden (wie Anm . 1), S. 5 -1 0 , hier: S. 6.
34 Nadeem Elyas: Integration ist keine Einbahnstraße. In: Hafez/Steinbach (Hg.): Juden (wie
Anm . 1), S. 16 -2 0 , hier: S. 16 f.
35 Zusam mentreffen des Zentralrats der Juden in Deutschland mit dem Zentralrat der M us­
lime in Deutschland: ww w.islam .de (letzter Zugriff am 2. 12. 2008).
36 Schürung religiöser Vorurteile. In: Islamische Zeitung, 9. 7. 2008.
194
Peter H eine
sich verärgert, w eil sie nicht eingeladen w orden w aren. Sie stellten fest, dass die
aufgezählten W erte nicht exklusiv christlich seien.37 D ie guten B eziehungen z w i­
schen den beiden Z entralräten w erden auch deutlich aus der Tatsache, dass der
stellvertretende V orsitzende des Z entralrats der Juden , Salom on Korn, für die
„Frankfurter A llgem eine Z eitung“ am 27. O ktober 2008 einen um fangreichen
A ufsatz zu r Frage des Baus von Synagogen und M oscheen in D eutschland veröf­
fentlicht hatte, den der Z entralrat der M uslim e prom inent im Internet bekannt
m achte.38
F ür den türkischen D achverband DITIB w ar die Frage der Z usam m enarbeit
m it jüdischen O rganisationen lange Zeit ohne besondere Bedeutung. D afür gab es
zw ei G ründe: Bis etw a 2005 w ar das H aup tziel von DITIB als staatlicher tü rk i­
scher Institution, für eine Stärkung der B eziehungen zw ischen türkischen M us­
lim en in D eutschland beziehungsw eise Europa und ihrem H erkunftsland zu sor­
gen. Integrationsbem ühungen in die deutsche G esellschaft stand der Verband
ablehnend gegenüber. D aher w ar die B eteiligung am interreligiösen D ialog bei
D ITIB im V ergleich zum Islam rat oder zum Z entralrat w en ig ausgeprägt. Das galt
für K ontakte zu christlichen w ie jüdischen O rganisationen in gleicher Weise. Dass
D ITIB als größter m uslim ischer Verband in D eutschland dam it seinen sehr viel
kleineren K onkurrenzorganisationen das Feld der K ontakte und der öffentlichen
A ufm erksam keit üb erließ, w ar den Vertretern von D ITIB entw eder nicht bew usst
oder man nahm es billigend in Kauf. D er zw eite G rund für das geringe Interesse
lag in den trad ition ell guten, teilw eise engen politischen und w irtschaftlichen
Beziehungen der T ürkei zu Israel. A uch DITIB sah w o h l keine K onflikte, die es
erforderlich gem acht hätten, in einen D ialog mit jüdischen O rganisationen oder
E inzelpersonen in D eutschland einzutreten. Inzw ischen hat DITIB seine P o litik
grundsätzlich geändert. D er O rganisation ist klar gew orden, dass sich die K on­
zentration ih rer B em ühungen, ausschließlich die B indungen ihrer M itglieder an
die T ürkei zu fördern, in eine Sackgasse führte beziehungsw eise kontraproduktiv
war. D ITIB beteiligt sich jetzt regelm äßig an interreligiösen V eranstaltungen und
tritt gem einsam m it christlichen und/oder jüdischen O rganisationen als Veran­
stalter auf. Bei einer derartigen V eranstaltung am 22./23. O ktober 2007 w urde
eine gem einsam e „Entschließung der O rientierungskonferenz zur interreligiösen
A rb eit in D eutschland“ auch von DITIB m it getragen. D arin heißt es unter ande­
rem:
„Es w ird ausdrücklich begrüßt, dass die Träger (Arbeitsgem einschaft C hristlicher Kirchen,
Zentralrat der M uslime, Türkisch-Islamische U nion der Anstalt für Religion/DITIB) die
Fortsetzung des Projekts [„Weißt Du, w er ich bin?“] für erforderlich halten und ihre Bereit­
37 Juden und M uslime fühlen sich von Familienministerin Leyen ausgeschlossen. In: Süd­
deutsche Zeitung, 20. 4. 2006.
38 Moscheen- und Synagogenbau: Zu schwach, um Fremdes zu ertragen? „Im Neuen M ög­
lichkeiten der Bereicherung erkennen“. Von Professor Dr. Salom on K orn: www.Islam.de/
1 1 1 3 4 .php (letzter Zugriff am 2. 12. 2008).
M u s lim e un d das J u d e n t u m - Das d eu tsche Exempel
195
schaft dazu erklärt haben. A u f jüdischer und muslimischer Seite kann eine mögliche E rw ei­
terung der Trägerschaft angestrebt werden.“39
Die jüdischen und m uslim ischen O rganisationen haben in den vergangenen Jah ­
ren erkannt, dass sie als religiöse M inderheiten in D eutschland und in Europa ge­
genüber den jew eiligen M ehrheitsgesellschaften und der M ehrheitsreligion des
C hristentum s in der konkreten Lebenssituation durchaus vergleichbare negative
Erfahrungen m achen. Zum indest in D eutschland sind diese E rfahrungen für Ju ­
den subtiler, für M uslim e sehr viel direkter. A ngesichts der gem einsam en A lltags­
erfahrungen liegt es daher nahe, dass die beiden betroffenen Seiten sich austauschen und kooperieren. „Juden und M uslim e ziehen an einem Stran g“ lautet die
Ü berschrift einer V erlautbarung des Z entralrats der Juden in D eutschland anläss­
lich der E inrichtung eines europaw eiten Forschungszentrum s, das Daten über
A ntisem itism us und Islam ophobie sam m eln, analysieren und Strategien zu ihrer
Bekäm pfung erarbeiten w ill.40 Diese K ooperation ist ebenso nützlich w ie d rin ­
gend, w enn man sich die eingangs geschilderte H altun g von m anchen m uslim i­
schen Jugendlichen in E rinnerung ruft. Die K ooperation kann vielleicht dazu bei­
tragen, dass auch diese Personengruppe die G em einsam keiten von Juden und
M uslim en erkennt, und sei es zunächst nur in der gem einsam en D iskrim in ie­
rungserfahrung.
Abstract
There are tw o sides to the relationship between M uslim s and Jew s in Federal G er­
m any: the conflict in the M iddle East has a strong im pact on G erm an M uslim s’
im age of Jew s; this is especially true of those w ith an A rab background. In this
environm ent, distinctions are rarely made betw een the Jew ish religion and the
political practice of Israeli governm ents. A nti-Sem itic stereotypes are especially
prevalent am ong the yo un ger Arab generations. A n ti-Jew ish tendencies am ong
M uslim s w ith a Turkish background are on the increase due to the current ten­
sions between Turkish and Israeli officials.
H owever, relations betw een M uslim and Jew ish organizations in G erm any are
quite good on the official level. For exam ple, the tw o m inorities have cooperated
in several cases w hen problem s appeared between the M uslim or Jew ish com m u­
nities and the G erm an m ajo rity or Germ an political and adm inistrative in stitu­
tions. H igh representatives of the Z entralrat der Jud en in D eutschland have sup ­
ported M uslim s in conflicts about ritual slaughter or the building of m osques. In
dialogue program s betw een the three m onotheistic religions in G erm any, M us­
39 Zukunft der Zusam menarbeit der großen Religionen in Deutschland: w w w.oekum cne-ack.
de/Meldung. 49.0. htm l ?& no_cache=i& tx„ttnews[backPid]=l& tx_ttnew s[pointer]=3& tx_
ttnew s[tt_new s]=212& cH ash=a30e218eld (letzter Z ugriff am 2. 12. 2008).
•,0 Juden und M uslime ziehen an einem Strang: www.zentralratderjuden.de/de/article/
959.htm l (letzter Zugriff am 2. 12. 2008).
196
Peter H eine
lims have often asked for the support of the Jew ish side because of the m any dog­
m atic and ritual parallels betw een Islam and Judaism . The good relations between
the official branches of the tw o religions in G erm any m ay lead to an im provem ent
of com m unication on a d ay after day basis.
Wolfgang Loschelder
Religiöse Unterweisung als Merkmal kultureller
Identität
Die Auseinandersetzung über Religionskunde und Religions­
unterricht für M uslime in Deutschland 1970 bis heute
Es gibt in der R echtsw issenschaft „E w igkeitsthem en“, die im m er w ieder aufs
N eue - auch m it G ew inn - fachlich d iskutiert w erden können: D azu gehört die
religiöse U nterw eisun g für m uslim ische Schüler in D eutschland nicht. Es gibt an­
dererseits Them en, die zu im m er neuen, aber ergebnisarm en A useinandersetzun­
gen in P o litik und M edien taugen, w enn sie nur genügend K onfliktstoff, E m otio­
nen und Profilierungsm öglichkeiten bieten: D azu gehört die religiöse U nterw ei­
sung m uslim ischer Schüler ohne Zweifel. D er A rb eitstitel, den die T agungsleitung
für m einen B eitrag gew ählt hat, stellt die P roblem atik in den zeitlichen Rahm en,
in dem sie sich in D eutschland entw ickelt hat, und in einen übergreifenden Sach­
zusam m enhang - den der „kulturellen Iden tität“. Beides ist geeignet, die Ü b er­
legungen aus einer zu engen juristischen Sicht und erst recht aus der Selbstbefangenheit der öffentlichen D iskussion herauszuführen. U n d so ist dieser T itel auch
unverändert geblieben.
I. Die Entwicklung seit 1970
Die Frage, ob und w ie jungen M uslim en Kenntnisse über ihre R eligion, insbeson­
dere in den Schulen, verm ittelt w erden kann, beschäftigt die B ildun gsp o litik seit
den 70er Jahren. D abei zeichnet sich eine deutliche zeitliche Z w eiteilung ab, so­
w ohl was die Problem stellung selbst als auch, ihr folgend, was die Problems/c/^
angeht.
a) D ie Vorgeschichte reicht bis in die 60er Jah re zurück, als im Zuge des starken
W irtschaftsw achstum s zunehm end türkische „G astarbeiter“ - w ie man sie nannte
- in die B undesrepublik einreisten. D iese ließen in der R egel ihre A ngehörigen in
der T ürkei zurück, w eil sie - w ie auch die deutsche Seite - davon ausgingen, dass
sie nur w enige Jah re bleiben w ürden. Etwa M itte der 70er Jah re w urde jedoch
deutlich, dass ihr A ufenthalt länger dauern könnte. D aher holten sie mehr und
198
W o lfga n g L oscheld er
m ehr ihre Frauen und Kinder zu sich, w obei aber alle B eteiligten nach w ie vor an
einer absehbaren R ückkeh r in die Fleim at festh ielten .1
b) In dieser Situation sahen sich die Bundesländer, die für das Schulw esen zu ­
ständig sind, dazu veranlasst, für die m uslim ischen K inder einen - w ie auch im m er
gearteten - religionsbezogenen U nterrich t einzuführen. Es existierte bereits, einer
E G -R ichtlinie2 folgend, ein sogenannter M uttersprachlicher E rgänzungsunter­
richt (M EU ). Ä hnliche V eranstaltungen boten die diplom atischen Vertretungen
an. In beiden Fällen versuchte man nun, eher tastend, auch gew isse religiöse G e­
halte einzubeziehen.3 D ie M odelle w aren von Land zu Land verschieden. Ein Ver­
such der K ultusm inisterkonferenz, die Initiativen zu vereinheitlichen, schlug, w ie
vorauszusehen, 1983/84 fehl.4 G leichzeitig sah man sich in K onkurrenz zu einer
wachsenden Zahl von M oscheen m it ihren K orankursen. D iese gerieten indessen
bald - wegen ihrer politischen R ückbindungen - un ter den Verdacht entsprechen­
der In d oktrinierun g.5
Ziel des M uttersprachlichen E rgänzungsunterrichts w ar es, den Teilnehm ern
die eigene K ultur und Sprache nahe zu bringen und sie auf diese W eise auf ihre
R ückkeh r in die H eim at vorzubereiten. Infolgedessen w urde er in türkischer
Sprache erteilt, später auch auf A rabisch und Bosnisch. M an arbeitete eng m it den
türkischen E rziehungsbehörden zusam m en; teilw eise w urden türkische L eh r­
pläne zugrunde gelegt sow ie türkische Lehrer eingesetzt, die auf Zeit für diese
A ufgabe abgeordnet w aren .6
c) D iese erste Phase endete in den späten 90er Jah ren , als sich die Erkenntnis
durchsetzte, dass die E inw anderer in ihrer großen Zahl nicht mehr in ihr H er­
kunftsland zurückkeh ren w ürd en .7 D am it veränderten sich die A nforderungen an
den „Islam unterricht“ grundsätzlich. Er w ar an die neue Lage, also den dauernden
Verbleib in D eutschland, anzupassen.8
1 Eingehend zur Einwanderung der ausländischen M uslime seit den 60er Jahren etwa Adnan
Asian: Religiöse Erziehung der muslimischen K inder in Deutschland und Ö sterreich. Stutt­
gart 1998, S. 33 ff.
2 Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom 25. 7. 1977, Abi. EG 1977 L 199/
32.
3 M yrian Dietrich: Islamischer Religionsunterricht. Rechtliche Perspektiven. Frankfurt am
Main 2006, S. 88 f. (m.w.N.).
4 Eingehend, insbes. zu den verschiedenen M odellen, Asian: Erziehung (wie Anm . 1),
S. 1 5 9 ff.; zu den unterschiedlichen Vorstellungen auf muslim ischer Seite ebd., S. 14 S ff.
5 Dietrich: Religionsunterricht (wie Anm . 3), S. 8 8 f.; Asian: Erziehung (wie Anm . I),
S. 179 ff.
6 Simone Spriewald: Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Einführung von islamischem
Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an deutschen Schulen. Berlin 2003, S. 228 f.;
Dietrich: Religionsunterricht (wie Anm . 3), S. 8 9 f.; Asian: Erziehung (wie Anm . 1), S. 161 ff.
7 Zu diesem allmählichen Erkenntnisprozess Fiermann Weber: Zurückhaltende Abw ehr,
fürsorgliche Belagerung oder hereinnehmende N eutralität? In: Zeitschrift für evangelisches
Kirchenrecht 52 (2007) 3, S. 3 5 4-39 9, hier: S. 355 f.
8 Z ur Entwicklung insgesamt - mit zahlreichen Belegen - Dietrich: Religionsunterricht (wie
Anm . 3), S. 92 ff.
R eligiö se U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u lt u r e lle r Identität
19 9
Zunächst ging man dazu über, ihn in deutscher Sprache zu erteilen, und löste
ihn vielfach aus dem M uttersprachlichen E rgänzungsunterricht heraus. Dies
führte zu heftigen R eaktionen, vor allem bei den m uslim ischen Verbänden, und
nicht zuletzt aus A n kara selbst, w o man befürchtete, an Einfluss einzubüßen.9
Sodann w urden die L ehrpläne um gestellt und neue organisatorische Konzepte
entw ickelt. D ieser Prozess verlief unübersichtlich. Eine R eihe von m uslim ischen
V ereinigungen forderte einen „regulären“ R eligio nsun terrich t im Sinne des
G rundgesetzes, w as die Behörden ablehnten, w eil es an den verfassungsrechtli­
chen V oraussetzungen feh le.10 Stattdessen versuchte man, an „runden T ischen“
m it m uslim ischen R epräsentanten gem einsam e L ösungen zu finden - m it be­
grenztem E rfolg.11 Schließlich entschieden sich die L änder zu guten Teilen für
eine „R eligions künde“ 12 in staatlicher V erantw ortung, jedoch w iederum auf je
eigenen W egen.13
Dieses M odell w urd e - und w ird - allerdings von vielen B eteiligten, zum al von
betroffenen Eltern, als eine bloße A ushilfe gew ertet, bis der eigentlich gew ünschte
R eligionsunterricht - m öglichst rasch - eingeführt sein w ürde. Es fehlt dem gem äß
nicht an Stim m en, die - übergangsw eise - auf K om prom isse, auf A bstriche von
den rechtlichen V orgaben d rängen.14 D arauf haben einige Länder m it einer Reihe
begrenzter - nicht unproblem atischer - Schulversuche reagiert, die parallel zur
„regulären“ R eligio nskunde durchgeführt w erd en .15
9 Dietrich: Religionsunterricht (wie Anm . 3), S. 80, S. 9 0 f.; zum Standpunkt der türkischen
Regierung und der ihr nahe stehenden Verbände auch Asian: Erziehung (wie Anm . 1),
S. 149 ff.
10 M artin Stock: Einige Schwierigkeiten mit islamischem R eligionsunterricht. In: Neue Zeit­
schrift für Verwaltungsrecht 23 (2004), S. 13 9 9 -14 0 4 , hier: S. 1401 f.; Dietrich: Religionsun­
terricht (wie Anm . 3), S. 9 0 ff.; A xel Emenet: Verfassungsrechtliche Problem e einer islami­
schen Religionskunde an öffentlichen Schulen - Dargestellt anhand des nordrhein-w estfälischen Schulversuchs ,,Islamische U nterw eisung“. Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 2 5 f.
11 Stock: Schwierigkeiten (wie Anm . 10), S. 1402 f.; D ietrich: R eligionsunterricht (wie
Anm. 3), S. 97 f.
12 Vgl. BVerfGE 74, 244 (252 f.) zur Abgrenzung des Religionsunterrichts von „bloßer M o ­
rallehre, Sittenunterricht, historisierender und relativierender Religionskunde“ sowie Martin
Heckei: R eligionsunterricht für Muslime? K ulturelle Integration unter Wahrung der religiö­
sen Identität. Ein Beispiel für die komplementäre N atur der Religionsfreiheit. In: U rs Bau­
mann (Hg.): Islamischer Religionsunterricht. Frankfurt am Main 20 01, S. 7 9 -14 3 , hier:
S. 122 ff.
13 Wie buntscheckig das Bild ist, zeigt der Ü berblick bei Stock: Schwierigkeiten (wie
Anm. 10), S. 1 4 0 0 f. (m.w.N.); Dietrich: Religionsunterricht (wie A nm . 3), S. 111 ff. (m.w.N.).
14 H ierzu im Ü berblick Spriewald: Rechtsfragen (wie Anm . 6), S. 244 ff.; vgl. ferner W o lf­
gang Bock: Islamischer R eligionsunterricht oder Religionskunde? Zu ihren verfassungs­
rechtlichen Rahmenbedingungen. In: ders. (Flg.): Islamischer R eligionsunterricht? Tübingen
22007, S. 3 -3 2 , hier: S. 26 ff.
13 Zu den Schulvcrsuchen sow ohl in Erlangen und Niedersachsen als auch den Pilotprojek­
ten in R heinland-Pfalz und B aden-W ürttem berg vgl. D ietrich: R eligionsunterricht (wie
Anm . 3), S. 12 1-1 3 2 .
200
W o lfga n g L ose he ld er
II. Der Stellenwert der „kulturellen Identität“
D er A spekt der „kulturellen Identität“ hat in diesem Zusam m enhang - angesichts
der veränderten Situation - erheblich an G ew icht gew onnen und ist in der zw eiten
Phase zu einem öffentlichen und streitigen Them a gew orden.
a) Dass die R eligio n - ihre W erte, das H erkom m en, das sich m it ihr verbindet,
und der soziale Z usam m enhalt, den sie verm ittelt - für das Selbstverständnis ge­
rade der M uslim e von zentraler B edeutung ist,16 w ar den V erantw ortlichen frei­
lich auch schon in der ersten Phase bew usst. Eben desw egen hatte man den M u t­
tersprachlichen E rgänzungsunterricht m it religiösen Elem enten angereichert. Zu
w eiterreichenden politischen K onflikten konnte dies aber zunächst kaum führen.
Das G eschehen blieb - nach Z ielsetzung, A dressaten, Sprache, Lehrm aterialien
und so fort - vollständig auf den islam ischen K ulturraum beschränkt. D ie d eut­
schen Instanzen leisteten zw ar H ilfestellung, aber die deutsche G esellschaft fühlte
sich in der Sache nicht betroffen.
b) M it der E insicht, dass die m uslim ischen E inw anderer zum großen Teil end­
gültig in D eutschland bleiben w ürden, endete dieser Zustand eines distanzierten
N ebeneinanders. D enn nun m usste man sich der Frage stellen, w ie diese durch
Zuzug und G eburtenstärke ständig w achsende G ruppe17 in die säkulare Staats­
und G esellschaftsordnung der B undesrepublik einbezogen w erden konnte. D am it
geriet auch und besonders die religiöse islam ische Schulbildung in das Spannungs­
feld von Integration und ku ltureller Selbstbehauptung - oder tendenziös form u­
liert: zw ischen die Extrem e von Vereinnahm ung und A bschottung.
D ie Betroffenen selbst, die Schüler und ihre Fam ilien, m ussten die neuen R ege­
lungen - den W echsel zur deutschen U nterrichtssprache etw a - als einen Verlust
an gew achsenen B indungen em pfinden. Es w urden ihnen K om prom isse abgenö­
tigt, die ihnen als schm erzlich, ja un zum utbar erschienen. U nd diese betrafen
einen Bereich, der für ihr tradiertes Selbstverständnis - religiös, fam iliär und sozial
- essentiell ist,18 in dem sie entsprechend die K onfrontation m it einer frem den
Lebensw elt besonders unm ittelbar erfuhren.
16 Vor allem die Angehörigen der ersten hier lebenden G eneration der Muslime betonten
ihre Zugehörigkeit zum Islam, um dem Fremdheitsgefühl gegenüber der „westlichen“ K u l­
tur zu begegnen. D er Islam bot sich damit als identitätsstiftender Faktor an, vgl. U lf M atyssek: Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam. In: Stefan Muckel (Llg.):
D er Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates. Berlin 2008, S. 158-233,
hier: S. 225. Eingehend zur Bedeutung der religiösen Erziehung, gerade unter Im m igrations­
bedingungen, Asian: Erziehung (wie Anm . 1), S. 130 ff.
17 Zw ar existieren bislang keine amtlichen Zahlen, Schätzungen gehen aber davon aus, dass
in Deutschland m ittlerw eile ca. 3,5 M illionen Muslime leben, vgl. die statistische Erhebung
des Religionswissenschaftiichen Medien- und Inform ationsdienstes (REM ID): http://
www.rem id.de/info_zahlen_grafik.htm l (letzter Zugriff am 17. 9. 2009).
ls So insbes. A lfred A lbrecht: Religionspolitische Aufgaben angesichts der Präsenz des Islam
in der Bundesrepublik Deutschland. In: Essener Gespräche zum Thema Staat und K irche 20
(1986), S. 8 2 -1 1 9 , hier: S. 90 ff.
R eligiö s e U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u lt u r e lle r Identität
201
Das schon an sich prekäre U nterfangen, hierauf für beide Seiten akzeptable
A ntw orten zu finden, w urd e - und w ird - durch w eitere Faktoren zusätzlich be­
lastet, die nur zum Teil in der Sache selbst begründet liegen.
So hat es sich nachträglich als w enig glücklich erw iesen, dass man die E inw an­
derer in der ersten Phase w eitgehend sich selbst überlassen hat. Denn dam it w urde
eine Isolierung gefördert, die ihre verständliche N eigung, unter sich zu bleiben,
verstärkte.19
In der zw eiten Phase w urde der Fortgang dann lange durch den politischen
Streit blockiert, ob es überhaupt w ünschensw ert, ja vertretbar sei, die E inw ande­
rer in die deutsche G esellschaft zu integrieren. Das W unsch- und G egenbild w ar
die „m ultikulturelle G esellschaft“, in der jede G ruppierung ihr D asein nach eige­
nen R egeln, eigenem H erkom m en und eigenem B elieben gestaltet, unbehelligt
von den anderen und vor allem von der deutschen M ehrheitsgesellschaft und ih­
rem Staat.20 Dass dies eine bare Illusion darstellte, w ar jedem nüchternen B etrach­
ter klar.21 A ber auch aus den R eihen der bürgerlichen Kräfte lief? sich nur w enig
W iderspruch vernehm en, und ihr schon in den 80er Jah ren verkündeter Stand­
punkt, dass D eutschland „kein E inw anderungsland“ sei,22 litt ebenfalls unter
offenkundigem R ealitätsverlust. So w urde kostbare Zeit vertan.
Dass es den B undesländern bis heute nicht gelungen ist, sich auf abgestim m te
Konzepte zu verständigen - auch und gerade in der w ichtigen Frage des „Islam ­
unterrichts“23 - , ist eine w eitere Schwäche. D aran ändern auch die allseitigen ver­
m ehrten A nstrengungen nichts, die vorschulische und schulische B ildung der
Kinder, insbesondere ih r sprachliches V erm ögen, zu fördern. Sie ersetzen einen
schlüssigen G esam tplan nicht, mit dem man der Skepsis der Eltern und den Ein­
wänden der Verbände begegnen könnte.
A uf m uslim ischer Seite ist von E inm ütigkeit erst recht keine Rede. D ie Vielfalt
der V ereinigungen, G ruppierungen und Zusam m enschlüsse ist schw er zu ü b er­
schauen, und oft ist unklar, w ie sie einander zuzuordnen sind, w elchen politischen
Ström ungen und Parteien sie nahe stehen und w elche V erbindungen genau sie zu
ausländischen Instanzen unterhalten.24 Ihre Positionen w idersprechen einander
19 Asian: Erziehung (wie Anm . 1), S. 1 3 0 ff.
20 Plastisch Josef Isensee: W iederentdeckung deutscher Identität. Verfassungstheoretische
Anm erkungen zur Leitkultur. In: Rainer G rote u.a. (Hg.): Die O rdnung der Freiheit. Fest­
schrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen 2007, S. 55 -72, hier:
S. 5 6 ff.; vgl. auch W olfgang Loschelder: K on flikt und Konsens im Verfassungsstaat. Voraus­
setzungen und G renzen eines „interkulturellen“ Dialogs unter dem Grundgesetz. In: O tto
Depenheuer u.a. (Hg.): Staat im W ort. Festschrift fü r Josef Isensee. H eidelberg u.a. 2007,
S. 14 9 -16 8 , hier: S. 159 ff.
21 Dazu Loschelder: K on flik t (wie Anm . 20), S. 160; vgl. insbes. das Interview mit W alter
Kardinal Kasper: „Der Islam ist eine andere K u ltu r“. In: D er Spiegel 38 (2006), S. 7 4 f.
22 So ausdrücklich die Koalitionsvereinbarung von C D U /C SU und FDP von 1982. Vgl.
auch - nach wie v o r - das Positionspapier der „Zuwanderungskom m ission“ der C D U von
2001, dazu in: Frankfurter Allgem eine Zeitung vom 12. 7. 20 01, S. 8: „Kein klassisches Ein­
wanderungsland“.
23 Zur Vielfalt der K onzepte siehe bereits die Nachweise in Anm . 13.
24 Vgl. die Darstellung der verschiedenen Gruppierungen bei Thomas Lemmen: Muslimi-
202
W olfgan g L osc he lder
häuhg, und der A nspruch, „die“ M uslim e in D eutschland oder bestim m te G rup­
pen in toto zu vertreten, lässt sich regelm äßig nicht erhärten. Vor allem verteilt
sich ihre H altun g zu Fragen der Integration über das gesam te denkbare Spektrum
und ist im Einzelfall oft schw er abzusehen.25
In zunehm endem M aße leidet das V erhältnis zw ischen beiden Seiten un ter den
Irritationen, die der w achsende Einfluss fundam entalistischer Ström ungen aus­
löst.26 N atürlich w eckt der islam istische Terror Ängste. A b er auch davon abgese­
hen stoßen die U nd uld sam keit und die häufig fanatischen R eaktionen in der isla­
m ischen W elt bei den w estlichen Partnern m ehr und m ehr auf U nverständnis,
auch E m pörung. D ie A usbrüche, die auf die M o ham m ed-K arikaturen der dän i­
schen Presse folgten27, und die A ufgeregtheiten nach der „R egensburger R ede“
von Papst B enedikt X V I.28 sind lediglich zw ei Beispiele von vielen.
Schließlich erw eisen sich auch die offenen politischen E inm ischungen von tü r­
kischer Seite als w en ig hilfreich. Das gilt nicht allein für die m ittelbaren E in w ir­
kungen über bestim m te V erbände oder die nationale Presse, einschließlich ihrer in
D eutschland erscheinenden Ableger. A uch offizielle Stellen, selbst hochrangige,
lassen es an der gebotenen Z urückhaltung fehlen. M an erinnere sich an den A u f­
tritt des M inisterpräsidenten Erdogan anlässlich seines D eutschlandsbesuchs im
Februar 2008, bei dem er sich schließlich vor einem großen A udito rium von
sehe O rganisationen in Deutschland: Ansprechpartner für einen islamischen R eligionsunter­
richt? In: Bock (Hg.): R eligionsunterricht (wie Anm . 14), S. 15 1 -1 7 2 .
25 Vgl. zur Vielzahl und H eterogenität der Verbände und Vereinigungen, einschließlich ihrer
politischen Verflechtungen und Rückbindungen den - eher verw irrenden - Ü berblick bei
N ico Landman: D er Islam in der Diaspora: Europa und Am erika. Frankreich, G roßb ritan ­
nien, Niederlande, Deutschland. In: W erner Ende/Udo Steinbach (Hg.): D er Islam in der
Gegenwart. München 52005, S. 5 7 2-59 7, hier: S. 5 8 9 ff.; ähnlich Spriew ald: Rechtsfragen (wie
Anm . 6), S. 2 9 ff.; ferner Lemmen: O rganisationen (wie Anm . 24), S. 151 ff.
26 Zu derartigen Tendenzen, allerdings sehr vorsichtig, D ietrich: R eligionsunterricht (wie
Anm . 3), S. 155 ff.; zu den W urzeln G uido Steinberg/Jan-Peter Hartung: Islamistische G ru p ­
pen und Bewegungen. In: Ende/Steinbach (Hg.): Islam (wie Anm . 25), S. 6 8 1-6 9 5 , hier:
S. 6 8 Iff.
27 Zum K arikaturenstreit vgl. u.a. den Beitrag: From m er A u fru h r auf Komm ando. In: D er
Spiegel 7 (2006), S. 9 4 f.; dazu auch Spiegel-Gespräch mit dem ehemaligen dänischen M inis­
terpräsidenten A nders Fogh Rasmussen, ebenda, S. 98 ff.; ferner Andreas Platthaus: W o liegt
die P rovokation? In: Frankfurter Allgem eine Zeitung vom 4. 2. 2006, S. 39; Interview mit
dem italienischen Außenm inister Franco Frattini zum K arikaturenstreit: Es w ar unüberlegt.
In: Frankfurter Allgem eine Zeitung vom 5. 2. 2006, S. 2.
28 Seine Rede in der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Regensburg vom
12. 9. 2006 „Glaube, Vernunft und U niversität. Erinnerungen und Reflexionen“ ist abrufbar
unter: www.sueddeutsche.de/muenchen/519/365338/text/ (letzter Zugriff am 17 .9 .
2009).Vgl. dazu Michael Flanfeld: Islamische Reaktionen auf den Papst. Die Macht des W o r­
tes. In: F rankfurter Allgem eine Zeitung vom 15. 9. 2006, S. 43; Interview mit dem Theologen
A del-T heodore K h o u ry: Das Zitat trifft nur auf eine M inderheit der Muslime zu. In: Frank­
furter Allgem eine Zeitung vom 17. 9. 2006, S. 27. Neben den aggressiven und polemischen
Reaktionen gab es allerdings auch sehr sachliche und sachangemessene Kom m entare von
muslimischer - türkischer - Seite: hierzu Rainer Hermann: Türkische Nachdenklichkeit. In:
Frankfurter Allgem eine Zeitung vom 26. 9. 2006, S. 2.
R eligiö s e U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u ltu r e lle r Identität
203
L andsleuten zu dem A usspruch verstieg: „A ssim ilation türkischer Einw anderer
ist ein Verbrechen gegen die M en sch lich keit.“29
A lles in allem ist die gesellschaftliche E ingliederung der m uslim ischen G ruppen
in den letzten Jahren deutlich schw ieriger gew orden.
III. Verfassungsrechtliche Grenzen und Aufträge
Die E inrichtung einer islam ischen religiösen U nterw eisun g an den öffentlichen
Schulen ist zw eifellos p rim är ein politisches und kein juristisches Problem . D en­
noch können bei seiner Lösung die rechtlichen A spekte nicht beiseite bleiben.
D enn das G rundgesetz enthält in seinen A rtikeln 7 Abs. 3 und 141 ausdrückliche
B estim m ungen zum R eligionsunterricht. Diese sind zudem Teil eines kom plexen
Gefüges von R egelungen, die sich m it religiösen R echten und V erbürgungen ins­
gesam t befassen.30
D ieser staatskirchenrechtliche - nach aktuellem Sprachgebrauch auch „religi­
onsrechtliche“ bzw. „religionsverfassungsrechtliche“31 - Bestand ist in einem lan ­
gen, von der konfessionellen K irchenspaltung bestim m ten Prozess gewachsen. Bis
heute ist er von der Z ielsetzung geprägt, unterschiedlichen religiösen - zunächst
eben: konfessionellen - „K ulturen“ in einer übergreifenden staatlich-gesellschaft­
lichen O rdnung R aum zu verschaffen.32
a)
Was insbesondere den R eligionsunterricht angeht, so ist das verfassungs­
rechtliche G rundm uster eindeutig. N ach A rt. 7 A bs. 3 Satz 1 GG ist er „ordentli­
ches L ehrfach“ an den öffentlichen Schulen. Das bedeutet, dass der Staat, w ie bei
allen U nterrichtsfächern, „U nternehm er“ dieses Fachs und dam it für die Q ualität
seiner D arbietung verantw ortlich ist. Er übt die A ufsicht über seine E rteilung aus
und trägt die personellen und sachlichen Kosten.33 Z ugleich ist der R eligio nsun ­
terricht aber auch eine A ngelegenheit der einzelnen R eligionsgem einschaften.
29 Vgl. den Tonmitschnitt des Bundespresseamtes, in: F rankfurter Allgem eine Zeitung vom
15. 2. 2008, S. 7.
30 Vgl. insbes. A rt. 4 und A rt. 140 G G (i.V.m. A rt. 1 3 6 -13 9 , 141 W eim arer Reichsverfas­
sung).
31 Zur D iskussion über die „richtige“ Terminologie, d.h. über die Bezeichnung als „Staats­
kirchenrecht“, „Religionsrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“, vgl. etwa Axel Freiherr
von Campenhausen/ITeinrich de Wall: Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung
des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. München 42006, S. 3 9 f.
(m.w.N.).
32 Loschelder: K on flik t (wie Anm . 20), S. 151 f. (m.w.N.).
33 C hristoph Link: Religionsunterricht. In: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hg.): Handbuch
des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2. Berlin 21995, § 5 4 , S. 439
(S. 459 ff.); Alexander H ollerbach: Freiheit kirchlichen W irkens. In: Josef Isensee/Paul
K irchhof (Hg.): H andbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI. Hei­
delberg 220 01, § 140 Rn. 35; G erhard Robbers. In: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/
Christian Starck (Hg.): Kom m entar zum Grundgesetz, Bd. 1. München 32005, A rt. 7 Rn.
132 ff.
204
W o lfga n g L osc h e ld er
N ach A rt. 7 Abs. 3 Satz 2 GG w ird er „[ujnbeschadet des staatlichen A ufsichts­
rechtes [ ...] in Ü bereinstim m ung m it [deren] G rundsätzen [ ...] erteilt“. D enn der
religiös neutrale Staat ist nicht befugt, selbst über religiöse Inhalte zu bestim ­
m en.34
D ahinter w ird das arbeitsteilige K onzept sichtbar, das die staatskirchenrechtliche O rdnung des G rundgesetzes insgesam t bestim m t. Es setzt um der religiösen
Freiheit w illen den w eltlich säkularen B ereich einerseits und die religiös-geistliche
Sphäre andererseits p rin zip iell und klar voneinander ab. Jedoch führt diese U n ter­
scheidung nicht, w ie in anderen System en, zu einer m ehr oder w eniger starren
Trennung von Staat und Kirche. Sie ist vielm ehr auf A ufgabenteilung und Koope­
ration angelegt.35 Infolgedessen kennt das deutsche Staatskirchenrecht zahlreiche
G egenstände, sogenannte „G em einsam e A ngelegenheiten“, die beide Seiten be­
treffen und bei denen sie - w ie beispielsw eise beim R eligio nsun terrich t36 - un ab ­
hängig und gleichgeordnet Zusam m enwirken.
D er politisch, religiös und sozial einheitlichen L ebensw elt des Islam ist ein
derartiges G egenüber von Staat und R eligio n grundsätzlich frem d. N ich t zuletzt
desw egen sah er sich auch nicht genötigt, kirchenähnliche G em eindestrukturen
auszubilden, die eine m indeste institutionelle Verfestigung auf der Basis einer ein­
deutigen m itgliedschaftlichen Struktur und m it klar um rissenen Funktionen und
Ä m tern aufw eisen. Infolgedessen verfügt er auch nicht über offizielle Vertreter,
die sich, nach innen gegenüber den G läubigen und nach außen gegenüber Staat
und G esellschaft, m it einer überpersonalen V erbindlichkeit äußern könnten.37
D am it ist er nicht in der Lage, dem Staat als ein Partner entgegenzutreten, der
„von A m ts w egen “ abschließende Feststellungen zum Inhalt von G lauben und
Lehre treffen kann. D ies ist aber vom G rundgesetz her V oraussetzung für eine
34 Link: R eligionsunterricht (wie Anm . 33), S. 488 ff.; H ollerbach: Freiheit (wie Anm . 33),
§ 140 Rn. 37.
35 Joseph Listl: Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von K irche und Staat. In: Joseph
Listl/Heribert Schmitz (Hg.): Flandbuch des katholischen Kirchenrechts. Regensburg 21999,
§ 116, S. 1 2 5 2 f.; A lexander H ollerbach: Grundlagen des Staatskirchenrechts. In: Josef Isensee/Paul K irchh of (Hg.): H andbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
Bd. 6. H eidelberg 220 01, § 138 Rn. 1 3 8 ff.; von Campenhausen/de Wall: Staatskirchenrecht
(wie Anm . 31), S. 90 f.
36 Vgl. BVerfGE 74, 244 (251): „Der Religionsunterricht gehört [...] zu den [...] gemeinsa­
men Angelegenheiten von Staat und Kirche [...].“ Ferner Link: Religionsunterricht (wie
Anm . 33), S. 489 (m.w.N.).
37 Albrecht: Aufgaben (wie A nm . 18), S. 95 f.; Christian Starck: Religionsunterricht und Ver­
fassung. Eine rechtsvergleichende Betrachtung. In: Heinrich de Wall/Michael Germ ann
(Hg.): Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantw ortung. Festschrift für C hristoph Link
zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen 2003, S. 4 8 3 -5 0 0 , hier: S. 4 9 6 f.; von Campenhausen/
de W all: Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 8 6 f.; Spriewald: Rechtsfragen (wie Anm . 6),
S. 28; Mathias Rohe: Rechtliche Perspektiven eines islamischen Religionsunterrichts in
Deutschland. In: Zeitschrift fü r R echtspolitik 33 (2000) 5, S. 2 0 7 -2 1 1 , hier: S. 209; vgl. auch
die N achweise bei Bock: Religionsunterricht (wie Anm . 14), S. lO ff. (m.w.N.).
R eligiö se U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u lt u r e lle r Identität
205
Zusam m enarbeit bei den „G em einsam en A ngelegenheiten“, also auch beim R eli­
gionsunterricht gemäß A rt. 7 Abs. 3 G G .38
Es sind viele Ü berlegungen angestellt w orden, w ie man in diesem Punkt A b­
hilfe schaffen könnte. D ie islam ischen Verbände und O rganisationen, die dabei ins
Spiel gebracht w erden - oder sich selbst ins Spiel bringen39 - , entsprechen den A n ­
forderungen nicht. Sie vertreten politische oder nationale Interessen, besitzen aber
kein religiöses M andat.40 Erst recht kom m en staatliche Instanzen w ie das tü rk i­
sche A m t für R eligiöse A ngelegenheiten nicht in B etracht.41 Ebensowenig können
religiöse A utoritäten die Lücke füllen: H ochschulen von R ang oder bedeutende
R eligionsgelehrte m ögen persönliches G ew icht besitzen, sprechen aber nicht ex
officio.42 A uch engere G liederungen bis hin zu regionalen V ereinigungen und
M oscheevereinen bieten keine A lternative. D enn auf allen Ebenen stößt man auf
das gleiche D ilem m a: Es ist kein definiertes, organisiertes m itgliedschaftliches
Substrat vorhanden, dessen O rgan w alter in religiösen Fragen m it bindender W ir­
kung für ihre G em einschaft handeln könnten 43
U nter diesen U m ständen w issen die Schulverw altungen nicht einm al, nach w el­
chen K riterien sie die einzelnen Schüler einer bestim m ten G laubensrichtung zu­
ordnen sollen, dam it diese nach deren „G rundsätzen“ - so A rt. 7 Abs. 3
Satz 2 GG - unterrichtet w erden.44 D er Staat kann dies aus eigener Kom petenz
nicht entscheiden, w eil es dabei um inhaltliche Fragen des G laubens geht. H ier
38 Link: R eligionsunterricht (wie Anm . 33), S. 50 1; Michael K loepfer: D er Islam in Deutsch­
land als Verfassungsfrage. In: Die öffentliche Verwaltung 59 (2006), S. 4 5 -5 5 , hier: S. 51;
Michael Frisch: Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der grundgesetzlichen Garantie des
Religionsunterrichts. In: Die öffentliche Verwaltung 57 (2004) 11, S. 4 6 2-47 0, hier: S. 4 6 9 f.;
Stefan K orioth: Islamischer R eligionsunterricht und A rt. 7 III G G . In: Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht 16 (1997), S. 1 0 4 1-1 0 4 9 , hier: S. 1046.
39 Aufschlussreich ist hierzu das Gespräch mit den Vertretern der Türkisch-Islamischen
Union der Anstalt fü r Religion, „D ITIB“: W ir sind bereit, alle Muslime zu vertreten. In:
Frankfurter Allgem eine Zeitung vom 9. 2. 2005, S. 4; vgl. auch F rankfurter Allgem eine Zei­
tung vom 27. 9. 2006, S. 39: Gläubig kraft Geburt.
40 C hristoph Link: R eligionsunterricht in Deutschland. In: Zeitschrift fü r evangelisches K ir­
chenrecht 47 (2 0 0 2 )2 , S. 4 4 9 -4 6 4 , hier: S. 46 1; vgl. auch Bock: Religionsunterricht (wie
Anm . 14), S. 20 f.
41 Link: R eligionsunterricht (wie Anm . 40), S. 46 1; von Campenhausen/de Wall: Staatskir­
chenrecht (wie Anm . 31), S. 218; vgl. auch Bock: R eligionsunterricht (wie Anm . 14), S. 20 f.
Nähere Inform ationen zu der Struktur und den Aufgaben der im Jahre 1924 gegründeten
Präsidentschaft fü r Religiöse Angelegenheiten finden sich auf ihrer Homepage unter: http://
www.diyanet.gov.tr/german/default.asp (letzter Zugriff am 17. 9. 2009).
42 Dietrich: Religionsunterricht (wie Anm . 3), S. 139 f.; Spriewald: Rechtsfragen (wie
Anm . 6), S. 28 f.
43 Statt aller Link: Religionsunterricht (wie Anm . 40), S. 461; von Campenhausen/de Wall:
Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 2 1 7 f .; Christian H illgruber: D er deutsche K ulturstaat
und der muslimische K ulturim port. In: Juristenzeitung 54 (1999), S. 5 3 8-54 7, hier: S. 545.
44 Hans M arkus Heimann: Inhaltliche Grenzen islamischen Religionsunterrichts. In: Neue
Zeitschrift fü r Verwaltungsrecht 21 (2002) 8, S. 9 3 5 -9 4 1, hier: S. 936; Michael Frisch: G ru n d ­
sätzliches und Aktuelles zur Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz. In: Zeit­
schrift für evangelisches Kirchenrecht 49 (2004), S. 5 8 9 -6 3 8 , hier: S. 634 f.; K loepfer: Islam
(wie Anm . 38), S. 51.
20 6
W o lfg a n g L osc he lder
zeigen sich die K onsequenzen der fehlenden M itglied erstruktur aus einem w eite­
ren B lickw inkel: A ls „ordentliches Lehrfach“ w äre ein islam ischer R eligio ns­
unterricht für die Schüler grundsätzlich eine P flichtveranstaltung - doch dürften
diese natürlich nur zu r Teilnahm e angehalten w erden, w enn feststünde, dass sie
der betreffenden G em einschaft auch tatsächlich angehören.45
Seit langem w ird - auch - in diesem Zusam m enhang gefordert, islam ischen Ver­
bänden den Status von K örperschaften des öffentlichen Rechts im Sinne des
A rt. 140 GG i.V.m. A rt. 137 Abs. 5 W eim arer R eichsverfassung zu verleihen.46
D ieser Vorschlag führt jedoch ebenfalls nicht w eiter. Denn zum einen erfüllen
diese Form ationen die verfassungsrechtlichen V oraussetzungen nicht. Sie bilden
keine „Lebensverbände“ auf religiöser G rundlage47 - so insbesondere die ü b er­
greifenden O rganisationen
und es fehlt ihnen insgesam t an dem kollektiven
Subjekt des personal definierten Zusam m enschlusses, der - so A rt. 137 Abs. 5
Satz 2 W eim arer R eichsverfassung - „durch [seine] V erfassung und die Zahl [sei­
ner] M itglied er die G ew ähr der D auer b iete[t]“ .48 Zum anderen bedarf aber eine
R eligionsgem einschaft der K örperschaftsqualität gar nicht, um an „Gem einsam en
A ngelegenheiten“ m itzu w irken .49 Es genügt ih r dazu der sogenannte „konstitu­
tionelle G rundstatus“, den sie kraft R eligionsfreiheit, staatlicher N eutralität und
ihres Selbstbestim m ungsrechts ohnehin besitzt.50 D och greifen an diesem Punkt
die gleichen grundsätzlichen Bedenken durch, w eil auch das letztgenannte Ele­
m ent, die Selbstbestim m ung, „A utonom ie“, schon eine entsprechende m indeste
„am tliche“ O rganisation zur W ahrnehm ung der gem einsam en religiösen Belange
der M itglied er voraussetzt.51
45 Heimann: G renzen (wie Anm . 44), S. 936; K loepfer: Islam (wie Anm . 38), S. 51.
46 Dazu eingehend Asian: Erziehung (wie Anm . I), S. 8 0 ff.; ferner etwa Landman: Islam
(wie Anm . 25), S. 5 9 5 ff.; Berend Lindner: Körperschaftsstatus für M uslim e? In: Zeitschrift
für evangelisches Kirchenrecht 48 (2003) 2, S. 17 8 -18 7 , hier: S. 1 8 0 f. (m.w.N.).
47 Zum B egriff des „Lebensverbands“ Alexander Llollerbach: Die Kirchen als K örperschaf­
ten des Ö ffentlichen Rechts. In: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1 (1969),
S. 4 6 -6 7 , hier: S. 50, S. 56.
48 Eingehend zu diesen Voraussetzungen Elke D orothea Bohl: D er öffentlich-rechtliche
Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften. Verleihungsvoraussetzungen und Verfah­
ren. Baden-Baden 2 0 0 1, S. 21 ff.; ferner K loepfer: Islam (wie Anm . 38), S. 4 7 f., S. 52 f.; Stefan
Muckel/Reiner Tillmanns: Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den
Islam. In: Stefan M uckel (Hg.): D er Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungs­
staates. Berlin 2008, S. 2 3 4 -2 7 2 , hier: S. 251 ff. (m.w.N.).
4<) Vgl. B V erw G N JW 2005, 2101 (2107); B VerfG E 102, 370 (396 - obiter dictum); M artin
Heckei: R eligionsunterricht für Muslime? In: Juristenzeitung 54 (1999) 15/16, S. 7 4 1-8 0 0 ,
hier: S. 752; Muckel/Tillmanns: Rahmenbedingungen (wie Anm . 48), S. 266 f. (m.w.N. in
Anm . 161); Frisch: Aspekte (wie Anm . 38), S. 470; Heimann: G renzen (wie Anm . 44), S. 936;
Link: Religionsunterricht (wie Anm . 40), S. 46 1; K orioth: R eligionsunterricht (wie
Anm . 38), S. 1 0 4 6 f.; H illgruber: Kulturstaat (wie Anm . 43), S. 546.
50 Josef Jurina: Die Religionsgemeinschaften mit privatrechtlichem Rechtsstatus. In: Joseph
Listl/Dietrich Pirson (Hg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. 1. Berlin 21994, § 23, S. 689 (S. 6 9 6 f.); von Campenhausen/de Wall: Staats­
kirchenrecht (wie Anm. 31), S. 132.
51 Wolfgang Loschelder: D er Islam und die religionsrechtliche O rdnung des Grundgesetzes.
R eligiö s e U n t e rw e is u n g als M e r k m a l ku ltu re lle r Identität
207
b)
Som it bleibt es dabei, dass ein islam ischer R eligio nsun terrich t im Sinne von
A rt. 7 Abs. 3 GG unter den gegenw ärtigen G egebenheiten aus rechtlichen G rün­
den ausscheidet. D er religionskundliche U nterrich t, der stattdessen vielfach angeboten w ird , stellt allerdings m ehr als eine pragm atische A ushilfe dar. Dass ein is­
lam ischer R eligio nsun terrich t gemäß A rt. 7 Abs. 3 GG rebus sic stantibus nicht
zu realisieren ist, heißt nicht, dass das Bedürfnis, dem diese G ew ährleistung genü­
gen soll, dam it verfassungsrechtlich unbeachtlich w äre. Wo sich grundrechtliche
Freiheit ohne eine positive U nterstützun g nicht hinreichend entfalten kann, ist,
jedenfalls grundsätzlich, die H ilfe des Staates gefragt. Zum m indesten ist dieser zu
helfen befugt - so w eit er dabei in angem essenem U m fang, ohne F reih eitsverkü r­
zung und gleichheitsgerecht tätig w ird. Von w elchem Punkt an sich darüber hi­
naus aus der R eligionsfreiheit, die sich ja prim är negativ gegen staatliche Interven­
tionen richtet, positiv auch ein verbindlicher A uftrag zur staatlichen Förderung
ableitet, hängt davon ab, ob die grundrechtliche F reiheit sonst leer liefe.52 Im Falle
des Islam unterrichts ist die betroffene B evölkerung m angels eines transparenten
und effizienten eigenen U nterrichtsw esens offenkundig nicht im stande, den B il­
dungsbedarf ihrer K inder und Jugendlichen aus eigenen K räften zu decken. Die
Initiativen, die von den Eltern zugunsten schulischer Lösungen ergriffen w erden,
sprechen für sich.53 D em gem äß sind die Schulverw altungen der L änder jedenfalls
berechtigt, w ohl aber auch verpflichtet, entsprechende A ngebote zu unterbreiten.
Eine zw eite verfassungsrechtliche Ü berlegung kom m t hinzu. Es ist eine geläu­
fige K onstellation, dass der Staat, indem er die Interessen seiner B ürger fördert,
zugleich - legitim erw eise - seine eigenen Belange verfolgt.54 So trägt der Staat
beim schulischen R eligionsunterricht einerseits den G laubensbedürfnissen seiner
B ürger R echnung. Z ugleich w erden dadurch aber auch die grundlegenden Werte
verm ittelt, auf denen der gesellschaftliche Z usam m enhalt b eruht.55 Das gilt auch
In: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 1 4 9 -17 6 , hier: S. 162 ff., insbes. S. 163; Axel Freiherr von Campenhausen. In: H ermann v. M angoldt/Friedrich Klein/
Christian Starck (Hg.): Kom m entar zum Grundgesetz, Bd. 3. München 52005, A rt. 137 W ei­
marer Reichsverfassung Rn. 224; Muckel/Tillmanns: Rahmenbedingungen (wie Anm . 48),
S. 251 ff.
52 Zur staatlichen Religionsförderung vgl. H ollerbach: Lehre (wie Anm . 35), § 138 Rn. 104;
Wolfgang Loschelder: Kirchen als Schulträger. In: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hg.): H and­
buch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2. Berlin 21995, § 5 5 ,
S. 511 (S. 542 ff.); A xel Freiherr von Campenhausen: Neue Religionen im Abendland. In:
Zeitschrift fü r evangelisches Kirchenrecht 25 (1980), S. 13 5 -17 2 , hier: S. 139; Joseph Listl:
Diskussionsbeitrag. In: Essener Gespräche zum Thema Staat und K irche 20 (1986), S. 140 f.
53 Zur außerordentlich breiten B efürw ortung einer islamischen U nterw eisung im schuli­
schen Rahmen durch die betroffenen Eltern Dietrich: R eligionsunterricht (wie Anm . 3),
S. 79; Asian: Erziehung (wie Anm . 1), S. 138; zur Beteiligung der Eltern z.B. am Schulversuch in Erlangen sowie in Niedersachsen ebenfalls Dietrich: R eligionsunterricht (wie
Anm . 3), S. 121 ff., S. 3 7 4 ff.
34 H ierzu am Beispiel der privaten Schulen Loschelder: Kirchen (wie Anm . 52), S. 541 f.
55 von Campenhausen/de Wall: Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 214; zur teilweise diffu­
sen Argum entation im H inblick auf den Islam Dietrich: R eligionsunterricht (wie Anm . 3),
S. 72 ff. Allgem ein sieht das Bundesverfassungsgericht die Schule als den O rt an, an dem „die
kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehm lich tradiert und erneuert w erden“,
208
W o lfga n g L osc he ld er
für die islam ische G laubensunterw eisung - nicht so sehr durch deren religiöse
Inhalte unm ittelbar, sondern insofern, als diesen jene ethischen Werte, glaubensübergreifend, voraus- und zugrunde liegen, als gem einsam e G rundeinsichten in
die fundam entalen R egeln des Zusam m enlebens.56
Das zentrale staatliche M otiv für die islam ische R eligionskunde ist insow eit die
Integration der m uslim ischen Jugend in die deutsche G esellschaft.57 A uch in der
praktischen U m setzung sind es nicht die religiösen Inhalte selbst, über die sich
A nnäherung und E inbeziehung vollziehen. Sie sind gerade das ku lturelle E igen­
gut, das gepflegt w erden soll und das sich als frem des von dem um gekehrt frem ­
den der christlichen oder agnostischen M itschüler abhebt. Ö ffnung über den eige­
nen Kreis hinaus bew irken der äußere R ahm en, das - im Ü brigen - gem einsam e
Schulprogram m , m ehr noch die E rfahrung des M iteinanders im Schulbetrieb und
gem einsam en U nterricht. D ie R eligionskunde selbst kann einen w esentlichen B ei­
trag leisten, w enn sie den G lauben oder N ichtglauben der anderen einbezieht.
W ächst daraus Verständnis, so ist Entscheidendes gelungen. W elche B edeutung
dies hat, belegen die B erichte über private K oranschulen, die vielfach und in er­
heblichem M aße In doktrinierung, das heißt D esintegration, betreiben.58
Im Einzelnen verfügen die staatlichen Schulverw altungen organisatorisch über
einen w eiten Spielraum . Das gilt an sich auch für die U nterrichtssprache. D er in ­
tegrative Effekt, der für die W ahl des D eutschen angeführt w ird ,59 ist durch die
übrigen Fächer sichergestellt. M ithin ist es allein die staatliche V erantw ortung für
die W ahrung der gebotenen Toleranz und V erfassungsloyalität60, d.h. der G e­
sichtspunkt einer hinlänglichen A ufsicht, w elche hier die E ntscheidung begrünBVerfGE 93, 1 (22). Grundlegend zur Frage der W erteverm ittlung Ernst-W olfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungs­
geschichte. Frankfurt am Main 22006, S. 111 ff.
56 Flierzu u.a. K orioth: Religionsunterricht (wie Anm . 38), S. 10 41; Fteckel: R eligionsunter­
richt (wie Anm . 12), S. 93 ff.; U lf Häußler: Islamische Inhalte im deutschen Schulwesen Verfassungsrechtlicher Anspruch und schulische W irklichkeit. In: Zeitschrift fü r Ausländer­
recht und A usländerpolitik 6 (2000), S. 1 5 9 -1 6 7 (m.w.N.).
57 Ebd., S. 159 (m.w.N.); Dietrich: Religionsunterricht (wie Anm . 3), S. 72 f. (m.w.N.); vgl.
auch die allgemeine Bezeichnung der Schule als „Säule staatlicher Integration“ durch von
Campenhausen: Religionen (wie Anm . 52), S. 148.
58 Dazu z.B . Andrea Brandt/Cordula M eyer: U nd nachts der Koran. In: D er Spiegel 46
(2006), S. 5 6 ff. Eingehend zu den „K oranschulen“, den Gründen fü r ihre Entstehung und
der - auch innerislamisch - vielfach kritischen Beurteilung Asian: Erziehung (wie Anm . 1),
S. 179 ff.
59 Zur Auseinandersetzung insgesamt D ietrich: R eligionsunterricht (wie Anm . 3), S. 82 ff.;
ferner Heckei: R eligionsunterricht (wie Anm . 49), S. 741.
60 B V erw G N JW 2005, 2101 (2107 f.); Heckei: Religionsunterricht (wie Anm . 12), S. 100 ff.;
von Campenhausen/de Wall: Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 218; Starck: Religionsun­
terricht (wie Anm . 37), S. 495, S. 4 9 7 f. (m.w.N.); Link: R eligionsunterricht (wie Anm . 40),
S. 462; zu insoweit „problem atischen“ Lehren des Islam vgl. Frisch: Grundsätzliches (wie
Anm . 44), S. 6 3 7 f. (m.w.N.): „die Stellung der Frau, die Strafen im K oran und die Ablehnung
der Religionsfreiheit“. Flierzu auch H ans-Peter Füssel/Tilman Nagel: Islamischer Religions­
unterricht und Grundgesetz. In: Europäische G rundrechte-Zeitschrift 12 (1985), S. 4 9 7-50 2,
hier: S. 498 f.
R eligiö s e U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u ltu re lle r Identität
209
det. D iese E ntscheidung dürfte aber, w ägt man alle U m stände gegeneinander ab,
unter den heutigen G egebenheiten unabw eisbar sein.
IV. Perspektiven
D ie Integration der M uslim e in die deutsche G esellschaft ist ein schw ieriger Pro­
zess m it offenem Ergebnis. A uch w er letztlich m it einer positiven E ntw icklung
rechnet, muss davon ausgehen, dass diese einen langen Atem benötigt und nach­
drücklich er und konsequenter U nterstützung bedarf. A m Beispiel der schulischen
religiösen U nterw eisun g ist deutlich gew orden, w elche B edeutung es für die Posi­
tion des Islam innerhalb der verfassungsrechtlichen, der religionsrechtlichen O rd ­
nung des G rundgesetzes hat, ob es ihm gelingen w ird, nach und nach feste m itgliedschaftliche O rganisationsstrukturen herauszubilden und so zu einem stab i­
len Partner gegenüber Staat und G esellschaft zu w erden. Dass dies keine bloß
theoretische M ö glich keit ist, belegen ältere D iasporasituationen, etw a in Süd­
afrika. A uch die jüdischen K ultusgem einden haben bei vergleichbaren Problem en
erfolgreich gem eindliche Form en geschaffen.61
Zugleich hat sich gezeigt, dass innerhalb eines solchen Integrationsgeschehens
die religiöse B ildung der Jugend sachlich eine Schlüsselrolle spielt. Ein von staat­
licher Seite angebotener U nterricht w ird den B edürfnissen der Betroffenen zw ar
bis zu einem gew issen G rade gerecht und leistet darüber hinaus auch einen erheb­
lichen B eitrag zu ihrer gesellschaftlichen E ingliederung. Es fragt sich aber, ob
dam it bereits alle M öglichkeiten ausgeschöpft sind, vor allem was eine eigenver­
antw ortliche B eteiligung der M uslim e selbst angeht.
Instruktives A nschauungsm aterial bietet in dieser H insicht vor allem die öster­
reichische R echtslage. Sie bestätigt zum einen die Fähigkeit des Islam sich zu in­
stitutionalisieren und die W irksam keit entsprechender staatlicher H ilfestellungen.
Zum anderen kann das K onzept, das Ö sterreich für den schulischen R eligio nsun ­
terricht allgem ein gefunden hat, in diesem K ontext zusätzliche Im pulse speziell
für die islam ische U nterw eisung auch unter den deutschen B edingungen verm it­
teln. Im Jah re 1908 hatte Ö sterreich-U ngarn Bosnien und die H erzego w in a, die
seit dem B erliner Kongress, also seit 1878, unter seiner V erw altung standen, so zu­
sagen im H andstreich annektiert. N un sah es sich angesichts der Proteste des O s­
m anischen R eiches und der breiten K ritik der europäischen M ächte genötigt, den
R echtsstatus der neuen m uslim ischen B evölkerung zügig zu regeln.62 Schon 1912
61 Durän Khalid: D er Islam in der Diaspora: Europa und Am erika. In: W erner Ende/Udo
Steinbach (Hg.): D er Islam in der Gegenwart. München 11984, S. 4 4 0-46 9, hier: S. 457.
62 H elm ut Schnizer: Diskussionsbeitrag (Länderbericht). In: Essener Gespräche zum Thema
Staat und Kirche 20 (1986), S. 1 7 7 -1 8 1 , hier: S. 178; Richard Potz: D er islamische Religions­
unterricht in Österreich. In: Heinrich de Wall/Michael Germ ann (Hg.): Bürgerliche Freiheit
und Christliche Verantw ortung. Festschrift fü r C hristoph Link zum siebzigsten Geburtstag.
Tübingen 2003, S. 3 4 5-36 9, hier: S. 350 f.; vgl. auch Mathias Rohe: Rahmenbedingungen der
210
W o lfga n g L o s c h e ld er
w urde der Islam als R eligionsgem einschaft gesetzlich anerkannt, w obei dieses
Vorgehen dadurch erleichtert w urde, dass man es im W esentlichen nur m it A nhän­
gern der sunnitisch-hanefitischen G laubensrichtung zu tun hatte.63 Im w eiteren
Fortgang haben die M uslim e, die inzw ischen auch den verschiedensten B ekennt­
nissen angehören, ihren festen Platz innerhalb der staatlichen R eligionsordnung
gefunden. So w urde 1979 die erste islam ische K ultusgem einde, die „R eligionsge­
m einde“, m inisteriell genehm igt,64 und 1987 hob der V erfassungsgerichtshof die
form al fortdauernde B eschränkung des Gesetzes von 1912 auf die M uslim e hanefitischen B ekenntnisses ausdrücklich auf.6;>
D er R eligio nsun terrich t für m uslim ische Schüler w irft in Ö sterreich auf dieser
G rundlage keine besonderen Problem e auf. Das liegt daran, dass die Z uständig­
keiten hier generell anders verteilt sind als in D eutschland. „U nternehm er“ des
schulischen U nterrichts sind die „Bekenntnisgem einschaften“, bis 1998 säm tlich
K örperschaften des öffentlichen R echts.66 Sie sind für die inhaltlichen Fragen, also
für die L ehrinhalte und -m ethoden, die A usw ah l und Q ualifikatio n der Lehrer
und die Z uordnung der Schüler allein verantw ortlich. D er Staat beschränkt sich
auf die A ufsicht „in organisatorischer und schuld iszip lin ärer H in sich t“.67
Dieses K onzept für den U m gang m it der m uslim ischen B evölkerung lässt sich,
in A nbetracht der unterschiedlichen geschichtlichen E ntw icklung und der hierauf
beruhenden abw eichenden verfassungsrechtlichen K onsequenzen, nicht einfach
kopieren. Es w eist aber einen Weg auf, w ie man auch in D eutschland dem B edürf­
nis nach einer eigenverantw ortlichen M itw irku n g der Betroffenen bei der E in­
richtung und D urchführung des Islam unterrichts stärker R echnung tragen
könnte. Das M odell, einen solchen U nterrich t inhaltlich ganz in m uslim ische
Anw endung islamischer N orm en in Deutschland und Europa. In: Bock (Hg.): Religionsun­
terricht (wie Anm . 14), S. 5 5 -7 6 , hier: S. 60.
63 Gesetz vom 15. Ju li 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft („Islamgesetz“), R GBl. Nr. 159. H ierzu auch Karl
Schwarz: Überlegungen zum rechtlichen Status der Kirchen und Religionsgesellschaften in
Österreich. In: H einrich de Wall/Michael Germ ann (Hg.): Bürgerliche Freiheit und C h rist­
liche Verantw ortung. Festschrift für C hristoph Link zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen
2003, S. 4 4 5-46 4, hier: S. 452 (m.w.N.).
64 Schnizer: Diskussionsbeitrag (wie Anm . 62), S. 180; Potz: R eligionsunterricht (wie
Anm . 62), S. 353.
65 Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 10. 12. 1987, G146/87,
G 147/87. A b ru fb ar über das R echtsinform ationssystem des österreichischen Bundeskanz­
leramts unter: http://www.ris2.bka.gv.at/Vfgh/ (letzter Zugriff am 17. 9. 2009). Vgl. das da­
raufhin geänderte Islamgesetz ohne Ritusbeschränkung m BGBl. Nr. 164/1988.
66 Schnizer: Diskussionsbeitrag (wie Anm . 62), S. 177. M it dem In-K raft-T reten des Bundes­
gesetzes über die Rechtsstellung religiöser Bekenntnisgemeinschaften von 1998 (BGBl. I
1998/19) ist die Kategorie der Religionsgemeinschaft mit privatrechtlichem Status eingeführt
worden. H ierzu Schwarz: Überlegungen (wie Anm . 63), S. 4 5 7 ff.
67 Potz: Religionsunterricht (wie Anm . 62), S. 355 f.; W ilhelm Rees: Religionsunterricht in
österreichischen Schulen. Rechtliche Grundlagen und aktuelle Anfragen. In: Heinrich de
W'all/Michael Germ ann (Hg.): Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantw ortung. Fest­
schrift für C hristoph Link zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen 2003, S. 3 8 7-40 8, hier:
S. 398.
R eligiö se U n t e r w e is u n g als M e r k m a l ku ltu r e lle r Identität
211
H ände zu legen, allerdings innerhalb der staatlichen Schulen und unter staatlicher
Kontrolle, ist an sich auch in D eutschland nicht neu. Doch könnte es entschieden
breiter angew endet w erden. Es w ird derzeit in verschiedenen Varianten p rak ti­
ziert, nicht allein in Berlin, w o der R eligionsunterricht seit 1948 kein ordentliches
Lehrfach m ehr ist.68 D abei stützt man sich auf A rt. 141 GG, die sogenannte „Bre­
m er K lausel“, nach der A rt. 7 Abs. 3 GG - R eligion als „ordentliches L ehrfach“ keine A nw endung findet, w o am 1. Jan uar 1949 eine andere R egelung bestand.
Entsprechend sind in diesen Fällen die R eligionsgem einschaften die alleinigen
V eranstalter des U nterrich ts.69 Sow eit islam ischen Trägern diese M öglichkeiten
ebenfalls eingeräum t w erden, besitzen sie die gleichen Befugnisse. A llerdings ha­
ben die Behörden zu prüfen - kraft ihrer Rechtsaufsicht im Schulbereich, aus F ü r­
sorge für ihre Schüler w ie um der eigenen Integrationsbelange w illen - , ob der in
Betracht kom m ende Interessent die G ew ähr für Toleranz und V erfassungsloyali­
tät bietet. A uch im w eiteren Verlauf haben sie A nhaltspunkten nachzugehen, die
auf Verstöße hindeuten.70 D arin liegt keine B enachteiligung gegenüber anderen
Trägern. Denn deren Pflichten sind uneingeschränkt die gleichen, nur die Inten­
sität der A ufsicht richtet sich, w ie stets, nach der W ahrscheinlichkeit von A b w ei­
chungen, ku rz: nach dem R isiko.
Eine solche Lösung für m uslim ische Schüler w iderspricht auch in den übrigen
B undesländern nicht A rt. 7 Abs. 3 GG, w eil sie unterhalb seiner R eichw eite ange­
siedelt ist. Infolgedessen bedarf es für sie auch keiner verfassungsrechtlichen A u s­
nahm eregelung. Denn durch A rt. 141 GG w urd e seinerzeit die A nw endung des
A rt. 7 Abs. 3 GG für bestim m te Fälle allein aus politischen Erw ägungen aus­
geschlossen, obw ohl dessen rechtliche V oraussetzungen an sich Vorlagen.71 Wo
aber, w ie beim Islam unterricht, schon die rechtlichen V oraussetzungen des A rt. 7
Abs. 3 GG nicht gegeben sind, kann diese Bestim m ung andere R egelungen auch
nicht sperren.
68 Vgl- § '3 S. 1 - 3 des Schulgesetzes fü r Berlin vom 26. 6. 1948 (GVO B1. I, 358): „Der R eli­
gionsunterricht ist Sache der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Er
w ird von Geistlichen oder Religionslehrern erteilt, die von diesen beauftragt und besoldet
werden. Die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften übernehmen die Ver­
antwortung, daß der Religionsunterricht gemäß den für den allgemeinen U nterricht gelten­
den Bestimmungen durchgeführt w ird .“
69 von Campenhausen/de Wall: Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 210; W olfgang Bock:
Islamischer R eligionsunterricht im Lande Berlin. In: Bock (Hg.): R eligionsunterricht (wie
Anm . 14), S. 9 3 - 1 1 4 , insbesondere S. 95.
70 Vgl. oben bei Anm . 60 (m.w.N.); ferner Starck: R eligionsunterricht (wie Anm . 37), S. 495
(„W ächterfunktion“); Hans M arkus Heimann: A lternative O rganisationsform en islami­
schen Religionsunterrichts. In: Die öffentliche Verwaltung 56 (2003), S. 2 3 8-26 0, hier: S. 245
zur „Berliner Lösung“; vgl. auch von Campenhausen/de Wall: Staatskirchenrecht (wie
Anm . 31), S. 218.
71 Z ur Entstehungsgeschichte des A rt. 141 G G vgl. K laus-B erto von Doemm ing/Rudolf
W erner Füsslein/Werner M atz (Bearb.): Entstehungsgeschichte der A rtikel des Grundgeset­
zes. In: G erhard Leibholz/Hermann von M angoldt (Hg.): Jahrbuch des Ö ffentlichen Rechts
der Gegenwart, N.F., Bd. 1. Tübingen 1951, A rt. 141, S. 9 0 7 -9 10 .
212
W o lfga n g L osc he lder
U nbestreitbar ist dieses M odell m it U nw ägb arkeiten verbunden. Entsprechend
sorgfältig m üssen verlässliche m uslim ische Partner gesucht w erden. D abei ko m ­
men nicht allein etablierte O rganisationen72 in Betracht, sondern auch - und, w ie
die Schulversuche in einigen Ländern zeigen, vielleicht noch eher - Z usam m en­
schlüsse interessierter Eltern, für welche die besondere Sachnähe, das un m ittel­
bare eigene Interesse an der E ntw icklung ihrer Kinder, spricht.73 Jedenfalls bietet
das M odell, ungeachtet der m it ihm verbundenen Problem e, die M ö glichkeit, die
Zusam m enarbeit m it der m uslim ischen Seite deutlich voranzubringen. Letzterer
w ird eine R olle zugew iesen, die von der A ufgabenverteilung her noch über den
Rahm en des A rt. 7 Abs. 3 GG hinausgeht - um den Preis einer entsprechenden
K ontrolle. Zugleich w ird von den Trägern ein M indestm aß an organisatorischer
K ontinuität erw artet. Vor allem aber tritt an die Stelle einer bloßen Sachinform ation über R eligion, sozusagen von außen, die V erm ittlung durch Vertreter der ei­
genen G laubensgem einschaft. D arin liegt für die Schüler selbst, für ihr kulturelles
„W ir-G efühl“, ein entscheidender W echsel der Perspektive. Den Eltern dürfte die
K om bination von A ktivitäten der „eigenen L eute“ - oder eigenen A ktivitäten und dem verlässlichen R ahm en staatlicher Schulen die G rundlage für einen unbe­
fangeneren U m gang m it den verschiedenen B eteiligten und dem G egenstand
selbst bieten. Sicherlich sind auch auf diesem Wege D urststrecken und K onflikte
zu erw arten. So w ird etw a die Frage, nach w elchen - überprüfbaren und von wem
zu überprüfenden - fachlichen und sprachlichen K riterien das Lehrpersonal aus­
gew ählt w erden soll, auch w eiterhin nicht leicht zu lösen sein.74 D erartige A u sei­
nandersetzungen verlangen G eduld von beiden Seiten, aber auch F estigkeit bei
der W ahrung des eigenen Standpunkts. G erade die Einsicht, dass das K onzept von
jedem der Partner einen V ertrauensvorschuss fordert, schließt eine vorschnelle
Preisgabe begründeter Positionen aus. Wenn die staatlichen V ertreter - hier w ie
auch im Ü brigen - nicht klar auf den V oraussetzungen für eine Zusam m enarbeit
im gem einsam en R ahm en bestehen, w erden sie die fortdauernde D istanz nicht
überw inden.
D ie religiöse U nterw eisun g für junge M uslim e ist kein Them a unter vielen. Sie
ist für die Integration der m uslim ischen B evölkerung in die deutsche G esellschaft
insgesam t zentral, w eil das W issen um den eigenen G lauben, die religiöse B ildung,
zum Kern des kulturellen Selbstverständnisses gehört, für die M uslim e besonders,
aber nicht nur für sie. D ie religiöse U nterw eisun g betrifft die nachw achsende Ge­
72 Vgl. dazu die Ausführungen von Lemmen: O rganisationen (wie Anm . 24).
73 Vgl. oben bei Anm . 53 (m.w.N.).
74 Vgl. dazu u.a. von Campenhausen/de W all: Staatskirchenrecht (wie Anm . 31), S. 218;
Bock: R eligionsunterricht (wie Anm . 14), S. 29; U lf H äußler: Rahmenbedingungen und Gestaltungsm öglichkeiten für die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts. In: Zeitschrift
fü r Ausländerrecht und Ausländerpolitik 6 (2000), S. 2 5 5 -2 6 4 , hier: S. 260 m.w.N.; C hristine
Langenfeld: Integration und kulturelle Identität zugewanderter M inderheiten: Eine H eraus­
forderung fü r das deutsche Schulwesen - Einführung in einige grundrechtliche Fragestellun­
gen. In: A rch iv des öffentlichen Rechts 123 (1998) 3, S. 3 7 5-40 7, hier: S. 403 ff.; Dietrich: R e­
ligionsunterricht (wie Anm . 3), S. 133 ff., S. 398 ff.; zur Lage in Ö sterreich Asian: Erziehung
(wie Anm . 1), S. 144 ff.
R eligiö s e U n t e r w e is u n g als M e r k m a l k u ltu re ller Identität
213
neration, von der abhängen w ird, ob die bisherigen Schranken überw unden w er­
den. U nd sie reicht auf beiden Seiten tief in die G rundüberzeugungen, die W ert­
vorstellungen hinab, die über alle U nterschiede hinw eg das Zusam m enleben be­
stim m en. A uf diesem Feld entscheidet sich das künftige M iteinander oder G egen­
einander - und desw egen ist es jeder M ühe w ert, dieses Feld zu bestellen.
Abstract
The controversy about the question how the yo un g generation of M uslim im m i­
grants in G erm any - m ore than 3 m illion b y now - can be taught the necessary re­
ligious know ledge has kept the G erm an boards of education engaged since the
1960s. Since it has become clear that the m ajo rity of this part of the population
w ill stay in G erm any, the goal can no longer be to prepare the children and ado­
lescents for the return to their ow n cultural circle. O n the co ntrary: it is im perative
that th ey have to be integrated into the predom inant system in this field. A so lu­
tion to the problem is difficult to find for a num ber of reasons - in p articular the
controversy about the phantom of a “m u lticu ltu ral” society, the in ab ility of the
federal states to develope a com m on concept, and the estrangem ent of those in ­
volved on the M uslim side. R eligious education in accordance to A rticle 7 Para­
graph 3 GG - religious education as a „proper d iscip lin e“ for the organisation of
w hich the governm ent is responsible and w hose content is determ ined b y each
in dividual religious com m unity - is not an option since the Islam ic com m unity is
not a structure w ith “o fficia lly” appointed representatives who m ight cooperate
w ith the governm ent on an equal footing. “G eneral religious educatio n ” as of­
fered b y the governm ent m ay convey - neutral - inform ation, but it cannot re­
place education b y religious authorities. For these reasons the question arises
w hether the m odel of classes - held in G erm an - in public schools, and organized
b y - reliable - M uslim institutions under the supervision of the governm ent,
should be expanded. This m odel does not pose a problem from a constitutional
point of view , but it contains practical risks. H ow ever, considering the overw h el­
m ing im portance of the integration of yo un g M uslim s into society, this road
should be taken - w hile insisting on one’s ow n point of view.
Roland Löffler
Trialog in der Schule?!
Der Weg von einer Studie zum kulturellen Pluralismus in
europäischen Lehrplänen zum Wettbewerb „Schulen im
Trialog" der Herbert Quandt-Stiftung und sein Beitrag zur
aktuellen Bildungsstandard-Diskussion
I. Einleitung
Integration durch B ildun g ist eine der w ichtigsten gesam tgesellschaftlichen Z u­
kunftsaufgaben. D ie H erbert Q uandt-Stiftung m it Sitz in Bad H om burg
v. d.H ö h e engagiert sich daher bereits seit 1996 m it ihrem „Trialog der K ulturen“
für die in terkulturelle V erständigung. Es ist die Ü berzeugung der Stiftung, dass
erfolgreiche Integration nur m öglich ist, w enn auch eine V erständigung zw ischen
den verschiedenen ku lturellen Traditionen und R eligionen m öglichst früh in der
Schule gelernt und W issen über diese erw orben w ird. D ie P ro jektarb eit in einem
Schulenw ettbew erb ist dabei ein geeigneter Weg, sich in terkulturelle Kom petenz
anzueignen.
In itialzün d un g für den „W ettbewerb zum T rialog der K ulturen: Europäische
Identität und ku ltureller P lu ralism us“ w ar eine w issenschaftliche Studie, die die
H erbert Q uandt-Stiftung bei der Theologischen F akultät B irm ingham 1999 in
A uftrag gegeben hatte, auf die im Folgenden eingegangen w ird.
Eine europäische C u rricula-Stud ie aus dem Jahre 2003 in einem Buch des Jahres
2011 vorzustellen, ist in unserer schnelllebigen Zeit ein nicht ganz risikoloses U n ­
terfangen, denn: H aben die Ergebnisse noch Bestand? Können w ir m it G ew issheit
sagen, dass Schulen, Schulbücher und L ehrpläne des dam aligen U ntersuchungs­
zeitraum s die gleichen sind w ie heute? Verm utlich nicht oder nicht ganz - und doch
hat sich im Laufe des letzten Jahrzehnts auf dem G ebiet der interkulturellen B ildung
auch nicht alles kom plett oder gar bereits zum G uten gew andelt. Insofern m ag der
R ückb lick auf die Publikation Europäische Identität und kultureller Pluralismus.
Judentum , Christentum und Islam in europäischen Lehiplänen durchaus lehrreich
und nützlich sein. Dies nicht nur, w eil diese Studie den A nstoß für den TrialogSchulenwettbew erb gegeben hat, dessen bisherige Ergebnisse an dieser Stelle einem
interdisziplinären, w issenschaftlichen P ublikum vorgestellt w erden sollen.
216
R o la n d Löffler
A ls die H erbert Q uandt-Stiftung das T hem enfeld „Trialog der K ulturen“ auf
A nregung des langjährigen Stiftungsratsm itgliedes Lord G eorge W eidenfeld of
C helsea begründete, w ollte sie nicht nur die V erständigung zw ischen Judentum ,
C hristentum und Islam fördern, sondern auch ein Zeichen gegen den von Sam uel
H untington und anderen beschw orenen „Kam pf der K ulturen“ setzen. Zunächst
näherte sich die Stiftung dem T rialog durch Konferenzen m it nationalen und in ­
ternationalen Experten, aus denen entsprechende Publikationen erw uchsen. Doch
schon bald erschien es notw endig, die kultur-, religions- und gesellschaftspoliti­
schen A n alysen in praktische Projekte um zusetzen. D abei w urde der Bereich der
P ädagogik als zentrales B etätigungsfeld definiert. D ie Stiftung verfolgte nach den
W orten des dam aligen geschäftsführenden Vorstandes, W olfgang R. A ssm ann,
deshalb einen bildungstheoretischen A nsatz, w eil sie der Ü berzeugung war, „dass
U nw issen h eit und Intoleranz sehr eng Zusammenhängen, m ithin M issverständ­
nisse, V orurteile und Ä ngste zw ischen den unterschiedlichen K ulturen ganz w e ­
sentlich auf m angelhaften Kenntnissen beruhen [ ...] .“ * D eshalb käm e der Schule
eine em inente R olle zu, bestim m ten doch die Stoffverm ittlung in der Schule und
die H altun g der Lehrer zum Inhalt nicht unw esentlich die H altungen der Schüle­
rinnen und Schüler. Profundes Schulw issen könne also zum indest ein Weg zu
einer pluralistischen europäischen Identität und zum Trialog der K ulturen sein,
dem es um die Stärkung des gem einsam en Erbes, des V erständigungspotenzials
der abrahamischen R eligionen bzw. K ulturen gehe2 so w ie um die E rkenntnis, dass
1 Vgl. W olfgang R. Assmann: Schulwissen über die abrahamischen Religionen - Basis für
eine europäische Identität und den Trialog der Kulturen. In: Lisa Kaul-Seidman/Jorgen
S. Nielsen/Markus Vinzent (Hg.): Europäische Identität und kultureller Pluralismus: Ju d en ­
tum, C hristentum und Islam in den europäischen Lehrplänen. Empfehlungen fü r die Praxis.
Bad H om burg 2003, S. 6.
2 Zur Diskussion um die genaue D efinition des Begriffs „abrahamisch/abrahamitisch/abrahamistisch“ vgl. die jüngst erschienene Studie von Eva M aria H interhuber: Abraham ischer
Trialog und Zivilgesellschaft. Eine Untersuchung zum sozialintegrativen Potenzial des D ia­
logs zwischen Juden, C hristen und Muslimen. Stuttgart 2009, S. 58 Anm . 91. Vgl. auch M ar­
tin Bauschke: Trialog und Zivilgesellschaft. Bd. 1: Internationale Recherche von Institutio­
nen zum trilateralen Dialog von Juden, C hristen und Muslimen. Berlin 20 01; ders./Petra
Stegmann: Trialog und Zivilgesellschaft. Bd. 2: Berichte und Texte. Berlin 2001; ders.: D er
jüdisch-christlich-islam ische Trialog. M ünchen, Ravensburg 2006; ders.: D er Spiegel des
Propheten. Abraham im K oran und im Islam. F rankfurt am Main 2008, S. 26; die V eröffent­
lichungen von Hans Küng: Projekt W eltethos. München 1990; ders.: Abraham - der Stam m ­
vater dreier Religionen. Zur N otwendigkeit des Trialogs zwischen Juden, C hristen und M us­
limen. In: Peter Neuner/Harald Wagner (Hg.): In Verantw ortung für den Glauben. Beiträge
zur Fundamentaltheologie und O kum enik. Freiburg, Basel, W ien 1992, S. 3 2 9-34 3; ders.:
W eltfrieden - W eltreligionen - Weltethos. In: K arl-Josef Kuschel (Flg.): Christentum und
nichtchristliche Religionen. Darm stadt 1994, S. 1 5 5 -17 1 sowie K arl-Josef Kuschel: Streit um
Abraham . Was Juden, C hristen und M uslime trennt - und was sie eint. D üsseldorf 2001;
ders.: Abraham ische Ökum ene. Interreligiöser D ialog als Voraussetzung für eine nachhaltige
Friedenspolitik. In: Neue Zürcher Zeitung vom 23. 12. 2000, S. 85; ders.: Juden - C hristen Muslime. H erkunft und Zukunft. D üsseldorf 2007.
T rialo g in d er Schule?!
217
ku lturelle D ifferenz als „bereicherndes M om ent europäischer G eistes- und K ul­
turgeschichte zu begreifen“ sei.3
D ie A utoren der Studie legen ausdrücklich Wert auf „die pluralistische Vergan­
genheit E uropas“, da der K ontinent H eim at „für alle drei abraham ischen G lau­
benstraditionen“ war. Sie argum entieren, dass es fruchtbare und nicht nur abgren­
zende theologische, geschichtliche und ku lturelle W echselw irkungen gegeben
habe und noch gäbe, dass alle drei R eligionen einen B eitrag zur europäischen
Identität geleistet hätten und schließlich, dass die pluralistische Vergangenheit
eine B edeutung für die pluralistische Z ukunft Europas besitze.4
II. Die Fragestellung
Das beschriebene trialogische V erständigungspotenzial darf allerdings nicht allein
eine oft beschw orene V ision bleiben, sondern muss gezielt freigesetzt w erden.
U m eine K ultur des M iteinanders aktiv zu gestalten und überkom m ene kulturelle
H ierarchien und D om inanzm odelle zu überw inden, sollten junge Europäer be­
reits in den Schulen beginnen, sich über die trialogische Vergangenheit des K onti­
nents klar zu w erden.
Ob dieser A nsatz allerdings in den europäischen Sch ulw irklich keiten und den
ihnen zugrunde liegenden C u rricu la überhaupt angew endet w erde, erschien der
Stiftung um die Jahrtausendw ende durchaus fragw ürdig. D ie Stiftung beauftragte
1999 deshalb die für ihre interreligiöse Expertise international geachtete T heolo­
gische F akultät der U niversität B irm ingham , m it einem knapp vierjährigen For­
schungsprojekt L ehrpläne und U nterrichtsm aterialien in acht M itgliedsstaaten
der Europäischen U nion zu untersuchen. D ie konkrete P rojektbearbeitung lag in
den H änden der jungen Forscherin Dr. Lisa K aul-Seidm ann, die P rojektleitung
hatten die Professoren Jorgen S. N ielsen und M arkus V inzent inne. Folgende F ra­
gen und A ufgaben w urden den W issenschaftlern auf den Weg gegeben:
a) In w elcher W eise und in w elchem U m fang w ird in den Schulen W issen über
die abraham ischen R eligionen verm ittelt?
b) A uf w elche Weise leisten die C u rricu la in der Behandlung der drei G laubens­
traditionen und K ulturen einen B eitrag zu r F orm ierung eines gem einsam en euro ­
päischen Erbes?
c) D ie W issenschaftler sollten zunächst Beispiele guter und schlechter Praxis
darstellen, um dann Em pfehlungen und L eitlinien für die zukünftige E ntw icklung
und V erbesserung der V erm ittlung von Judentum , C hristentum und Islam im eu­
ropäischen Schulunterricht zu form ulieren: Was w äre ein essentielles G run dw is­
sen, das zu einer europäischen Schulbildung gehört? W ährend die Em pfehlungen
stärker bildungspolitische R eform en für eine verbesserte in terkulturelle Pädago­
gik in Europa in den B lick nahm en, liefern die L eitlinien relativ konkrete B eispiele
Vgl. Assm ann: Schulwissen (wie Anm . 1), S. 6.
4 Vgl. Kaul-Seidman/Nielsen/Vinzent (Hg.): Europäische Identität (wie Anm . 1), S. 15 -17 .
218
R o la n d Löffler
für T hem en und M aterialien, die zum K ernbestand, aber auch zum kritischen
W issen über die drei abraham ischen K ulturtraditionen gehören. D iese L eitlinien
verstanden die A utoren nicht als norm ative Richtschnur, sondern als A nregung.
Pädagogen sollen dam it in die Lage versetzt w erden, kom petenter die L eh rp lan ­
vorgaben um zusetzen, aus den Em pfehlungen zu w eiterführenden U nterrich ts­
m aterialien besser den Stoff auszuw ählen, der für den K enntnisstand und die B e­
dürfnisse ihrer Schüler passend erscheint.
D ie eigentliche Forschung w urde durch W orkshops in D eutschland und Eng­
land flankiert. D ie Ergebnisse w urden im F rühjahr 2003 bei einer internationalen
K onferenz in der B erlin-B randenburgischen A kadem ie der W issenschaften p rä­
sentiert und die Studie dem dam aligen B undespräsidenten Johannes R au üb er­
reicht. Insgesam t entstanden drei Bände, die als H andbücher für Schulpolitiken
W issenschaftler, L ehrerausbilder und Sch ulp raktiker dienen: zum einen die erar­
beiteten Em pfehlungen auf w ahlw eise D eutsch oder Englisch, zum anderen der
E rgänzungsband m it den L änderanalysen ausschließlich auf Englisch plus eine
knappe D okum entation der besagten Tagung.5
III. Zur M ethodik
Die B irm ingham er Studie erhebt ausdrücklich nicht den A nspruch, repräsentative
Ergebnisse vorzulegen, sondern vielm ehr ,Trends' aufzuzeigen.6 Sie nahm dazu
acht L änder in den B lick: D eutschland, Finnland, Frankreich, G riechenland,
G roßbritannien, Italien, Schw eden, Spanien. U ntersuchungsgegenstand w aren
L ehrpläne, Lehrbücher und Lehrpraxis. D azu m ussten D aten zur inhaltlichen
A usgestaltung der Lehrpläne erhoben und an alysiert werden.
D rei Fächern w urd e für die in terkulturelle B ildung eine besondere B edeutung
zugeschrieben: dem R eligionsunterricht, dem G eschichtsunterricht sow ie dem
Sprach- und L iteraturunterricht. D ie W issenschaftler analysierten, w ie in diesen
Fächern abraham ische Them en und Stoffe behandelt w erden - und zw ar nicht nur
in den offiziellen Lehrplänen, sondern auch in den „inoffiziellen C u rricu la“. D a­
m it sind „M om entaufnahm en“7 der schulischen Praxis gem eint, in der Lehrer die
vorgegebenen R ichtlinien ko n kret um setzen. Es w urden 60 Fragebögen an Lehrer
und 40 an 15-jährige Schüler an je 20 Schulen in acht Ländern verschickt, m it de­
5 Vgl. H erbert Q uandt-Stiftung (Hg.): Interkulturelles Schulwissen und europäische Identi­
tät, Dokum entation der internationalen K onferenz vom 24. Juni 2003 in Berlin. Bad H om ­
burg 2004 (kurz); Kaul-Seidman/ Nielsen/Vinzent (Hg.): Europäische Identität (wie Anm . 1)
(kompakt); Lisa Kaul-Seidman/Jorgen S. Nielsen/Markus Vinzent (Hg.): European Identity
and cultural pluralism: Judaism, C hristianity and Islam in European curricula. Supplement:
C o u n try reports. Bad H om burg 2003 (ausführlich).
6 Vgl. M arkus Vinzent: Peaceful Mind and cultural diversity. Introduction to the eight coun­
try reports o f the study on Judaism, C hristianity and Islam in European curricula. In: KaulSeidman/Nielsen/Vinzent (Hg.): European Identity (wie Anm . 5), S. 8 -2 0, hier: S. 10.
7 Ebd.
Trialog in der Sch ule?!
219
ren H ilfe diese Schulpraxis erkundet w erden sollte - um quasi das „inoffizielle
C u rricu lu m “ neben dem offiziellen zu ergründen. U m sich ein m öglichst vielfäl­
tiges B ild m achen zu können, w urden von den 20 Schulen pro Land je zehn aus
dem Prim arbereich und zehn aus dem Sekundarbereich ausgew ählt, 50 Prozent
aus ländlichen und 50 Prozent aus urbanen G ebieten. D abei erschien den F o r­
schern die Interaktion von Schule, Schülern, E lternhaus und G laubensgem ein­
schaft bei der W issensbildung von zentraler B edeutung, gerade auch, um Best
P ractice-B eispiele eruieren zu können. In E rgänzung w urden die zugrunde lie­
genden L ehrbücher untersucht. In G riechenland, w o die R egierung aufgrund
grundlegender B ildungsreform m aßnahm en kein E inverständnis für die Vertei­
lung der Fragebogen gab, konnten nur Lehrbücher und C u rricu la herangezogen
w erden .8
Im D urchschnitt erhielten die B irm ingham er W issenschaftler im R ücklau f 240
D ateneinheiten pro Land, von durchschnittlich 15 der 20 angefragten Schulen und beobachteten, dass sich bereits bei dieser D atenm enge Trends verfestigten.
IV. Ergebnisse
Es zeigte sich, dass in allen Ländern die Schüler darauf vorbereitet w erden sollen,
„Bürger einer m ultikulturellen und in manchen Fällen pluralistischen G esellschaft
zu w erd en .“9 E rhebliche D ifferenzen bestehen jedoch in den untersuchten L än­
dern bei der R ealisierun g dieser hehren Z ielsetzung. In manchen Ländern m ach­
ten die K ultusbehörden bereits recht konkrete Vorgaben, in anderen w iederum
setzten sie verhältnism äßig vage R ahm enbedingungen und überließen die U m set­
zung den Lehrern. In den Fragebögen zeigte sich, dass viele Lehrer trotz ihres
guten W illens und eines gut gem einten „offiziellen C u rricu lu m s“ bei dessen U m ­
setzung überfordert sin d .10 Das „inoffizielle C u rricu lu m “ w ies deshalb erstaun­
liche M ängel und eine U nkenntnis, ja auch eine geringe R eflexionsstufe zu den
aktuellen ku lturellen , religiösen, ethnischen und politischen Veränderungen der
Bevölkerung im Zuge der M igration au f.11
Die w estlich -christlich e bzw. - w ie die B irm ingham er Forscher gerne auch for­
m ulieren - „postchristliche“ K ultur w ird , m ehr oder w eniger reflektiert, w eiter­
hin als selbstverständliche K oordinate der B ildungsziele, C u rricula und L ehr­
bücher betrachtet. Wenn das Judentum und der Islam als U nterrichtsgegenstände
herangezogen w erden, geschieht dies häufig unter R ub riken w ie „frem de“, „aus­
ländische“, „andere“ K ultur.12 D araus folgern die A utoren - und hierin muss man
s Ebd.; bedauerlicherweise ist in der Birminghamer Publikation der Fragebogen nicht abge­
druckt.
9 Vgl. Kaul-Seidman/Nielsen/Vinzent (Flg.): Europäische Identität (wie Anm . 1), S. 20.
10 Ebd., S. 21.
11 Vgl. Vinzent: Peaceful Mind (wie Anm. 6), S. 11.
12 Vgl. ebd.
220
R o la n d L öffler
ihnen nicht zw ingend folgen
dass die C h ristenh eit im A llgem einen sich in den
G rundm auern ihrer Existenz bedroht fühle, eigenartigerw eise noch stärker durch
sogenannte B indestrich-Identitäten (D eutsch-T ürke, D eutsch-Spanier etc.) und
ku lturelle P lu ralität in der G esellschaft „than b y a post-C h ristian consciousness,
in w hich neither C h ristian ity as it is practised nor the traditions and cultures of
Judaism and Islam p lay significant ro les.“ 13
D ie Forscher fanden deutlich mehr überzeugende Beispiele guter Praxis in Ita­
lien und Spanien als in M ittel- und N ordeuropa. D ieses Süd-N ord-G efälle erklär­
ten sich die A utoren dam it, dass diese L änder historisch intensivere B erührungs­
punkte m it anderen K ulturen als den vom C hristentum geprägten besaßen und so
auch heute das B ew usstsein für den M ultiku lturalism us stärker ausgeprägt sei.14
An D eutschland, das im hinteren M ittelfeld landete, kritisierten die Forscher, dass
es keine speziellen in terkulturellen oder interreligiösen A usbildungsgänge an den
U niversitäten gebe - etw a für R eligionslehrer. Das habe m it der konfessionellen
A usrich tun g der T heologischen F akultäten zu tun und m it dem F ach leh rersys­
tem, das zu w en ig D urchlässigkeit schaffe. D ieser Zustand hat sich meines Erach­
tens aber in den letzten Jahren durchaus geändert, w ährend das Fachlehrersystem
aus guten G ründen beibehalten w erden sollte.
D ie deutschen C u rricu la erw iesen sich 2003 als überholt, auch die Lehrbücher
zeigten zu w enig trialogische A nsätze. Zudem m ussten die B irm ingham er W is­
senschaftler feststellen, dass eine noch im m er starke A utoritätsfixierung im deut­
schen Schulsystem es ihnen nicht leicht m achte, unter den Pädagogen K ooperati­
onspartner für die Studie zu finden. Im G egensatz dazu w ürden Lehrer in L än ­
dern w ie Italien, G roßbritannien oder Spanien m it restriktiven oder gar üb erh o l­
ten C u rricu la w esentlich kreativer um gehen und eher versuchen, deutliche Bezüge
zur G egenw art herzustellen.
Im B lick auf die drei untersuchten Fächer offenbarten sich dabei folgende
Trends: D er R eligio nsun terrich t w ar bei allen M ängeln der ,trialogischste‘ U n ter­
richt, gefolgt vom G eschichtsunterricht, aber m it erkennbarem A bstand zu den
philologischen D isziplinen, die m eist doch auf nationalen Logiken aufgebaut w a­
ren. A uch wenn der R eligio nsun terrich t deshalb als zentrales interkulturelles Fach
angesehen w erden kann, gibt es auch hier K ritikpunkte - etw a im B lick auf den
prozentualen A n teil von Juden tum und Islam , gerade im Prim arbereich. H ier
Ebd.
14 Vgl. zum Länderranking ebd., S. 16: Den ersten Platz nahm danach Italien ein, es folgten
G roßbritannien, Spanien, Schweden, Deutschland, Finnland - und den letzten Platz teilten
sich Griechenland und Frankreich. Dies hat inhaltliche und strukturelle G ründe: In Frank­
reich, das keinen Religionsunterricht kennt, gelang es den Forschern nur begrenzt, in direk­
ten K ontakt mit Schulen zu treten und Datenm aterial zu sammeln. In Griechenland stand im
U nterricht der Beitrag des C hristentum s zur sozialen und ökonom ischen Entwicklung im
Vordergrund der Vermittlung. D ort w ar die U ntersuchung - wie bereits dargelegt - aus k u l­
tuspolitischen Gründen mit erheblichen Einschränkungen behaftet. Das Ranking zeigt sich
als nicht unproblem atisch, werden doch vorab keine klaren Kriterienkataloge bzw. B ew er­
tungsmaßstäbe für eine derartige Einsortierung definiert. In der Tendenz mag man der Rang­
liste jedoch - nach der Lektüre der eigentlichen C o u n try R eports - Plausibilität zusprechen.
13
T rialo g in d er Sch ule?!
221
scheint die U ntersuchung aber zu w enig zu berücksichtigen, dass dies religionspä­
dagogisch zum eist gew ollt ist, w eil es gerade auch en tw icklungspsychologisch im
G rundschulalter zunächst um die Stabilisierung der eigenen religiösen und k u ltu ­
rellen Identität geht.
B ildungspolitisch auffallend, ja geradezu paradox, ist der Befund, dass es in den
Ländern, in denen ,R eligio nskunde' angeboten w ird - also nicht bekenntnisge­
bunden, sondern als Fach, das neutral und vergleichend über Religion inform iert - ,
einen sehr viel größeren M angel an L ehrm aterialien und -inhalten zu Islam und
Judentum gibt als dort, w o eine konfessionelle, religiöse U nterw eisun g stattfin ­
d et.15
Im G eschichtsunterricht aller untersuchten L änder w ird der B eitrag der R eli­
gionen gew ürd igt, aber inhaltlich höchst selektiv und keinesw egs in angem essener
trialogischer G ew ichtung behandelt. Das C hristentum w ird zum eist als h isto ri­
sche R eligio n dargestellt - besonders beliebt ist die m ittelalterliche K irchenge­
schichte. W ichtige kirchliche C haraktere w erden in ihrer B edeutung für die N a­
tionalgeschichte skizziert, doch die fortdauernde Präsenz des C hristentum s bis
heute und seine dam it verbundene aktuelle B edeutung für die europäischen G e­
sellschaften bleiben eigentüm lich blass. A llerdings gibt es auch Beispiele guter
Praxis, die den sozialen und kulturellen Einfluss der Kirchen auf Staat und G esell­
schaft darstellen, die historischen Fehler der K irche them atisieren und den trans­
nationalen C h arak ter der Kirchen herausarbeiten, w as auch zu einer K ontextualisierung und starken B innendifferenzierung der christlichen R eligion führte.
Best P ractice-B eispiele im B lick auf Juden tum und Islam finden sich vergleichs­
w eise selten: T hem en der jüdischen G eschichte erleben selten eine E ntfaltung am ehesten w ird das Juden tum der A n tike und der M oderne, m itunter auch des
M ittelalters behandelt. Jüdische G eschichte w ird „tendenziell als T ragödie“ 16 d ar­
gestellt. Es dom inieren die Stoffe A ntisem itism us, H olocaust und N ahostkonflikt, auch w enn durch die G ründung des Staates Israel ein positiver A kzen t in
vielen Lehrplänen gesetzt w urde. H insichtlich des Islam findet sich in den m eisten
C u rricula eine K om bination aus islam ischer G eschichte, theologischen Inhalten
und arabischer Kultur. D er Islam in Europa w ird jedoch leider zu stark auf nur
drei A spekte beschränkt: auf die m ilitante A usbreitung des frühen Islam , auf F ra­
gen der K reuzzüge und auf den Fundam entalism us heute.
In den Lehrplänen des Sprach- und L iteraturunterrichts fällt das Ergebnis noch
ernüchternder aus: Die meisten C u rricula und L ehrbücher führen zw ar in den
kulturellen Flintergrund der zu lesenden A utoren ein. D ie w enigsten Sprachun­
terrichte sind jedoch in terkulturell oder interreligiös ausgerichtet. R eligiöse T h e­
men finden sich grundsätzlich nur selten im Sprachunterricht - und wenn, dann
w erden bei christlichen A utoren theologische Texte ausgew ählt, bei jüdischen
15 Vgl. Kaul-Seidman/Nielsen/Vinzcnt (Hg.): Europäische Identität (wie Anm . 1), S. 21. In
der konkreten Verm ittlung dom iniert die Behandlung der religiösen Feste; dagegen fehlt die
Auseinandersetzung mit religiösen und kulturellen O riginaltexten oder auch mit ethischen,
anthropologischen und sakralarchitektonischen Fragen.
16 Ebd., S. 22.
222
R o la n d Löffler
A utoren geht es auch hier um A ntisem itism us und H olocaust, w ährend sich die
w enigen W erke m uslim ischer Schriftsteller entw eder m it M ärchen aus der arab i­
schen K ultur oder den M igranten in Europa befassen. Dem R eichtum der religiö ­
sen L iteratur w ird im Sprachunterricht dam it kaum R aum gew äh rt.17 D abei n u t­
zen Schriftsteller (und K ünstler) auch in Zeiten der säkularisierten M oderne den
Kanon der religiösen Ü berlieferung w eidlich - man denke nur an Elie W iesels R o ­
m ane, die Jesusgestalten in der m odernen L yrik, R einhold Schneider, die A u sei­
nandersetzung m it dem K atholizism us bei H ein rich B öll, G eorge Bernanos oder
R olf H ochhuth.
Schließlich beobachteten die Forscher, dass im Schulunterricht die w echselsei­
tige B eeinflussung, der K ulturtransfer auf theologischem , künstlerischem , arch i­
tektonischem , literarischem G ebiet, oder auch in W issenschaft, W irtschaft, E r­
nährung kaum berücksichtigt w urden. Das U nterrichtsm aterial biete auch nur
wenig historische und literarische Q uellen an, die die positive Interaktion belegen.
D am it w erde den Schülern aber die M ö glich keit genom m en, sich an den O rigin al­
texten m it tradierten V orurteilen gegen Jud en , C h risten und M uslim en auseinan­
derzusetzen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass die Schüler in den acht u n ­
tersuchten Ländern nur w enige herausragende P ersönlichkeiten der R eligionen
kennen und ihnen auch clie internen D ifferenzen der drei K ulturkreise w eitge­
hend frem d bleiben.
F ür die A utoren ist jedoch nicht nur die A usw ahl der Them en und M aterialien
ein Problem , sondern auch die O rganisation des Lehrstoffes in den je spezifischen
Fächern. Das bedeute, „dass die m eisten Lehrpläne für G eschichte bzw. Sprache
und L iteratur vor T hem en zurückscheuen, die m it den drei abraham ischen G lau­
benstraditionen [ ...] zu tun haben. Für religionsaffine Them en, seien es auch k u l­
turelle, hält man das Fach .R eligio n “ oder ,Religionslehre* für zustän dig.“ 18 A uch
die eingeschränkte Zeit für den G eschichtsunterricht führe dazu, nur noch ,Insel‘W issen oder Schlüsselepochen und w enige bedeutende Personen zu verm itteln,
die größeren Zusam m enhänge und die K ontextualisierung der historischen Z u­
sam m enhänge aber zusehends zu vernachlässigen.
V. Empfehlungen und Leitlinien
In einem letzten Schritt form ulierten die B irm ingham er W issenschaftler eine
R eihe von Em pfehlungen, mit deren H ilfe Schülern grundlegendes und kritisches
W issen der drei abraham ischen G laubenstraditionen verm ittelt w erden könne. Sie
sollten erkennen können, dass Europa trotz christlicher D om inanz eine plurale
V ergangenheit besitze, die eine pluralistische Zukunft erm ögliche, und schließlich
Pluralism us nicht zw an gsläufig in A ntagonism us enden müsse.
17 Vgl. ebd., S. 23.
18 Vgl. ebd., S. 33.
Trialog in d er Schule?!
223
K aul-Seidm ann, N ielsen und Vinzent fordern, dass der U nterricht faktische In­
form ationen liefern und kritische A useinandersetzung m it Inhalten erm öglichen
möge, aber dazu dienen solle, Stereotype zu entlarven, m onolithische D arstellun­
gen zu durchbrechen und die A kzeptanz von B indestrich- und m ultipler Identi­
täten zu fördern. M it diesem W issen sollen Schüler die pluralistische N atur der
europäischen G esellschaft als positiv begreifen lernen. D ie Forscher setzen sich
dafür ein, dass in der Lehreraus- und -fortbildung eine größere A ufm erksam keit
auf in terkulturelle P ädagogik gelegt w erde - und dass Schulbuchverlage innova­
tive, in terkulturelle Schulbücher auf den M arkt bringen. Dies scheint ein Punkt zu
sein, der sich seit Erscheinen der B irm ingham -Studie sukzessive ändert. Schließ­
lich appellieren die W issenschaftler an die P o litik , die staatlichen Lehrpläne um
trialogische Elem ente - nach den jew eiligen nationalen E rfordernissen - zu erw ei­
tern .19
In einem letzten Schritt entw ickeln die A utoren ein fast fünfzigseitiges Set an
,L eitlin ien 1, um die Them en- und Stoffausw ahl sow ie bibliografische A nregungen
anzubieten, nicht aber um konkrete Stundenplanung zu ersetzen.20 D ie ,L eitli­
nien' sollen vielm ehr für die zukünftige Lehrplangestaltung als M aßstab für das
W issen dienen, das Schüler bis zum Ende der Schulpflicht erlernt haben sollten.
A uch sollen Lehrer die L eitlinien als Fundus neuer Ideen für einen vertieften U n ­
terricht verstehen und L ehrerausbildungsstätten Elem ente in ihre C u rricula auf­
nehmen. D ie L eitlinien gehen dabei in einem D reischritt vor: Zunächst w erden
A nregungen für bestim m te Fragen zum G rundw issen über Islam , C hristentum
und Juden tum behandelt, die w iederum in U nterkap itel zu theologischen, h isto ri­
schen, ku lturellen , praktisch -alltäglich en Fragen un terteilt w erden. Dem folgen
L eitlinien für den kritischen U m gang m it den unterschiedlichen G laubenstradi­
tionen, die w iederum in Them en zur internen kulturellen V ielfalt der R eligionen,
zur W echselw irkung zw ischen den K ulturtraditionen auf unterschiedlichen Ge­
bieten, zu r vergleichenden L ektüre historischer Texte und schließlich zur V erm itt­
lung literarischer Stoffe un tergliedert w erden.
VI. Von der Studie zum Wettbewerb „Schulen im Trialog“
Die Stärke der B irm ingham er Studie liegt in ih rer P ionierfunktion auf diesem bis
dato recht unerforschten G ebiet - gerade m it dem A nsatz des europäischen Ver­
gleichs. Sie legt - trotz einzelner Best P ractice-B eispiele - den Finger in die
W unde der defizitären V erm ittlung religiö s-ku ltureller G rundw issensbestände in
Europa. D abei fällt besonders ins A uge, dass im G runde keine der drei abraha-
19 Zu den Empfehlungen vgl. ebd., S. 3 3 -4 3 bzw. Kaul-Seidman/Nielsen/Vinzent (Hg.):
European Identity (wie Anm . 5), S. 19.
20 Zu den Leitlinien vgl. Kaul-Seidman/Nielsen/Vinzent (Hg.): Europäische Identität (wie
Anm. 1), S. 46 -9 0 .
224
R o la n d Löffler
m ischen R eligionen adäquat dargestellt w ird - das C hristentum erscheint viel zu
stark als historisches Phänom en, w ährend der B eitrag von Judentum und Islam
viel zu häufig m arginalisiert bzw. auf bestim m te, problem behaftete T hem enbe­
reiche beschränkt w ird (A ntisem itism us, H olocaust/K reuzzüge, Fundam entalis­
mus). Interessanterw eise ist es der politisch in vielen europäischen Ländern um ­
strittene R eligionsunterricht, dem quer über alle G renzen hinw eg eine zentrale
in terkulturelle und interreligiöse V erm ittlungsrolle zukom m t, w ährend dies dem
G eschichts- und dem Sprachunterricht nur m it Einschränkungen gelingt. Die
Em pfehlungen und die L eitlinien der B irm ingham er W issenschaftler w eisen ei­
nen W eg, w ie m it H ilfe einer stärker in der Schule verankerten in terkulturellen
B ildung der innen-, sozial-, religions- und bildungspolitisch gew ollte Weg zur
Integration gelingen und sich eine pluralistische europäische Identität herausb il­
den könnte.
D ie Them envorschläge der L eitlinien überzeugen auch noch nach fast sieben
Jahren. A llerdings w ird das in den L eitlinien dargelegte M aterial nicht altersstu­
fenspezifisch aufbereitet. Zudem irritiert bei den L iteraturangaben die hohe
D ichte w issenschaftlicher Publikationen, w ährend schulspezifische H an d rei­
chungen fehlen. M an denke in D eutschland etw a an die V eröffentlichungen der
Bundes- und Landeszentralen für politische B ildung, verschiedener Stiftungen,
der religionspädagogischen Ä m ter der K irchen, aber auch an neuere Produkte der
Schulbuchverlage.
M it einigen Jah ren A bstand fällt zudem der stark kognitive A nsatz der Studie
ins A uge. In terkulturelles Lernen muss aber ganz im Sinne Pestalozzis m it Ver­
stand, H erz und H and geschehen. V ielleicht ist die E ntw icklung von E m pathie­
fähigkeit und eine p roduktionsorientierte D id ak tik auf diesem Felde sogar noch
w ich tiger als sonst, w eil Schülerinnen und Schüler andere K ulturen eben nicht
allein durch B ücher und Texte, sondern durch unm ittelbare B egegnungen und
A useinandersetzung verstehen lernen.
U m die bereichernden A spekte der Studie in den konkreten Schulalltag einflie­
ßen zu lassen, entschied die H erbert Q uan dt-Stiftun g 2005, den W ettbewerb
„Schulen im Trialog. Europäische Identität und k u ltu reller Pluralism us“ ins L e­
ben zu rufen. D ie Stiftung w ill so zur Förderung der trialogischen bzw. in terk u l­
turellen K om petenzen von Schülern und Lehrern beitragen und den T rialog-G edanken in der Schule sow ie der Lehrerausbildung verankern. N ach dem V erständ­
nis der H erbert Q uandt-Stiftung hat der „Trialog der K ulturen“ nichts m it R elig i­
onsverm ischung zu tun, w ill auch keinen naiven R eligionsfrieden propagieren. Es
w ird vielm ehr im Sinne eines reflektierten Toleranzgedankens die E igenheit und
D ignität der drei unterschiedlichen abraham ischen R eligionen und K ulturtradi­
tionen - gerade im B lick auf die Identitätsbildung der unterschiedlichen Schüler akzeptiert, um in einem zw eiten Schritt Ü bereinstim m ungen und U nterschiede
herauszuarbeiten und dann drittens nach gem einsam en Ü berzeugungen, T raditio­
nen und L ösungsm öglichkeiten für die Z ukunft unserer G esellschaft zu suchen.
W er sich selbst seiner eigenen H erkunft und Position bew usst ist, sollte in der
Lage sein, A chtung vor andersgläubigen M enschen zu zeigen.
Trialo g in der Sch ule?!
225
M ittlerw eile geht der W ettbew erb ins sechste Jahr. Er ist so aufgebaut, dass ab
der 5. Klasse alle Schulen - ohne A usnahm e irgendeiner Schulform - in Eiessen,
dem Saarland, R heinlan d-P falz21 (sow ie von 2006-2010 auch in B erlin) nach der
A ussendung der Inform ationsflyer bis M itte/Ende A pril Zeit haben, ein Expose
zum Jahresthem a zu schreiben, in dem sie ihr Projekt vorstellen. Im M ai tagt die
unabhängige Ju ry, die aus Pädagogen, W issenschaftlern, R eligionsvertretern so­
w ie Vertretern der K ultusbehörden besteht - und entscheidet über die Z ulassung
von bis zu 25 Schulen. D iese erhalten dann das „Startgeld“ von 3500 Euro, m it
dem sie eigenständig ein Jah r lang ihre Projekte realisieren können. D ie H erbert
Q uandt-Stiftung bem üht sich w ährend des W ettbew erbsjahres um einen intensi­
ven K ontakt, lädt die P rojektlehrer zu einer A uftaktveranstaltung ein, besucht die
Schulen m indestens zw eim al und organisiert zu r H alb zeit im Februar/M ärz den
„M arkt der M ö glich keiten “, auf dem die Schulen ihre Zwischenergebnisse präsen­
tieren. Zum M ark t w erden V ertreter der Presse, der Studiensem inare, Schulämter,
R eligionsgem einschaften und anderer Stiftungen eingeladen. Es ist ein erster H ö ­
hepunkt des W ettbew erbs in einem passenden „schönen“ Rahm en, der den Schü­
lern A uftrieb gibt. Einerseits w erden an diesem N achm ittag alle Schulen und
Schüler gleich behandelt, erhalten die gleiche A uftrittszeit und die gleiche Stand­
größe, w as besonders für Schüler aus schw ächeren sozialen Strukturen eine p er­
sönliche A ufw ertun g bedeutet. A ndererseits w ird auch der W ettbew erbsgedanke
gestärkt, indem die Schulen sehen, w as die M itb ew erber zu bieten haben. Zum
Schuljahresende finden - im Sinne eines guten Projektm anagem ents - die A b ­
schlussveranstaltungen statt und die Schulen m üssen einen 15-seitigen Bericht für
die Ju ry schreiben. Für den A bschlussbericht erhalten die Schulen eine Vorlage, die
der des Exposes ähnlich ist und deren K apitel gleich zeitig den K riterienkatalog
der B ew ertung der W ettbew erbsleistung abbilden.22 D ie Ju ry tagt im A ugust und
vergibt die Preise im W ert von insgesam t 60000 Euro. In der R egel w erden bis zu
acht Schulen ausgezeichnet.
Im Laufe des Schuljahres versucht die Stiftung lokale L ehrerfortbildungen an­
zubieten, pflegt den K ontakt zu bildungspolitischen M ultip likato ren und erm u­
21 Die Ausw eitung nach R heinland-Pfalz und dem Saarland ab dem Schuljahr 2010/2011
w urde erm öglicht durch eine großzügige Förderung des Bundesministeriums fü r Bildung
und Forschung. Die H erbert Q uandt-Stiftung plant, den W ettbewerb rollierend in unter­
schiedlichen Bundesländern auszutragen. Aufgrund der intensiven Betreuung erscheint ge­
genwärtig eine bundesweite Ausschreibung nicht sinnvoll zu sein.
22 Die Ausschreibung fü r die jeweiligen Jahrgänge findet sich unter ww w .herbert-quandtstiftung.de. Folgende B ewertungskriterien w erden fü r die finale Entscheidung herangezogen:
1) Inhaltliche A usrichtung - pädagogisches K onzept; 2) Didaktisch-m ethodische Ansätze;
3) Verbindung: Projekt und Schulalltag sowie Entwicklung im Schuljahr; 4) Reichweite: Ver­
knüpfung mit Gesam tkollegium , Fächer, Klassen, Um fang, Notengebung; 5) Beteiligung von
Lehramtsanwärtern/Elemente der Lehrerfortbildung; 6) K ooperation mit außerschulischen
Institutionen; 7) Elterneinbezug; 8) Wirkung/Nachhaltigkeit; 9) Projektmanagem ent/Pro­
jektdokum entation; 10) Ö ffentlichkeitsarbeit; 11) Verhältnis Expose zu Abschlussbericht selbstkritische Einschätzung; 12) Gesam teindruck (inklusive Schulbesuche). Der W ettbewerb
stellt also auch eine Form von externer Evaluation schulischen Lernens dar - und erfüllt damit
ein wesentliches K riterium der Um setzung von Bildungsstandards.
226
R o la n d Löffler
tigt die Schulen zu einer offensiven Pressearbeit; gerade bei Lokalzeitungen in
ländlichen G ebieten erhalten die Schulen schnell eine intensive Resonanz. D er
W ettbew erb stärkt deshalb ohne Zw eifel die Stellung der Schule in der lokalen Ö f­
fentlichkeit und verhilft ihr - besonders, w enn sie gew onnen hat - zu einer ande­
ren W ahrnehm ung.
A uf dem G ebiet der Lehrerfortbildung en tw ickelt sich gerade ein zw eites
„Flaggschiff“ der Flerbert Q uandt-Stiftung: D ie D eutsch-T ürkische L eh reraka­
dem ie, die im Ju li 2008 erstm als in Istanbul stattfand und danach alternierend in
beiden Ländern ausgerichtet w ird. D er türkische Partner ist das größte B ildun gs­
reform projekt der T ürkei, die Education R eform Initiative, eine N G O unter dem
Dach der privaten Sabanci-U niversity. Das G oethe-Institut in Istanbul un ter­
stützt diese einw öchige, auf in terkulturelle und internationale pädagogische Ver­
ständigung zielende K onferenz ebenso w ie das A usw ärtige A m t, das zusam m en
m it dem türkischen A ußenm inisterium die D eutsch-T ürkische Lehrerakadem ie
2009 als einzige V eranstaltung für Lehrer in die „E rnst-R euter-Initiative für D ia­
log und V erständigung“ aufgenom m en hat.
N im m t man die fünf W ettbew erbsrunden zusam m en, so haben bisher 99 Schu­
len aus Flessen und B erlin sow ie vereinzelt auch aus T hüringen, N ordrhein-W estfalen, B aden-W ürttem berg und B randenburg teilgenom m en. M it den P rojekten ko ordiniert von etw a 250 Pädagogen - w urden fast 25000 Schüler erreicht, die
ihre in terku ltu relle Sensibilität, Em pathie und K enntnisse erw eitern konnten. D er
W ettbewerb leistet einen B eitrag zur A ufw ertun g von M inoritäten in G esellschaft
und Schule, setzt Im pulse für Schulentw icklung und Stärkun g von Lehrern, Schü­
lern und Schulen, fördert und p raktiziert In terd iszip lin arität. Da die B eteiligung
von Lehram tsanw ärtern ausdrücklich erw ünscht ist, setzt der W ettbewerb auch
Im pulse für die Z ukunft. Denn w enn sich junge L ehrer - etw a auch in m ehreren
Exam ensarbeiten - intensiv m it Fragen des Trialogs beschäftigt haben, besteht
eine gew isse G ew ähr der N achhaltigkeit. E'rkennbar ist zudem , dass sich die Projektm anagem entfähigkeit der Schulen positiv entw ickelt. H ier beeindrucken vor
allem die B erufsschulen, bei denen jedoch Projektm anagem ent, Planung, O rgan i­
sation und Steuerung auch sonst zum C u rriculum gehören.
Zu beobachten ist außerdem , dass in den m eisten - leider nicht allen - Schulen
ein Verständnis für die Toleranz gegenüber M enschen anderer R eligionen und
K ulturen w ächst. Es gibt jedoch hier auch im m er w ieder R ückschläge, gerade
w enn im N ahen O sten w ied er m ilitärische K onflikte ausbrechen, w ie zum B ei­
spiel der L ibanon-K rieg 2006 oder der G aza-K rieg 2009. D ann dom inieren gerade
bei arabischen Schülern nationale W ahrnehm ungsm uster und So lidaritätsbekun ­
dungen inklusive einer A blehnung Israels, die un reflektiert auf das Verhältnis zu
Juden in D eutschland übertragen w erden.
N achdem die Sieger feststehen, organisiert die H erbert Q uandt-Stiftung im
H erbst das feierliche „Finale“, bei dem die Preise durch z.B . K ultusm inisterin,
Staatssekretäre oder A b teilun gsleiter aus den jew eiligen Schulm inisterien verlie­
hen w erden. Diese von der Presse intensiv dokum entierte Feierstunde in der Bad
H om burger Schlosskirche ist eine öffentliche A nerkennung für die Schulen, die
Trialo g in d er Sch ule?!
227
ihre Projekte m it kurzen Film en präsentieren; außerdem dient sie der Vernetzung
von alten und neuen Siegern, Schulen und V erw altung, pädagogischer bzw. p o liti­
scher Ö ffentlichkeit und Stiftung.
D am it die Ergebnisse des W ettbewerbs auch einer breiteren Ö ffentlichkeit
kom m uniziert w erden können, hat die Stiftung bei Professor Dr. C lauß Peter
Sajak, Institut für K atholische Theologie und ihre D idaktik, U niversität Münster,
eine bei K lett-K allm eyer erschienene Pub likatio n in A uftrag gegeben, die die Sie­
ger der drei ersten Jahrgänge p o rträtiert und an alysiert.23 Das Buch, das einerseits
w issenschaftliche Fachbeiträge von A utoren aus dem Kreis der Ju ry sow ie ande­
rerseits B austeine für ein auf andere Schulen übertragbares T rialog-M ethodencurriculum enthält, w urd e auf einer Fachtagung im F ebruar 2010 in B erlin an der
B erlin-B randenburgischen A kadem ie der W issenschaften vorgestellt.
Zudem ist ein Buch zu r in terkulturellen G eschichtsdidaktik in K ooperation
mit dem V erband der G eschichtslehrer D eutschlands e.V. in Planung, das spätes­
tens 2011 erscheinen w ird. W eiterhin entstehen eine D issertation und eine M agis­
terarbeit in M ün ster zum Schulenw ettbew erb.
VII. Der Beitrag des Trialog-Schulenwettbewerbs zur
Bildungsstandarddiskussion
2003 und 2004 beschloss die K ultusm inisterkonferenz der B undesländer die E in­
führung von länderübergreifenden B ildungsstandards für G rund- und H aup t­
schule sowie für den m ittleren B ildungsabschluss in den Fächern D eutsch, M athe­
m atik, der ersten Frem dsprache sow ie in den N aturw issenschaften. D ie Standards
für das A b itu r w aren zunächst nicht im B lick. D am it sollte eine U m steuerung von
der lehrplanorientierten Input-P ädagogik hin zu einer stärkeren O utp ut-P ersp ek­
tive geschehen. Dies galt dam als - und gilt heute noch - auch vor dem H in ter­
grund des PISA -Schocks als innovativ und im internationalen Vergleich angem es­
sen. B ildungsstandards sind zu verstehen als eine norm ative Beschreibung er­
w ünschter V erstehensprozesse im Sinne von W issen und Können, die durch die
D efinition von K om petenzen konkretisiert und überprüfbar w erden. D iese sind
über Landesgrenzen hinw eg vergleichbar, was auch zu einer D urchlässigkeit des
heterogenen deutschen B ildungssystem s führen soll.
D am it verband sich ein A bschied von Lehrplänen einerseits, sowie eine Q u ali­
tätssicherung und O rien tieru ng für Schulen durch die Vorgabe verbindlich zu er­
reichender Ziele andererseits. K onkrete Lernergebnisse (Schulevaluation) sollen
ebenso w ie das gesam te B ildungssystem (B ildungsm onitoring) überprüft werden.
Der E valuation kom m t folglich in der B ildungsstandarddiskussion eine w ichtige
23 Vgl. C lauß Peter Sajak unter M itarbeit von A n n -K ath rin M uth und Angelika Pantel: Trialogisch lernen. Bausteine für interkulturelle und interreligiöse Projektarbeit. Seize 2010.
228
R o la n d Löffler
R olle zu - K ritiker sprechen dagegen im B lick auf Evaluierungsfragebögen von
der A bhakm ethode, die pädagogisch w en ig erreiche.
G elingt die Im plem entierung von B ildungsstandards, sollte den Schulen ein
F reiraum für ihre interne Lernplanung gegeben w erden, dam it so ein B eitrag zur
A utonom isierung geleistet und langfristig die E ntw icklung zum Ideal einer un ab ­
hängigen Schule erreicht w erden kann. M ehr A utonom ie bedeutet natürlich im
G egenzug höhere professionelle (und w ohl auch adm inistrative) A nsprüche an
die einzelne Schule und den einzelnen Lehrer, was nur durch eine gezielte, ko n ti­
nuierliche F o rtbildung ausgeglichen w erden kann.24
Was ist aber nun unter Standards und K om petenzen zu verstehen?
D er auf diesem G ebiet prom inente deutsche B ildungsforscher Eckhard Klieme
gibt in seiner w egw eisenden Expertise dazu folgende D efinitionen:
„Bildungsstandards form ulieren A nforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule. Sie
benennen Ziele für die pädagogische A rbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der
Schülerinnen und Schüler. Dam it konkretisieren Standards den Bildungsauftrag, den allge­
mein bildende Schulen zu erfüllen haben. Bildungsstandards, wie sie in dieser Expertise k on ­
zipiert werden, greifen allgemeine Bildungsziele auf. Sie benennen die Kom petenzen, welche
die Schule ihren Schülerinnen und Schülern verm itteln muss, damit bestimmte zentrale B il­
dungsziele erreicht werden. Die Bildungsstandards legen fest, welche Kom petenzen die K in ­
der oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erw orben haben sollen. Die
Kom petenzen w erden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt
und prinzipiell mit H ilfe von Testverfahren erfasst w erden können.“25
B ildungsstandards geben also vor, w elche K om petenzen ein Schüler erlangen
muss, w enn zentrale Ziele der schulischen B ildun g als erreicht gelten können.
U nter K om petenzen versteht w iederum Franz E. W einert erlernbare, kognitive
F ähigkeiten und Fertigkeiten zur Problem lösung sow ie die dam it verbundenen
„m otivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um
die Problem lösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantw ortungsvoll
nutzen zu können.“26 Im D etail können fachlich M in dest-, R egel- und O ptim al­
standards w eiter ausdifferenziert w erden sow ie form al Input-, O pp o rtun ity-to learn-, Perform ance-Standards. Input-Standards beziehen sich auf das zu errei­
chende W issen (K erncurriculum ), O p p o rtun ity-to -learn -Stan dards bedenken die
R ahm enbedingungen in der Schule, w ährend Perform ance-Standards in h alts­
unabhängig F ähigkeiten, Fertigkeiten und (L ern-)B ereitschaften in den B lick neh­
men. U nerlässlich zum System der B ildungsstandards gehören regelm äßige M es­
sungen (E valuationen) und Ü berprüfungen der Standards - und zw ar konkret im
B lick auf das Schulsystem und den U nterrich t, die individuelle L ern en tw icklun g
des Schülers sow ie allgem einer das K om petenzniveau und die dazu passenden
M ethoden. G elingt es im schulischen A lltag nicht, die entsprechenden B ildungs-
24 Vgl. Eckhard Kliem e u.a. (Hg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine
Expertise. Berlin 2007.
25 Vgl. ebd., S. 19.
26 Vgl. Franz E. W einert (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim 20 01, S. 2 7 f.
Trialo g m der Sch ule?!
229
standards zu erreichen, so muss im System nachgesteuert w erden, z.B . durch För­
derm aßnahm en.
Im B lick auf den R eligionsunterricht, der zu den w ichtigsten R eferenzfächern
des T rialog-Schulenw ettbew erbs gehört, w ird die E inführung von B ildungsstan­
dards ebenfalls intensiv d iskutiert.27 V erschiedene R eligionspädagogen beider
K onfessionen - w ie etw a der katholische T heologe C lauß Peter Sajak aus M ünster
- nehmen die B ildungsstandarddiskussion positiv auf und sehen darin durchaus
Vorzüge für den R eligionsunterricht. Er werde als ordentliches Lehrfach in der
Schule gesichert, erhalte eine gestärkte Stellung im K ollegium sowie eine schultheoretische V erankerung. Dies könne der inhaltlichen A usrichtung sowie der
P lu ralitätsfäh igkeit und interdisziplinären A usrich tun g des R eligionsunterrichts
dienen.
A uch das Sekretariat der D eutschen Bischofskonferenz hat sich dem Them a be­
reits ko n struktiv angenähert und „kirchliche R ich tlin ien “ entw ickelt, die sich an
der K liem e-E xpertise orientieren, aber auch eigene A kzen te setzen.2S D abei w er­
den als allgem eine K om petenzen des R eligionsunterrichts die A useinanderset­
zung m it den Inhalten des christlichen G laubens genannt sowie die F ähigkeit, in
religiösen Fragen begründet urteilen, religiöse Phänom ene angem essen w ah rn eh ­
men, sich über religiöse Fragen und Ü berzeugungen verständigen, religiöse Texte
verstehen, religiöse Sprache verstehen und verw enden, religiöses W issen darstel­
len sow ie aus religiö ser M otivation handeln zu können. D iese K om petenzen soll
27 Vgl. C lauß Peter Sajak: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Theologische
Grundlagen - D idaktische Überlegungen - Methoden und Medien. M ainz 2004; ders.: Inter­
religiöses Lernen in Zeiten religiöser Pluralisierung - Chancen und Grenzen des schulischen
Religionsunterrichts. In: G erhard M ertens (Hg.): Fragmentierte Gesellschaft - Einheit der
Bildung. M ünster 2006, S. 18 5-20 9; ders. unter M itarbeit von Peter Brause und D ieter Skala:
Richtlinien - Rahmenpläne - Kom petenzen. Zum Stand der Standardim plem entierung im
Katholischen Religionsunterricht. In: Ludwig Rendle (Hg.): Was heißt religiöses Lernen?
R eligionsunterricht zwischen den Bildungsstandards und der U nverfiigbarkeit des G lau­
bens, D onauw örth 2007, S. 6 3 -7 1 ; ders.: Keine Angst v o r Standards. In: Katechetische Blät­
ter 133 (2008), S. 4 3 8 -4 4 6 ; Bernhard Dressier: Religiöse Bildung zwischen Standardisierung
und Entstandardisierung - Zur bildungstheoretischen Rahm ung religiösen K om petenzer­
werbs. In: Theo-W eb. Zeitschrift für Religionspädagogik 4 (2005), S. 5 0 -6 3 ; Friedhelm Kraft:
Bildungsstandards fü r den Religionsunterricht: vom K om petenzm odell zur Lehrplangestal­
tung. Resüm ierende Folgerungen. In: Theo-W eb. Zeitschrift für Religionspädagogik 4
(2005), S. 6 4 -6 7 ; Renate Flofmann: Lernende Lehrerinnenbildung. Eine empirische Studie
zum Erwerb religionspädagogischer Kom petenz. In: Theo-W eb. Zeitschrift für Religionspä­
dagogik 4 (2005), S. 6 8 -7 6 ; vgl. weiterhin: Volker Elsenbast u.a. (Hg.): Zur Entwicklung von
Bildungsstandards. Positionen, Anm erkungen, Fragen, Perspektiven für kirchliches B il­
dungshandeln. M ünster 2004; M artin Rothgangel/Dietlind Fischer (Hg.): Standards für reli­
giöse Bildung? Z ur Reform diskussion in Schule und Lehrerbildung. M ünster 2004; Volker
Elsenbart/Dietlind Fischer (Hg.): Grundlegende Kom petenzen religiöser Bildung. Zur Ent­
wicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss
der Sekundarstufe I. M ünster 2006; Gabriele Obst: Kom petenzorientiertes Lehren und Ler­
nen im Religionsunterricht. G öttingen 22009.
28 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Kirchliche Richtlinien zu Bildungs­
standards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Prim arstufe. Bonn
2004.
230
R o la n d Löffler
der G rundschüler dann inhaltlich in den Bereichen M ensch und Welt, der Frage
nach G ott, Bibel und Tradition, an der Person Jesu C h risti, im B lick auf Kirche
und Kirchen sow ie auf andere R eligionen und W eltanschauungen anw enden kö n ­
nen. Im G egensatz zu den gängigen E valuationsm ethoden w erden für den kath o ­
lischen R eligio nsun terrich t jedoch Vergleichstests abgelehnt. Angem essen er­
scheinen nur noch solche Ü berprüfungsansätze, die nicht allein die kognitive D i­
m ension um fassen, w eil dies dem Wesen religiösen Lernens nicht entspräche.29
C lauß Peter Sajak em pfiehlt einen anderen Z ugang m it folgenden Instrum enten:
- C ahier - kleines Lieft zu einer U nterrichtssequenz,
- Portfolio - M appe zur Sam m lung von L ernprodukten bzw. zur D okum entation
des Lernfortschritts,
- Fragebogen - B efragung (z.B . auch des sozialen und ethischen Lernens),
- K reative Aufgaben - problem bezogene A ufgabenstellung mit stark handlungs­
bezogener A usrichtung (z. B. das Drehen eines Film s über die A rbeit der So zial­
station in der N achbarschaft der Schule),
- W ettbewerb - projektbezogene, ko n kurrierende A ufgabenlösung (externe B e­
urteilun g durch E xpertenjury).
A uch diese anderen, zum Teil sehr innovativen M ethoden der E rgebnissiche­
rung können einen B eitrag zur E valuierung von Lernergebnissen leisten - und
nicht nur die sehr quantitative „Tick-B oxing“-Fragebogenm ethode.
G reift m an nun die inhaltlichen und m ethodischen A spekte der B ildungsstan­
darddiskussion im B lick auf den T rialog-Schulenw ettbew erb der H erbert
Q uandt-Stiftung auf, so fallen folgende Ü bereinstim m ungen auf: D ie Stiftung
bew egt sich - parallel zur allgem einen, bildungspolitischen Situation - ebenfalls
von der L ehrplananalyse zur praktischen P ro jektarb eit in der Schule sowie zur
E rarbeitung von B ildungsstandards. D er W ettbew erb leistet im p lizit und explizit
einen B eitrag zur Setzung interreligiöser und in terku ltu reller Standards, indem
Schüler (und auch Lehrer) trialogische K om petenzen entw ickeln, die man ohne
Zweifel als Input-Standards bezeichnen kann. Inhaltlich lassen sich diese InputStandards als erw eiterte W issensbestände zu den abraham ischen R eligionen als
Teil eines europäischen B ildungserbes verstehen (im Sinne der B irm ingham -Studie).
D ie „Perform ance-Standards“ w erden dagegen durch die A ussch reib un gskrite­
rien der Stiftung akzen tuiert, aber auch durch deren A nw endung bzw. E rprobung
in der Schule: H ier kom m t es zur V erbindung von W issen und Können (im Sinne
der K om petenzdefinition), es zeigt sich eine starke H and lu ng s- und P ro duktio n s­
orientierung, die m it einer eigenständigen pädagogischen P ro jekten tw icklun g und
-Steuerung der Schulen verbunden ist (O p p o rtun ity-to-learn -Stan dards). Eine
w eitere zentrale M aßgabe der K om petenzdefinition ist K ernziel des Schulenw ett­
bewerbs: das eigenständige Lernen der Schüler und ihre F äh igkeit Problem e zu
lösen im Bereich interk u ltu reller K onflikte, die durch den Einsatz innovativer
29 Zu den Form en der K om petenzüberprüfung und Evaluation im Religionsunterricht vgl.
Sajak: Keine Angst vo r Standards (wie Anm . 27), S. 444 f.
T n a lo g in d er Sch ule?!
231
U nterrichtsm aterialien und interdisziplinäre K ooperationen gefördert werden
soll.
D er T rialog-Schulenw ettbew erb fordert zudem dazu heraus, in eine authenti­
sche A useinandersetzung m it den R eligionen und K ulturen durch die Integration
von G eistlichen und Laien der drei G laubensrichtungen sow ie durch Besuche an
außerschulischen Lernorten zu treten. A uf diese Weise können herm eneutische,
kom m unikative, reflexive und partizipatorische K om petenzen auf dem G ebiet
des Trialogs der K ulturen erw orben werden.
D efinitorisch lässt sich also festhalten, dass zu r E n tw icklun g von in terku ltu rel­
ler K om petenz als Ziel in terkulturellen Lernens folgende Aspekte bedeutsam
sind:
a) D ie E rlangung der interreligiösen bzw. -kultu rellen Kom petenz, sich m otiva­
tional, volitional und sozial auf andere K ulturen einzulassen,
b) in terkulturelles Lernen als Prozess zu verstehen, in dessen Verlauf sich der U m ­
gang mit eigener und frem der K ultur verändert, ohne dabei die eigene Identität
aufzugeben,
c) in terkulturelle K om petenz als „Set“ an F ähigkeiten zu betrachten, die es er­
m öglichen, in einer kulturellen U berschneidungssituation unabhängig, k u ltu r­
sensibel und w irkun gsvo ll zu handeln.
Schließlich kann der W ettbewerb im Sinne der norm ativ zur B ildungsstandarddiskussion gehörenden E valuationsthem atik ebenfalls einen B eitrag leisten: Der
W ettbew erb ist ein einjähriges Projekt, hat also einen A nfang (Expose), einen Ver­
lauf (unterschiedliche Projektphasen inklusive der dazu gehörigen V eranstaltun­
gen, U nterrichtsstunden und außerschulischen Ereignisse) sow ie ein Ende (finaler
B ericht und A bschlussveranstaltungen). D ie Projekte w erden von der Experten­
ju ry kritisch begutachtet und die besten schließlich präm iert. D abei w ird auf die
E rfüllung der K riterien geachtet, den V erlauf der Projekte, das pädagogische K on­
zept, die Selbstreflektion der Lehrer über die Z ielerreichung sow ie ein Vergleich
von Expose, Z w ischen- und vor allem A bschlussberichten vorgenom m en.
B ildungs- und schulpolitisch ist dann ein O ptim um erreicht, w enn pädagogi­
sches K onzept und Projektm anagem ent auf einem hohen N iveau zusam m enpass­
ten und der T rialog-G edanke verbindlich in der Schulverfassung bzw. dem Sehulprofil verankert w urde. H ier ist nicht zuletzt die Schulleitung gefragt. D er Schu­
lenw ettbew erb der H erbert Q uandt-Stiftung kann auf diese Weise einen B eitrag
zur schultheoretischen und schulpraktischen V erankerung von interreligiösen
und in terkulturellen Them en in Schulgem einde und Schulöffentlichkeit leisten,
für eine neue A ttraktivität des R eligionsunterrichts - durch den A nreiz des W ett­
bewerbs - sorgen, aber auch die E rarbeitung von R eligio ns- und K ulturthem en
jenseits des R eligionsunterrichts fördern. D am it verbunden ist ebenso ein gew is­
ser Beitrag zur Schulprofilierung auf dem Weg hin zu einer autonom en Schule.
232
R o la n d Löffler
VIII. Schluss
B lickt man auf die aktuelle pädagogische und religionspädagogische D iskussion,
so zeigen sich m arkante Parallelen zw ischen den A nliegen des T rialog-Schulenwettbew erbs und den Forderungen der W issenschaften nach einem zeitgem äßen,
innovativen und offenen R eligionsunterricht. So form uliert etw a der T übinger
evangelische R eligionspädagoge Friedrich Sch w eitzer drei H erausforderungen an
einen evangelischen R eligionsunterricht in einer sich verändernden Schule mit den
Stichw orten: P luralität, K onfessionalität und K om petenz.30 D azu leistet der
W ettbew erb der H erbert Q uandt-Stiftung in trialogischer H insicht einen B eitrag.
G erade im B lick auf die aktuelle D iskussion um B ildungsstandards und K om pe­
tenzen m eint die Stiftung m it ihrem W ettbew erb Schulen fördern zu können:
D urch die F orm ulierung des K riterienkatalogs der A usschreibung, in der ko n kre­
ten Praxis der Schulen und dank der E valuation durch eine unabhängige J u ry sen­
det der W ettbew erb Signale für die H erausbildung von in terkulturellen und in ter­
religiösen Input- und Perform ance-Standards. D ie H erbert Q uandt-Stiftung
bew egt sich also im Trend der bildungspolitischen Situation von L ehrplananalyse
hin zur M itfo rm u lierun g von B ildungsstandards. D ie Studie der U niversity of
B irm ingham w ar dafür ein w esentlicher Schritt, die eigentliche A rbeit leisten nun
aber die P rojektschulen des W ettbewerbs m it bem erkensw ertem Engagem ent und
hoher K reativität.
O ffen bleibt am Schluss deshalb nicht zu letzt eine Frage, ob näm lich die Z u­
kunft des R eligionsunterrichts - und auch anderer geistes- und ku ltu rw issen ­
schaftlicher Fächer - m öglicherw eise jenseits des üblichen Stundenplans nicht in
einer kom petenzorientierten Projektarbeit liegen könnte. D er W ettbewerb
„Schulen im T rialog. Europäische Identität und ku ltureller P lu ralism us“ kann zur
B eantw ortung dieser Frage profunde Beispiele geben, dass dies ein probater Weg
wäre.
A bstract
Integration through education is one of the m ost im portant future tasks of society.
It is for this reason that the Flerbert Q uandt-Stiftung of Bad H om burg v. d. H öhe
has been com m itting itself to its “T rialogue of C u ltu res” for intercultural com ­
m unication since 1996. Its creed is that successful integration is o n ly possible if
students learn at school at as early an age as possible how com m unication between
the different cultural traditions and religions is m anagable. Project w o rk for a con­
test betw een schools is an adequate w a y of attaining intercultural com petence.
30 Vgl. Friedrich Schweitzer: H erausforderungen und Perspektiven des evangelischen Religi­
onsunterrichts in einer sich verändernden Schule. Pluralität - Konfessionalität - Kom petenz.
In: H armjan Dam/Björn U w e Rahlwcs (Flg.): A nderes entdecken - Eigenes vergewissern.
Bausteine für einen pluralitätsfähigen Religionsunterricht. Braunschweig 2008, S. 3 1 -3 4 .
Trialo g in der Sch ule?!
233
The original im petus for the “C ontest on the Trialogue of C ultures: European
Iden tity and C u ltu ral P lu ralism ” was given by a scientific study com m issioned b y
the H erbert Q uandt-Stiftung at the T heological D epartm ent of the U niversity of
B irm ingham in 1999, w hich w ill be presented in this paper: European Identity and
C u ltu ral Pluralism. Jew ry, Christianity, and Islam in European Curricular.
The results produced an abundance of positive practical exam ples, but also re­
vealed an even higher m easure of ignorance, one-sided depictions, and om issions.
In order to tackle these problem s, the school contest was set up in G erm any. M ore
than 90 schools have participated since 2005, ap p ro xim ately 25000 students w ere
reached out to, and alm ost one m illion dollars w ere spent in appropriations.
If one considers the current pedagogic discussions, strikin g parallels become
apparent betw een the goals of the Trialogue School C ontest and the dem ands of
the scientific w o rld for a m odern, innovative, and open-m inded religious edu­
cation. The contest is m eant to conjoin plurality, confessionality, and com petence.
The contest of the H erbert Q uandt-Stiftung contributes to this goal from a trialogical point of view. It is p recisely the political debate on educational standards
and com petence that leads the foundation to believe that it can facilitate schools:
thanks to the form ulation of a criteria catalogue for the contest, the concrete prac­
tice of the schools, and the evaluation by an independent jury, the contest p ro ­
duces an im portant im petus for the developm ent of intercultural and in terreli­
gious standards. T hus, the H erb ert Q uandt-Stiftung is in the trend of educational
policy, from the an alysis of curricula to the co-form ulation of educational stan­
dards. The stu d y of the U n iversity of B irm ingham w as fundam ental in this, but
the actual w o rk is now done b y the schools w hich participate in the project with
rem arkable en ergy and creativity.
Sektion 5
Rechtsverständnis
Sektionsleiter: Professor Dr. D ietm ar W illow eit (Präsident der Bayerischen Akadem ie der
R e fe r e n t e n :
W issenschaften/Julius-M axim ilians-Universität W ürzburg)
Professor Dr. Israel Yuval (The H ebrew U niversity o f Jerusalem)
Professor Dr. H ans-Jürgen Becker (U niversität Regensburg)
Dr. Yossef R apoport (Q ueen Mary, U niversity o f London)
E inführung
Seit jeher haben die großen R eligionen die von den G läubigen zu beachtenden so­
zialethischen M axim en m aßgeblich bestim m t, schon um Gottes Zorn ab zuw en ­
den, w eil individuelles Fehlverhalten allgem eines U nheil - K rieg, Seuchen, H ungersnot - nach sich ziehen konnte. D ie U nterd rücku ng w illkü rlich er G ew alt und
die soziale K ontrolle des Trieblebens gehörten daher stets zu den w ichtigsten A u f­
gaben der G esellschaft. D ie B eachtung solcher N orm en konnte aber nicht nur
dem m oralischen U rteil der G läubigen anheim gestellt w erden. D ie rechtliche
V erbindlichkeit zahlloser V orschriften ist ein C h arak teristikum aller großen R eli­
gionen und nicht w en iger w ich tig als zum B eispiel das gem einsam e Gebet oder
der rituelle V ollzug von O pferhandlungen. D er in diesen G esetzen zum A usdruck
kom m ende W ahrheitsanspruch der religiösen Botschaft w ar angesichts der B e­
grenztheit des m enschlichen Lebens auch dauerhaft zu sichern. So schufen die R e­
ligionen ein die G enerationen übergreifendes N orm engeflecht, das zugleich ge­
sellschaftliche Stab ilität gew ährleistete.
Das R echtsverständnis der drei großen m onotheistischen R eligionen und ihr
Verhältnis zu r staatlichen R echtsordnung haben sich freilich unterschiedlich ent­
w ickelt. A lle standen vor der A ufgabe, ihr V erhältnis zur w eltlichen H errschafts­
und R echtsordnung zu bestim m en. Da das Juden tum aber seit der A n tike ein ei­
genes Staatsw esen nicht m ehr herausgebildet hat, diente ihm das Recht vor allem
dazu, un ter den veränderten äußeren B edingungen die eigene R eligion zu bew ah­
ren und die G em einden zu festigen sow ie von der andersgläubigen U m gebung ab ­
zugrenzen. Das C hristentum und der Islam konnten sich dagegen in großen H err­
schaftsräum en als dom inierende R eligion etablieren. Ihr Rechtsw esen übernahm
daher auch Funktionen einer w eltlichen R echtsordnung. In islam ischen Ländern
geschah dies in unterschiedlichem U m fang stets in enger V erzahnung von w eit-
236
D ietm a r W illo w e it
licher H errschaft und religionspolitischer Positionierung einerseits, geistlicher
Führung andererseits. Im R aum des okzidentalen C hristentum s dagegen sahen
sich die w eltlichen H erren der einen Kirche als einer länderübergreifenden geist­
lichen Institution gegenüber, die den A nspruch auf eine um fassende R egelung al­
ler religiösen und m oralischen Fragen erhob.
Aus der parallelen Existenz einer kirchlichen H ierarchie und w eltlicher H err­
schaftsm ächte in M ittel- und W esteuropa entstand eine Spannungslage, die seit
dem Investiturstreit einerseits zu einer im m er d eutlicher w erdenden U ntersch ei­
dung geistlicher und w eltlich er A ngelegenheiten führte. A ndererseits gewann die
V erbindlichkeit des einen katholischen G laubens an G ew icht. Letztlich trug diese
E ntw icklung zu r Entstehung des frühm odernen Staates bei. Schon im ausgehen­
den M ittelalter, en dgültig aber seit der R eform ation, verm ochten die w eltlichen
O brigkeiten auch ein K irchenregim ent aufzurichten, das nicht nur K om petenzen
des Staates drastisch erw eiterte, sondern auch seine L egitim ation auf eine neue
G rundlage stellte. Iians-Jiirgen Becker hat diese hier grob angedeutete E n tw ick­
lung in seinem B eitrag ausführlich und m it ihren bis in die G egenw art h in ein rei­
chenden Folgen auf drei Ebenen dargestellt: als U nterscheidung w eltlichen und
geistlichen R echts, in der B egegnung m it dem jüdischen und islam ischen Recht,
schließlich in Form der D urchdringung w eltlich er und religiöser Elem ente in
w ichtigen E rscheinungsform en des Rechts.
Ein ganz anderes Bild bietet das jüdische Recht. D ie besondere B edeutung des
Rechts für das Jud en tu m auf seinem Weg in die D iaspora beruht für Israel J. Yuval
nicht zuletzt auf der N o tw en d igkeit, sich zunächst vom C hristentum und später
vom Islam deutlich zu unterscheiden. D abei spielte die m ündliche Lehre eine
m aßgebliche R olle. Yuval erkennt hier eine auffallende P arallele zur P redigt des
A postels Paulus, der gleichfalls eine neue Botschaft verkündigte und dabei den
„Alten B un d “ neu interpretierte. Erst später fand das C hristentum im N euen Tes­
tam ent seine endgültige G estalt. Das Juden tum fand neben der Torah, also der
auch von den C h risten beanspruchten alttestam entlichen Ü berlieferung, m it der
nun entstehenden „m ündlichen Torah“ einen W eg, die jew eilige historische R eali­
tät zu berücksichtigen und dam it eine spezifisch jüdisch e Tradition zu begründen.
A uch diese w urde erst später schriftlich fixiert, w as sich als besonders w ich tig er­
w ies, als das Juden tum dem neuen heiligen Buch des K oran begegnete.
Das unterschiedliche Rechtsverständnis der Jud en , C hristen und M uslim e ha­
ben w ährend des Kongresses die beiden hier abgedruckten B eiträge und ein R efe­
rat von Yossef Rapoport über „Theory and practice of Islam ic law in the m edieval
perio d “ them atisiert. D iesen letzteren Text konnte der Referent bedauerlicher­
w eise für die P ub likatio n nicht zur V erfügung stellen. Zum islam ischen R echts­
verständnis muss der Leser daher auf den B eitrag von K ilian Bälz in der Sektion
„Recht und W irtsch aft“ sow ie auf die in diesem Band abgedruckte Podium sdis­
kussion verw iesen w erden, in der Fragen des islam ischen Rechts m ehrfach ange­
sprochen w urden.
D ietm ar W illoweit
Israel Jacob Yuval
The O rality of Jew ish O ral Law:
from Pedagogy to Ideology"’
I did not imagine that things out o f books
w ould help me as much as the utterances
o f a living and abiding voice.
Eusebius, H istory o f th e C h u rch , III 39.4
I.
The thesis I w ish to present in this paper is that the o rality of the “O ral L aw ”
played an im portant role in the creation of a Jew ish id en tity distinct from that of
C hristianity. In order to understand this, w e shall need to exam ine in retrospect
the changes that took place durin g the first centuries of the C om m on Era that de­
term ined the nature of Jud aism from that point on un til the present: nam ely, the
m eteoric developm ent of the halakhah. A t first blush, the halakhah is no more
than a n atural continuation of biblical law. The recognition that the covenant be­
tween Israel and its God requires the people of Israel to fulfill the com m andm ents
of God is rooted in b iblical literature and continues throughout the period of the
Second Temple. N evertheless, som ething decisive happened durin g the first cen­
turies CE. A new class em erged, that of the Sages, w ho began to create a literary
oeuvre that had no precedent in the earlier period. In place of a collection of trad i­
tions and interpretations of the com m andm ents w hich already existed durin g the
time of the Second Temple, a new corpus began to take shape, of a canonic char­
acter, referred to b y the name “O ral L a w ” (Torah sheb’ealpeh) because it was con­
veyed and preserved in an oral manner. This corpus enjoyed a canonic status by
virtue of the belief that at the Sinaitic revelation God gave Israel tw o laws or teach­
ings, one w ritten and one oral. In practice, both en jo y an identical authoritative
status, the function of the O ral Law being to interpret and com plete the W ritten
Law. The o rality of the O ral Law was not lim ited m erely to its revelation at Sinai
and the nature of its transm ission from generation to generation, but also ex­
I wish to thank m y dear friend and in-law Professor Shlom o Naeh w ho shared his wisdom
with me in both w ritten and oral teaching.
238
Israel Ja co b Yuval
pressed its inner quality, the m anner of its stu d y and form ation, to the extent that
an approach developed w hich forbade it being set dow n in w ritin g .1
A t this point, tw o questions em erge: first, in w hat m anner did the O ral Law
differ from the halakhah w hich had been practiced - at least according to the tes­
tim o n y of Josephus, of the N ew Testam ent, and p articu larly of the Q um ran w rit­
ings - even before the D estruction of the Second Tem ple? Second, w h y were the
Sages so insistent upon the oral transm ission of the O ral Law, and w h y did they
refrain from w ritin g it? These are com plex questions, to w hich the best re­
searchers of the previous generation and of the present generation have devoted
their energies.2 T here are those w ho thought that alread y durin g the period of the
Second Temple it was forbidden to record the halakhah in w ritin g, or at least that
thus held the Pharisees. O thers think that the sources referring to a prohibition of
w ritin g are later, and that in practice the recording of halakhot in w ritin g was
com mon even am ong the Pharisees.3 There are also different opinions as to the
scope and tim e fram e of the prohibition against w ritin g the M ishnah and there­
after of the Talm ud. Some think that, despite the pro h ib ition , the M ishnah and
Talm ud w ere w ritten dow n, but w ere studied orally. O thers think that the M ish ­
nah and the Talm ud w ere not w ritten dow n at all throughout the period of their
com position.4 R ecently, Jacob Sussm an has readdressed the question of the w rit­
ing of the M ishnah and reached the conclusion that it w as transm itted o rally
1 Peter Schäfer: Das “D ogm a” von der mündlichen Torah im rabbinischen Judentum . In:
idem: Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums. Leiden 1978,
pp. 15 3 -2 13 .
2 Am ong Contemporary scholars: Menahem Kister: O bservations on Aspects o f Exegesis,
Tradition, and T heology in M idrash, Pseudoepigrapha, and O ther Jewish W riting. In: John
Reeves (ed.): Tracing the Threads: Studies in the Vitality o f Jew ish Pseudoepigraph. Georgia
1994, pp. 1-3 4 ; David Weiss Halivni: Revelation Restored - D ivine W rit and C ritical R e­
sponses. O xford 1997; Elizabeth Shanks Alexander: The O rality o f Rabbinic Writing. In:
C harlotte E. Fonrebert/M artin S. Jaffe (eds.): The Cam bridge Com panion to the Talmud and
Rabbinic Literature. Cam bridge 2007, pp. 38 -57. O n the com plex scholarly discussion of
this issue, see: Vered Noam: Megillat Ta’anit. Versions, Interpretation and H istory. Jerusalem
2003, pp. 10 6 -2 16 .
3 Josephus speaks o f the Pharisaic “traditions o f the elders” (their paradosis). A s against that,
in speaking o f the Sadducees he refers to their “w ritten law s” (Josephus: Antiquities, 13.297;
20.209; etc.). According to A lb ert Baumgarten, reliance upon the “patriarchs” or “fathers” is
intended to bolster the Pharisees’ claim that their halakhah is not a human invention, but
rather is based upon the “fathers o f the w o rld ” (see fu rther below, n. 15, concerning the
Pharisees sitting upon the throne o f Moses). This criticism is brought, fo r example, in M at­
thew 15:3: “you violate the commandments of G od in ord er to fo llo w y o u r ow n traditions”;
A lb ert I. Baumgarten: The Pharisaic Paradosis. In: H arvard Theological R eview 80 (1987),
pp. 63 -7 7 . A lso in the scholion to Noam: Megillat Ta’anit (see note 2), there is a distinction
draw n between the Sadducees, w ho have a “book o f edicts” and the Baithuseans w ho “w rote
halakhot in a b o o k ”, and the Pharisees, w ho protested this and argued against them that “one
should not w rite in a b o o k ”.
4 For a sum m ary o f the various opinions, see Jacob N. Epstein: Introduction to the Mishnaic
Text. Jerusalem 1948, pp. 6 9 2-70 6; Saul Lieberman: Hellenism in Jewish Palestine. N ew
York 1950, pp. 83 -85; Jacob Sussman: The O ral Torah in the Literal Sense. The Pow er o f the
Tail o f a Yod. In: M ehkerei Talmud 3 (2005), pp. 2 0 9 -3 8 4 , esp. pp. 22 8-23 8.
T h e O r a l it y of J e w i s h O ral L a w
239
throughout the entire period of the Talm ud up until the G eonic period. A lthough
he does not m ake an y definitive statem ents as to the tim e of its recording in w rit­
ing, he places the end of the oral era som ew here betw een the sixth and eighth cen­
tu ry.5
W ithout entering into these m ajor and com plex scho larly disputes, I w ould like
to suggest another dim ension to this discussion: nam ely, to exam ine the ideology
of the developm ent of the O ral L aw and the insistence upon its transm ission and
stu d y in an oral m anner against the background of parallel developm ents in early
C h ristian ity. R egardin g this matter, the w ords of Paul concerning the “L aw ” and
his understanding of this concept tw o decades before the D estruction of the Sec­
ond Temple are of particular im portance. D ue to his devotion to spreading the
gospel, Paul w as prepared to accept patterns of behavior w hich w ere not his own
but of those w hom he attem pted to convince: “to those under the law I becam e as
one under the law - though not being m yself under the law - that I m ight w in
those under the la w ” (1 C orinthians 9:20). This w o uld seem to im p ly that he him ­
self was not subject to the Law. H ow ever, in the very next verse he denies this:
“not being w ith o u t law tow ard God but under the law of C h rist.” Paul is thus the
first one to speak in a clear m anner of tw o divine law s: the L aw of M oses (which
he refers to b y the w ord “L a w ”, w ith out m odification), and the law of C hrist. H e
does not see him self as subject to the L aw of M oses, and explains the reason in the
Letter to the G alatians: the function of the L aw of M oses was to serve as a “cus­
to dian ” (G al 3:24), enabling man to avoid sin until the com ing of C hrist. For that
reason, he perceives it as a curse: “C h rist redeem ed us from the curse of the law,
having become a curse for u s ” (v. 13). The L aw of C h rist, to w hich he is subject, is
the gospel of Jesus and the belief in him , b y virtue of w h ich those w ho believe w ill
be saved. The L aw of M oses is a text, but the L aw of C h rist is not a text, but rather
the living teaching w hich Paul dissem inates to the G entiles through his epistles
and his sermons - in other w ords, it is an oral teaching or Torah.6 It follow s from
this that, in P au l’s eyes, the Pharisees’ books of halakhah w ere not considered a
new Torah, but rather an integral part of the Law of M oses.
As m entioned above, fo llo w in g the D estruction of the Second Temple a tre­
mendous developm ent took place in the halakhah, so that the “O ral L a w ” was
g radually created, both as a corpus and as a concept. W h ile after the w ar against
the Rom ans in 70 CE the Rom ans sought to suppress the rebellious sp irit of the
Jew s b y destro yin g their Temple, follow ing the rebellion of Bar K okhba in
135 CE, th ey did so b y pro h ib iting them from stu d yin g Torah in public or from
fulfilling its com m andm ents. This fact indicates the em ergence of a new factor in
Jew ish self-definition: the transform ation of the stud y of the Torah into a central
3 Sussman: The O ral Torah (see note 4).
6 The relation between the creation o f early Christian literature and the orality o f the Phari­
sees was noted by: Birger Gerhardsson: M em ory and M anuscript. O ral Tradition and
W ritten Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity. Livonia 1998. O n the de­
velopm ent o f the N ew Testament canon from oral traditions to w ritten texts, see: W ilhelm
Schneemelcher: N ew Testament Apocrypha, I. Cam bridge 1990, pp. 9-3 4.
240
Israel Ja co b Yuval
religious obligation, a norm w hich led to intensive involvem ent in the interpre­
tation of the com m andm ents of the Torah and, in the final an alysis, to the creation
of a new corpus know n as the “O ral L a w ”. Like Paul, the Sages also speak in a
clear m anner of tw o law s, the one w ritten and the other oral.
W hat then is the difference betw een the halakhic literature com posed p rio r to
the D estruction of the Temple, and the O ral L aw w hich developed thereafter? It
seems that the earlier books of halakhah w ere consisted of m anuals, describing
and detailing how one w as to fulfill the com m andm ents of the Torah, but they
w ere not considered as a new Law and did not en jo y a canonic status. A ccording
to M artin Jaffee, durin g the period of the Second Temple oral traditions and
w ritten texts existed alongside one another, but the oral traditions did not enjoy
the status of an authoritative source of know ledge, w hereas R abbinic Judaism
transform ed o rality into a kind of D ivine revelation.7 Paul M andel observes that
the Pharisees o n ly involved them selves in the interpretation of the law, whereas
the Sages developed the m idrashic interpretation of the hallow ed biblical text.8
E veryone agrees th at one of the innovations of the post-D estruction age was
the creation of canonical texts, w hich w ere know n in their to tality as “O ral L aw ”,
because they w ere transm itted in an oral manner.9 These texts grad u ally increased
in number, underw ent a process of editing, and became fixed in the canonic corpus
of the M ishnah and in the less canonic corpus know n as the Tosefta. We are thus
dealing w ith tw o processes: the creation of a new b o d y of know ledge know n as
O ral Law, and the decision to preserve it and to transm it it from generation to
generation in an oral manner. Each of the tw o processes dem ands its ow n h isto ri­
cal explanation, w hich are not necessarily dependent upon one another.
O ffhand, the obvious conclusion from the appearance of the O ral Torah fol­
low ing the D estruction of the Second Temple is that the D estruction was its direct
historical cause. The disappearance of the Temple as a cultic center created the
need for religious alternatives of a com m unal and local nature, such as the syn a­
gogue. In addition, cerem onies w hich had hitherto o n ly taken place in the Temple
now enjoyed a w id er dissem ination and w ere introduced into the various com m u­
nities. C learly, the cessation of sacrifices led to the need to create alternative m od­
els of atonem ent. A ccording to this view, the creation of the O ral Torah was an
internal Jew ish m ove, a response to a difficult crisis in the religious life.
W ithout negating this explanation, I w ish to suggest an additional factor. The
Sages w ere subject to a m otivation sim ilar to that w hich acted upon Paul in creat­
ing a second law. Ju st as Paul thought - even before the D estruction - that he had
7 M artin S. Jaffee: Torah in the M outh. W riting and O ral Tradition in Palestinian Judaism,
200 B C E -400 CE. N ew Y ork 2001.
8 Paul Mandel: Legal M idrash Between Hillel and Rabbi A kiva: Did 70 CE Make a D iffer­
ence? In: Was 70 C.E. R eally a W atershed? O n Jew s and Judaism before and after the D e­
struction o f the Second Temple (Forthcoming).
9 Sussman: The O ral Torah (see note 4); Jaffee: Torah in the M outh (see note 7); A vigdor Shinan: The Aggadic Literature. W ritten Tradition and Transmission. In: Jerusalem Studies in
Jew ish F olklore 1 (1981), pp. 44 -66.
T h e O r a l it y of J e w is h O ra l Law-
241
another, m essianic teaching, that set apart and distinguished those follow ing his
w ay, so did the Sages see the O ral Torah w hich th ey w ere creating as one, lo yalty
to w hich became an id en tifyin g feature distinguishing them from those who were
lo yal to the W ritten L aw alo n e .10 The form ation of an O ral Torah thus occurred in
parallel fashion, albeit several decades later, to the creation of the m essianic teach­
ing of Paul and thereafter to the creation of the N ew Testament. A t the beginning
there was the oral “gosp el” w hich thereafter became a canonic book, the N ew Tes­
tam en t.11 In parallel fashion, there was first created the O ral L aw and, in its wake,
the canonic w o rk, the M ish n ah .12
H owever, there are also differences betw een the tw o. C h ristian ity claim ed that
the new teaching substituted the old, w hereas R abbinic Judaism saw the new
teaching as an integral com ponent of the one and o n ly covenant. A ccording to
that approach, one w as not speaking of a new teaching or of a new law, but rather
of an additional teaching that had alread y been given to M oses on the occasion of
the R evelation of the W ritten Law. Thus was created the paradox confronted by
an y student of the rabbinic texts: on the one hand, these are texts filled w ith d is­
putes and differences of opinion am ong the various Sages. If M artin B uber de­
scribed the Bible as a book in w hich the hum an-divine dialogue occupies a central
role, in the literature of the O ral L aw - the M ishnah and the tw o Talm uds - the
discourse is en tirely am ong hum an beings, w h ile God is absent. O n the other
hand, the Rabbis w ished us to believe their assertion that these texts w ere given to
M oses at Sinai or, to quote an even more paradoxical sayin g: “Even that w hich a
venerable student shall teach before his m aster in the future, is Torah given to
M oses at S in ai.”13
W hat is the significance of the R abbinic claim that the O ral L aw originated at
the Sinai covenant? It w o uld appear that this argum ent developed from the claim
of the Pharisees that their halakhah w as not a new invention, but that it reflects the
“tradition of the fath ers”. B ut those “fathers” or “ancestors” to whom the P h ari­
sees refer are the fathers of the nation, not specifically M oses. A ccording to M at­
10 Jacob N eusner was also o f the opinion that the developm ent o f the O ral Torah played a
role in the com petition o f the Sages w ith Christianity. W hereas C hristianity argued that it
was the rightful heir o f the H o ly Scriptures, the Sages argued that this was an im perfect in­
heritance, as they had not inherited the O ral Torah. See: Jacob N eusner: Judaism in the M a­
trix o f Christianity. Philadelphia 1986, esp. pp. 12 0 -12 3 ; and see further in his book, Jacob
Neusner: W hat, exactly, Did the Rabbinic Sages Mean b y “The O ral Torah” ? Atlanta 1998,
pp. 40 -46.
11 Judith M. Lieu: Christian Identity in the Jewish and G raeco-Rom an W orld. O xford 2004,
esp. pp. 3 7 -6 1.
C onjecture regarding the parallel between the canonization o f the N ew Testament and
that o f the Mishnah has already been raised by: G u y Stroum sa: The B ody of Truth and Its
Measures. N ew Testament C anonization in Context. In: H olger Preissler/Heinz Mürmel
(eds.): G nosisforschung und Religionsgeschichte. Festschrift für K u rt R udolph zum 65. G e­
burtstag. M arburg 1994, pp. 3 0 7 -3 1 6 . In his opinion, one is dealing here w ith a parallel move
of self-definition occurring in tw o “sister religions” w h o confronted conflicts from both
within and w ithout and struggled with one another.
13 J P e ’a h 2 .4 (17 a ).
242
Israel Ja co b Yuval
thew, Jesus describes the Pharisees as those who “sit upon the seat of M o ses”, and
com m ands them to do “w hatever they tell y o u ” (M att 23:2).14 A lm ost certainly,
the sitting upon the seat of M oses w as intended to provide a basis for the auth ority
of the Pharisees as those draw ing upon the pow er of M oses, but w e still do not
have a com prehensive claim that their teaching in fact com es from h im .15
It w ould appear that, here too, the C h ristian context lends a new dim ension to
the developm ent of the concept of “Torah to M oses at S in ai”. H itherto, m ono­
theism had sufficed to distinguish Israel from its pagan surroundings; however,
the em ergence of C h ristian ity as a second m onotheistic religion reshuffled the
cards. N ot o n ly did it n u llify the m onotheistic uniqueness of Judaism , but it
adopted the b iblical texts as its ow n and included them w ith in its own Bible. In
this manner, the need w as b om to create an additional sign of separation, one that
w o uld clearly distinguish between C hristians and Jew s. C h ristian ity defined itself
b y means of an alternative text, by means of the N ew Testam ent, and the Jew s re­
sponded b y creating their own alternative text - the M ishnah and thereafter the
two Talm uds. In a sim ilar and parallel move, the tw o religions both distanced
them selves from w hat had earlier been their canonical text - the Tanakh or O ld
Testam ent - and set up in its place a new id en tity-d efin in g text.
The earliest m ention of the concept of “O ral T orah” alongside “W ritten T orah”
is attributed to R abban G am aliel II,16 w ho was active at the beginning of the sec­
ond cen tury CE. In response to the question of a R om an official as to how m any
Torahs w ere given to Israel, he responded: “Two: one oral and one w ritten .” This
earliest attribution of the concept of O ral L aw to Rabban G am aliel II elicits the
thought that this m ay relate to the fact that Rabban G am aliel was the great oppo­
nent of the Jew ish C hristian s. It was he w ho introduced B irkat ha-M inim , that is,
the m alediction recited as part of the synagogue service, ap p aren tly against Jew ish -C h ristian s, w ith the aim of excluding them from the w orshipping com m unity
and separating them from the regular Jew ish w orshipers. It was also he w ho de­
m anded that those particip ating in the Passover Seder m ake a statem ent id en tify­
ing them selves w ith the Jew ish m eaning of Passover in a m anner w hich w ould
undercut the C h ristian sym bolic interpretation of the Paschal sacrifice, the m at­
zah and the bitter herbs. H ere too one can see the tendency to prevent “heretics”
14 Baumgarten: Paradosis (see note 3). A lm ost certainly, the sitting upon the throne of Moses
expresses the Pharasaic claim that their tradition has its source or origins in Moses. In the
Pseudo-Clem entine literature, there also appears the claim o f the Pharisees that the O ral
Torah originated in Moses: “holding the w ord o f truth received from the tradition o f Moses
as the k ey of the kingdom o f heaven, have hid it from the hearing o f the people” (PseudoClem entine: Recognitions 1.54). But this may also be a projection back in time from the
period o f the com position o f this literature in the fou rth century CE.
15 O n the throne o f Moses in later midrahsim, see: Hananel Mack: The Seat o f Moses. In:
Cathedra 72 (1994), pp. 3 -1 2 ; Israel Levine: The Ancient Synagogue. N ew Haven 2000,
pp. 32 3-32 7. The tw o o f them note the authoritative element o f the Sages embodied in the
O ral Torah.
16 Sifrei Devarim , §351.
T h e O r a l it y of J e w is h O r a l L a w
24 3
from participating in the cerem ony of the Seder n ig h t.17 The B abylonian Talmud
also attributes to Rabban G am aliel II a sto ry full of iro n y and criticism of Jesu s’
Serm on on the M ount and of his claim that his believers w ere “the light of the
w o rld ” (M att 5:14 ).18 It w o uld appear that we have here an echo of a com prehen­
sive move of the leader of the generation of Yavneh to w age w ar against C h ristian ­
ity, supporting m y argum ent that Rabban G am aliel’s invention of the concept of
two Law s, one w ritten and one oral, was made against the background of the com ­
petition w ith C h ristian ity, a religion that also spoke of tw o teachings, the Law of
M oses and the L aw of C hrist.
It follow s from this that the tw o com m unities, the C h ristian and the Jew ish,
each in their ow n w a y answ er to the definition of “im agined com m unities” coined
b y Benedict A nderson and used by Jud ith Lieu in her discussion of the early
C h ristian s.19 Lieu em phasized the tex tu ality of the C h ristian canon as establishing
identity, and in a parallel m anner one m ay point tow ards the o rality of the O ral
Torah as establishing the R abbinic id en tity and distinguish in g it from its environ­
ment. It ought to be em phasized that, more than the R abbinic oral text reflects the
concrete historical reality, it fashions it.20 The oral text is not o n ly the result of a
given historical reality, but it also p lays a role in creating a distinct com m unity,
one w ith an identified internal discourse different from that custo m ary in its su r­
roundings.
The second question I asked was w h y the Sages w ere so intent upon preserving
their w ords in an oral manner. O ne is speaking here of an ideological decision for­
m ulated in an explicit w ay : “Those things that are w ritten , yo u are not allow ed to
say o rally; those things w hich are said orally, yo u are not allow ed to say in w rit­
in g ”,21 to quote o n ly one statem ent out of many. The question stands out even
more strik in gly w hen exam ined against the background of the G reco-Rom an
17 See Israel Jacob Yuval: Two N ations in Y our W omb. Perceptions o f Jew s and Christians in
late A n tiq u ity and the M iddle Ages. B erkeley 2006, pp. 73 -75.
ls B. Shabbat 116 a-b.
19 Benedict Anderson: Imagined Com m unities. Reflections on the O rigins and Spread of
Nationalism. London 1991; Lieu: Christian Identity (see note 11).
20 This has been noted recently by Yishai Rosen-Zvi, w ho showed that the Temple laws of
the sotah (wife suspected o f unfaithfulness) as described in the Mishnah do not reflect the
historical reality o f the Second Temple, but rather the imagined reality o f the authors o f the
Mishnah: Yishai Rosen-Zvi: The Rite that Was N ot. Temple, M idrash and G ender in Tractate
Sotah. Jerusalem 2008, pp. 2 4 0 -2 5 7 . A n oth er aspect o f this phenom enon has been noted by
M oshe Halbertal, w ho writes: “The Mishnah form s a canon com posed of internal debates
that arose within a particular sect. Absent are the Christian Jew s o f the time, the Gnostic
Jews, the Essenes, the Zadokites. A ll o f these movements had a definite relationship to the
Bible, but they are not mentioned in the Mishnah as legitimate parties to the debate”, Moshe
Halbertal: People o f the Book. Canon, Meaning, and A uthority. Cam bridge, London 1997,
p. 50. And indeed, one may not conclude anything about the historical reality from the ab­
sence o f such disputes in the Mishnah, but on ly o f the methods taken by the authors o f the
Mishnah when they came to create fo r themselves an imagined identity that deliberately
ignores competing identities.
21 B. G ittin 60b.
244
Israel J a c o b Yuvai
pagan and C h ristian environm ent. The Sages operated in a cultural environm ent
m arked by a prolific textual activity. D espite this, and notw ithstanding the old
Jew ish tradition of w ritin g during the Second Temple period, th ey insisted upon
the prohibition of w ritin g. As a result their creation is anonym ous and collective,
and is not crystallized around a single subject, but alw ays around a text - the M id ­
rash around the B ible, and the Talmud around the M ishnah.
The question becomes even sharper in ligh t of the appearance of an ideal that
received greater em phasis at that tim e: the stu d y of Torah as a suprem e religious
ideal. A lread y in the B ook of Joshua we find the im perative, “you shall m editate
upon it d ay and n igh t” (Josh 1:8), and in the B ook of D euteronom y w e read “and
yo u shall teach them d iligen tly to yo u r children, and speak of them ” (D eut 6:7).
But these refer to functional stud y: a person needs to learn the Torah in order to
know how to fulfill it; he needs to teach his sons in order to transm it to them the
necessary know ledge. The Sages gave a new m eaning to the act of study. It is no
longer stud y m erely for the sake of know ledge, but had becom e a value in its own
right. But p recisely in the period of greatest literacy in Jew ish history, a period
during w hich w e know the names of hundreds of Sages who w ere active in the li­
m ited geographical area of the G alilee, precisely then it w as forbidden to set things
dow n in w ritin g and stu d y was perform ed en tirely in a m anner of verbal repeti­
tion of canonical texts and discussion thereof. M atters w ere such that one was
even allow ed to sell a Torah scroll in order “to learn T orah” (b. M egillah 27a) that is to say, th ey w ere w illin g to forego the w ritten and sanctified text in order to
stu d y the oral Torah.
It is custom ary to th ink that the o rality of the Pharisees derived from a peda­
gogic m otivation, as a n atural means of transm itting the tradition of the ancestors.
Some scholars think that, already, am ong them , there w as an ideological m oti­
vation to separate them selves from the other Jew ish sects of the Second Temple
period - first and forem ost, the Sadducees, am ong w hom there was a h igh ly devel­
oped culture of w ritin g.22 B ut one w ay or another, the dom inant view is that the
o rality of the Sages w as a continuation of the Pharisaic tradition and continued to
exist even after those factors w hich brought it about had disappeared.23 A ccording
to this, the ideological reason for the creation of o rality is to be sought at the be­
ginning of the Second Temple period, not in its continuation centuries later. A n­
other plausib le explanation offered was the desire to preserve the sanctified and
exclusive status of the w ritten L aw of M oses.24 It is also reasonable to argue that
the o rality of the “second” law made it easier to attribute it to M oses and to give it
22 Michael C ook: The O pponents o f the W riting of Tradition in Early Islam. In: Arabia 44
(1997), pp. 5 1 8 -5 3 0 , esp. p. 52 1, n. 714; and see further: G regor Schoeler: M ündliche Thora
und Hadit. Ü berlieferung, Schreibverbot, Redaktion. In: D er Islam 66 (1989), pp. 2 1 3 -2 5 1 .
23 C ook saw in Rabbinic orality something “residual” from the first century CE. In his
opinion, this Jew ish tradition affected the oral tendencies at the beginning o f Islam.
24 O n the shaping o f the Sages’ approach regarding the sanctity o f the Torah, see: Shlomo
Naeh: The Script o f the Torah in Rabbinic Thought: (a): The Traditions Concerning E zra’s
Changing the Script. In: Leshonenu 70 (2008), pp. 12 5 -14 1.
T h e O r a l it y of J e w is h O ral L a w
245
Sinaitic origin. This attrib utio n certain ly encountered great difficulties, as there is
no testim ony or even allusion to this fact, neither in the Scriptures nor in the lit­
erature that follow ed it. B ut the o rality of the second Torah relieves this difficulty
som ew hat, as an oral text is esoteric and does not leave behind an y im pression. To
quote the M ishnah in Avot 1.1: “M oses received the Torah at Sinai and gave it to
Jo shua and Jo shua gave it to the Elders [ . . . ] ”. If this refers to the O ral Torah, no­
body can know w hat w as given and w hat was said, and one m ay attribute to them
even w hatever an y future student m ay innovate. From this, one m ay also under­
stand w h y th ey insisted upon preserving the o rality of its future transm ission as
w ell.
I do not repudiate these explanations. H owever, I w o uld like to add to them the
C h ristian context. H ere w e are no longer speaking of a m ere h ypothesis, but of the
explicit testim ony of the R abbinic sources them selves. The m ost explicit source is
that of R. Yehudah bar Shalom , w ho lived in Palestine at the end of the third cen­
tu ry CE. A ccording to him , w hen M oses received the Torah at Sinai he addressed
God and asked on this occasion to also receive the “M ish n ah ”, but God refused:
“F or the H oly O ne blessed be He anticipated that the nations o f the w orld w ould translate
the Torah into G reek, and it to say that we are Israel, and thus far the scales are balanced (that
is, undecided). The H oly O ne blessed be He said to the nations: You say that you are M y
sons?! I only know that those w ith w hom m y m ystorin is to be found, they are m y sons. And
w hat is that? That is the Mishnah, which I gave orally, and everything is fo r you to ex­
pound."25
The awareness of the d u ality of the Torah, w ritten and oral, is based upon the
reading of Exodus 34:27: “A nd the Lord said to M oses: Write these w ords, for in
accordance w ith [literally: by the mouth of] these w ords I have made a covenant
w ith you and w ith Israel.” The m idrashic authors felt the double m eaning:
“w ro te”/“by the m outh of” - that is, orally. This verse, like that in H osea 8:12 “W ere I to w rite for him m y law s b y ten thousands, th ey w o uld be regarded as
stran gers” - served as a source for the view that w ritten Torah has “alien ” p artici­
pants (“regarded as stran gers”) w hereas the O ral Torah is set apart u n iq u ely for
the Jew ish people alone. In another hom ily, God says to M oses that, w ere H e to
give him the M ishnah in w ritten form as w ell, “w hat w ould distinguish between
Israel and the nations of the w o rld ?”26 The realization here is th at w ritin g is one of
the signs of the G reco-R om an culture and that one needs to separate oneself from
it. The fear is that if one w ere to w rite down the O ral Torah, there w o uld be no­
thing to distinguish Israel from “the n atio ns” is also explicit in the Jerusalem Tal­
mud: “These take out their scrolls, and these take out their scrolls; these take out
their docum ents pages, and these take out their docum ents.”27 The com petition
2:> M idrash Tanhuma, Ki Tisa, 34; Ish-Shalom (ed.): Pesikta Rabbati 5, 14b and parallels.
26 Ish-Shalom: Pesikta Rabbati (see note 25).
27 J. Peah 2.4 (17 a). Further on there is brought the hom ily o f R. Haggai in the name o f R.
Shmuel b. Nahinan: “There w ere things that were said and things that w ere said in writing;
and we do not know which is m ore precious. But from that which is w ritten, ‘According to
246
Israel Ja co b Yuval
w ith the new religion of books, C hristianity, is u tterly clear. The fact that o n ly the
O ral Law distinguishes the people of Israel finds expression also in the w ords of
R abbi Johanan: “The H o ly O ne blessed be Lie did not m ake a covenant w ith Is­
rael save over those things w hich are said o rally.”28 C h ristian ity alone threatened
this covenant. In the m idrashic collection, Exodus R abbah , these hom ilies w ere
edited and presented in an anonym ous way. O n the above verse in Exodus 34:27,
it states:
“[Moses] said before [the H oly O ne blessed be He]: M aster o f the W orld! I shall write it for
them. He said to him: I do not ask you to give it to them in w riting, fo r it is revealed before
Me that idolaters shall in the future dom inate them and take it from them. [...] Rather, I give
them the Scripture in w riting, and the Mishnah and Talmud and aggadah I give them orally,
so that if the pagans come and they become subjugated to them, they shall be separate from
them .”
Further along, the preacher also expounds the continuation of that same verse:
“For in according w ith these w ords I have m ade a covenant w ith you and w ith Is­
ra e l” (Exod 34:27). As w as said, in the w ords a lp i ( “according to ”) he finds an al­
lusion to the notion of “b y the m o uth ” w hich he connects w ith “w o rd s” - that is,
those things w hich are said orally, in other w o rds, the O ral Torah. It is o n ly by vir­
tue of the O ral Torah that God makes a covenant w ith Israel: “‘For according to
these w o rd s’ - This refers to the M ishnah and the Talm ud, w hich distinguish be­
tw een Israel and the p agan s.”29 The aw areness that the “w o rd s” allude to the O ral
Torah is also reflected in another hom ily, this one on the verse, “lest you forget the
things [lit., “w o rd s”] w hich yo u r eyes have seen and lest th ey depart from yo u r
heart” (D eut 4:9). H ere the em phasis is upon "y o u r h eart” - that w hich is w ithin a
person’s heart are the things w hich are conveyed o rally: “for w ere it not for M y
[O ral] Torah that yo u received, I w o uld not recognize yo u and w ould not look
upon you [differen tly than] the other pagan n atio ns.”30 The outlook expressed
here is revolutionary: the covenant betw een Israel and its God is no longer de­
pendent upon them accepting the W ritten Torah, as this is no longer unique to
Israel alone, but rather upon accepting the O ral Torah, w hich alone is given to
Israel.
The an ti-C h ristian context of these sermons was not overlooked by the re­
searchers.31 Plowever, th ey saw in the w ords of R. Yehudah b. Shalom an ex-
these things I have made a covenant with you and w ith Israel,’ we say: those that were said
orally are beloved.”
28 B. Gittin 60b.
29 Exod. Rab. 47. 1. Further along it says there: “‘For according to these things I have made a
covenant with you and w ith Israel’ (Exodus 34:27) - fo r had it not been yo u r receiving the
[Oral] Torah, I w ould have returned heaven and earth to chaos.”
30 Ibid., 3.
31 The Christian context has been noted by Ephraim E. Urbach: The Sages. Their Concepts
and Beliefs. Jerusalem 1975, pp. 305 ff.; Lieberman: Hellenism (see note 4), pp. 2 0 7-20 9;
Marc Bregman: Mishna and E X X as M ystery. A n Example o f Jew ish-C hristian Polemic in
the Byzantine Period. In: Lee I. Levine (ed.): C on tinu ity and Renewal. Jew s and Judaism in
T h e O r a l it y of J e w is h O ra l L a w
247
p licitly polem ical position, not a substantive statem ent about the oral qualities of
the O ral Torah, for w hich reason these hom ilies are o n ly referred to b riefly by the
scholarly literature. E phraim U rbach w rites: “The reason for the preference given
to the O ral Torah is explained o th erw ise”, and further on he brings the reason of­
fered by R. Yehudah b. Shalom as one of the num erous reasons brought there.
Saul Lieberm an w rites: “In response to the G entiles (i.e. the C hristian s), the Sages
em phasize that the C hristians do not have the O ral T orah.” In the view of these
tw o scholars, the polem ic o n ly relates to the w eak, external points of contact be­
tw een each of these tw o religions, and does not touch upon th eir inner or substan­
tive qualities. Peter Schäfer sees in these sermons a Jew ish response to the trans­
form ation of C h ristian ity to the state religion of R om e.32 M artin Jaffee, w ho also
noted the C h ristian context of these hom ilies, sought to lim it its significance. He
w rites:
“We should not press this point too hard. A fter all, the privileging o f the oral-perform ative
tradition in rabbinic culture predates the rise o f Christian political dominance by at least a
century, if not more. Rabbinic literature, moreover, revealed little interest in C hristianity
until it became the state religion o f the hated Roman empire [...]. W hile the concept o f Torah
in the M outh is a useful polem ical weapon in the Am oraic theological confrontation with
Christianity, that confrontation is not the generative setting in which the unw ritten nature of
rabbinic tradition has its most com pelling ideological force.”33
Instead of a polem ical explanation, Jaffee suggests a sociological one. In his
opinion, the oral ideo lo gy of the am oraim derived from their desire to develop the
social relations betw een teacher and student. Jaffee sees in o rality a fram ew ork
that assures the dependence of the disciple upon his teacher or mentor, a depend­
ence w hich is very much characteristic of Jew ish so ciety in the G alilee during the
am oraic period.
Jaffee’s sociological explanation is a kind of closed circle. It is clear that o rality
supports the existence of m aster-disciple relationships, but the question returns:
w hy did the culture of the Sages find it necessary to em phasize the study of Torah
in this manner, specifically, rather than textual stud y w hich facilitates the dissem i­
nation of know ledge in an easier m anner? H o w should we understand this phe­
nomenon, that a tradition of m any years of creation of w ritten texts - beginning
with the B ible and ending w ith the literature of the Second Temple - suddenly
came to its end, at p recisely the moment w hen the value of Torah stu d y becomes
suprem e?
The closed circle w ith in w hich Jaffee moves also finds expression in his state­
ment that R abbinic literature reveals but little interest in C h ristian ity. If w e begin
from an opposite assum ption - nam ely, that the o rality of the O ral Torah became a
substantive tool in defining Jew ish self-id en tity against that of C h ristian ity, then
the claim that the Rabbis exhibit lack of interest in C h ristian ity collapses. The
Byzantinc-Christian Palestine. Jerusalem 2004, pp. 3 3 3-34 2; Schäfer: Dogma (see note 1);
Jaffee: Torah (see note 7).
32 Schäfer: Dogma (see note 1), p. 178.
Jaffee: Torah (see note 7), p. 146.
248
Israel Ja co b Yuval
opposite is the case. P recisely in light of the heavy threat posed b y C h ristian ity
and in light of its attem pt to adopt the Jew ish Scriptures as its ow n, R abbinic
Judaism developed a new religious doctrine, em phasizing tw o elem ents: halakhah
and orality. The halakhah is the contents and o rality is the language b y whose
m eans there was created the rabbinic answ er to the C h ristian soteriology. It is not
faith in Jesus that redeem s m an, but rather the observance of G od’s com m and­
ments and their oral study, transm itted from m outh to ear.
I w o uld therefore propose that w e see in the w ords of R abbi Yehuda b. Shalom
far more than mere polem ic rhetoric. H is w ords uncover the inner understanding
of the Sages’ id eo lo gy of orality. It is true that this o rality was inherited b y them
from the Pharisees, am ong w hom it served as a m ethod of transm itting know ledge
and learning it - that is to say, it had a p u rely pedagogic value. B ut am ong the
Sages o rality assumes a new ideological function in their struggle w ith the ch al­
lenge of the adoption of the W ritten Torah b y C h ristian ity.34 This challenge is not
sim p ly an external point of friction, far aw ay from the battlefront betw een the two
com peting religions, but rather it fashions and shapes the core, the substantive
contents of the Jew ish religious creation. The stu d y of O ral Torah, and not that of
W ritten Torah, becam e the great religious principle from that point on un til today,
because it alone defined Jew ish uniqueness in com parison to C hristianity.
A proof of the in ternalizatio n of the C h ristian language is provided to us b y the
w ord mistorin (“m y ste ry ”), w hich is som ew hat rem iniscent of the C h ristian law
referred to as disciplina arcani, that requires concealing inform ation concerning
the sacram ents o r even of all of its doctrines so that th ey do not reach the ears of
non-believers.35 In a passage quoted b y m any church fathers, attributed to St.
B asil, it states:36
“O f the beliefs and practices [...] which are preserved in the C hurch, some w e possess de­
rived from w ritten teaching; others we have received delivered to us ‘in a m ystery’ (en misti-
34 O f course, the ideological m otivation not o n ly does not substitute fo r the pedagogic con­
siderations o f study as a method of organizing memory, but also strengthens the need to
make use o f them. See on this: Shlom o Naeh: The A rt o f M emory. Structures o f M em ory and
Structures o f Text in Rabbinic Literature. In: Mehqerei Talmud 3 (2005), pp. 543-589.
35 G u y G. Stroumsa: H idden W isdom . Esoteric Traditions and the Roots o f Christian M ys­
ticism. Leiden, Boston 2005. According to O rigen, not on ly must the ceremonies o f the cult
remain secret, but also all o f its doctrines (C ontra Celsum 1.1). Bregman: Mishna (see
note 31), noted another context o f the concept o f m ystorin. Techniques o f concealing in­
form ation from strangers is w ell-kn ow n also from the Q um ran literature. It is interesting to
note that this law was used by the C atholic C hurch in the polemic w ith Protestantism, when
confronting the argument that not all o f the C atholic doctrine is mentioned in the H oly
Scripture or in the books o f the C hurch Fathers. The C atholic response was that much o f this
knowledge was deliberately concealed so as not to reach strange ears. That is to say, here too
- similar to the polem ic o f the Sages with the sectarians - orality serves as an apologetic de­
vice against those w ho w ould upset the validity o f a tradition that is not documented in
Scripture. I wish to thank m y friend Dr. O ded Irshai w ith w hom I discussed this issue and
w ho aided me in its understanding.
36 St. Basil: De Spiritu Sancto, 66.
T h e O r a l it y of J e w i s h O r a l L a w
249
rio) by the tradition ot the apostles; and both of these in relation to true religion have the
same force.”
The expression used b y St. B asil, en mistirio, is identical to the concept of mistorin
in the m idrash. The m otivation for an arcane law is to conceal from heathens
know ledge of the religious doctrine and practice of C hristians, and it originated in
a period during w hich C hristians w ere persecuted for their faith - i.e., durin g the
second and third centuries CE. T heir main fear or concern was w ith “double
agents”, w ho posed as candidates for conversion to C h ristian ity, but in actuality
sought to expose hidden C hristians. Even during the fourth century, w hen the
persecutions ceased, there w as still great fear of the pagans and this law was p re­
served. It was o n ly during the fifth and sixth centuries CE, w hen the church began
to feel confident in itself, that this law g rad u ally disappeared.
The Jew ish m idrashic author utilizes sim ilar language in order to ju stify the
o rality of the O ral Torah. O rality creates esotericism ; therefore, even if the oral
text is canonic and transm itted v ery faithfully, its transm ission is very lim ited and
can be kept aw ay from unw anted listeners. W hereas the C h ristian m ysteries were
intended for practical purposes - to prevent inform ation leakin g out to strange
ears - on the part of the Jew ish preacher it signifies an id en tity distinguish in g Jew
from C hristian. C h ristian ity is presented as that w hich carries in its hands only
half of the revelation, that w hich was conveyed b y w ritin g.37
G reat cultures and religions tend to present their developm ent as an autono­
mous, internal creation rather than as a reaction to external challenges.38 T h ey do
not like to adm it that new ideas are created m erely in order to deal w ith an exter­
nal challenge, but prefer to m arshal patterns that already exist w ith in them selves
and to give them extra force. The m idrashim presented above m ust therefore be
considered as an unusual case in w hich the Sages reveal certain things w hich they
u su ally preferred to conceal. It w ould seem that this was the case w ith orality,
which certainly was not invented as a result of the polem ic w ith C h ristian ity, but
received an im portant ideological turn that em phasized its value for purposes of
protection of Jew ish identity.
Support for the fact that the O ral Torah and o rality played an im portant role in
the struggle w ith C h ristian ity m ay be found in the fam ous novella of Justinian
from the year 553, pro h ib iting Jew s from reading their deuterosis. Scholars dis­
agree as to the exact m eaning of this term and to w hat it refers.39 It should be
noted that the exact translation into H ebrew is mishnah. W hatever the m eaning
37 Neusner: Judaism (see note 10).
38 Com pare: H arold Bloom: The A n xiety o f Influence. A T heory o f Poetry. O xford 1997.
39 Am non Lindner: The Jew s in Roman Imperial Legislation. D etroit 1987, pp. 4 0 2 -4 1 1 ;
Baumgarten: Paradosis (see note 3), p. 66, n. 10, notes that in the fourth century, first in Euse­
bius, the deuterosis substituted fo r the paradosis. In his opinion, this change in the Christian
literature reflects a change in Jew ish terminology. It follow s that paradosis defined the “tradi­
tion o f the fathers” o f the Pharisees, while deuterosis indicated the Mishnah or the Sages’
O ral Law. (Baumgarten cites there a series o f sources from Patristic literature attacking para­
dosis.)
250
Israel Ja co b Yuval
of this term m ay be, it clearly refers to a certain kind of oral exegesis, w hich p re­
vented the Jew s, according to the Emperor, from being exposed to C h ristian in ter­
pretation of the H o ly Scriptures. This exegesis - that is to say, the oral stu d y of the
Torah - was thus understood as a factor that supported Jew ish uniqueness and
their refusal to convert to C hristianity.
Did the Sages really suspect that there w o uld be som ebody w ho w ould w ish to
translate the M ishnah and the Talmud into G reek and to adopt them to C h ristian ­
ity in the sam e w ay as th ey did to the B ib le?40 In the M iddle Ages there w ere, in
fact, some C hristians w ho claim ed that the Talmud conceals C h ristian truths, and
in the thirteenth cen tury the Talm ud was even translated into Latin, am ong other
reasons in order to reveal the C h ristian secrets that it supposedly conceals. H o w ­
ever, it does not seem lik e ly that the m idrashic preachers of the m id-first m illen ­
nium had an yth in g of this sort in m ind. In m y opinion, their w ords express the
profound feeling that the O ral Torah w as the Jew ish answ er to the C h ristian in­
terpretation of the H o ly Scriptures, and therefore it needed to rem ain oral so as
not to harm the san ctity of the w ritten book, the Torah. The o rality of the O ral
Law is here also in d irectly a Jew ish declaration of the holiness and exclusiveness
of the W ritten Torah, as against the claim of C h ristian ity, w hich sought to take
hold of tw o w ritten books together. O rality not o n ly defines the m anner in w hich
know ledge is transm itted, but also the m anner in w hich it is studied.41
This openly declared ideological dim ension has another, seem ingly technical d i­
m ension, but rich in m eaning. D uring the first cen tury CE there began to spread
throughout the G reco-Rom an w o rld the use of the codex - the bound book w hich by the fourth cen tury CE had com pletely supplanted the use of scrolls. The
codex is m uch easier to use than the scroll: it enables one to brow se, it makes it
possible to w rite on both sides of the page, it is light and easy to transport. Its
advantages w ere im m ed iately recognized b y the earliest C h ristian s, w ho adopted
it w ith enthusiasm . It helped them to dissem inate their religion and, durin g the
period in w hich C h ristian ity w as a prohibited religion, it was also easily con­
cealed.42 A s against this, the Jew s continued to adhere to the use of scrolls, and did
not m ake use of the codex. A ccording to M alachi B eit-A rie, o n ly at the beginning
of the ninth cen tury did Jew s also begin to use the codex. This fact is rather su r­
prising, for one is speaking of a typ e of book w hich is far easier to use than the
scroll. A ccording to M alachi B eit-A rie: “The Jew s adhered to the rollbook in
order to differ from C hristian s, w ho first used the codex for dissem inating the N T
40 The question as to w h y the teachings o f the Sages w ere not translated into the language of
the Jew s o f the Diaspora is discussed in the article o f A ry e Edrei/Doron Mendels: A Split
Jewish Diaspora. Its Dram atic Consequences. In: Journal fo r the Study o f the Pseudepigrapha 16 (2007) 2, pp. 9 1 - 1 3 7 and 17 (2008) 3, pp. 16 3-18 7.
41 C yru s G ordon: Jew ish Reaction to C hristian Borrowings. In: C arol L. Meyers/M.
O ’C on n o r (eds.): The W ord o f the Lord Shall G o Forth. Essays in H onor of David Noel
Freedman in C elebration o f His Sixtieth Birthday. W inona Lake 1983, pp. 68 5-690.
42 G u y Stroumsa: Early C hristianity - A Religion of the B ook? In: M argalit Finkelberg/Guy
G. Stroum sa (eds.): Homer, the Bible, and Beyond. Literary and Religious Canons in the
Ancient W orld. Leiden 2003, pp. 15 3-17 3.
T h e O r a l it y of J e w is h O ra l L a w
251
and the translated O T.”43 Indeed, to this very d ay the Torah used in the synagogue
is w ritten on a scroll.
As we said, C h ristian ity originated as a religion of oral traditions concerning
the life of Jesus and his hom ilies, w hich w ere transm itted b y w o rd-of-m outh until
th ey w ere set dow n in w ritin g. The process of w ritin g was widespread and led to
the creation of “sy n o p tic” w orks w ith substantial differences am ong them selves.
This process could not create a book of divine holiness in the sense that was given
to the Torah in Jud aism or the Koran in Islam. The pragm atic attitude of the ear­
liest C hristians to w ritin g and to the book m ay also be seen in the sim ple language
in w hich the books of the N ew Testam ent w ere w ritten - a language intended for
the broad public rather than for scholars w ith special know ledge. The C hristians
also never claim ed the sup erio rity of an y particular language, and h ap p ily read
their sacred w ritin gs in every language.44 As against this, Judaism is a religion of a
single sacred book, and it is p recisely its suprem e holiness that prevented the crea­
tion of num erous books. The desire to distinguish oneself from C h ristian ity also
led, evidently, to the use of books in the form of scrolls rather than in that of codexes, and this w as consistent w ith their refraining from creating a w ritten litera­
ture altogether and the insistence that the transm ission of halakhic and m idrashic
know ledge be done o rally and not in w riting.
II.
As we stated above, it was o n ly around the eighth or ninth cen tury that Jew s
began to adopt the culture of the book/codex. Parallel to that, notw ithstanding
the ancient prohibitions, the O ral Torah, including the M ishnah and Talm ud, w ere
set dow n in w ritin g.45 W h y did this prohibition disappear? Jacob Sussm an has
form ulated the question in all severity:
“During the G eonic period, we witness a familiar and commonplace reality in which books
of Mishnah and Talmud exist. O n the one hand, for centuries people had been careful not to
record the O ral Torah in writing; even in difficult times, when there was a real danger that the
Torah might be forgotten, nobody dared to deviate from the accepted tradition according to
which ‘one does not w rite halakhot.’ Yet at a certain point in time it was as if all this was ig­
nored, and the O ral Torah was transform ed into a w ritten Torah. Students of Torah accepted
this new reality, in which there was no distinction between the w ritten Torah and that Torah
which was supposed to be oral - both o f them were recorded in w ritting, and both w ere dis­
seminated in w ritten books. H ow and when did this transform ation come about? In other
43 Malachi B eit-Arie: The H ebrew Manuscripts of East and West. Towards a Com parative
Codicology. London 1992; Yaacov Elman: O rality and the Redaction o f the Babylonian Tal­
mud. In: O ral Tradition 14 (1999), p. 72; C olin H. Roberts/Theodore C. Skeat: The Birth of
the Codex. O xford 1983.
44 Stroumsa: Hidden W isdom (see note 35).
4:1 Sussman: O ral Torah (see note 4), p. 322.
252
Israel Ja co b Yuval
words: when was the Rabbinic Talmudic w orld transform ed from a w orld o f oral culture to
one o f a w ritten cu ltu re?”46
This transform ation, according to Sussm an, occurred som etim e betw een the fifth
and eighth cen tury CE - a p eriod of w hich there is v ery little inform ation, and is a
sort of a “black h o le” in Jew ish history. It was at that point, in his opinion, that the
O ral Torah began to be set dow n in w ritin g.47 It is interesting to note that, in this
innovative and h ig h ly inform ative paper, Sussm an does not ask w h y o rality be­
came the m ost im portant distinguishing m ark of R abbinic literature in the first
place. ITe expresses his astonishm ent at the fact that this happened (“we confront
here a cultural phenom enon of a unique ty p e ”),48 but does not propose an y expla­
nation thereof. H e stro n gly em phasizes that the Talm udic Sages feared both o ral­
ity and the danger of forgetting that derives from it, but alongside the argum ents
against orality, Sussm an does not offer an y explanation of the reasons in its favor.
H e does, however, offer an explanation as to w hy, in his opinion, the period of
o rality ended som ew here betw een the fifth and eighth centuries:
“It seems reasonable to assume that during those difficult days fo r Jew ry, a time o f political
and cultural upheaval, when real dangers threatened the very existence o f Jew ish teaching,
the need emerged to assure the preservation o f the O ral Torah, lest it be forgotten .”49
O rality seems to him to be a natural, inherent q u ality of the O ral Torah, w hile its
textualization is perceived as the result of w eakness, of the decline of the genera­
tions, of the needs of the hour. This explanation is based upon a R abbinic h o m ily
on the verse, “It is tim e to act for the Lord; th ey have violated yo u r Torah”
[Ps 119:126] - interpreted as m eaning that “it is preferable to uproot (one letter
from ) the Torah rather than to allow the [entire] Torah to be forgotten from Is­
rael.”50 B ut this h o m ily is not from the period of the G eonim , durin g w hich, ac­
cording to Sussm an, this p rohibition w as first violated, but rather much earlier, at
the beginning of the am oraic era. It is invoked in its original context in order to ex­
plain w h y tw o am oraim , R. Yohanan and Resh L akish, studied from a w ritten
book of aggadot, in spite of the prohibition. The use of this halakhic-technical rea­
son to explain a far-reaching cultural revolution that occurred centuries later
seems to be rather forced. M oreover, as Sussm an him self em phasized in the first
section quoted above, “even in difficult tim es, w hen there was real danger that the
Torah m ight be forgotten, nobody dared to deviate from the accepted trad itio n ” thus, at least, w ith regard to the Talm udic period. In w hat w ay, then, did the “dif­
ficult tim es” of the Geonic age differ from the “difficult tim es” of the T ilm udic
era? In brief, the attem pt to attribute such a m ajor revolution sim p ly to the "va­
garies of tim e” comes across as a rather sim plistic explanation, leaving the ques­
tion as it w as.
46
47
4S
49
50
Ibid., p. 322; Elman: O rality (see note 43), pp. 52 -99.
Sussman: O ral Torah (see note 4), p. 323.
Ibid., p. 350.
Ibid.
B. Temurah 14b.
T h e O r a l it y of J e w is h O r a l L a w
253
I w o uld like to continue m y earlier line of thought and argue that the decline of
this prohibition is connected w ith the disappearance of C h ristian ity from the
horizon of everyd ay Jew ish life, and the rise of another com peting factor, Islam,
w hich presented the Jew s w ith new and different challenges. Islam acknow ledged
the v alid ity of the tw o earlier revelations, that of M oses and that of Jesus, but ac­
cording to its view, corruptions and distortions had occurred in the books of the
tw o form er revelations, so that th ey no longer contained the authentic w ord of
God. Ibn H azam argued that Ezra distorted the Law of M oses, so that w hat is ex­
tant to day cannot be considered a book of the original revelation.51 Instead, Islam
presented the Q uran as the last and final book of revelation, superceding its two
predecessors. The lite rary beauty of the language of the Q uran is treated as a theo­
logical advantage, a proof that the book was w ritten in divine inspiration. This
attitude tow ards the Q uran led to the creation of literary genres intended to ju s­
tify its suprem e status, w hich in turn helped to establish a new literature.52
The A rab madrassa developed a culture of oral stu d y of a form that is more than
a little rem iniscent of the stud y arrangem ents in the G eonic yeshivot.5i H owever,
in the final an alysis the ancient tradition of o rality and the opposition to textuality,
w hich characterized the beginning of Islam , was supplanted b y a more developed
culture of w ritin g .54 The M uslim culture of the book presented a profound cu l­
tural challenge to the Jew s, w ith w hich the classical culture of the m idrash was
unable to deal.55 In face of a varied and sophisticated culture of w ritin g, rich in
various genres and edited according to subjects, Jew ish oral literature - that was
edited, not according to subjects, but rather around sacred texts - seemed old fash­
ioned. R in a D rori has dem onstrated that the A rab literary m odel, w hich em pha­
sizes the existence and id en tity of the author, and w hich created a book w ith a u n i­
fied, com prehensive them atic approach, challenged the K araites, w ho adopted this
model. B y doing so, th ey distinguished them selves from the traditional R abbinic
literary m odels w hich, due to their oral character, w ere focused upon a sacred text
and had an anonym ous character, lackin g the id en tity of an actual, historical
author.56 B ut w h ile the m odels borrow ed from A rabic literature first entered into
31 Hava Lazarus-Yafeh: E zra-‘Uzayr. M etam orphosis o f a Polemical M otif. In: Tarbiz 55
(1986) 3, pp. 3 5 9-38 0. B y this, he serves as a late echo to an ancient Jew ish tradition, whose
most im portant spokesman was the IV Ezra, according to which the original Torah o f Moses
was burned in the First Temple and was rew ritten by Ezra, Naeh: Script (see note 24).
52 Rina D rori: The Emergence o f Jew ish-A rabic L iterary Contacts at the Beginning o f the
Tenth Century. Tel A viv 1988, pp. 84 -87.
53 Daphna Ephrat/Yaakov Elman: O rality and the Institutionalization o f Tradition. The
G row th o f the Geonic Yeshiva and the Islamic Madrasa. In: Yaakov Elman/Israel Gershoni
(eds.): Transmitting Jew ish O ral Traditions. O rality, Textuality, and C ultural D iffusion. New'
Haven 2000, pp. 10 7 -13 5 .
54 C ook: O pponents (see note 22).
3:> R obert B rody: The Geonim o f Babylonia and the Shaping o f Medieval Jew ish Culture.
N ew Haven 1998, pp. 2 3 9 -2 4 8 ; G eo ffrey Khan: A l-Q irq isan i’s Opinions Concerning the
Text o f the Bible and Parallel Muslim Attitudes towards the Text o f the Q u r’an. In: Jewish
Q uarterly R eview 81 (1990), pp. 59 -73.
56 D rori: Emergence (see note 52), p. 156.
254
Israel Ja co b Yuval
the “y o u n g e r” literature of K araism as an act of ideological opposition to R ab ­
binic literature, th ey w ere q u ic k ly adopted by R abbinic literature itself. D rori at­
tributes this change to the revo lutio n ary character of R abbi Saadya Gaon, head of
the yeshiva in Sura durin g the first half of the tenth century.57
U nder these circum stances, in w hich the focus of Ju d aism ’s religious struggles
turned from C h ristian ity to Islam , and in w hich R abbinic literature was struggling
for its own status against the K araite challenge, there was no longer an y id eo lo gi­
cal advantage to be gained in preserving the O ral Torah as an oral text. Islam did
not adopt the L aw of M oses as its own as did C h ristian ity, but sanctified another
book. The lack of com m on origin made it easier to delineate the different and the
separate, such that there w as no danger of m ixture and confusion as w ith the rela­
tionship betw een Jud aism and C h ristian ity. U nd er these circum stances, the ob­
stacles to w ritin g dow n the O ral L aw w ere rem oved, and an outburst of w ritten
creativity began. This started w ith the setting dow n in w ritin g of the M ishnah, the
Talm ud and the m idrashim , follow ed b y the com position of halakhic m onographs
of literary types that p revio usly had been unknow n.
D id this put an end to the o rality of the O ral Torah? O ffhand, the answ er to this
question w o uld seem to be positive. T here are alread y a num ber of m anuscripts of
the Talm ud that have come dow n to us from this period - albeit few - and even the
C h ristian environm ent begins to be conscious of the existence of the Talmud from
the tw elfth cen tury on. In an earlier report, from the ninth century, A gobard tes­
tifies to the existence of various kinds of m idrashic w o rks am ong the Jew s, but he
does not know about the Talm ud per se. The Jew ish tactic of concealm ent suc­
ceeded w ell. So long as the O ral Torah was preserved w ith in its oral fram ew ork, it
indeed rem ained a “m y ste ry ” as far as C h ristian know ledge thereof w as con­
cerned. It w as o n ly durin g the course of the 13th cen tury that aw areness began to
spread am ong C h ristian scholars that the Talm ud, and not the B ible, w as the q u in ­
tessential Jew ish book.
B ut despite the fact that the p rohibition against w ritin g it dow n had lost its rele­
vance and force, o rality did not disappear - p articu larly not in those areas that
w ere under the rule of C h ristian ity.58 A m ong the Jew s of A shkenaz (Franco-G erm any) - w ho had m igrated there from Italy, and p rio r to that from B yzan tium the tendency to give greater w eigh t to oral traditions continued, even w hen th ey
conflicted w ith a w ritten text. This tendency fit w ell w ith the religious ideal of
“T o rah -fo r-its-ow n -sake” - that is to say, of stu d y of the Torah as a value in its
own right, and not necessarily for the sake of practical know ledge of the halakhah.
The ideal of Torah in tellectu ality w as w idespread in A shkenaz, and hence the
num ber of students was large. In the M uslim countries, b y contrast, the em phasis
was placed upon the p ractical-h alakh ic aspect of Torah stu d y and the num ber of
57 Ibid., pp. 15 8 -17 8 .
58 N eil Danzig: From O ral Talmud to W ritten Talmud. O n the M ethods of Transmission of
the Babylonian Talmud and its Study in the Middle Ages. In: Annual o f Bar-Ilan U niversity
3 0 -3 1 (2006), pp. 4 9 -1 1 2 .
Th e O r a l it y of J e w is h O ra l L a w
255
students was sm aller.39 These qualities characterized A shkenazic stu d y traditions
un til m odern times.
The halakhic literary p ro d uctivity of A shkenazic Je w ry during the M iddle Ages
preserved several characteristics of oral literature. The m ost im portant genre of
that literature, the Tosafot, preserved its anonym ous, collective and eclectic
q u ality - not o n ly of the w ritin g itself, behind w hom there was no identified
author, but also in the sense of it being the edited and w ritten product of an oral
process of study. The A shkenazic literature was fond of “glo sses” that reflected
the innovations of the teacher and w hich w ere recorded b y the students who
heard his oral teachings - and in that m anner survived. The greatest halakhic
scholar of the European M iddle A ges, Rabbenu Tam, did not w rite even a single
book; all of our inform ation concerning his rulings is based upon later redactions
of his oral instructions, or upon sporadic responsa he w ro te to those w ho asked
him questions. R abbenu Tam ’s grandfather, R ashi, the noted exegete of both the
B ible and the Talm ud, never w rote even a single halakhic m onograph; his entire
oeuvre is lim ited to com m entary on canonic texts - the Torah (Pentateuch) and the
Talm ud. Even before his ow n project, there existed a com m entary on the Talmud
b y the sages of M ainz - and here too one is speaking of an oral and collective
w ork, set dow n in w ritin g in an anonym ous m anner w ith o u t an y clear im print of
a given author.
In 1200 M aim onides w rote to the sages of Lunel com plaining that no students
of Talm ud rem ained in his generation except for the Provencal sages: “There do
not rem ain in this difficult time people to raise the banner of M oses and to care­
fu lly stu d y the w ords of R abbina and Rav A shi [ ...] and there is no help apart
from y o u .”60 H e bew ails the decline of Talm ud stu d y throughout the breadth of
the Jew ish D iaspora, from India and B ab ylo n ia in the East to the M aghreb (N orth
A frica) in the W est - but makes no m ention of the im pressive w o rk of the French
Tosafists nor of the num erous students of Torah in A shkenaz, whom he evidently
did not know. T h irty years earlier the greatest Talm udic scholar of the M iddle
Ages, R abbenu Tam, had died in France in 1171, yet from M aim onides w ords one
receives the im pression that he had never heard of him ! This alm ost certain ly de­
rives from the fact that the tradition of oral stud y w as preserved am ong the rabbis
in G erm any and France and m any of them refrained from w ritin g books.
This oral character of A shkenazic halakhic literature continued until the end of
the M iddle A ges. An explicit exam ple of the difference between the influences of a
C hristian environm ent and that of the M uslim environm ent m ay be illustrated by
R abbi A sheri (R osh) - an A shkenazic sage w ho im m igrated at the beginning of the
14th cen tury to Toledo in Spain, w hich was then alread y C h ristian , but w ith a deep
relation to the Jud eo -A rab ic tradition. The literary w o rk of R. A sheri - a com -
39 Judah Galinski: Halakha, Economics and Ideology in the School of the Rosh in Toledo. In:
Zion 72 (2007) 4, pp. 38 7-393.
60 p rom M aim onides’ Epistle to the Sages o f Lunel. In: Isaac Shailat (ed.): Letters and Essays
o f Moses M aimonides, vol. II. Maaleh Adum im 1988, pp. 558 f.
256
Israel J a c o b Yuval
m entary on the Talm ud - is w ritten in the best of the A shkenazic tradition. This
com m entary is m ain ly assem bled from the w ords of his predecessors, w hether
w ritten or oral, w hile his ow n input is w ell concealed.61 On the other hand,
R. A sher’s son, R. Yaakov, w ho had alread y absorbed the Spanish-Jew ish culture,
w rote an im pressive and exceptional co d ificato ry project - A rb a ’ah Turim (“The
Four P illars”). From the greatest A shkenazic sage of the late M iddle A ges, M aharil (Yaakov b. M oshe ha-Levi M olin), there rem ain collections of responsa gath ­
ered b y his disciples after his death and a book of custom s, also edited b y his
disciple. W hen the A ustrian sage, R. Israel Isserlein, w rote his book Terumat haDeshen, he gave it the artificial form at of a book of responsa , because this was the
genre that w as best know n and accepted for literary w ritin g. It is a genre of a casu­
istic nature, w hose instructions relate to a specific case, lacking in an y organized
literary or content structure. The above are m erely examples of a w idespread phe­
nom enon: w ritin g that is connected to textual explication, w hich d elib erately re­
frains from abstract generalization.
The paradox is that it w as p recisely this tendency tow ards oral herm eneutics of
the text that also created greater flex ib ility in relation to it. Israel Ta-Shm a has
noted the tendency of A shkenazic society to prefer a custom passed dow n via oral
tradition over a text.62 A text - that is to say, the Talm ud - cannot n u llify a custom ,
because the text m ay be reinterpreted and adjusted to the custom , but it w o uld not
occur to anyone to n u llify the “custom of the ancestors”.
There is another interesting expression of the A shkenazic flex ib ility in relation
to the w ritten text. R. Jud ah h e-H asid, w ho w as perhaps the m ost conservative
figure of the A shkenazic M iddle A ges, w rites in a to tally n atural m anner in his
Com m entary on the Torah that certain verses are a late addition and w ere added to
the Torah after the tim e of M oses.63 As against that, the Spanish com m entator A b ­
raham Ibn Ezra w ro te an grily against a com m entator w ho dared to claim that the
verse, “These are the kings w ho reigned in the land of Edom before there was a
king in Israel” (G en 36:31) w as a late addition, w ritten after m onarchy had been
introduced in Israel.64 R ichard Steiner has dem onstrated that R. Judah he-H asid
had an ancient B yzan tin e tradition - several of its few w ritten rem ains are extant
in the C airo G enizah - that m entions the existence of a sadar, that is, an editor of
the biblical books, w ho had several different sources before him, w hich he ar­
ranged alongside one another, at times creating incom prehensible duplication (for
61 Galinski: Halakha (see note 59).
62 Israel M. Ta-Shma: Early Franco-G erm an Ritual and Custom . Jerusalem 1992, pp. 13 -105 .
63 Y. S. Lange (ed.): Perush ha-Torah le-R. Yehudah he-Hasid. Jerusalem 1975, p. 64,
pp. 184 f., p. 198. This edition was censored by U ltra-O rth o d o x circles and was republished
w ithout the passages in question.
64 Ibn Ezra ad loc.: “And Yitzhaki [i.e., R. Yitzhak ha-Yashish ha-Sefardi] said in his book
that this section was w ritten in the days o f Jehoshaphat, and he interpreted the generations as
he wished. Therefore he is called Yitzhak, that all those w h o hear will laugh [yitzahak] at
him! [...] Heaven forbid that the m atter should be as he said, in the days o f Jehoshaphat - and
this book deserves to be burned.”
T h e O r a l it y of J e w is h O r a l L a w
257
exam ple, in E zekiel 35:6). Steiner argues that, w hereas in Spain b iblical com m en­
tators insisted upon the in tegrity and san ctity of every letter and every w ord of the
Torah - this, due to the need to confront Islam ’s claim of falsification - the A shkenazic Jew s, w ho lived in a C h ristian environm ent that did not question the
san ctity of the Scripture, did not hesitate to reconstruct the process of biblical
editin g.65 In the eyes of a person raised on oral study, such processes of editing are
p erfectly natural and self-evident.
M edieval A shkenazic so ciety presents the im age of a culture that sanctified a
single canonical text, the Talm ud, but that in the course of its constant reading cre­
ates new texts that areits supposed im agin ary duplicates. This form of reading also
fashions the m anner of its w ritin g and creates, as the poet A haron Shabtai has put
it, “life rituals in w o rk, in fam ily life” and “a certain kind of in telligen ce”.66 These
things are of great significance w hen w e turn to discussing the function of the ha­
lakhah in shaping the self-consciousness of Jew s in the M iddle Ages. The existen­
tial question that confronted them w as: how is it possible to preserve th eir own
cultural island w ith in a com peting and at times hostile environm ent? The average
Jew ish com m unity in Franco-G erm any during the m edieval period num bered
betw een 100 and 200 people of all ages, w h ile the nearest neighboring Jew ish com ­
m un ity m ight be located several dozen kilom eters away. H o w can one survive,
w hen the entire public space belongs to the “O th er” ?
The answ er to this is to be found in the stud y house (beit midrash). In the sm all
beit midrash one reads and studies ancient texts docum enting an oral culture in­
volving hundreds of other people - the sages of the Talm ud and its interpreters w ho argue and discuss w ith one another ceaselessly. The act of oral stu d y helps
one to overcom e feelings of isolation and seclusion, turning the study house into
the p rim ary public space w ith in w h ich the A shkenazic Jew ish intellectual con­
ducted his life. In the im agined discourse w hich he conducted during the course of
his studies, it is not clear w ho visited w hom - w hether the m edieval student visited
the stu d y house in Sasanian B ab ylo n ia, or w hether the sages of the Talm ud visited
the stu d y houses in W orm s or M ainz.
The substitute for the C h ristian public space of the M iddle A ges was thus p ro ­
vided b y the im aginaire of Talm ud study. B y its m eans, the w o rld of the student
was thickened w ith the presence of im agined figures w ho spoke w ith one another,
thereby giving a depth of tim e and space to the lim ited reality of life. Those stu­
dyin g in the beit midrash w ere no longer m iserable people living w ith in an alien
environm ent, but participants in a liv ely discourse w ith num erous people from
different periods and from different m yth ical and colorful places.
^ Richard C. Steiner: A Jewish T heory o f Biblical Redaction from Byzantium. Its Rabbinic
Roots, Its D iffusion and its Encounter with the Muslim D octrine o f Falsification. In: Jewish
Studies Internet Journal 2 (2003), pp. 12 3 -16 7 .
66 Aharon Shabtai: nou 'ipb ran?'? [Hebrew]. In: Akhshav 50 (1985), pp. 57-65.
258
Israel J a c o b Yuval
III. Conclusions
The argum ent raised in this paper m ay shed new light upon our understanding of
the process of the form ation of R abbinic Judaism . A w idespread dispute exists
w ith in the scho larly com m unity as to the function p layed b y the polem ic w ith
C h ristian ity w ith in R abbinic literature. T here are those scholars who tend to d i­
m inish the cen trality of this polem ic, w h ile others find expressions of this polem ic
even in those places w here it is not m anifested explicitly. H owever, even those
who tend to see m any hints of a polem ic w ith C h ristian ity w ith in R abbinic litera­
ture find its expressions in isolated, at times even anecdotal, textual passages. P o ­
lem ic is still seen, in this approach, as an expression of the external level of the
interreligious encounter.
This can no longer be m aintained w ith regard to the oral q u ality of R abbinic lit­
erature. O ne is speaking here of a depth move, relating to the basic qualities of
Rabbinic id en tity and its literature. The oral id eo lo gy of the O ral Torah is the re­
sult of a profound transform ation that occurred w ith in the Jew ish religion against
the background of its encounter w ith C h ristian ity. This is not m erely an external
polem ic, but rather a renew ed definition of religious identity, fashioned so to
speak, b y a m utation of its inner D N A in reaction to a threatening external alter­
native. If, indeed, the insistence upon o rality in an environm ent w hich was be­
com ing more and more textual shaped the m ost intim ate qualities of the R abbinic
religious identity, then w e m ust draw far-reaching conclusions regarding the very
creation of the O ral Torah. N ot o n ly was the o rality of the O ral Torah a m utation;
the very form ation of the O ral Torah w as in itself part of a profound religious
transform ation in w hich the stu d y of O ral Torah and the fulfillm ent of its com ­
m andm ents w ere placed at the very center of Jew ish religious life. In other w ords,
the entire com plex of the form ation of R abbinic Jud aism is to be seen as a reaction
to the creation of C hristianity.
Indeed, even p rio r to the appearance of C h ristian ity Judaism placed great em ­
phasis upon fulfillin g the com m andm ents of God. The cen trality of law in early
Jew ish religion is a strikin g phenom enon in com parison to ancient religions. The
N ew Testam ent is sub stan tially different from the Torah in that it is not a book of
laws. H ence, those w ho continued the w ay of Jesus rap id ly reached the conclusion
that the fulfillm ent of the law s was insufficient to sustain faith, and that th ey w ere
even unnecessary and irrelevant. C h ristian ity questioned, first of all, the valid ity
of the D ivine law, and it is natural to assum e that the Jew ish reaction w o uld be the
opposite: to place increasin gly greater em phasis upon the law and the creation of a
com prehensive system of halakhah, m ost of w hich was a new invention of the
Sages of the M ishnah and the Talm ud.
It follow s from this that w hat created R abbinic Judaism was not o n ly the de­
struction of the Second Temple and the vacuum w hich the Temple left in its w ake,
but also the em ergence of a rival m onotheistic religion. O ur task is to turn things
around, and return to ch ronology and to history. P au l’s theological approach,
“Rem em ber, it is not you that support the root, but the root that supports y o u ”
T h e O r a l it y of J e w i s h O r a l L a w
259
(Rom ans 11:18), has dom inated our historical understanding. It has caused us to
see R abbinic Judaism as the natural continuation of the Bible and of Second
Temple Judaism , and prevented us from looking at h isto ry and at the proper order
of things: first Paul, and o n ly thereafter Rabbi A kiva. If there had been no Paul,
there w ould have been no Rabbi A kiva.
A bstract
In diesem B eitrag präsentiere ich die These, dass die m ündlich überlieferte Tradi­
tion des „M ündlichen G esetzes“ bei der Schaffung einer jüdischen Identität, die
sich vom C hristentum abgrenzte, eine große R olle spielte. N ach der Z erstörung
des Z w eiten Tempels kam es in der H alakhah zu einer enorm en E ntw icklung,
w obei die „M ündliche Tora“ nach und nach geschaffen w urde, und zw ar sowohl
als Korpus als auch als K onzept. D ie W eisen folgten einer ähnlichen M otivation
w ie Paulus, als er ein zw eites G esetz schuf. G anz so w ie Paulus - sogar vor der
Z erstörung - annahm , dass er eine andere, m essianische Lehre verbreitete, die
jene, die ihm folgten, als etwas Besonderes ausw ies, so sahen die W eisen die
„M ündliche Tora“, die sie schufen, als ein zigartig an; L o yalität ihr gegenüber
w urde zu einem Identifikationsm erkm al, das sie von jenen unterschied, die dem
„G eschriebenen G esetz“ allein folgten. D ie E ntstehung der „M ündlichen Tora“
geschah som it auf ähnliche Weise, w enn auch m ehrere Jahrzehnte später, w ie die
Entstehung von Paulus m essianischen Lehren, und som it w ie die Erschaffung des
A lten Testam ents. A uf parallele W eise w urde erst das „M ündliche G esetz“ ge­
schaffen und in seiner Folge das kanonische W erk, die Mishnah. Es gab jedoch
auch U nterschiede zw ischen den beiden. Das C hristentum behauptete, dass die
neuen Lehren die alten ersetzten, w ohingegen das rabbinische Juden tum die
neuen Lehren als integralen Bestandteil des einzig w ahren Bündnisses sah.
M it der Entstehung des C hristentum s entw ickelte sich das V erlangen, ein U n ­
terscheidungsm erkm al zw ischen C hristen und Jud en zu schaffen. Das C h risten ­
tum definierte sich anhand eines alternativen Textes, des N euen Testam ents, und
die Jud en reagierten, indem sie ihren eigenen alternativen Text schufen - die
Mishnah und danach die zw ei Talm uds. D ie zw ei R eligionen distanzierten sich auf
ähnliche W eise von ihrem einst kanonischen Text - dem Tanakh oder dem Alten
Testam ent - und etablierten an seiner Stelle einen neuen, identitätsstiftenden Text.
Es sollte betont w erden, dass die rabbinische „M ündliche Tora“ die konkrete
historische W irklich k eit w eniger reflektierte; vielm ehr form te sie sie. D er m ün dli­
che Text ist nicht nur das R esultat einer gegebenen historischen R ealität, sondern
er spielt auch eine R olle bei der Erschaffung einer eigenständigen G em einschaft,
einer G em einschaft m it einem inneren D iskurs, der sich von dem in seiner U m ge­
bung unterschied.
D ie A ufw eichung des Verbots im achten und neunten Jah rh un dert Bücher zu
schreiben, hat m it dem V erschw inden des C hristentum s vom H o rizo n t des alltäg-
260
Israel J a c o b Yuval
liehen jüdischen Lebens zu tun und m it dem A ufkom m en einer anderen K onkur­
renz, des Islam s, w elcher die Jud en m it neuen und anders gearteten H erausforde­
rungen konfrontierte. U nter diesen U m ständen ließ sich kein ideologischer Vor­
teil mehr daraus ziehen, die „M ündliche Tora“ als m ündlich überlieferten Text zu
erhalten. A nders als das C hristentum übernahm der Islam die G esetze von Moses
nicht, sondern heiligte ein anderes Buch. Das Fehlen einer gem einsam en Flerkunft
m achte es leichter, sich vom Frem den zu unterscheiden, so dass es keine G efahr
gab, sich zu verm ischen, oder dass sonst w ie V erw irrung entstehen konnte, so w ie
es im Verhältnis vom Juden- und C hristentum der Fall war. D ie H indernisse, die
einer N iederschrift des „M ündlichen G esetzes“ im Wege standen, w urden besei­
tigt, und es folgte ein w ahrer A usbruch an schriftlicher K reativität.
O bw ohl das Verbot des N iederschreibens seine R elevanz und M acht verloren
hatte, verschw and die m ündliche Ü berlieferun g nicht einfach - besonders nicht in
jenen W eltgegenden, die im M achtbereich des C hristentum s lagen. Bei den Juden
von A shkenaz (in der G egend des heutigen F rankreich und D eutschland) - die
dorthin aus Italien eingew andert und davor aus B yzan z gekom m en w aren - be­
stand die N eigun g fort, der m ündlichen Tradition ein größeres G ew icht zuzum es­
sen, selbst w enn sie einem geschriebenen Text w idersprach.
Hans-Jürgen Becker
Weltliche und religiöse Elemente im Rechtsdenken
der okzidentalen Christenheit
Die R echtsordnungen des m odernen Europa, das nach w ie vor aus einer Vielzahl
von selbständigen und souveränen N ationalstaaten besteht, sind sehr verschieden,
doch w eisen sie so viele G em einsam keiten auf, dass die Z usam m enarbeit auf
rechtlichem G ebiet - trotz fehlender einheitlicher K odifikationen - für alle Staa­
ten zufriedenstellend m öglich ist. Z wei G ründe sind hierfür ursächlich: Zum ei­
nen haben alle europäischen R echtsordnungen ein gem einsam es historisches F un ­
dam ent, auf dem sie aufbauen, zum anderen hat stets ein Prozess des A usgleichs
und der w echselseitigen W ahrnehm ung und R ezeption zw ischen den verschiede­
nen R echtskulturen stattgefunden. N ur die N ationalism en des 19. und 20. Jah r­
hunderts w aren so blind, diese Tatsachen leugnen zu w ollen. Im Folgenden sollen
diese beiden A spekte in E rinnerung gerufen w erden. D abei soll insbesondere auf­
gezeigt w erden, w ie sich im Bereich der R ech tsen tw icklung die W echselw irkung
von W eltlichem und R eligiösem ausgew irkt hat. Was die Term inologie angeht, so
w erde ich, w enn ich von religiösen V orstellungen im C hristentum spreche, in der
Regel von „kirchlichen“ V orstellungen sprechen. D ie D arstellung gliedert sich in
drei A bschnitte: Zunächst w erde ich skizzenhaft den historischen K ontext der
V erflechtung von W eltlichem und R eligiösem in der europäischen G eschichte d ar­
legen, sodann die B egegnung der drei religiös geprägten K ulturen von Judentum ,
Islam und C hristentum im B ereich des R echts ins A uge fassen und schließlich auf­
zeigen, w ie sich W eltliches und R eligiöses in den europäischen R echtskulturen
gem ischt, ergänzt oder auch abgegrenzt haben.
I. D er historische K ontext der V erflechtung von W eltlichem
und R eligiösem
1. Die Formierung des geschriebenen Rechts im frü h en M ittelalter
1.1. G entilism us und röm ische K ultur
An der Schw elle Europas stehen der U ntergang des R öm ischen Reiches und die
E ntw icklung von neuen G em einw esen, die auf einst röm ischem Boden ihre eige­
262
H a n s - J ü rg e n Be cke r
nen K önigreiche errichtet haben. D ie sogenannte V ölkerw anderung, die einen
Z eitraum von m ehreren Jahrhunderten um fasste, zerstörte zw ar viele In stitu tio ­
nen des Im perium R om anum , doch w urden auch viele Elem ente aus dem Bereich
der röm ischen K ultur übernom m en. Jed er Stam m , sei es aus dem germ anischen,
sei es aus dem slaw ischen Bereich, brachte zw ar eigene R echtsvorstellungen mit
und versuchte, sie in einer neuen U m w elt zu tradieren, doch w aren die durch Rom
geprägten Strukturen so stark, dass sie trotz aller kriegerischen A useinanderset­
zungen und trotz der großen Z erstörungen eine G rundlage für die neuen K ultu­
ren w urden. Es w aren insbesondere die röm ische Schriftkultur, die lateinische
Sprache, die röm ische V erw altungsorganisation in Provinzen und Städten, die B o­
dennutzung durch G rundherrschaften und das System der Landleihe, die ein R as­
ter bildeten, in dem das untergegangene R om fortlebte, w enn sich auch der Gentilism us des F rühm ittelalters auf vielen G ebieten durchsetzen konnte, w ie etw a
schon an der N am ensbildung der neu entstandenen R eiche oder an der A rt und
W eise, w ie jew eils nach Stäm m en verschieden G rundstücke tradiert w erden, ab­
zulesen ist.1 Ein gutes B eispiel für die starke D urchdringung beider K ulturen ist in
dem Phänom en der sogenannten Volksrechte (leges barbarorum ) zu sehen, bei
denen w ir nur sehr schw er ausm achen können, w elche N orm en auf germ anische
und w elche auf vulgarröm ische V orstellungen zurückgehen.2
1.2. Prägungen durch die Kirche
Vor allem aber w aren es auch religiöse Elem ente, die auf die neue R ech tskultur
einw irkten. War die alte O rdnung zum Teil noch von heidnisch-religiösen G rund­
einstellungen geprägt, so setzte nun verstärkt ein Prozess der C h ristian isierun g
ein. D ie K irche, die sich in den ersten Jah rhunderten im U m feld der paganen A n­
tike hatte behaupten m üssen und seit der sogenannten K onstantinischen Wende
eine enge V erbindung m it dem Im perium Rom anum eingegangen war, setzte nun
ihre m issionarische Kraft gegenüber den V ölkern nördlich der A lpen ein.3 D ieser
Vorgang w urde allerdings durch eine R eihe von U m ständen erschw ert, etw a
durch den ausgeprägten G entilism us, der eine kirchliche Struktur nur auf der
Stam m esebene, nicht aber in der ökum enischen W eite des C hristentum s dulden
1 A rn old Angenendt: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900.
Stuttgart, Berlin, K öln 1990, insbes. S. 153 f.; Lutz E. von Padberg: Zur Spannung von G en ­
tilismus und christlichem Universalitätsideal. In: Franz-Reiner Erkens (Flg.): K arl der G roße
und das Erbe der K ulturen. A kten des 8. Sym posium s des M ediävistenverbandes Leipzig
15 .-18 . M ärz 1999. Berlin 20 01, S. 36 -53.
1 K arl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Bis 1250. K öln, Weimar, W ien 132008,
S. 19 ff.; Clausdieter Schott: Lex und Skriptorium . F^ine Studie zu den süddeutschen Stam ­
mesrechten. In: Gerhard Dilcher/Eva-M arie D istier (Flg.): Leges - Gentes - Regna. Zur
R olle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der A u s­
bildung der frühm ittelalterlichen Rechtskultur. Berlin 2006, S. 25 7-29 0.
3 Peter Gemeinhardt: Das lateinische C hristentum und die pagane Bildung (= Studien und
Texte zu A ntike und Christentum , Bd. 14). Tübingen 2007; Lutz E. von Padberg: Die C h ris­
tianisierung Europas im Mittelalter. Stuttgart 1998; ders.: Christianisierung im Mittelalter.
Darm stadt 2006.
R ec h ts d en k en d er o k z id e n ta le n C h risten h e it
263
w o llte, und durch einen T raditionalism us, der eine verdunkelte T heologie und
eine w enig rationale, elem entare R eligio sität bevorzugte.4 Schließlich w aren es
M issionsaktivitäten der Iren (6.-7. Jh .) und der A ngelsachsen (7.-9. Jh .), die den
O kziden t ch ristianisierten.5 Die w eltlich e K önigsherrschaft w urde durch die
kirchliche H errscherw eihe stabilisiert, die schriftlichen R echtsaufzeichnungen
w urden durch christliche G eistliche, die dem H of des H errschers nahe standen, in
lateinischer Sprache form uliert.
2. A u f dem Weg zu den beiden Rechten
2.1. D ie beiden G ew alten
Bei aller D urchdringung von w eltlich en und kirchlichen Elem enten w urd e der
O kziden t geprägt durch die Lehre des Papstes G elasius I., der im Jahre 494 in ei­
nem Schreiben an den byzantinischen Kaiser A nastasius I. seine V orstellungen
von den G ew alten, die die W elt regieren, darlegte: „Zwei Ä m ter sind es, erhabener
Kaiser, von denen vornehm lich diese W elt regiert w ird: die geheiligte A utorität
(auctoritas sacrata) der Bischöfe und die königliche G ew alt (regalis potestas ).“6
N ach dieser Lehre sind beide G ew alten göttlichen U rsprungs und in ihren G ebie­
ten selbständig und gleichberechtigt, doch kom m t der kirchlichen G ew alt ein hö­
herer R ang zu. D iese A ussage w urde in den A useinandersetzungen zw ischen K ir­
che und königlicher G ew alt im m er dann zitiert, w enn das G leichgew icht gestört
erschien. O bgleich die Lehre vom G leichgew icht der beiden G ew alten durch die
Ü bernahm e der gelasianischen T heorie in viele Sam m lungen des K irchenrechts,
insbesondere in das D ekret G ratians,7 überliefert w urde, kam es im m er w ieder zu
Verwerfungen.
2.2. Säkularisierung der kirchlichen, Sakralisierun g der w eltlichen G ew alt
Die starke Einvernahm e der K irche durch die staatlichen G ew alten führte im 11.
und 12. Jah rh un d ert bekanntlich zu einer grundsätzlichen A useinandersetzung
zw ischen den beiden G ew alten, die m it dem N am en „Investiturstreit“ bezeichnet
w ird .8 Es handelt sich um einen kom plexen, vielschichtigen Vorgang. Er führte
4 Angenendt: Frühm ittelalter (wie Anm . 1), S. 155 f.
3 Zur Mission der Iren vgl. ebd. (wie Anm . 1), S. 213 ff.; zur Mission der Angelsachsen vgl.
ebd. (wie Anm . 1), S. 2 6 8 ff.; Lutz E. von Padberg: Mission und Christianisierung. Formen
und Folgen bei Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert. Stuttgart 1995.
6 Gelasius I., B rief „Famuli vestrae pietatis“. In: Heinrich Denzinger/Peter H ünermann
(Hg.): Enchiridion sym bolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum.
Freiburg im Breisgau u.a. 371991, S. 1 5 9 f., Nr. 347, ep. 12, Z. 2 -8 ; vgl. hierzu Gaetano Mancuso: „Auctoritas sacra pontificis“ e „auctoritas principis". In: Apollinaris. Com m entarius
Institut! U triusque Iuris 68 (1995), S. 193-204.
7 Decretum Gratiani d. 96 c. 10. Vgl. auch R udolf Schieffer: A rt. Zweigewaltenlehre, Gelasianische. In: Lexikon des M ittelalters 9 (1998), Sp. 720.
8 W infried Hartmann: D er Investiturstreit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 21).
München 32007; W erner Goez/Elke Goez: K irchenreform und Investiturstreit: 9 1 0 -1 1 2 2 .
Stuttgart, Berlin, K öln -2008.
264
H a n s- J ü rg e n B ecker
zunächst dazu, dass sich die Kirche unter dem Schlagw ort libertas ecclesiae von
der V ereinnahm ung durch w eltliche Kräfte befreien w ollte. W ährend sich also die
Kirche von den w eltlich en M ächten löste, kam sie nicht um hin, eine eigene Ver­
w altun g, eine eigene G esetzgebung und eine eigene R echtsprechung aufzubauen.
Es trat in gew isser W eise eine Säkularisieru ng der K irche ein, was sich un ter ande­
rem darin zeigte, dass die päpstliche G ew alt Elem ente des Kaiser- und K önigtum s
übernahm . U m gekehrt führte dieser Prozess dazu, dass die w eltliche G ew alt in
ihrem Bestreben, ihre U nabhängigkeit von der Kirche und die G ottunm ittelbar­
keit ihrer H errschaft zu dem onstrieren, sich m it einer sakralen A ura um gab.9 Von
da ab kann man beobachten, w ie stark die Sakralität des K önigtum s und die Eiei­
ligkeit des kaiserlichen Im perium s betont w erden. Brian T ierney hat dieses P h ä­
nomen treffend m it dem Satz charakterisiert: „The church borrow ed secular ideas
ju st as the state borrow ed ecclesiastical ones; the church had to become half a state
before the state could become half a church.“ 10
2.3. D ie gelehrten Rechte und die U niversitäten
In diesem Z usam m enhang entstehen zw ei R echtsordnungen, die zw ar aufeinan­
der bezogen sind, die jedoch jede für sich Selbständigkeit beanspruchen. D ie Z u­
w endung zum antiken röm ischen R echt führte zur R echtsschule von Bologna, wo
die Legisten das G esetzesw erk Justinian s, also das w eltlich e Recht, lehrten. N ur
w enig später en tw ickelte sich daneben eine zw eite Rechtsschule, in der zunächst
das D ekret G ratians (ab ca. 1140), später auch die neuen päpstlichen G esetzbü­
cher, der Liber Extra von 1234 und der L iber Sextus von 1298, w issenschaftlich
behandelt w urden. N ebeneinander w erden seitdem überall in Europa an den ju ­
ristischen F akultäten der aufkom m enden U niversitäten die beiden R echte, also
das röm ische und das kanonische Recht, gelehrt und studiert. A llerdings bilden
beide R echtsordnungen keinen strikten G egensatz, sondern sind aufeinander be­
zogen. Dies lässt sich an der alten R echtsparöm ie erkennen: „Ein Legist ohne
K enntnis der Canones stellt w enig dar, ein K anonist ohne K enntnis der Leges ist
nichts“ .11 D ie neue W issenschaft des ins utrum que gew ann nach und nach ihren
A nw endungsbereich in der Praxis und übte starken E influss auf die R ech tskultur
9 Percy Ernst Schramm: Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte: „imitatio
im perii“ und „immitatio sacerdotii“. Eine geschichtliche Skizze zur Beleuchtung des „dictatus papae“ G regors VII. In: ders.: Kaiser, Könige und Päpste, Bd. 4/1. Stuttgart 1970, S. 5 7 106; H orst Fuhrmann: D er wahre Kaiser ist der Papst. Von der irdischen G ew alt im M ittelalter. In: ders.: Einladung ins Mittelalter. M ünchen 21987, S. 1 2 1 -1 3 4 ; H ans-Jürgen Becker:
D er Friede von Venedig im Jahre 11 7 7 und die Entstehung der Papstkirche. In: G erhard D ilcher/Diego Q uaglioni (Hg.): Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Gesetzgebung im Zeit­
alter Friedrich Barbarossas und das G elehrte Recht. Berlin 2007, S. 2 6 1-2 8 2 , insbes. S. 272 ff.
10 Brian Tierney: Religion, Law, and the G ro w th of C onstitutional Thought, 1 1 5 0 -1 6 5 0 .
Cam bridge 1982, S. 12.
11 Friedrich M erzbacher: Die Parömie „Legista sine canonibus parum valet, canonista sine
legibus nihil“. In: Studia Gratiana 13 (1967), S. 2 7 3-28 2; vgl. auch W infried Trusen: Anfänge
des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption. W iesba­
den 1962, S. 22 ff.
R ec h ts d en k en der o k z id e n ta le n C h risten h e it
265
des gesam ten O kzidents aus, da die alte orale R ech tskultur sich nun am M aßstab
der durch die beiden Rechte verkörperten schrif tlichen R atio n alität m essen lassen
m usste. D ie W elle von A ufzeichnungen des G ew ohnheitsrechts, die im 12. und
13. Jah rh un d ert ganz Europa durchläuft - von den L ibri Feudorum bis zum Sach­
senspiegel, von den dänischen G esetzbüchern von Seeland und Schonen bis zu
den C outum es von Beauvais - ist ohne den durch die W issenschaft und Praxis der
beiden Rechte gefestigten Prim at der ratio scripta kaum zu erklären .12
3. Weltliche und kirchliche Gerichte
3.1. K irchliche und w eltlich e G erichtsbarkeit
Sow ohl die K irche w ie auch die w eltlich e G ew alt verfügten über eigene G erichte
und eigene, sehr unterschiedliche R egeln der Prozessführung. Im w eltlich en B e­
reich w ar die G erichtsbarkeit stark aufgefächert: Das G ericht am H of des Königs
hatte m it den G erichten in den Städten und m it den ländlichen G erichten nur
w enig zu tun. G em einsam w ar ihnen aber eine auf G ew ohnheitsrecht beruhende
orale G erichtskultur, in der von erfahrenen Laien, nicht aber von juristisch ausge­
bildeten R ichtern Recht gesprochen w u rd e.13 Im kirchlichen B ereich hatte sich
dagegen schon früh eine G erichtsbarkeit gebildet, in der geschulte Personen als
R ichter w irkten und in der nach strengen prozessualen Regeln verfahren w u rd e.14
D ie F eststellung der Z uständigkeiten der w eltlichen bzw. der geistlichen G erichte
w ar nicht leicht, da causae saeculares, causae spirituales und causae spiritualibus
annexae in der T heorie zw ar definiert, in der Praxis aber nur schw er abzugrenzen
w aren und es sonnt häufig zu K om petenzkonflikten kam. Die durch die k irch li­
chen G erichte gew ährleistete Sicherheit und Schnelligkeit des Verfahrens führte
allerdings nicht selten dazu, dass die Prozessparteien auch in rein w eltlichen
R echtsstreitigkeiten ein geistliches G ericht, insbesondere im Rahm en der Schiedsgerichtsbarkeit, an riefen .15
12 Sten Gagner: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (= Studia Iuridica Upsaliensia 1). Stockholm , Uppsala, G öteborg 1960, S. 2 16 ff., S. 296 ff., S. 302 ff.; Peter Johanek: A rt.
Rechtsbücher. In: Lexikon des M ittelalters 7 (1995), Sp. 5 1 9 -5 2 1 .
13 G erhard Köbler: Richten - R ichter - Gericht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte (Germ anistische Abteilung) 87 (1970), S. 57—113 ; Jürgen W eitzel: Dingge­
nossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen
Mittelalter. 2 Bde. K öln, W ien, Weimar 1985; ders.: Versuch über N orm strukturen und
Rechtsbewußtsein im m ittelalterlichen O kzident (4 5 0 -110 0 ). In: Ernst-Joachim Lampe
(Hg.): Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein. F rankfurt am Main 1996, S. 3 7 1-4 0 2 , insbes.
S. 3 7 6 f.
14 W infried Trusen: Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche. In: Helmut Going (Hg.): H and­
buch der Q uellen und Literatur der neueren europäischen Privatreehtsgeschichte, Bd. 1: M it­
telalter (1 10 0 -15 0 0 ). München 1973, S. 46 7-50 4.
15 Trusen: Anfänge (wie Anm . 11), S. 34 ff.
266
H a n s - Jü r g e n B e cke r
3.2. D ie großen G erichtshöfe und die juristische K am eralistik
D ie K irche hatte schon früh einen Instanzenzug m it der M ö glich keit einer A p p el­
lation an das päpstliche G ericht in Rom eingerichtet. Dies führte dazu, dass an der
Kurie ein päpstlicher G erichtshof entstand, die Sacra Rota R om ana.[(>D ie U rteile
dieses höchsten G erichtshofs entschieden nicht nur den konkreten R echtsstreit,
sondern boten zugleich eine R ichtschnur für die A uslegung des kanonischen
Rechts. Sie w urden schon vor E rfindung des B uchdrucks in Form von U rteils­
sam m lungen verbreitet und trugen so zur B ildung einer opinio communis bei.
A uch in England entw ickelte sich bereits früh eine höchste G erichtsbarkeit, deren
R echtsprechung im Laufe der Zeit ein R ichterrecht (case law, judge-m ade law)
ausbilden konnte. A uf dem K ontinent dagegen dauerte es im w eltlichen Bereich
bis ins 15. bzw. 16. Jah rh un dert, bis ähnliche „höchste“ G erichtshöfe entstanden
sin d .17 Erst dann konnte durch P ub lizierun g von U rteilssam m lungen und D arle­
gungen des „Stils“ des jew eiligen G erichtshofs eine ähnliche durch Ju d ik atu r ge­
prägte R ech tskultur entstehen. Beide Bereiche, die w eltliche und die kirchliche
höchste G erichtsbarkeit, w aren strikt getrennt, doch haben sie die von ihnen ent­
w ickelten M axim en gegenseitig beobachtet und teilw eise rezipiert.
4. Landesherrliches Kirchenregim ent und A ufklärung
4.1. N ationalisierungsprozesse und Staatskirchentum
Im späten M ittelalter form ierten sich viele europäische K önigreiche zu N atio n al­
staaten. D am it w ar eine E ingliederung der K irche in die jew eilige Staatsorganisa­
tion verbunden. Das landesherrliche K irchenregim ent w urde nun für m ehrere
Jah rh un derte das prägende Elem ent im V erhältnis der beiden G ew alten.18 Zwar
um fasste die K irchenhoheit, die der Staat für sich in A nspruch nahm , nur die iura
circa sacra , w ährend das Selbstordnungsrecht der K irchen, die iura in sacra , davon
unberührt blieb. D och führte die V erschränkung der beiden R echtsordnungen zu
einer A rt von Staatskirchentum , in dem w eltlich e und religiöse Elem ente ver­
m ischt w aren.
4.2. Säkularisierungstendenzen im N atur- und V ernunftrecht
K ritik an dieser engen V erbindung von Staat und K irche w urde insbesondere von
V ertretern des aufgeklärten N aturrechts geäußert. D er Versuch, eine neue R echts16 Literatur bei H ans-Jürgen Becker: Die Sacra Rota Romana in der frühen Neuzeit. In: Leo­
pold A u er u.a. (Hg.): H öchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnun­
gen. K öln, Weimar, W ien 2007, S. 1-18 .
17 Auer: H öchstgerichte (wie Anm . 16).
1S A lb ert W erm inghoff: N ationalkirchliche Bestrebungen im deutschen M ittelalter (= K ir­
chenrechtliche Abhandlungen, Bd. 61). Stuttgart 1910; Justus Hashagen: Staat und Kirche
vor der Reform ation. Essen 1931; H eribert Raab: K irche und Staat. Von der M itte des
15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. München 1966; C hristoph Link: Kirchliche Rechtsge­
schichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Rechtsgeschichte von den Anfängen
bis ins 21. Jahrhundert. München 2009, S. 5 0 ff.
R ec h ts d en k en der o k z id e n ta le n C h ris ten h e it
267
Ordnung losgelöst von den R echtstraditionen des ius commune allein aus der N a­
tur und den Landesbräuchen abzuleiten, m usste zu einer neuen B etrachtung des
V erhältnisses von Staat und Kirche und zu einer ersten Säkularisierung der
R echtsordnung fü h ren .19
Säkularisierungen im ■
w erdenden Verfassungsstaat
5.1. D ie B ürgerliche R evolution und die Trennung von Staat und Kirche
D ie Französische R evolution führte einen radikalen B ruch zw ischen Kirche und
Staat herbei. D och schon die H errschaft N apoleons, sodann die R estaurations­
phase nach dem W iener K ongress von 1815 brachten in Europa eine N euordnung
des Verhältnisses von Staat und Kirche. Das folgende Jah rh un dert zeigt einen lan­
gen und m ühsam en Weg der Säkularisierung der R echtsordnung, der schließlich
zu einer - verschieden stark ausgeprägten - Trennung von Staat und Kirche führen
sollte.20 R este des Staatskirchentum s haben sich gleichw ohl in manchen europäi­
schen Staaten bis zu r G egenw art erhalten.
5.2. D er Kam pf um den letzten kirchlichen Bereich: das Eherecht
D ie Säkularisieru ng der R echtsordnung vollzog sich unterschiedlich schnell. Da
das Eherecht durch Jahrhunderte hindurch in den H änden der K irche war, tat sich
der säkulare Staat schwer, ein neues w eltliches Eherecht zu etablieren.21 Der
Kampf um die E inführung der Z ivilehe führte zu scharfen politischen A useinan­
dersetzungen, w eil man in ihr - w ohl zu U nrecht - ein K am pfm ittel des Staates
gegen die Kirche verm utete.
19 A n ton Rauscher (Hg.): Säkularisierung und Säkularisation vor 1800. München 1976; M ar­
tin Heckei: Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts. In: G erhard Dilcher/Ilse Staff (Hg.): Christentum und m odernes Recht. Beiträge zum
Problem der Säkularisierung. F rankfurt am Main 1984, S. 3 5 -9 5 ; Link: Rechtsgeschichte (wie
Anm . 18), S. 9 9 ff.; A xel Freiherr von Cam penhausen/Iieinrich de Wall: Staatskirchenrecht.
Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa.
München 42006, S. 14 ff.
Heinrich de W all: Die Fortentwicklung der Säkularisation im heutigen Staatskirchenrecht.
In: H einer M arre (Hg.): Säkularisation und Säkularisierung 18 03-2 003 (= Essener Gespräche
zum Thema Staat und Kirche, Bd. 38). M ünster 2004, S. 53 -82; H artm ut Lehmann: Säkulari­
sierung. D er europäische Sonderw eg in Sachen Religion. G öttingen 2004; Ernst-W olfgang
Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: ders. (Flg.):
Staat - Gesellschaft - Freiheit. Frankfurt am Main 2006, S. 9 2 - 1 1 4 ; Jürgen Habermas/Joseph
Ratzinger: D ialektik der Säkularisierung. U ber Vernunft und Religion. Freiburg im Breisgau
2007.
21 Hermann C onrad: Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische R evo­
lution. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fü r Rechtsgeschichte (Germ anistische Abteilung)
67 (1950), S. 3 3 6 -3 7 2 ; D ieter Schwab: Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzge­
bung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1967; H elm ut Coing: Die
Auseinandersetzung um kirchliches und staatliches Eherecht im Deutschland des 19. Jah r­
hunderts. In: Dilcher/Staff (Hg.): Christentum (wie Anm . 19), S. 3 6 0-37 5; H ans-Jürgen Be­
cker: D er sogenannte Kaiser-Paragraph (§ 1588 BGB). In: Sibylle H ofer u.a. (Hg.): Perspek­
tiven des Familienrechts. Festschrift fü r D ieter Schwab. Bielefeld 2005, S. 26 9-28 5.
268
H a n s - Jü r g e n B ecker
II. D ie B egegnung von religiös geprägten Rechtskulturen
im O kzident
1. O kzident und Judentum im M ittelalter
1.1. A ltes Testam ent und m ittelalterliche R echtsordnung
D ie R echtsgeschichte des O kzidents ist also durch eine starke V erschränkung von
- christlicher - Kirche und Staat bestim m t. D am it verbunden w ar eine gegensei­
tige B eeinflussung der jew eiligen Rechtsordnungen. D och w äre es zu einseitig,
den B lick ausschließlich auf die E inw irkungen des C hristentum s auf die w eltliche
N orm enw elt zu konzentrieren. W ir sprechen zw ar zu Recht von einem ch ristli­
chen A bendland, doch sind durchaus auch Einflüsse zu beobachten, die von ande­
ren R eligionen ausgingen. Dies gilt in erster Linie für das Judentum . In der L itu r­
giew issenschaft ist seit langem der starke Einfluss alttestam entarischer V orstellun­
gen auf den K ult d er spätantiken und frühm ittelalterlichen Kirche bekannt, etw a
das Einhalten des Gebotes der kultischen U nbeflecktheit, die V erwendung unge­
säuerten B rotes bei der M essfeier, die B ezeichnung der Kirche als templum oder
der Salbungsritus bei K irch-, Priester- und B ischofsw eihe.22 D ie abendländische
Kirche verdankt diese A nregungen teilw eise der V erm ittlung durch die O stkirche.
Von nachhaltigerem Einfluss w ar jedoch die im 6. und 7. Jah rh un dert zu beobach­
tende V erm ittlung durch die Kirche in Südgallien, im w estgotischen Spanien und
vor allem in Irland. G erade durch die intensive M ission der Iren w urden diese alt­
testam entarischen Institutionen auf dem ganzen K ontinent verbreitet.23
W eniger beachtet w ird, dass nicht nur die kirchliche L iturgie, sondern auch die
frühe R echtsordnung durch das Judentum beeinflusst w orden ist. Im Bereich des
Eherechts sind es vor allem die zahlreichen E hehindernisse der Verwandtschaft
und der Schw ägerschaft, die aus dem A lten Testam ent übernom m en w orden sind
und über die B ußbücher ihre W irkungen entfaltet haben.24 Sodann ist die H err­
scherw eihe zu nennen: Salbung und K rönung der K önige folgte den alttestam en­
tarischen V orbildern.25 Ferner ist auf das Sonntagsgebot hinzuw eisen. Anfangs
w ird dieser Tag im O kzid en t als Tag der A uferstehung Jesu verstanden. Wenn seit
dem 6. Jah rh un d ert m it der Feier des Sonntags ein Verbot der Sonntagsarbeit ver­
bunden w ird, so ist dies dem geschilderten E influss der irischen M ission zu ver­
11 Raym und K ottje: Studien zum Einfluss des A lten Testamentes auf Recht und Liturgie des
frühen M ittelalters (6.-8. Jahrhundert). Bonn 21970, S. 94 ff.; R. Kaczynski: A rt. Salbung. In:
Lexikon des M ittelalters 7 (1995), Sp. 1 2 8 8 f.
23 Angenendt: Frühm ittelalter (wie Anm . 1), S. 2 1 3 -2 2 3 ; K ottje: Studien (wie Anm . 22),
S. 107.
24 Paul Mikat: Die Inzestgesetzgebung der merowingisch-fränkischen Konzilien (511—626/27)
(= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 74).
Paderborn 1994.
25 Eduard Eichmann: Königs- und Bischofsweihe. München 1928; A rn old Angenendt: Rex
et sacerdos. Z ur Genese der Königssalbung. In: N orbert Kam p (Hg.): Tradition als histori­
sche K raft. Berlin 1982, S. 10 0 -11 8 .
R ec h ts d en k en cier o k z id e n ta le n C h r is ten h e it
269
danken, die sich ihrerseits auf das A lte Testam ent stützte. Schließlich ist auf die
Z ehnt-Forderung zu verw eisen, die - aus einem religiösen G ebot abgeleitet - zu
einem reichsrechtlichen Institut im Frankenreich und dann auf dem ganzen K on­
tinent gew orden ist. M it Recht hat R aym und K ottje darauf hingew iesen, dass die
„V erstaatlichung“ des religiösen Zehntgebotes nur zu verstehen ist vor dem H in ­
tergrund einer E ntw icklung, „die zu einer im m er häufigeren und seit dem Ende
des 6. Jahrhunderts ausschließlichen B etonung des alttestam entarischen Zehnt­
gebotes [ ...] geführt hatte.“26
1.2. Das R echt der Juden
Wenn von der B egegnung religiös geprägter R echtsordnungen im M ittelalter die
Rede ist, w ird man auch das sich seit karolingischer Zeit entw ickelnde w eltliche
Judenrecht nennen m üssen.27 Für das W irtschaftsleben des frühen M ittelalters
w aren die jüdischen G em einden überall in Europa von großer B edeutung, w aren
doch jüdische K aufleute die treibende Kraft des sich entw ickelnden Fernhandels.
Es ist bezeichnend, dass die Begriffe m ercator und iudeus häufig - etw a in den P ri­
vilegien der ottonischen H errscher - syno n ym verw endet w orden sind. Weil die
Juden so bedeutsam für das W ohl der G esellschaft w aren, w urden sie unter den
besonderen Schutz des Königs gestellt und erhielten Privilegien, die ihre eigene
R ech tskultur respektierten. So w urde den Jud en gestattet, nach eigenem Recht
leben zu dürfen, und es w urd e ihnen ein faires B ew eisrecht m it B efreiung von
Feuer- und W asserprobe zugesichert. Später entw ickelte sich aus diesen A nsätzen
eine rechtliche Sonderstellung der Juden, die allerdings am bivalente W irkungen
zeigte. A nfangs, das heißt im hohen M ittelalter, als Schutz der jüdischen Personen
gedacht, entw ickelte sich im späten M ittelalter das königliche Juden regal zu einem
Judenprivileg in den H änden der Landesherren und der anderen politischen G e­
w alten, das nun un ter rein finanziellen A spekten gesehen und den Juden letztlich
zum V erderben w urd e.28 So tragisch sich die einzelnen Phasen der jüdischen Ver­
folgungen im M ittelalter darstellen: M an darf nicht übersehen, dass es auch be­
achtliche Z eiträum e gab, in denen die christliche und die jüdische G em einschaft
einen freundlichen U m gang m iteinander gepflegt haben. Das N ebeneinander der
unterschiedlichen religiösen K ulturen, die N achbarschaft von K irche und S yn a­
goge, hat auch viele positive Erfahrungen gebracht. Für die C hristen des N euen
Bundes m it G ott w ar es w ich tig, dass in ihrer G em einschaft Juden lebten und als
26 K ottje: Studien (wie Anm . 22), S. 68.
27 Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer M in­
derheit in der nichtjüdischen U m w elt Europas. Teilband 1: Von den Anfängen bis 1650.
Darmstadt 1990, S. 9 7 -1 2 2 ; Friedrich Lotter/M artina Illian: A rt. Judenrecht. In: Lexikon des
M ittelalters 5 (1991), Sp. 792 f.
28 Dietmar W illow eit: Verfassungsrechtliche Aspekte des Judenschutzes im späten M ittelal­
ter. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und K u ltu r der Juden 9 (1999), S. 9 -3 0; ders.:
Juden im R äderw erk des Rechts - M ethodische Problem e und inhaltliche Fragen. In: Recht G ewalt - Erinnerung. Vorträge zur Geschichte der Juden (= K leine Schriften des A ry e Maimon-Instituts, Bd. 6). Trier 2004, S. 4 5 -6 1 ; Friedrich Battenberg: A rt. Kammerknechtschaft.
In: Lexikon des M ittelalters 5 (1991), Sp. 891.
270
H a n s -J ü r g e n Be cke r
lebende Zeugen die E rinnerung an den A lten Bund und dam it als Zeugen der
H eilsgeschichte w ach hielten.
1.3. D ie Problem atik des Zinsnehmens
Ein besonderes Problem stellte freilich die um strittene Frage dar, ob es erlaubt sei,
für K redit Zins zu nehm en.29 Das A lte Testam ent hat es den Juden bekanntlich
verboten, bei den G laubensbrüdern Zins zu nehm en, doch w ar es erlaubt, von
Frem den Zins zu fordern. Das christliche A bendland hatte dieses Zinsverbot in
kirchlichen und w eltlichen G esetzen übernom m en, doch kam auch dam als die
W irtschaft nicht ohne - regelm äßig zinspflichtige - D arlehen aus. So griff es zu
dem H ilfsm ittel, ausnahm sw eise das Zinsnehm en zu gestatten, den Lom barden
und den L euten aus C ahors m it päpstlichen Privilegien, den Juden m it dem A rg u ­
ment, sie seien den christlichen Z insgesetzen nicht unterw orfen. D iese Sonder­
rolle der jüdischen G eldverleiher brachte allen Jud en den V orw urf ein, sie seien
W ucherer. W ie so oft erw iesen sich auch hier die P rivilegien als zw eischneidig,
w eil sie einen Sonderstatus begründeten, der von vielen m it M issgunst betrachtet
w urde.
2. Die Begegnung mit dem Islam
2.1. Islam ische Philosophen als V erm ittler der A n tike
D er Einfluss der jüdischen R ech tskultur auf das christliche A bendland w ar insge­
sam t sicher bedeutender als der Einfluss der R ech tskultur des Islam. U nd doch
gab es sehr unterschiedliche Ebenen, in denen die K ultur des Islam m it der Euro­
pas in B erührung gekom m en ist und auf die christliche K ultur gew irkt hat. D abei
ist w eniger an den B ereich der zahlreichen kriegerischen A useinandersetzungen in
Kleinasien, N o rd afrika, Spanien, Sizilien und zuletzt auf dem Balkan zu denken,
obgleich sow ohl in karolingischer Zeit die Sorge über das V ordringen m uslim i­
scher H eere in Spanien und Südfrankreich w ie auch im 15. Jah rh un dert der
Schock über die E roberung K onstantinopels durch die O sm anen im Jah re 1453 zu
einer Betonung des europäischen Zusam m enhalts und zu einer A rt von „Europa­
idee“ geführt haben.30 Im V ordergrund soll hier der ku lturelle A ustausch stehen.
29 Harald Siems: Handel und W ucher im Spiegel frühm ittelalterlicher Rechtsquellen (= Stu­
dien und Texte zur Geistesgeschichte des M ittelalters, Bd. 29). H annover 1992; H orst F u h r­
mann: D er „schnöde Gewinn" oder das Zinsverbot im Mittelalter. In: ders.: Ü berall ist M it­
telalter. Von der G egenwart einer vergangenen Zeit. M ünchen 1996, S. 12 3 -14 9 .
30 Paul Egon H übinger (Hg.): Bedeutung und R olle des Islam beim Übergang vom Altertum
zum M ittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 202). D arm stadt 1968. Die These von Henri Pircnnc (18 6 2 -19 3 5 ) ist zw ar um stritten, doch w ird sie bis heute diskutiert; vgl. H enri Pirenne:
Mohammed und K arl der G roße: Die G eburt des Abendlandes. Stuttgart 1987. Zu der Be­
gegnung des O kzidents mit dem muslimischen Recht in Spanien vgl. Hans Hattenhauer:
Europäische Rechtsgeschichte. H eidelberg 42004, S. 19 1-2 0 0 . Zu der durch die Türkengefahr
ausgelösten Vorstellung von einem Verbund europäischer Königreiche vgl. Johannes H elm ­
rath: Pius II. und die Türken. In: Bodo M üller u. a, (Hg.): Europa und die Türken in der R e­
naissance. Tübingen 2000, S. 7 9 -13 8 ; H ans-Jürgen Becker: Das Projekt einer europäischen
R ec h ts d en k en d er o k zid e n ta le n C h ris ten h e it
271
Im Bereich des Rechts ist hier an die starke Belebung der abendländischen P h ilo ­
sophie im 12. Jah rh un d ert zu denken, denn bekanntlich sind durch die A raber auf dem Weg über Syrien - bedeutende Teile der antiken Philosophie, darunter
w ichtige W erke des A ristoteles, dem O kziden t erstm als zugänglich gem acht w o r­
den.31 Es steht außer Z w eifel, dass dam it die bislang vorw iegend nach Platon aus­
gerichtete Philosophie des A bendlandes einen starken A uftrieb erhielt. Von hier
aus w urde die E ntw icklung der Scholastik stim uliert und dam it jene W issen­
schaftsform gefördert, aus der auch die ersten Vertreter der gelehrten R echtsw is­
senschaft geschöpft haben.
2.2. Einflüsse im H andelsrecht und im G esandtschaftswesen
D irekte Einflüsse des Islam auf das europäische Recht sind bislang nur w enig un ­
tersucht w orden. Es w ird m it guten G ründen verm utet, dass in der F rühzeit der
norm annischen H errschaft in Sizilien das neue R echt durch islam ische R echtsvor­
stellungen angereichert w orden ist, zum al der Staat unter vier K onfessionen, näm ­
lich Judentum , griechisch-orthodoxem C hristentum , Islam und K atholizism us,
einen A usgleich finden m usste. O b später die staufische G esetzgebung durch isla­
m ische Vorbilder, etw a im Bereich der Reform der Prozessbeschleunigung durch
islam isches Prozessrecht, angeregt w orden ist, bleibt vorerst im Bereich der Spe­
kulation. D agegen ist der Einfluss islam isch-osm anischer Vorstellungen im B e­
reich des H andels und des diplom atischen Verkehrs gut zu belegen. Als B eispiel
sei nur an den Fondaco dei Tedeschi und den Fondaco dei Turchi in Venedig erin ­
nert, wo - nach osm anischem Vorbild - unter A ufsicht der venezianischen R egie­
rung W aren gelagert und gehandelt w urden .32
Union im Jahre 1464. K önig G eorg Podiebrad von Böhmen und sein „Friedensbündnis“. In:
W. Christian Lohse/Josef M ittlm eier (Flg.): Europas Ursprung. M ythologie und Moderne.
Festschrift der U niversität Regensburg zum 50-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge.
Regensburg 2007, S. 29 -40.
31 A lbert Zimmermann (Flg.): Orientalische K ultu r und europäisches M ittelalter (= M iscel­
lanea mediaevalia, Bd. 17). Berlin 1985; W illiam M ontgom ery Watt: D er Einfluß des Islam
auf das europäische Mittelalter. Berlin 1988; Johannes H irschberger: Geschichte der Philoso­
phie, Bd. 1: A ltertu m und Mittelalter. Freiburg 141991, S. 426 ff.; Matthias Maser: „Islamische
W elt“ und „christliche W elt“ im Spiegel arabischer und lateinischer Q uellen aus dem m ittel­
alterlichen Spanien. K onditionen der W ahrnehmung zwischen Topas und Beobachtung. In:
Rivista di Storia del Christianesim o 4 (2007) 1, S. 7-28.
32 Fiermann Dilcher: Die Sizilische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II. Q uellen der C on sti­
tutionen von M elfi und ihrer N ovellen (= Studien und Q uellen zur Welt Kaiser Friedrichs II.,
Bd. 3). K öln, W ien 1975, S. 52 f.; Jerem y Johns: Arabic Adm inistration in N orm an Sicily:
The R oyal DTwän. Cam bridge 2002. Zu den Einflüssen der osmanischen K ultu r auf den O k ­
zident vgl. H attenhauer: Rechtsgeschichte (wie Anm . 30), S. 49 7-54 0.
272
H a n s- J ü rg e n B e cke r
III. Die D urchdringung von W eltlichem und Religiösem
im m ateriellen Recht
A ls F riedrich C arl von Savigny im Jahre 1840 die G rundlagen seines V erständnis­
ses von R echt darlegte, führte er aus:
„Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts nun läßt sich einfach auf die sittliche Bestimmung der
menschlichen N atur zurück führen, so wie sich dieselbe in der christlichen Lebensansicht
darstellt; denn das C hristenthum ist nicht nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen,
sondern es hat auch in der That die W elt umgewandelt, so daß alle unsre Gedanken, so frem d,
ja feindlich sie demselben scheinen mögen, dennoch von ihm beherrscht und durchdrungen
sind. Durch diese Anerkennung eines allgemeinen Zieles w ird keineswegs das Recht in ein
weiteres Gebiet aufgelöst und seines selbstständigen Daseyns beraubt: es erscheint vielm ehr
als ein ganz eigenthümliches Element in der Reihe der Bedingungen jener allgemeinen A u f­
gabe, in seinem Gebiet herrscht es unumschränkt, und es erhält nur seine höhere Wahrheit
durch jene Verknüpfung mit dem G anzen.“33
D ie auch heute noch überzeugende A uffassung Savignys, dass die europäische
R echtsentw icklung auf einer christlichen „Lebensansicht“ beruhe, ist zu ergänzen
durch die F eststellung, dass vielfach auch w eltliche R echtsvorstellungen das Recht
der christlichen K irche beeinflusst haben. D ie bisherigen A usführungen haben ge­
zeigt, dass sich in der Rechtsgeschichte des A bendlandes w eltliche und religiöse
M om ente stets begegnet sind. In einem letzten A bschnitt sollen die A u sw irk u n ­
gen dieser K ontakte an einigen konkreten B eispielen erläu tert werden.
1. Das Verhältnis der beiden Gew alten im O kzident
1.1. Das R eichskirchensystem
Was das Verhältnis von w eltlich er Flerrschaft zur K irche angeht, so dom inierte im
A bendland die A uffassung von getrennten Z uständigkeitsbereichen, w ie sie etw a
im sym bolischen Vergleich von Sonne und M ond oder in dem B ild von den beiden
Schw ertern zum A usd ruck kom m t.34 Dass es auch Perioden gab, in denen die eine
G ew alt m einte, die O berhoheit über die andere ausüben zu können, ändert nichts
33 Friedrich C arl von Savigny: System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1. Berlin 1840,
S. 53 f.; vgl. hierzu Joachim Rückert: Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich C arl
von Savigny (= Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 58).
Ebelsbach 1984, S. 366; D ieter N örr: Savignys philosophische Lehrjahre. Ein Versuch (= Ius
commune, Sonderhefte, Bd. 66). Frankfurt am Main 1994, S. 269 f., S. 306 ff., S. 346 ff.
34 O thm ar Hageneder: Das Sonne-M ond-G leichnis bei Innozenz III. In: M itteilungen des
Instituts für Ö sterreichische Geschichtsforschung 65 (1957), S. 3 4 0 -3 6 8 ; Wolfgang Weber:
Das Sonne-M ond-G leichnis in der mittelalterlichen Auseinandersetzung zwischen Sacerdotium und Regnum. In: H ans-Jürgen Becker u.a. (Hg.): Rechtsgeschichte als K ulturge­
schichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 14 7 -17 5 ; H art­
m ut H offmann: Die beiden Schw erter im hohen M ittelalter. In: Deutsches A rch iv für E rfor­
schung des M ittelalters 20 (1965), S. 78—114; Paul M ikat: A rt. Zweischw erterlehre. In: H and­
w örterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 5 (1998), Sp. 1 8 4 8 -1 8 5 9 ; W erner Goez: A rt.
Zwei-Schw'erter-Lehre. In: Lexikon des Mittelalters 9 (1998), Sp. 725 f.
R ec h ts d en k en d er o k z id e n ta le n C h r is ten h e it
273
an tier grundsätzlichen A ussage. Eine besondere A usp rägun g des Verhältnisses
von w eltlich er H errschaft und religiösem B ereich bildete sich im Röm ischen
Reich deutscher N ation durch das sogenannte R eichskirchensystem aus. Seit ottonischer Zeit w erden regelm äßig Bischöfe vom König m it Reichslehen ausgestattet.
Diese Fürstbischöfe regieren dann in doppelter Weise: Zum einen sind und b lei­
ben sie geistliche L eiter ihrer D iözesen, was durch ihren K rum m stab zum A us­
druck kom m t. Zugleich aber sind sie Fürsten mit w eltlich er H errscherm acht in
ihren H ochstiften, w as m it dem Schw ert in ihrem W appen dem onstriert w ird. Das
N ebeneinander von geistlicher und w eltlich er M acht zeigt sich sowohl im jew ei­
ligen T erritorium als auch im G esam tgefüge des Reiches, wo die Vertreter der
R eichskirche neben den w eltlichen Kurfürsten und Fürsten eine bedeutende R olle
- zum B eispiel auf den R eichstagen - spielen.35 D ieses enge Verhältnis der beiden
G ewalten gehörte zu den tragenden Prinzipien des A lten R eiches. M it der Säkula­
risation von 1803 w urde dieser Zusam m enhalt gelöst, so dass es nur folgerichtig
erscheint, w enn drei Jah re später das gesam te R eich sein Ende fand.
1.2. Säkularisationsprozesse vom H ochm ittelalter bis in die N euzeit
A llerdings haben schon sehr viel früher Säkularisationsprozesse eingesetzt. Dies
soll an zw ei B eispielen aufgezeigt w erden.
1.2.1. A cht und Bann
Das oben angesprochene gelasianische Prinzip der beiden G ew alten sah eine p rin ­
zipielle Trennung vor, doch sollten sich beide G ew alten unterstützen, falls die eine
die H ilfe der anderen G ew alt benötigte. D er G rundsatz, dass insbesondere der
A rm der w eltlich en G ew alt die Kirche zu unterstützen habe, hatte zur Folge, dass
ein A usschluss aus der geistlichen G em einschaft auch den A usschluss aus der
w eltlichen zur Folge haben sollte, dass also die w eltlich e A cht dem kirchlichen
Bann zu folgen habe.36 D iese Folge von A cht und Bann w urde zu B eginn der
N euzeit in § 22 der W ahlkapitulation K aiser Karls V. vom 3. Ju li 1520 in Frage ge­
stellt: D ie R eichsstände bestanden näm lich darauf, dass die R eichsacht nur ver­
hängt w erden dürfe, w enn zuvor eine A nhörung des A ngeklagten erfolgt sei.
D em zufolge w urde in der causa Lutheri ein kaiserliches M andat, den exkom m u­
nizierten R eform ator unverhört m it der A cht zu verfolgen, von den Ständen ab­
gelehnt. Stattdessen bestanden sie in einem R eichstagsbeschluss vom 19. Februar
3;> Zur Reichskirche R u dolf Schieffer: A rt. Reichskirche. In: Lexikon des Mittelalters 7
(1995), Sp. 6 2 6 -6 2 8 ; M anfred Weitlauff: Die Reichskirche in der frühen Neuzeit. R udolf
Reinhardts Beitrag zu ihrer Erforschung. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 109 (1998),
S. 1-1 8 ; K arl Hausberger: Reichskirche, Staatskirche, „Papstkirche“: der Weg der deutschen
Kirche im 19. Jahrhundert. Regensburg 2008.
36 Eduard Eichmann: A cht und Bann im Reichsrecht des M ittelalters. Paderborn 1909; H er­
mann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: N euzeit bis 1806. K arlsruhe 21966, S. 6,
S. 8 f.; W ilhelm Borth: D ie Luthersache (causa Lutheri), 15 1 7 -1 5 2 4 . Die Anfänge der R efor­
mation als Frage von Politik und Recht (= H istorische Studien, Bd. 414). Lübeck 1970,
S. 125.
274
H a n s-Jü rg en Becker
1521 darauf, dass M artin L uther vor den R eichstag geladen und dort gehört w er­
den solle. In der Person von M artin Luther w ird der jahrhundertealte G rundsatz,
dass die A cht autom atisch dem Bann zu folgen habe, aufgegeben und stattdessen
der G rundsatz des rechtlichen Gehörs im w eltlichen B ereich praktiziert.
1.2.2. Das R eichsreligionsrecht des W estfälischen Friedensvertrages
Ein w eiteres B eispiel für die Tendenz zu einer schärferen Trennung der beiden
G ewalten lässt sich dem R eligionsrecht des W estfälischen Friedensvertrages von
1648 entnehm en. Die dem Vertrag zugrunde liegenden Prinzipien von A m nestie
und R estitution, die K onfliktlösung durch Festsetzung eines N orm aljahres und
dam it verbunden erste, noch schw ache A nsätze zur T oleranz, der G rundsatz der
Parität der drei anerkannten R eligionsparteien (K atholiken, Lutheraner und C alvinisten) führten zu einer w eiteren Säkularisieru ng der R eichsverfassung. Dies
w urde dadurch b ew irkt, class „die religiös geprägten Verfassungsbegriffe [ ...] ih ­
res geistlichen B ezugssystem s beraubt, [ ...] veräußerlicht und fo rm alisiert“ w u r­
den.37
2. Kirchliches und Weltliches im rechtlichen Verfahren
Die gegenseitige D urchdringung von R eligiösem und W eltlichem lässt für das Ge­
biet des Rechts die Frage aufkom m en, w ie stark die Einflussnahm e jew eils gew e­
sen ist. H ier lässt sich ganz allgem ein sagen, dass die w eltlich e Rechtsordnung
häufig einer zurückliegenden K ulturstufe verpflichtet w ar und nicht selten durch
religiöse Im pulse M odernisierungsschübe erfahren hat. A uch dafür sollen B ei­
spiele angeführt w erden.
2.1. E instim m igkeit und M ehrheitsprinzip
Im w eltlichen B ereich ging man bei W ahlen grundsätzlich vom E instim m igkeits­
prinzip aus. Das Verfahren m usste daher durch V erhandlungen und A breden so
lange geführt w erden, bis sich endlich eine einstim m ige E ntscheidung treffen ließ.
Bei kirchlichen W ahlen w ar es zunächst nicht anders, doch konnte sich schon
früh, näm lich im Laufe des 13. Jahrhunderts, das M ehrheitsprinzip durchsetzen.38
Versuchte man zunächst, die M ehrheit nicht durch Zählen, sondern durch Ge­
w ich tung der Stim m en zu erm itteln, so setzte sich schließlich das reine M ehrheits­
prinzip durch, w obei häufig qualifizierte M ehrheiten gefordert w urden. Voraus­
setzung dafür w ar, dass ein geschlossener W ahlkörper (z.B . K ardinalskolleg,
Stiftskapitel, D om kapitel) vorhanden war, bei dem das A uszählen der Stim m en
37 Link: Rechtsgeschichte (wie Anm . 18), S. 9 5 -9 8 , insbes. S. 98.
-1S H ans-Jiirgen Becker: A rt. M ehrheitsprinzip. In: H andw örterbuch zur deutschen Rechts­
geschichte 3 (1984), Sp. 4 3 1-4 3 8 ; Hans Hattenhauer: Zur Geschichte von Konsens- und
M ehrheitsprinzip. In: ders. (Hg.): M ehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung. H eidelberg
1984, S. 1-2 2; Jean Gaudem et: II diritto canonico nella storia della cultura giuridica europea.
In: Rinaldo B ertolino (Hg.): Scienza giuridica e diritto canonico. Turin 1991, S. 1-2 9 , insbes.
S. 23 ff.
R ech tsd en ken der o k z id e n ta le n C h r is te n h e it
275
einen Sinn gab. Im w eltlichen B ereich dauerte es viel länger, bis der „M ythos der
E inm ütigkeit“ durch das rationale M ehrheitsprinzip abgelöst w urde. Für die
deutsche K önigsw ahl hat sich dieses Prinzip erst m it der G oldenen Bulle Karls IV.
im Tahre 1356 durchsetzen können, w obei man eindeutig dem kirchlichen Vorbild
folgte.39
2.2. G erichtsprozess zw ischen R itual und Vernunft
Die Einflussnahm e des kirchlichen Rechts auf die w eltliche R echtsordnung zeigt
sich besonders auffällig im Bereich des gerichtlichen Verfahrens. W ährend der
w eltliche Prozess noch lange archaischen R itualen verhaftet bleibt, die für sich ge­
nommen ohne Z w eifel auch eine gew isse R atio n alität aufw eisen, hatte sich im
kirchlichen B ereich schon früh ein Verfahrens- und B ew eisrecht durchgesetzt, das
überprüfbare K riterien zum Inhalt hatte. D abei sind die W irkungen nicht im m er
gradlinig, w ie etw a die G eschichte des G ottesurteils zeigt: Dass lange Zeit das O rdal, etw a die Feuer- oder die W asserprobe oder der gerichtliche Z w eikam pf, im
w eltlichen B ereich ein anerkanntes B ew eism ittel war, geht sicher zunächst auf re­
ligiösen Einfluss zu rü ck .40 Es w ar aber andererseits auch die K irche, die im Zuge
der D urchdringung der R echtsordnung m it einer neuen A rt von R ationalität auf
dem 4. L ateran ko n zil von 1215 alle G ottesurteile für K leriker verboten hat und
sich lange bem ühen m usste, dass auch im w eltlichen B ereich das O rdal nicht mehr
verw endet w urde.41
2.2.1. K lageform alitäten und B ew eisrecht
N ikolaus von Kues beschrieb 1433 den M issstand im B ereich von Rhein und M o­
sel in seinem W erk „De concordantia catholica“, in dem er grundlegende R efor­
men des w eltlich en Rechts einfordert, m it den W orten: „Vor allem soll man die
F allstricke der Prozeßform eln [captiosae fo rm a e j beseitigen, denn oft w erden die
einfältigen A rm en durch die W inkelzüge der A nw älte zu einem Form fehler ge­
bracht und verlieren dann den ganzen Prozeß. D enn w er gegen den Buchstaben
fehlt, hat sein R echt verfehlt
Ä hnlich verhielt es sich im B ew eisrecht, denn
die E idhelfer hatten in alter Zeit vor allem die Fun ktio n , den guten Leum und der
Partei zu bestätigen. D azu noch einm al N iko laus von Kues: „Auch soll man den
üblichen Brauch aufheben, daß man m it dem Eid gegen die Zeugen, ganz gleich,
w ie sie sind und w ieviel es sind, aufzukom m en verm ag. Solche üblen Bräuche
[pessimae observantiae] gibt es so viel in D eutschland, daß man sie gar nicht alle
39 H ans-Jürgen Becker: D er Einfluß des ius commune auf das deutsche K önigswahlrecht. In:
Ladislav Soukup (Hg.): Pocta Prof. JU D r. K arlu Malemu, D rSc., k 65.narozeninäm [Fest­
schrift fü r Karel M aly zum 65. Geburtstag]. Prag 1995, S. 59 -67.
',0 Hans-Jürgen Becker: A rt. Gottesurteil. In: Lexikon des M ittelalters 4 (1989), Sp. 1 5 9 4 f.;
R obert Barlett: Trial by fire and water. The medieval judicial ordeal. O xford 1999; Peter
Dienzelbacher: Das frem de Mittelalter. G ottesurteil und Tierprozess. Essen 2006, S. 2 7 ff.
41 Giuseppe Alberigo u.a. (Flg.): C onciliorum O ecum enicorum Decreta. Bologna 31973,
Viertes Laterankonzil, K onst. 18, S. 244 = Liber Extra 3.50. 9.
276
H a n s-J ü r g e n B e cke r
aufzählen kann [. ..] .“42 Erst die R ezeption des gelehrten Rechts hat sowohl das
gerichtliche V erfahren als auch das B ew eisrecht nach dem Vorbild des kanoni­
schen Prozesses, das heißt nach K riterien der neuen R atio n alität, reform iert. In
diesen Z usam m enhang gehört auch die E inführung des Inquisitionsprozesses, der
- nach heute überw iegend vertretener M einung - durch das kanonische Recht des
12. und 13. Jah rh un d erts vorgebildet w ar und dann m it dem Ziel, im Prozess mit
H ilfe von anerkannten Bew eisen die W ahrheit zu erforschen, auch im w eltlichen
Bereich E inzug h ielt.43
2.2.2. Rechtliches G ehör und R ückw irkun gsverb o t
Viele R echtsregeln (regulae iuris) hat das kanonische R echt vom w eltlichen, d.h.
vom röm ischen R echt übernom m en. G rößer ist jedoch der A n teil von R echtsm a­
xim en, die vom kanonischen Recht en tw ickelt w orden sind und die heute zum
Standard eines jeden R echtsstaates zählen. B eispielhaft sollen hier nur zw ei M axi­
men kurz vorgestellt w erden. Dass jederm ann A nspruch auf einen fairen Prozess
hat, dass ihm insbesondere das Recht zusteht, im Verfahren angehört zu w erden,
ist eine alte M axim e des kanonischen R echts.44 Im Investiturstreit w aren viele B i­
schöfe, die den A nforderungen der R eform bew egung nicht gerecht w urden, ku r­
zerhand ihres A m tes enthoben w orden. In den daraus folgenden K onflikten
w urde die Forderung nach einem geordneten Prozessverfahren erhoben, das dem
A ngeklagten die M ö glich keit des rechtlichen Gehörs bieten müsse. Zitate aus die­
sen Q uellen des Investiturstreites w urden in die kirchenrechtlichen Sam m lungen
des 11. und 12. Jah rh un d erts, besonders aber in das D ecretum G ratiani aufgenom ­
men. D ie ordines iudiciarii haben diese R egel aufgeführt und für die R echtspraxis
referiert. Seit dieser Zeit gilt das rechtliche G ehör als ein überpositives Recht.
Ä hnlich verhält es sich m it dem Verbot der R ü ck w irk u n g von G esetzen.45 A us­
gehend von einem Z itat aus einem B rief G regors des G roßen hat die Kanones42 Nikolaus von Kues: De concordantia catholica. Lib. I ll, cap. X X X V . In: G erhard Kallen
(Hg.): O pera omnia. Teil 14. H amburg 1959, S. 446; deutsche Übersetzung: Paul Joachimsen
(Hg.): D er deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den
G roßen. Darm stadt 1967, S. 10.
43 W infried Trusen: D er Inquisitionsprozess. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fü r Rechts­
geschichte (Kanonistische Abteilung) 74 (1988), S. 16 8-23 0; ders.: A rt. Inquisitionsprozess.
In: Lexikon des M ittelalters 5 (1991), Sp. 441 f.; Karin N ehlsen-von Stryk: Die Krise des „ir­
rationalen“ Beweises im H och- und Spätmittelalter. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte (Germ anistische Abteilung) 117 (2000), S. 1-3 8 .
44 Hans-Jürgen Becker: Das rechtliche Gehör. D er Beitrag des kanonischen Rechts zur Ent­
stehung einer grundlegenden Maxime des modernen Prozeßrechts. In: Zur Erhaltung guter
O rdnung. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert
zum 65. Geburtstag. K öln, Weimar, W ien 2000, S. 6 7 -8 3 ; Andreas Wacke: A rt. A udiatur et
altera pars. In: H andw örterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1 (22008), Sp. 3 2 7 -3 3 1.
45 Peter Landau: L’evoluzione della nozione di „legge“ nel diritto canonico classico. In: „Lex
et Iustitia“ nell’utrum que ius: radici antiche e prospettive attuali (= U trum que Ius, Bd. 20).
C ittä del Vaticano 1989, S. 2 6 3 -2 8 0 ; ders.: D er Einfluß des kanonischen Rechts auf die euro­
päische Rechtskultur. In: Reiner Schulze (Hg.): Europäische Rechts- und Verfassungsge­
schichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (= Schriften zur Europäischen Rechts-
R ec h ts d en k en der o k z id e n ta le n C h r is ten h e it
in
Sam m lung des B ernhard von Pavia (ca. 1175 ) die R egel aufgestellt, dass G esetze
für die Z ukunft gelten und in Bezug auf die V ergangenheit nicht zum N achteil ge­
reichen dürfen. D urch die A ufnahm e der R egel in den Liber Extra von 1234
w urde der G rundsatz G em eingut des gelehrten R echts.46
3. Kirchliches und Weltliches im Zivilrecht
B em erkensw ert ist, dass das religiös geform te kanonische R echt auch viele
G rundsätze des w eltlichen Z ivilrechts geprägt hat. Dies gilt zum einen für R egeln,
die einen m oralischen Standard festlegen sollen, etw a die V orstellungen von den
„guten Sitten “ oder von „Treu und G lauben“.47 Es liegt nahe, dass hier religiöse
V orstellungen einen starken Einfluss auf das w eltliche R echt ausgeübt haben. Dies
gilt auch in den B ereichen, in denen die H ärte des G esetzes zu unbilligen Ergeb­
nissen führen w ürd e und durch G esichtspunkte der B illigk eit ko rrigiert werden
müssen. H ier hat die aequitas canonico. viele A nregungen gegeben.48 A ber auch in
dogm atischen R echtsfiguren w ird häufig die V orbildfunktion des kanonischen
Rechts sichtbar. A uch hier können nur w enige B eispiele genannt werden.
3.1. Das Recht der Stiftung
Bereits in der Spätantike hatte die G esetzgebung der christlichen K aiser einem
opus pium, das eine causa pia verfolgte, die F äh igkeit verliehen, als selbständiger
R echtsträger eines Verm ögens zu fungieren.49 D ie w o h ltätigen E inrichtungen der
opera pia sind V erm ögenschaften, besonders H äuser w ie Klöster, Pilger- oder A rund Verfassungsgeschichte, Bd. 3). Berlin 19 91, S. 3 9 -5 7 , insbes. S. 45 f.; ders.: Die Bedeu­
tung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien. In: H ein­
rich Scholler (Hg.): Die Bedeutung des kanonischen Rechts fü r die Entwicklung einheitlicher
Rechtsprinzipien (= A rbeiten zur Rechtsvergleichung, Bd. 177). Baden-Baden 1996, S. 2 3 47, insbes. S. 33.
46 C om pilatio prima 1. 1.2 = Liber Extra 1 .2 .2 .
47 Zur Bedeutung der „fides“ im kanonischen Recht vgl. K nu t W olfgang N örr: II contributo
del diritto canonico al diritto privato europeo: Riflessioni dal punto di vista della identificazione del concetto di diritto. In: Rinaldo Bertolino u.a. (Hg.): D iritto canonico e comparazione. Turin 1992, S. 13 -3 3 , insbes. S. 23 ff.
48 Alexander H ollerbach: A rt. Billigkeit. In: Staatslexikon 1 (71995), Sp. 8 0 9 -8 13 ; H ans-Jürgen Becker: A rt. Aequitas. In: Lexikon des M ittelalters 1 (1980), Sp. 185 f.
49 Max Kaser: Das röm ische Privatrecht, Bd. 2: Die nachklassischen Entwicklungen. M ün­
chen 1959, S. 1 0 6 f.; Hans R udolf Hagemann: Die Stellung der Piae Causae nach justiniani­
schem Recht. Basel 1953; ders.: Die rechtliche Stellung der christlichen W ohltätigkeitsanstal­
ten in der östlichen Reichshälfte. In: Revue internationale des droits de l’antiquite 3 (1956),
S. 2 6 5-28 3; F. Fabbrini: La personalitä giuridica degli enti di assistenza (detti „piae causae“)
in diritto rom ano. In: Tarcisio Bertone/O norato Bucci (Hg.): La persona giuridica collegiale
in diritto rom ano e canonico - Aequitas Romana ed Aequitas Canonica. A tti del C olloquio
(Roma 2 4 -2 6 aprile 1980) e del IV C olloquio (Roma 1 3 -1 4 maggio 1981) „D iritto rom ano d iritto canonico“ (= U trum que Ius, Bd. i l). C ittä del Vaticano 1990, S. 5 7 -1 2 1 ; Harald
Siems: Von den piae causae zu den Xenodochien. In: Richard Helm holz/Reinhard Zim m er­
mann (Hg.): Itinera fiduciae. Trust and Treuhand in H istorical Perspective. Berlin 1999,
S. 57 -83.
278
H a n s -J ü r g e n Be cke r
m enhäuser (venerabiles domus) oder Kirchen. Das M ittelalter hatte für diese Ein­
richtungen noch keine juristisch scharfe B egrifflichkeit en tw ickelt und sprach oft
undifferenziert von einer Universitas. D er Term inus universitas diente als untech­
nischer O berbegriff, der sow ohl für Personengem einschaften, etw a eine Stadtge­
m einde oder eine U niversität, w ie auch für Sachgesam theiten, etw a ein H ospital
oder eine B rücke, verw endet w erden konnte.50 So entw ickelte das kanonische
Recht auf der G rundlage des antiken K aiserrechts eine Lehre von der Stiftung, die
das europäische R echt bis heute geprägt hat.
3.2. Stellvertretung
G anz deutlich ist das kanonistische Vorbild auch im Bereich der direkten Stellver­
tretung, die bekanntlich dem röm ischen Recht w eitgehend frem d war. Im Liber
Sextus von 1298 finden sich zw ei M axim en, die die Stellvertretung ganz eindeutig
zulassen.51 Das w eltlich e Recht dagegen richtete sich nach dem röm ischen Prinzip
„alteri stipulari nemo potest“ . W eltliche und religiöse V orstellungen standen hier
lange Zeit unversöhnlich nebeneinander, bis schließlich auch die w eltliche G esetz­
gebung im 18. und 19. Jah rh un dert nach und nach die Stellvertretung zuließ.
3.3. B esitzschutz
N eben einem ausgeprägten Schutz des Eigentum s kannte das kanonische Recht
schon früh auch den Schutz des Besitzes. A usgangspunkt w ar der can. Redintegranda im D ekret G ratians, der abgesetzten und strafrechtlich verfolgten B ischö­
fen einen p rivilegierten B esitzschutz im H in b lick auf ihren G rundbesitz ge­
w äh rte.52 A u f der G rundlage dieser und anderer R echtsquellen entw ickelte sich
die actio spolii m it dem Inhalt, dass der in seinem B esitz gestörte spoliatus gegen
jeden bösgläubigen Inhaber einen LIerausgabeanspruch geltend m achen konnte.
D er K lageanspruch w urd e sodann auf bew egliche Sachen ausgedehnt und konnte
auch gegen beteiligte D ritte durchgesetzt w erden. Erst sehr spät hat die w eltliche
R echtsordnung den vom kirchlichen R echt ausgebildeten B esitzschutz übernom ­
m en.53
50 Die Vertreter des ius c o m m u n e erörtern diese Problem atik u.a. in ihren Kom m entaren zu
C odex Iustinianus 1.2.7.
51 A n ton Kradepohl: Stellvertretung und kanonisches Eherecht (= Kanonistische Studien
und Texte, Bd. 17). Bonn 1939, N D Am sterdam 1964; U lrich Müller: Die Entwicklung der
direkten Stellvertretung und des Vertrages zugunsten D ritter (= Beiträge zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 3). Stuttgart 1969; A n ton io Padoa-Schioppa: Sul principio della rappresentanza diretta ne! diritto canonico. In: Proceedings o f the Fourth Congress of Medieval
Canon Law. C ittä del Vaticano 1976, S. 10 7 -13 1; Landau: Bedeutung (wie Anm . 45), S. 4 0 f.
52 Decretum Gratiani C.3 q .l c.3 (aus Pseudo-Isidor).
53 Zum Besitzschutz vgl. Francesco Ruffini: L’actio spolii. Studio storico-giuridico (= Studia
iuridica, Bd. 76).Turin 1889, N D Rom 1972; G erhard W esenberg/Gunter Wesener: Neuere
deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung. Wien
3 1976, S. 22, S. 43; U do W olter: Ius canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre
in der neueren Privatrechtsgeschichte (= Forschungen zur N eueren Privatrechtsgeschichte,
R ec h ts d en k en der o k zid e n ta le n C h r is ten h e it
279
4. Toleranz und Religionsfreiheit
Es dürfte deutlich gew orden sein, dass im A bendland das w eltliche Recht sehr
viele A nregungen aus dem B ereich des religiös geprägten kanonischen Rechts er­
halten hat. Es gibt allerdings m ehrere historische Phasen, in denen es der w eltliche
Bereich war, der um gekehrt auf die kirchlichen V orstellungen Einfluss nahm. Von
dem Phänom en des 11. und 12. Jahrhunderts, als die sich form ierende Papstkirche
viele Elem ente aus dem w eltlichen Bereich übernahm und das Papsttum ver­
suchte, den H errschaftsstil der Kaiser nachzuahm en, w ar schon die Rede. Diese
Erscheinung w iederholte sich in ähnlicher Form im 15. Jah rh un dert, als das durch
das lange Schism a und durch die ko n ziliare B ew egung geschwächte Papsttum
seine R estauration dadurch zu erreichen suchte, dass es eine betont m onarchische
H errschaftsform p flegte.54
N och bedeutsam er ist der Einfluss, den seit dem 18. Jah rh un dert das aufge­
klärte N aturrecht auf die K irche ausgeübt hat. D ieser Vorgang hat allerdings
nahezu zw ei Jah rh un derte in A nspruch genom m en. H ier geht es vor allem um
R echtspositionen, die w ir heute im B ereich der G rund- und M enschenrechte an­
siedeln, näm lich um den G rundsatz der Toleranz und dam it verbunden um die
A nerkennung des Rechts der R eligionsfreiheit.55 Im späten 18. Jah rh un dert setzte
sich in den aufgeklärten G esellschaften Europas die Erkenntnis durch, dass die
Freiheit des G laubens und der religiösen Ü berzeugung als M enschenrecht an zu­
sehen sei. D ieses M enschenrecht fand im Laufe des 19. Jahrhunderts Eingang in
viele staatliche V erfassungen. 1948 verkündete die G eneralversam m lung der Ver­
einten N ationen die „A llgem eine E rklärung der M enschenrechte“ und darin in
Art. 18 die „G edanken-, G ew issens- und R eligio nsfreih eit“. Im gleichen Jah r be­
kannte sich der Ö kum enische R at der Kirchen bei seiner G ründerversam m lung
gleichfalls zur R eligionsfreiheit. D abei muss man hinzufügen, dass der W eg der
Kirchen dorthin sehr schleppend und m ühsam war. Im B ereich der katholischen
Kirche w ar es Leo X III., der - bei gleich zeitiger V erurteilung der R eligionsfreiheit
- erstm als 1885 den B egriff „Toleranz“ im positiven Sinn benutzte, um dam it die Bd. 23). K öln 1975, S. 12; Jessica Jacobi: Besitzschutz vor dem Reichskammergericht
(= Rechtshistorische Reihe, Bd. 170). Frankfurt am Main 1998, S. 51 ff.
Zur Entwicklung der päpstlichen M onarchie John A. Watt: The th eory o f papal m onarchy
in the thirteenth century. The contribution o f the canonists. N ew York 1965; W illiam D.
M cCready: The th eory o f papal m onarchy in the fourteenth century. Toronto 1982; A n ton y
J. Black: M onarchy and community. Political Ideas in the later conciliar con troversy 1430—
1450. Cambridge 1987; Paolo Prodi: II sovrano ponteficc. U n corpo e due anime: La monarchia papale nella prima eta moderna. Bologna 1982.
” Zur Geschichte der Toleranzidee und der Religionsfreiheit Josef Listl: Glaubens-, Be­
kenntnis- und Kirchenfreiheit. In: ders./Dietrich Pirson (Flg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1. Berlin 2 1994, S. 4 3 9 ff.; M artin Heckei: R eli­
gionsfreiheit: Eine säkulare Verfassungsgarantie. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4.
Tübingen 1997, S. 6 4 7 ff.; Karel Blei: Freedom o f Religion and Belief: E urope’s Story. Assen
2002; Konrad H ilpert: A rt. Toleranz. In: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (-2001),
Sp. 9 5 -1 0 1 ; ders.: A rt. Religionsfreiheit. In: Lexikon für Theologie und Kirche 8 (3 1999),
Sp. 10 48-1054 .
280
H a n s - Jü r g e n B e cke r
notgedrungene - D uldung m ehrerer Kulte durch den Staat im Interesse eines in ­
nerstaatlichen Friedens zu bezeichnen.56 Es sollte aber noch bis zur E rklärung
D ignitatis hum anae des II. V atikanischen K onzils im Jahre 1965 dauern, bis die
R eligionsfreiheit als G rundrecht auch im Bereich der katholischen Kirche aner­
kannt w orden ist.57
IV. Das Erbe der D urchdringung von religiösen und
w eltlichen R echtskulturen
D ie A usführungen haben aufgezeigt, dass im R echtsdenken der okzidentalen
C hristenheit w eltlich e Elem ente den religiösen B ereich und religiöse Elemente
den w eltlichen B ereich w echselseitig beeinflusst und bereichert haben. D ie Ent­
w icklun g dieser R ezeptionsvorgänge hat viele Jah rh un derte in A nspruch genom ­
men. Vielfach hat der Staat T ätigkeitsbereiche, die zuvo r in den H änden der K ir­
che lagen, übernom m en, etw a im Bereich des G esundheits- und Sozialw esens
oder des B ildun gs- und Erziehungsw esens. U nd doch gibt es ein Proprium des
R eligiösen, das als G egenpart zum W eltlichen unverzichtbar bleibt. H ans M aier
hat einm al gefragt, was m it dem C hristentum aus dieser W elt verschw ände. Seine
A n tw o rt ist bedenkensw ert: „Es verschw ände ein W iderlager, ein Elem ent des
W iderspruchs, eine Kraft der Interaktion. Es verschw ände die Europa und die
m oderne W elt kennzeichnende und prägende D ialek tik von Kirche und w eltlich er
O rdn un g.“58
Die Säkularisierungsprozesse innerhalb der europäischen Staaten sind keines­
wegs im m er friedlich verlaufen, doch w urd e ein Status erreicht, der nicht nur ein
N ebeneinander, sondern ein M iteinander von R eligiösem und W eltlichem m ög­
lich m acht. Im R ahm en der E uropäischen U nion w ird man das im O kziden t ent­
w ickelte V erhältnis von Staat und Kirche w eiter fortführen können, doch haben
sich in einigen M itgliedsstaaten Reste eines Staatskirchentum s erhalten, das Pro­
blem e enthält, die noch nicht zufriedenstellend gelöst sind.59 Schon deshalb ist es
56 Leo XIII.: E nzyklika „Immortale D ei“ vom 1. N ovem ber 1885. In: Acta Apostolicae sedis
18 (1885), S. 1 6 1 -1 8 0 . Auszüge in: Denzinger/Hünermann (Hg.): Enchiridion (wie Anm . 6),
S. 617 ff., Nr. 3 1 6 3 -3 1 7 9 .
57 Declaratio de libertate religiosa „Dignitatis humanae“ vom 7. D ezem ber 1965. In: Das
Zweite Vatikanische K onzil, Bd. 2 (= Lexikon für Theologie und Kirche, Ergänzungsband
13). Freiburg 1967, S. 7 1 2 -7 4 7 ; Ernst-W olfgang Böckenförde: Religionsfreiheit zwischen
Kirche und Staat. D er Wandel lehram tlicher Verlautbarungen zur staatlichen R eligionsfrei­
heit. In: ders. (Hg.): Religionsfreiheit. Die Kirche in der m odernen Welt (= Schriften zu Staat
- Gesellschaft - Kirche, Bd. 3). Freiburg im Breisgau 1990, S. 15 -70. D er aktuelle K onflikt
um die Priesterbruderschaft St. Pius X ., der sich im Frühjahr 2009 zugespitzt hat, dreht sich
nicht zuletzt um die A nerkennung der Religionsfreiheit.
58 Hans Maier: W elt ohne Christentum - was wäre anders? Freiburg im Breisgau 22000,
S. 165.
59 G erhard Robbers (Hg.): Staat und Kirche in der Europäischen U nion. Baden-Baden
72005; B urkhard Käm per/H ans-W erner Thönnes (Hg.): Die Trennung von Staat und Kirche.
R ec h ts d en k en der o k z id e n ta le n C h r is ten h e it
28 1
in unseren Tagen klug und realistisch, parallele Prozesse einer Säkularisierung des
Staates in nichteuropäischen K ulturen, die erst sehr viel später zu einem ausgegli­
chenen M itein an der von R eligion und Staat gefunden haben, aufm erksam , aber
m it der angem essenen G eduld zu verfolgen.
A bstract
This paper dem onstrates how secular structures and religious th inkin g became en­
tangled in the legal system s of W estern European countries. This is done in con­
sideration of the influence Judaism and Islam have taken on the O cciden t’s legal
order. The paper stresses the dialectical process of the m utual influence of state
and church, from late an tiq u ity to the m iddle ages and m odern times, and until
m odernity. If state and church w ere d eep ly interw oven in the early ages - despite a
general separation of the tw o pow ers - different historical phases have witnessed a
continuing secularisation in the dom ain of the churches as w ell as an assum ption
of ecclesiastic duties b y the secular state. It is characteristic of W estern Europe that
the id eo lo gically and relig io u sly neutral state grants the churches a right to p artici­
pate in social and cultural tasks - in com pliance w ith the principle of separation.
Modelle und W irklichkeit in Europa (= Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche,
Bd. 40). M ünster 2007; Bernhard Vogel: Europäische U nion und religiöser Pluralismus. In:
Die Politische Meinung 461 (2008), S. 5 -1 2 .
Sektion 6
Austausch und Konflikte I M ittelalter und Frühe N euzeit
Sektionsleiter: Professor Dr. Dr. h.c, H einz Schilling (H um boldt-U niversität zu Berlin)
R e fe ren ten :
Professor Dr. Thomas Kaufm ann (G eorg-A ugust-U niversität Göttingen)
Professor Dr. Yosef Kaplan (The H ebrew U n iversity o f Jerusalem)
Ju n iorp rof. Dr. Matthias Pohlig (Westfälische W ilhelm s-U niversität Münster)
Einführung
W ie bei vielen Problem zusam m enhängen im gegenw ärtigen Europa, so ergaben
sich auch im V erhältnis von Juden, C hristen und M uslim en entscheidende, bis
heute w irksam e Prägungen in A lteuropa, also in den Jahrhunderten des M ittel­
alters und der frühen N euzeit. Das w ar der G eschichtsw issenschaft ebenso wie
der gebildeten öffentlichen M einung stets bew usst. V ariiert haben allerdings die
daraus abgeleiteten U rteile und die darauf aufbauenden H andlungsanleitungen
für die jew eilige G egenw art und Z ukunft. So w ar nach dem Zw eiten W eltkrieg,
um nur das letzte halbe Jah rh un d ert ins A uge zu fassen, in einer spezifischen, hier
nicht näher zu betrachtenden w eit- und europapolitischen K onstellation die Rede
vom „christlichen A b en d lan d “ (Friedrich H eer) richtungw eisend, vor allem in der
B undesrepublik D eutschland. H eute spricht man gern vom „W esten“ oder in B e­
zug auf D eutschland von einem „langen Weg nach W esten“ (H einrich A ugust
W inkler) - in gew isser W eise die säkularisierte V ariante des erstgenannten P ara­
digm as, w obei, w ie generell bei dem engstens m it der G eschichte des C h risten ­
tums verbundenen Prozess der europäischen Säkularisierung, auch hier nicht ganz
eindeutig zu entscheiden ist, w ieviel und w as genau „der W esten“ dem C h risten ­
tum zu verdanken hat und w as bzw. was nicht er von den der christlichen K ultur
w idersprechenden Elem enten der nichtchristlichen R eligionen aufnehm en und
integrieren kann. U nabhängig von der w iederum für D eutschland spezifischen
D iskussion um „den W esten“ hat sich die O ptik der G eschichtsw issenschaft
längst von der exklusiven E instellung auf die Traditionen „des christlichen
A bendlandes“ gelöst und richtet sich zunehm end auf den A nteil religiöser M in ­
derheiten, voran der Juden, aber auch der M uslim e an der G eschichte Europas
und dem daraus hervorgegangenen Z ivilisationstypus. U nd w iederum sind es eher
284
H e in z S ch illin g
die Jahrhunderte A lteuropas, in gew isser H insicht auch die A n tike und die K ultu­
ren des Vorderen O rients, als das 19. und 20. Jah rh un dert, denen vorrangig die
A ufm erksam keit gelten m uss, w ill man sich nicht auf ku rzfristige und daher eher
oberflächliche, das U rteil leicht verzerrende Prägungen beschränken. G leichzeitig
m it der sachlichen haben auch die in den letzten Jah ren im m er rascher vorange­
triebenen m ethodischen und theoretischen P erspektivenerw eiterungen der Ge­
schichtsw issenschaft dazu beigetragen, dass die G eschichte A lteuropas (des M it­
telalters und der frühen N euzeit) heute differenzierter und p o lyvalenter zu zeich­
nen ist als vor einem halben Jahrhundert.
D ie Sektion „A ustausch und K onflikte I - M ittelalter/Friihe N eu zeit“ ist so
konzipiert, dass diese D ifferenziertheit des religiösen und kulturellen Profils A lt­
europas klar zutage tritt, ohne dam it aber einen den dam aligen R ealitäten kaum
entsprechenden Extrem revisionism us vorzunehm en, der eine nahezu gleiche P rä­
gung des frühen E uropa durch Juden, C hristen und M uslim e p o stuliert.1 Stattdessen folgt das Program m unserer Sektion der L inie einer m oderaten, w ie ich meine,
sachgerechteren M o d ifikation , die die prägende K raft des C hristentum s nicht
leugnet, sondern voraussetzt, den Fokus aber nicht auf das D om inante einstellt,
sondern auf B egegnung im K onflikt w ie im A ustausch, auf gegenseitige W ahrneh­
m ungen, auf K onvivialität und O sm ose, vor allem auch auf Parallelentw icklungen
zw ischen den R eligionen und ihren K ulturen. D abei lassen sich natürlich nur
A usschnitte beleuchten. Doch sind es zw eifellos drei H aup tlin ien der B egegnun­
gen zw ischen den R eligionen, die die drei B eiträge verfolgen: Thomas Kaufm ann
zeigt, w ie die Selbst- und N eudefinition des spätm ittelalterlichen und reform atorischen C hristentum s aufs engste m it dem T ürken diskurs verzahnt war. Er hält
dam it in gew isser W eise der G egenw art den historischen Spiegel vor, kann man
sich doch nicht des E indrucks erw ehren, dass die noch vor kurzem undenkbare
R enaissance des Interesses an der R eligio n in den christlichen G esellschaften der
G egenw art vor allem als A n tw o rt auf die H erausforderungen durch den Islam zu
verstehen ist. M it dem im lateinischen Europa siedelnden Z w eig der von der Ibe­
rischen H albinsel vertriebenen Sepharden beschreibt Yosef Kaplan eine frühneu­
zeitliche religiöse M inderheit, die als - so die A ußensicht - judaisierende „N eu1 A m radikalsten fällt die K orrek tu r des Bildes vom „christlichen Abendland“ bei Michael
B orgolte aus. Da er seinen für diese Sektion der M ünchener K onferenz erbetenen Beitrag
„Christen, M uslim e und Juden im europäischen M ittelalter - K onflikte und O sm ose“ k u rz­
fristig zurückgezogen hat, ist für dieses Thema zurückzugreifen auf die ältere Darstellung
Michael Borgolte: Christen, Juden, Muselmanen. D ie Erben der A n tike und der Aufstieg des
Abendlandes 300 bis i 400 n. Chr. (= Siedler Geschichte Europas, Bd. 2). Berlin 2006. Speziell
mit der christlich-islam ischen G renzregion, aber auch mit Fragen des jüdischen Anteils am
W erden des neuzeitlichen Europa befassen sich zwei Publikationen des Programms „C ultu­
ral Exchange“ der European Science Foundation: Eszter Andor/Istvän G. Toth (Hg.): F ron ­
tiers o f Faith. Religious Exchange and the C onstitution o f Religious Identities, 14 00-1750 .
Budapest 2001 und H einz Schilling/Istvan G. Toth (Hg.): Religion and C ultural Exchange in
Europe, 14 0 0 -17 0 0 . Cam bridge 2006. Vgl. auch zur D iskussion zur Rolle des Christentum s
in der europäischen Geschichte: Angelika N euw irth/G iinter Stock (Flg.): Europa im Nahen
O sten - D er N ahe O sten in Europa. Berlin 2010.
E in füh run g
285
christen" in beiden religiösen K ulturen verw urzelt war, dann aber durch die E r­
fahrungen der religiös bedingten V ertreibung und in der „freien“ Begegnung mit
dem zum eist protestantischen C hristentum ihrer Z ufluchtsstätten von A m ster­
dam über H am burg nach London sich m ehrheitlich die R iten und die Theologie
ihrer Vorväter w ieder aneignete und bew usst jüdisch w urde. Indem Yosef Kaplan
diese innerjüdische E ntw icklung m it dem Begriff der K onfessionalisierung ver­
bindet, der in der deutschen H istoriographie für die postreform atorische Form ie­
rung der lateinischen C hristenheit entw ickelt w urde, w eist er zugleich auf osm o­
tische Prozesse und P arallelen tw icklun gen in der frühneuzeitlichen Geschichte
von Juden und C hristen hin, die eine w eitere E rforschung verdienen.2 M atthias
Pohlig schließlich rückt in vergleichender Perspektive zu entsprechenden Ent­
w icklungen in den christlichen Staaten das Verhältnis von R eligion und P o litik im
islam ischen W eltreich der O sm anen ins Blickfeld. Er ruft dam it eine Tatsache in
E rinnerung, die in den gelegentlich heißen D ebatten über das V erhältnis zw ischen
der gegenw ärtigen T ürkei und der Europäischen U nion selten Beachtung findet,
dass näm lich das türkische O sm anenreich von A nfang an Teil des sich herausb il­
denden europäischen M ächtesystem s w ar und dass m it den daraus resultierenden
kriegerischen A useinandersetzungen und diplom atischen Interaktionen auch im ­
m er bereits Elem ente der E uropäisierung gegeben w aren.
H einz Schilling
1 Aufbauend auf die M ünchener Ausführungen w ird der Versuch eines expliziten Vergleichs
unternom m en bei H einz Schilling: Christliche und jüdische M inderheiten im Vergleich. C alvinistische Exulanten und westliche D iaspora der Sephardim im 16. und 17. Jahrhundert. In:
Zeitschrift für H istorische Forschung 36 (2009) 3, S. 40 7-44 7.
Thomas Kaufm ann
Kontinuitäten und Transformationen im
okzidentalen Islambild des 15. und 16. Jahrhunderts
Fragt man nach dem V erhältnis zw ischen dem spätm ittelalterlichen und dem
reform ationszeitlichen T ü rk en d isk u rs,1 so ist zunächst festzustellen, dass sich die
lebhaften K ontinuitäts- und U m bruchdebatten insbesondere in der K irchenge­
schichtsschreibung2 selten der T ürkenfrage angenom m en haben. Dies ist umso
1 Die in diesem Beitrag entwickelten Thesen berühren sich vielfach mit Überlegungen, die
ich unlängst in m onographischer Form dargelegt habe: Thomas Kaufmann: Türckenbiichlein. Zur christlichen W ahrnehm ung „türkischer Religion“ in Spätm ittelalter und R eform a­
tion (= Forschungen zur K irchen- und Dogmengeschichte, Bd. 97). Göttingen 2008. Für
w eiterführende Q uellen- und Literaturangaben sei auf das einschlägige Verzeichnis ebd. ver­
wiesen. Die von m ir verwendeten Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis des Le­
xikons Religion in Geschichte und Gegenwart (R G G ), Tübingen 419 98 -2 0 0 7 ; die Hinweise
auf Flugschriften beziehen sich auf H ans-Joachim K öhler (Flg.): Flugschriften des späten
16. Jahrhunderts. 15 3 1-1 6 0 0 . Leiden 19 90-2 009 [M ikrofiche = M F <nach 1530>]; H ans-Joa­
chim Köhler/H ildegard H ebenstreit-W ilfert/Christoph Weismann (Hg.): Flugschriften des
frühen 16. Jahrhunderts. Zug 19 7 8 -1 9 8 8 [= MF],
2 Vgl. etwa: Berndt Hamm: Von der spätm ittelalterlichen reform atio zur R eform ation: Der
Prozess norm ativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland. In: A rchiv
für Reform ationsgeschichte 84 (1993), S. 7 -8 2 ; ders./Robert J. Bast (Hg.): The Reform ation
of Faith in the C ontext o f Late Medieval Theology and Piety. Essays (= Studies in the H is­
tory o f Christian Thought, Bd. 110). Leiden u.a. 2005; Berndt Hamm: Die Emergenz der
Reform ation. In: ders./Michael Welker: Die Reform ation. Potentiale der Freiheit. Tübingen
2008, S. 1-2 7 ; eine gegenüber dem ,Ereignischarakter' der R eform ation weniger interessierte
Position nimmt ein: V olker Leppin: Die W ittenberger R eform ation und der Prozess der
Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten (= Sitzungsberichte der Sächsi­
schen Akadem ie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 140,
Lieft 4). Stuttgart, Leipzig 2008; vgl. zur Sache auch: Thomas A . B rady (Hg.): D ie deutsche
Reform ation zwischen Spätm ittelalter und Früher Neuzeit (= Schriften des Historischen
Kollegs, K olloquien, Bd. 50). M ünchen 20 01; H einz Schilling: R eform ation - Um bruch oder
Gipfelpunkt einer Temps des Reform es? In: Bernd M oeller (Hg.): Die frühe R eform ation in
Deutschland als Um bruch (= Schriften des Vereins für Reform ationsgeschichte, Bd. 199).
G ütersloh 1998, S. 13—34 (nachgedruckt in: ders.: Ausgewählte Abhandlungen zur europäi­
schen Reform ations- und Konfessionsgeschichte. Flg. von Luise Schorn-Schütte und O laf
M örke (= Historische Forschungen, Bd. 75). Berlin 2002, S. 1 1 -3 1 ); Thomas Kaufmann: Die
Reform ation als Epoche? In: Verkündigung und Forschung 47 (2002), S. 4 9 -6 3 ; Stefan Eh­
renpreis/Ute Lotz-H eum ann: R eform ation und konfessionelles Zeitalter (= K ontroversen
um die Geschichte). D arm stadt 2002, S. 1 7 ff. Dass die im K ontext der deutschen Geschichte
nach wie v o r zentrale Kategorie der Reform ation im H orizont europäischer und globaler
288
T h o m a s K aufm ann
erstaunlicher, als sich an kaum einem Them a Persistenz und D ynam ik, K ontinui­
tät und Innovation, Verbindendes und Trennendes beider Z enturien so deutlich
m achen lässt, w ie an diesem . A uch die sich bis ins erste D rittel des 16. Jah rh u n ­
derts stetig steigernde E rfahrung einer äußeren B edrohung Europas verband das
15. und das 16. Jah rh un d ert in elem entarer W eise.3 E uropa, die verbliebene R est­
heim at der C hristen - „Europa id est p atria“ form ulierte der spätere Papst Pius II.
im unm ittelbaren historischen Zusam m enhang mit dem U ntergang K onstanti­
nopels 14534 verdankt sich in begriffsko n jun ktureller H in sich t vor allem dem
ideenpolitischen A bw ehrkam pf gegen die O sm anen.
Im Lichte ritueller P raktiken ist der Zusam m enhang des 16. m it dem 15. Jah r­
hundert unübersehbar: Das ursprünglich m it der A blass-Praxis verbundene L äu­
ten der T ürkenglocke etw a, 1456 durch Papst C alixt III. eingeführt5 und 1523
Perspektiven der Geschichtswissenschaften in fortschreitendem Maße relativiert und marginalisiert w ird (vgl. etwa: C onstantin Fasolt: Europäische Geschichte, zw eiter A kt: Die R e­
form ation. In: Brady (Hg.): R eform ation, S. 2 3 1-2 5 0 ; siehe auch: Renate Dürr/Gisela Engel/
Johannes Süßmann (Hg.): Eigene und frem de frühe N euzeiten. Genese und Geltung eines
Epochenbegriffs (= H istorische Zeitung, Beih. 35). München 2003), liegt in der W ahl des
,O bjektivs' begründet, nicht aber in einer wie auch immer gearteten ,N atur der Sache“. Meine
Sicht der Dinge habe ich zuletzt dargestellt in meinem Buch: Thomas Kaufm ann: Geschichte
der Reform ation. Berlin 22010.
3 K laus-Peter Matschke: Das K reuz und der H albmond. Die Geschichte der Türkenkriege.
D üsseldorf, Zürich 2004, bes. S. 76 ff.; eine gegenüber einer zu stark auf einer prim är christ­
lichen Prägung des europäischen M ittelalters fixierten Perspektive instruktive, in ihrer Be­
mühung um eine paritätische Behandlung der drei großen m onotheistischen Religionen mich
freilich nicht durchweg überzeugende Darstellung hat unlängst vorgelegt: Michael Borgolte:
C hristen, Juden, Muselmanen. Die Erben der A n tike und der A ufstieg des Abendlandes 3 0 0 1400 n.C hr. München 2006; zum Verhältnis des Osmanischen Reiches zur christlichen Staatenwelt vgl. vor allem: G eraud Poumarede: Pour en finir avec la Croisade. M ythes et reaiites
de la lutte contre les Turcs aux X V Ie et X VIIe siecles. Paris 2004; H einz Schilling: K onfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1 5 5 9 -1 6 6 0 (= Handbuch der
Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 2). Paderborn u. a. 2007, S. 201 ff.; Cemal
Kafedar: The O ttom ans and Europe. In: Thomas A . Brady/H eiko A . Oberman/James M.
Tracy (Hg.): H andbook o f European H istory. Late M iddle Ages, Renaissance and R eform a­
tion, 14 0 0 -16 0 0 , Bd. I. Leiden u.a. 1994, S. 594-636.
4 D ieter M ertens: „Europa id est patria, domus propia, sedes noster . . . “. Zu Funktionen und
Ü berlieferungen lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert. In: Franz Rainer Erkens
(Hg.): Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden M ittelalter (= Zeitschrift für
H istorische Forschung, Beih. 20). Berlin 1997, S. 3 9 -5 8 ; Johannes Helm rath: Pius II. und die
Türken. In: Bodo G uthm üller/W ilhelm Kühlm ann (Hg.): Europa und die Türken in der Re­
naissance (= Frühe N euzeit, Bd. 54). Tübingen 2000, S. 7 9 -13 8 ; Johannes Helm rath: Enea
Silvio Piccolom ini (Pius II.) - ein Humanist als Vater des Europagedankens? In: Rüdiger
Hohls/Iris Schröder/Hannes Siegrist (Hg.): Europa und die Europäer. Festschrift fü r H art­
mut Kaelble. Stuttgart 2005, S. 3 6 1-3 6 9 . Die Reflektionen, die der Papst über die T ürken und
das G ebot der Christenheit, gegen sie zu kämpfen, im K ontext seiner Pii II Com m entarii
reruni m emorabilium quae tem poribus suis contigerunt (Kritische Edition. Hg. von A drian
van Heck. Vatikanstadt 1984) anstellte, sind in deutscher Ü bersetzung jetzt bequem zugäng­
lich in: Enea Silvio Piccolomini: Com m entarii. Ich w ar Pius II. M em oiren eines Renaissance­
papstes. Ausgew ählt und übersetzt von G ünter Stölzl. Augsburg 2008, S. 7 6 ff. (Buch 2; bes.
zum Mantuaner Kongress).
5 Vgl. Ludwig Freiherr von Pastor: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis
K o ntin uitäten u n d T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
289
reichsrechtlich verbindlich gem acht,6 ging auch in protestantische K irchenord­
nungen ein.7 D ie T ürken glo cke blieb also auch im Protestantism us w eithin im
G ebrauch, selbst w enn Jak o b A ndreae in der T übinger Stiftskirche zeterte:
zur Wahl Pius II., Bd. 1. Freiburg im Breisgau u. a. 121955, S. 7 2 1-7 2 3 mit Anm . 1; die K reuzzugsablässe Calixts III. w erden knapp behandelt in: Nikolaus Paulus: Geschichte des A blas­
ses am Ausgang des M ittelalters. Darm stadt 22000, S. 1 6 9 -1 7 1 . Die Form des Geläutes und
der Zeitpunkt knüpften an das vielerorts bereits gebräuchliche A ve-M aria-G eläut an, vgl.
G erhard D ohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. München 1995, S. 191. Die Praxis,
kniend dreimal das Vaterunser und das Ave-M aria zu beten, belegt Senol Ö zyu r: Die T ür­
kenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jah r­
hundert (= M otive, Bd. 4). München 1972, S. 32. A ls zeitgenössische Bezeichnungen sind
Ave-Läuten, Pacem-Läuten, Angelus- und Salveläuten bezeugt. Z ur allgemeinen O rientie­
rung vgl. K urt Kram er: G locken und Geläute in Europa. München 1988; ders.: A rt. Glocke.
In: Lexikon des M ittelalters, Bd. 4. M ünchen 2004, Sp. 14 9 7 -1 5 0 1 , hier: Sp. 1499 f.
6 Vgl. zum Mandat des Reichsregiments von 1523: Deutsche R eichstags-Akten, Jüngere
Reihe, Bd. 3. Göttingen 21963, S. 58, Z. 2 1 -2 3 . Das Mandat sah die mittäglichen „sonder
glock geleut“ vor; es ermahnte die C hristen zum Gebet, das die Abw endung des G o tteszo r­
nes und den militärischen Sieg erreichen sollte. Vgl. zum weiteren K ontext: Klaus Schreiner:
Kriege im Namen Gottes, Jesu und Mariä. Heilige A bw ehrkäm pfe gegen die Türken im spä­
ten M ittelalter und in der Frühen N euzeit. In: ders. (Hg.): Heilige Kriege. Religiöse Begrün­
dungen m ilitärischer G ewaltanwendung: Judentum , Christentum und Islam im Vergleich
(= Schriften des H istorischen Kollegs, K olloquien, Bd. 78). M ünchen 2008, S. 15 1 -1 9 2 .
7 Das seit 1457 eingeführte tägliche Mittagsgeläute galt der Erinnerung an das Gebet zur
H ilfe gegen die T ürken und findet sich in zahlreichen evangelischen K irchenordnungen, vgl.
Paul G raff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Form en in der evangeli­
schen Kirche Deutschlands. G öttingen 21937, N D W altrop 1999, S. 2 2 6 f; Ernst W alter Zeeden: Katholische Ü berlieferungen in den lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhun­
derts. In: ders.: Konfessionsbildung. Studien zur Reform ation, G egenreform ation und ka­
tholischen Reform (= Spätm ittelalter und Frühe N euzeit, Bd. 15). Stuttgart 1985, S. 1 1 3 -1 9 1 ,
hier: S. 159; vgl. exemplarisch: O sterode (H erzogtum Preußen, 1576). In: Emil Sehling (Hg.):
Die Evangelischen Kirchenordnungen des X V I. Jahrhunderts, Bd. IV. Leipzig 19 11 , N D A a ­
len 1970, S. 151; Danzig (1612). In: Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. IV, S. 203. Im Rah­
men einer mecklenburgischen Visitation von 1542 spielte das „Türkengebet eine große
R olle“, vgl. Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. V. Leipzig 1913, S. 132; Albertinisches
Sachsen (1580). In: Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. I. Leipzig 1902, S. 395. Freilich re­
flek tie rt diese ku rsächsische O rdnung D ifferenzen im Umgang mit der B etglocke: „[...] w eil
auch die V erordn ung m it d e r betg locken ungleich gehalten, so man das pacem nennet, weil an
etlichen orten dieselbige als ein papistische anreizung zur abgötterei geachtet und demnach
ein zeitlang u n terlassen w o rd e n , desw egen sich die leut beklaget, und es aber an im selbst an­
ders nichts denn ein erinnerung und anreizung zum rechten, warhaftigen christlichen gebete,
hat [...] der synodus einhellig geschlossen, das hierinnen bei allen kirchen auch gleichheit ge­
halten [...].“ In: Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. I. Leipzig 1902, S. 430. In der O rd ­
nung der Visitatoren fü r die Stadt Meissen von 1540 w urde das pro pace-Läuten folgender­
maßen begründet: „[...] auf das das volk erinnert werde fü r einen gemeinen fried der C h ris­
tenheit zu bitten.“ In: Sehling (Flg.): Kirchenordnungen, Bd. II. Leipzig 1904, S. 52; ähnlich
Q uedlinburg (1540). In: Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. II, S. 263; A nhalt (1532). In:
Sehling (Hg.): K irchenordnungen, Bd. II, S. 540. In G ö rlitz w urde 1593 verkündet, dass man
täglich um 12 U hr Mittags zum Türkengebete läuten und „alles M usizieren und Tanzen ein­
stellen solle. Beim erstmaligen Läuten mit der ,Türkenglocke‘ [...] ist der K löppel gesprun­
gen." In: Sehling (Hg.): K irchenordnungen, Bd. III. Leipzig 1909, S. 375. Von den Gebeten,
die beim Läuten der T ürkenglocke in den Häusern gesprochen werden sollten, ließ der G örlitzer Magistrat einen D ruck anfertigen.
290
T h o m a s K aufm ann
„[...] ich halt da[ss] dise Türckenglock eben so ein grosse K rafft hab / als zum Wette- oder
Todteil Leutten Dann der grösser theil braucht es zu seinem Abgöttischen G ebett [...] / Der
ander theil hat sein G espött / und gehet also fast alle andacht über und mit der G locken auß.
W ir müssen aber liebe Freund / neben dieser Türckenglocken ein andere Sturmglocken
unsers Hertzens / nämlich ein wahrhafftige R ew “8 erklingen lassen.
Das Verhältnis des 15. zum 16. Jah rh un d ert w äre freilich in seiner K om plexität
unterbestim m t, ginge man etw a auf der Linie des A ndreae-Z itates von einer bloß
äußerlichen Kontinuität der K ultpraxis bei innerlicher U m deutung derselben aus.
Keine geringere Instanz lutherischer R ech tgläub igkeit als die W ittenberger T heo­
logische Fakultät trat im späteren 16. Jah rh un dert dafür ein, gegen den „Erb- und
Erzfeind gem einer C h risten h eit“, den T ürken, gem einsam m it den „Papisten“ zu
beten, jedenfalls dann, w enn ein derartiges Gebet seitens der K atholiken nicht
explizit mit A blassgnaden und H eiligenanrufungen verbunden w erde.9 Im M odus
8 Jakob Andreae: D reyzehen Predigen vom Türcken: In wölchem gehandelt w iird t von seins
Regiments Ursprung, Glauben und Religion ... Tübingen, M orhart 1569 [VD 16 S2614; Ex.
MF Bibi. Palat. E 543/544], S. 370. Die A bkürzung V D 16 bezieht sich auf das Verzeichnis
der im deutschen Sprachraum erschienenen D rucke des 16. Jahrhunderts. Zu Andreäs T ür­
kenpredigten vgl. Siegfried Raeder: Die Türkenpredigten des Jakob Andreä. In: Martin
Brecht (Flg.): Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Tübingen 1977, S. 9 6 122; Susan R. Boettcher: Germ an O rientalism in the Age of C onfessional C onsolidation:
Jacob A ndreae’s Thirteen Serm ons on the Turk, 1568. In: C om parative Studies o f South Asia,
A frica and the M iddle East 24 (2004) 2, S. 1 0 1 - 1 1 4 ; zum historischen K ontext vgl. K au f­
mann: Türckenbüchlein (wie Anm . 1), S. 118 f.; zum Gattungszusammenhang: N orbert
Haag: „Erbfeind der C hristenheit“, Türkenpredigten im 16. und 17. Jahrhundert. In: G a­
briele ITaug-M oritz/Ludolf Pelizaeus (Flg.): Repräsentationen der islamischen Welt im Eu­
ropa der Frühen N euzeit. M ünster 2010, S. 12 7 -14 9 , bes. S. 1 3 7 ff.; zu Andreä, einem der
wichtigsten Theologen und Kirchenm änner des lutherischen Protestantismus im späteren
16. Jahrhundert, vgl. nur M artin Brecht: A rt. Andreä, Jakob. In: Theologische R ealenzyklo­
pädie, Bd. 2. Berlin 1978, S. 6 7 2 -6 8 0 ; Siegfried Hermle: A rt. Andreae, Jakob. In: Religion in
Geschichte und Gegenwart, Bd. 1. Tübingen 1998, Sp. 470; A rt. Andreae, Jacob. In: D eut­
sche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Bd. 1. M ünchen 2005,
S. 42.
9 Consilia Theologica Witebergensia / Das ist Wittenbergische Geistliche Rathschläge, Frank­
furt am Main. Johann A . Endter, W olfgang D. J. E. 1664, Teil 2, Tit. VI, Nr. 4 (O b Lutheraner
mit den Papisten in einer K irche w ider den Türcken beten können?, W ittenberg, 2. 1. 1640,
S. 172 f., hier: S, 172). Einerseits stellte die W ittenberger Fakultät fest, dass ein Gebet gegen
die Türken in einem „papistischen“ Gotteshaus nicht problem atisch sei, da auch „einige
Stelle unn O rt der abgöttischen Baals Tempel ein rechtgläubigen C hristen in gewissen nichtes
verderben.“ Ebd. Sollte aber der „Babst / oder ein ander Abgöttischer Bischoff“ ein T ürken­
gebet angeordnet haben „entweder mit solchen fürgeben / daß damit A blaß der Sünde für
G o tt sollte erlanget werden: O der aber selbiges dermassen form iert / daß [... ] auch die
werthe M utter C hristi / und andere abgelebte Heiligen in selbigen sollten angeruffen werden:
O der aber [...] daß bey und unter den Gotteslästerlichen M eßopffer selbiges sollte verrichtet
werden: A u f solchen Fall ist [sc. auf die dem Gutachten zugrunde liegende Frage] richtig zu
antw orten / daß einiger Evangelischer rechtgläubiger C hrist / mit unversehrten gewissen sol­
chen Abgöttischen und verdam lichen Geb[e]tte / [njim m erm ehr bey w ohnen / oder darbey
sich aufhalten könnte. Ursach dessen ist diese / hie gehet es an die C onfession in Glaubens
A rtickel / hie leuffet der Handel in das Gewissen der C hristen Menschen [...].“ Ebd. Vgl.
zum K ontext der konfessions- und religionskulturellen K ohabitation und ihrer Grenzen:
Thomas Kaufmann: Religions- und konfessionskulturelle K onflikte in der Nachbarschaft.
K o ntin uitäten u n d T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
291
des Gebets gegen den einen großen Feind konnte also eine G em einsam keit mit
den G liedern der röm ischen Kirche unter bestim m ten B edingungen m öglich w er­
den, für die man im konfessionellen Z eitalter nicht leicht A nalogien findet. U nd
auch, dass Luther einen Prophetenspruch des 15. Jah rh un derts, das Logion des
Franziskaners Johannes H ilten: „ Millesimo Sexcentesimo veniet Turcus // Totam
Germ aniam devastaturus“10, an die W and seines Studierzim m ers schrieb, sollte
gegenüber der V orstellung einer bloß äußerlichen K ontinuität zw ischen dem 16.
und dem 15. Jah rh un d ert zu r Z urückhaltung mahnen.
D er innere Zusammenhang des 16. m it dem 15. Jah rh un dert w ird in H inblick
auf die T ürkenfrage besonders auf der Ebene der T radierung, R ezeption und Ver­
breitung einschlägiger Texte und W ertungsm uster sichtbar. Den R eigen der N eu­
drucke vorreform atorischer T ürkenschriften eröffnete Luther, als er unm ittelbar
nach der B elagerung W iens, zu B eginn des Jahres 1530, den Libellus de ritu et moribus turcorum eines „G eorgius de H u n garia“ genannten ehem aligen Siebenbürgeners m it einem V orw ort neu herausgab.11 Er begründete die V eröffentlichung
Einige Beobachtungen zum 16. und 17. Jahrhundert. In: G eorg Pfleiderer/Ekkehard W Ste­
gemann (Hg.): Religion und Respekt. Beiträge zu einem spannungsreichen Verhältnis
(= C hristentum und K ultur, Bd. V). Zürich 2006, S. 13 9 -17 2 , hier: S. 170; zur Gattung der
Lehrgutachten lutherischer theologischer Fakultäten vgl. zuletzt: Thomas Kaufmann: Die
Gutachtertätigkeit der Theologischen Fakultät Rostock nach der R eform ation. In: ders.:
Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der 2. Plälfte des R eform ationsjahr­
hunderts (= Spätm ittelalter und R eform ation, Neue Reihe, Bd. 29). Tübingen 2006, S. 3 2 3 363; zur Theologischen Fakultät W ittenberg im 16. und 17. Jahrhundert vgl. nur: K urt
Aland: Die Theologische Fakultät W ittenberg und ihre Stellung im Gesamtzusammenhang
der Leucorea während des 16. Jahrhunderts. In: Leo Stern (Hg.): 450 Jahre M artin-LutherU niversität H alle-W ittenberg, Bd. t. Flalle 1952, S. 15 5 -2 3 7 (nachgedruckt in: K urt Aland:
Kirchengeschichtliche Entwürfe. A lte Kirche, R eform ation und Luthertum , Pietismus und
Erweckungsbewegung. G ütersloh 1960, S. 283-39 4); Kenneth G. A ppold: O rthodoxie als
Konsensbildung. Das theologische D isputationswesen an der U niversität W ittenberg zw i­
schen 1570 und 1700 (= Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 127). Tübingen 2004;
Irene Dingel/Günther W artenberg (Hg.): Die Theologische Fakultät W ittenberg 15 0 2 -16 0 2
(= Leucorea-Studien zur Geschichte der R eform ation und der lutherischen O rthodoxie,
Bd. 5). Leipzig 2002; im Spiegel program m atischer Texte zur T heologiekonzeption W ittenbergischer Provenienz: Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen (= Spätmittelalter, H u­
manismus, Reform ation, Bd. 28). Tübingen 2006.
10 M artin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe). Bd. 48, R evisions­
nachtrag, W eimar 1972, S. 133 f. (zu S. 284), Nr. 4d; vgl. Johannes Ficker: Eine Inschrift Lu­
thers im Lutherhaus. In: Theologische Studien und K ritiken 107 (1936), S. 6 5 -6 8 ; nach einem
Zeugnis des späten 16. Jahrhunderts fand sich die Inschrift an der Wand „hinter seiner bibell
mit eigner hand geschrieben nicht lang vo r seinem absterben. Und ist eine Tafell dafür ge­
macht, die man weg schieben und seine handschrifft sehen kann.“ Zit. nach Luther: Werke
[Weimarer Ausgabe], Bd. 48, Revisionsnachtrag, S. 133; dass die Türken im Jahre 1600 die
H errn über Deutschland (und, so eine Variante der Textüberlieferung: Italien) sein würden,
ist als Logion des in Eisenach inhaftierten Franziskaners Johann Hilten überliefert, vgl. dazu
meine Hinweise in: Konfession und K ultu r (wie Anm . 9), S. 435 ff. passim (s.v. Hilten); siehe
auch die Belege in: Kaufm ann: Türckenbüchlein (wie Anm . 1), S. 193 f., S. 2 2 3 -2 2 8 , S. 230.
11 Luther: Werke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 30/11. Weimar 1909, S. 2 0 5 -2 0 8 (Edition des V or­
wortes Luthers); ein A bdruck der mit eigenwilligen Interpolationen durchsetzten deutschen
Version der Vorrede in Sebastian Francks Übersetzung findet sich als R eprint in: C arl G öll-
292
T h o m a s K aufm ann
dieses um 1480 erstm als in R om erschienenen Textes12 dam it, dass er über die „re­
ligio“ und die „ mores“ der „m ahom etistae“ gründlicher und unvoreingenom m e­
ner berichte als zw ei andere ihm dam als bekannte Texte: die Confutatio A lcorani
des D om inikaners R icoldo de M ontecrucis aus dem späten 13. oder frühen 14.
und die C ribratio A lcorani des N iko laus von Kues aus dem 15. Jah rh u n d ert.13
In der Tat: G eorgius verm ittelte lebensnahe E inblicke in die Verhältnisse in der
T ürkei bzw. der türkisch besetzten G ebiete. Denn er w ar als Jugen dlich er 1438 in
M ühlbach in türkische G efangenschaft geraten,14 hatte zw ei Jah rzeh n te bei verner (Hg.): C hronica und Beschreibung der Türkei. M it einer Vorrhed D. M artini Lutheri
(= Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens, Bd. 6). K öln, W ien 1983, S. 1—8; zu Francks
Übersetzung vgl. C hristoph Dejung/Sebastian Franck: Sämtliche W erke. Bd. 1: Frühe Schrif­
ten: Kommentar. Stuttgart, Bad Cannstatt 2005, S. 4 0 7 -4 1 2 ; eine .dogmatisch korrekte' lu ­
therische Übersetzung der Vorrede w urde von Justus Jonas seiner Ü bersetzung von Paolo
G iovios Turcicarum rerum com m entarius (vgl. Kaufmann: Türckenbiichlein (wie Anm . 1),
S. 123, Anm . 36) eingefügt: U rsprung des Türkischen Reichs / bis auf den itzingen Solym an /
durch D. Paulum Jovium ... verdeutschet durch Justum Jonam [o.O ., o.D r., o.J.] [VD 16
G 205 (wie Anm . 8); Ex. SUB G öttingen 8° H Turc 715(2)], U 3 r- X 4 v; A nfang Januar 1530
kündigte Luther das Erscheinen der lateinischen Ausgabe an, vgl. M artin Luther: Werke.
Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Bd. 5. W eim ar 1934, S. 215,
Z. 5 ff.; vgl. auch: Johannes Ehmann: Luther, Türken und Islam. Eine U ntersuchung zum
Türken- und Islambild M artin Luthers (1 5 15 -15 4 6 ) (= Q uellen und Forschungen zur R efor­
mationsgeschichte, Bd. 80). G ütersloh 2008, S. 32 4-32 7; zu Luthers Türkenpublizistik auch:
Adam S. Francisco: M artin Luther and Islam. A Study in Sixteenth-C entury Polemics and
Apologetics (= H istory o f C hristian-M uslim Relations, Bd. 8). Leiden, Boston 2007.
12 Zu den historischen und textgeschichtlichen Fragen grundlegend: Georgius de Hungaria:
Tractatus de m oribus, condictionibus et nequicia Turcorum. Traktat über die Sitten, die Le­
bensverhältnisse und die A rglist der Türken. Hg. von Reinhard K lo ck o w (= Schriften zur
Landeskunde Siebenbürgens, Bd. 15). K öln, Weimar, W ien 21994; zu dem durch Luther veranlassten D ruck [W ittenberg, Johannes Lufft, 1530; Ex. SUB G öttingen 8° H Turc 103] vgl.
Georgius: Tractatus, S. 67, Nr. 8.
13 „Hunc libellum [sc. des Georgius von Ungarn] de religione et m oribus Turcorum oblatum
libenter accepi et non sine consilio, ut mihi videor, sano edere constitui. Hactenus enim cum
vehem enter cuperem nosse religionem et mores M ahom etistarum, nihil offerebatur quam
quaedam confutatio A lk oran i et item C ribratio A lkorani N. de Cusa; A lkoranum vero etiam
num frustra cupio legere. Videbatur sane tarn ille C on fu tator quam C rib rato r pio Studio
Christianos simpliciores veile a M ahom eto absterrere et in Fide C hristi retinere. Sed dum nimio student quaeque turpissim a et absurdissima ex A lk oran o excerpere, quae ad odium faciunt et ad invidiam m overe possint vulgum , et bona, quae in eo sunt, vel transeunt non confutata vel occulunt, factum est, ut parum fidei et autoritatis invenerint, quasi vel odio illorum
vel impotentia confutandi sua vulgarint.“ Luther: W erke [W eimarer Ausgabe], Bd. 30/11 (wie
Anm . 11), S. 204, Z. 2 -1 5 ; zu r Schrift des Ricoldus (und Luthers späterer Ausgabe dersel­
ben): Ricoldus de M ontecrucis: C onfutatio A lcorani (1300). M artin Luthers Verlegung des
A lcoran (1542). K om m entierte lateinisch-deutsche Textausgabe. Hg. von Johannes Ehmann
(= C orpus Islam o-Christianum , Series Graeca 6). W ü rzburg 1999; eine hervorragende zw ei­
sprachige Ausgabe der Schrift des Kusaners hat besorgt: N ikolaus von Kues: Sichtung des
Korans. Lateinisch-Deutsch, Bd. 1-3 . Hg. und eingeleitet von Ludw ig Hagemann (= Philo­
sophische Bibliothek, Bd. 420a-c). H amburg 19 8 9 -19 9 3 ; weitere H inweise auf neuere Lite­
ratur zum Islambild des N ikolaus von Kues in: Kaufmann: Türckenbiichlein (wie Anm . 1),
S. 134, Anm . 102.
14 Zu den biographischen Sachverhalten vgl. Georgius: Tractatus (wie Anm . 12), S. 11 ff.
Ko ntin uitäten un d T ran sfo rm a tio n e n im o k z id e n ta le n [sla m b ild
293
schiedenen türkischen H erren als Sklave gelebt, die Landesprache gelernt und
w ohl tiefere E inblicke in die Lebensw elt der T ürken gewonnen als jeder A bend­
länder vor ihm. G eorgius schilderte die Anm ut der G ottesdienste, die eindrucks­
volle D isziplin der in polygam en Ehen lebenden Frauen, die R iten des A lltags, die
gleißende H eiligkeit der praxis pietatis, die Tänze der D erw ische, die großartige
A rch itektur der M oscheen, aber auch das Elend der christlichen Sklaven, die w ie
Vieh gehalten oder als sexuelle L ustobjekte erniedrigt w ü rd en .15 G eorgius w ar
schließlich die Flucht gelungen; in Rom hatte er m it dem E intritt in den D om ini­
kanerorden seinen Seelenfrieden gefunden. Im A ngesicht einer Invasion dev O smanen in Italien, die zw ischen Som m er 1480 und Frühjahr 1481 akut befürchtet
w urde, hatte er seine E rinnerungen niedergeschrieben. Ihm, der zeitw eilig selbst
der Faszination der „türkischen R eligio n “ erlegen und zu ihr übergetreten war,
ging es darum , seinen christlichen G laubensbrüdern E inblicke in die Faszinati­
onskraft der frem den R eh gio n skultur zu verm itteln. A ngesichts der osm anischen
O kkupatio n w o llte er sie vor jenem Fall in die A postasie bew ahren, der ihm selbst
einst w iderfahren w ar.16 Das Faszinierende an der „türkischen R elig io n “ freilich,
so machte G eorgius seinen Lesern im m er w ieder deutlich, stam m e vom Teufel,
dem M eister des schönen Sch ein s.17 A ls expers, als jem and, der aufgrund eigener
experientia b erich tete,18 räum te auch Luther ihm größere G laub w ürdigkeit ein als
den gelehrten K onfutatoren des Korans, die allein aufgrund von fragw ürdigen
schriftlichen Q uellen oder G erüchten u rteilten .19
G eorgius’ Schrift gehört zu den bekanntesten vorreform atorischen T ü rken ­
schriften überhaupt. Bis 1514 w ar sie auch in U rach, Köln und Paris nachgedruckt
15 Vgl. ebd., S. 1 8 0 ff., S. 201 ff., S. 2 3 0 f f , S. 2 8 0 ff.
16 Einen Elinweis auf einen Glaubensabfall gibt der Siebenbiirgener gleich zu Beginn seines
Proömiums: „[...] et in meipso expertus didici [sc. dass die Muslime C hristen in der G efan­
genschaft zum Islam hinüberziehen], qui cum multo mentis gaudio expectabam m ortem pro
fide C hristi subire [sc. bei der Verteidigung Mühlbachs]; et tarnen [...] de igne semivivus extractus et vite redditus per successum tem poris detentus in manibus eorum veneno erroris
eorum quasi mfectus de fide C hristi non modicum dubitavi et, nisi m isericordia dei mihi affuisset et me custodisset, turpiter earn negassem.“ Georgius: Tractatus (wie Anm . 12), S. 146.
Die neu gewonnene Freiheit, die er erlangte, als er mit Hilfe eines im Namen des Sultans aus­
gestellten Freibriefes (littera imperiali auctoritate confecta; vgl. ebd., 206f.) das Land verlas­
sen konnte, machte ihn zu einem „verum etiam illius cruentissime secte diabolica infectione
absolutus liber“ (ebd., S. 410). Zu Indizien, die für einen zeitweiligen Anschluss G eorgius’ an
den D erw ischorden sprechen, vgl. ebd., S. 21 f.
17 „Nam tanta est potentia diaboli in eis [sc. den muslimischen Asketen], ut videantur potius
diaboli incarnati quam hom ines.“ Georgius: Tractatus (wie Anm . 12), S. 270, S. 272, S. 284,
w o Georgius das Paulusw ort vom Teufel, der sich in einen Engel des Lichts verw andle (2 K o r
11,14), auf die Türken bezieht. Luther ist in dieser Hinsicht ganz von G eorgius’ Sicht abhän­
gig, vgl. etwa Luther: W erke [W eimarer Ausgabe]. Bd. 30/11 (wie Anm . II), S. 186, Z. 31 ff.,
S. 187, Z. Iff., S. 205, Z. 29 ff.
IS Vgl. Wendungen wie „in me ipso expertus“ (Georgius: Tractatus (wie Anm . 12), S. 146);
„docentur experientia“ (ebd., S. 148); „expertam in me ipso“ (ebd.), sowie die Schlusssen­
tenz, man solle „in rerum humanarum dubiis“ der größeren Erfahrung mehr Glauben schen­
ken („m aion experientie fides“) als denen, die sonst über die Türken berichten (ebd., S. 406).
19 Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 205, Z. 4 ff., Z. 1 6 ff.
294
T h o m a s K aufm an n
w orden, insgesam t sieben M al.20 M it Luthers A usgabe von 1530 setzte dann eine
V erbreitungsgeschichte ein, die alles Frühere in den Schatten stellte. Luthers E di­
tion bildete die G rundlage für eine Ü bersetzung Sebastian Francks und mehr als
ein D utzend V ollausgaben sow ie zahllose T eildrucke in lateinischen und deut­
schen „T ürkenbüchlein“ aller A rt.21 Francks zum Teil sehr eigen w illige Ü berset­
zung22 ist übrigens das erste eindeutige Q uellenzeugnis seines Spiritualism us23
und seiner D istanzierung von den sich form ierenden reform atorischen Stadt- und
T erritorialkirchentüm ern, die er als „T ürken“ im G ewände des christlichen G lau­
bens ansah.24 Keine Schrift des 16. Jahrhunderts hat stärker auf das T ürkenbild im
A lten R eich ein gew irkt als dieser T raktat des Siebenbürgeners in der Verbreitung
Luthers und Francks.
M it dem Tractatus des G eorgius p ub lizierte L uth er eine Schrift, die in theologi­
scher H insicht m anche A nstößigkeiten traditionell altgläub iger A rt, etw a in der
Sakram entenlehre, der H eiligenverehrung, in B ezug auf die sogenannte „religiöse
Leistungsfröm m igkeit“ in genere enthielt. D iese D efizite erschienen ihm freilich
vergleichsw eise harm los angesichts der G efahren, die er nach W ien heraufziehen
sah. So hatte er in seiner H eerpredigt w id er die Türken, die er am Jahresende 1529,
20 Zu den weiteren D rucken von [1481, Rom] bis 1514 Paris, vgl. Georgius: Tractatus (wie
A nm . 12), S. 60 -6 6 , Nr. 1-7 .
21 Grundlegend: Dejung: Kom m entar (wie Anm. 11), S. 3 3 5 -5 1 3 ; N euedition des Textes in:
Sebastian Franck: Sämtliche W erke. Kritische Ausgabe mit Komm entar, Bd. 1: Frühe Schrif­
ten. Text-Redaktion Peter Klaus Knauer. Bern 1993, S. 2 3 6 -3 2 7 ; zu den D rucken vgl. V D 16
G 1 3 7 7 -G 1 3 8 8 (wie Anm . 8); Kaufmann: Türckenbiichlein (wie Anm . 1), S. 1601., Anm . 202,
sowie die noch immer sehr hilfreiche Bibliographie von C arl G öllner: Die europäischen Türckendrucke des X V I. Jahrhunderts. Bukarest, Baden-Baden 1 9 6 1 -1 9 6 8 , Bd. I: M D I-M D L ,
1961 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, X IX ), Bd. II: M D L I-M D C , 1968 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, X X III), Bd. III: Die Türkenfrage in der öffentlichen M ei­
nung Europas im 16. Jahrhundert (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, L X X ). Bukarest,
Baden-Baden 1979. N D Baden-Baden 1994.
22 Vgl. außer Dejung: K om m entar (wie Anm . 11), auch Stephen C. Williams: ,Türkenchro­
nik'. Ausdeutende Übersetzung: G eorgs von Ungarn .Tractatus de m oribus, condictionibus
et nequicia Turcorum ' in der Verdeutschung Sebastian Francks. In: D ietrich Huschenbett/
John Margetts (Hg.): Reisen und W elterfahrung in der deutschen L iteratur des Mittelalters
(= W ü rzb u rger Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 7), W ü rzb u rg 1991, S. 18 5-19 5.
23 Das hat bereits Hegler, der Inaugurator des bekanntlich vo r allem durch Ernst Troeltsch
breitenwirksam gewordenen Spiritualism uskonzepts (vgl. etwa: Ernst Troeltsch: Protestanti­
sches Christentum und Kirche in der Neuzeit. Hg. von Volker Drehsen (= Ernst Troeltsch
kritische Gesamtausgabe, Bd. 7). Berlin, N ew Y ork 2004, oder Trutz Rendtorff/Stefan Pautler (Hg,): Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die m oderne W elt (1 9 0 6 -1 9 1 3 )
(= Ernst Troeltsch kritische Gesamtausgabe, Bd. 8). Berlin, N ew Y ork 2001), zuerst in seiner
grundlegenden A rb eit zu Franck deutlich gesehen: A lfred Hegler: Geist und Schrift bei
Sebastian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spiritualismus in der Reform ationszeit.
Freiburg im Breisgau 1892, bes. S. 4 8 -5 0 ; vgl. Christine C hrist-von Wedel: Sebastian Franck
und die Zürcher R eform ation. In: C hristian Moser/Peter O pitz (Hg.): Bewegung und Behar­
rung. Aspekte des reform ierten Protestantismus, 15 2 0 -1 6 5 0 (= Studies in the H istory ot
C hristian Traditions, Bd. 144). Leiden, Boston 2009, S. 2 1 -3 8 , hier: S. 3 0 f., Anm . 55.
24 Vgl. etwa Franck, in: G öllner: C hronica (wie Anm . 11), S. 89; Franck: W erke (wie
Anm . 21), Bd. 1, S. 314, Z. 3 f.
Ko ntin uitäten u n d T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
295
etw a zw ei M onate nach dem erfolglosen A bbruch der osm anischen B elagerung
W iens, veröffentlicht hatte, form uliert: Seine „lieben deudschen, die vollen Sew e“,
w ollten nun, da die G efahr vorüber sei, „yn aller Sicherheit zechen und w ol le­
ben“; „ha der T ürcke ist nu w eg und geflohen“ dächten sie, unterschätzten aber
gerade so seine w irklich e B edrohung.25 D ie N euausgabe des Tractatus des Siebenbürgeners w urde deshalb von L uth er genutzt, um aus dessen D arstellung p olem i­
sches K apital gegen die P apstkirche zu ziehen. D enn, so behauptete er frech, die
Papisten hätten eben deshalb über R eligion und G ottesdienste der T ürken so w e­
nig geschrieben, ja, dieses W issen geheim gehalten und sich ausschließlich auf die
negativen und häretischen doktrinalen A spekte des Korans kap riziert, w eil dann,
w enn sie sich w irk lich m it der religio der T ürken auseinandergesetzt hätten, das
Papsttum zusam m engebrochen w äre.25 G erade dann näm lich, w enn man die äu­
ßerlichen G ebärden, M öncherei, A skese, Beten, Sauersehen, Fasten, kurz: den
schönen rituellen Schein der „türkischen R eligio n “ ins A uge fasse, sei die p äp stli­
che der türkischen R eligion unendlich unterlegen. Insofern w erde die D arstel­
lung, die der Siebenbürgener von diesem äußeren Kult der T ürken gebe, zu einer
profunden A pologie des E vangelium s (Apologia quadam evangelii nostri).27 Denn
es liege offen zu Tage, dass die religio Christi etwas vö llig anderes sei als Zerem o­
nien und Sitten. A n der „türkischen R eligio n “ als dem denkbar höchsten Steige­
rungsgrad zerem onialer O rthopraxie w ird also für Luther die so ganz andere B e­
schaffenheit der religio bzw. der fides Christi deutlich. Dem C h risten liege näm ­
lich in keiner Weise daran, durch äußere Zerem onien, Sitten und G esetze ( ceremoniae, mores et leges) vor G ott gerecht zu w erden; zu G erechtigkeit und Sünden­
vergebung trügen Zucht und O rdnung nichts bei.28
Am G egensatz zur „türkischen R eligio n “ sind für Luther die katechetischen
Elem entaria des christlichen G laubens, insbesondere der zw eite A rtikel, ein zu­
25 Luther: W erke [Weimarer Ausgabe], Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 160, Z. 17 -2 1.
26 „Ego [sc. Luther] plane credo nullum Papistam, monachum, clerum et eorum fidei sotium,
si inter Turcos triduo agerent, in sua fide mansurum. L oq u or de iis, qui serio fidem Papae volunt et optimi inter eos sunt. Caetera turba et maior eorum pars, presertim Itali, quia porci
sunt de grege Epicun, nihil prorsus credentis, securi sunt ab omni haeresi et errore fortesque
et invicti in sua fide Epicurea tarn contra C hristum quam contra M ahom etum et contra ipsum
suum met Papam. [...] Itaque pro A pologia quadam Evangelii nostri simul hunc librum [sc.
des G eorgius’] edimus. N unc enim video, quid causae fuerit, quod a Papistis sic occuleretur
religio Turcica, C ur solum turpia ipsorum narrarint, Scilicet quod senserunt, id quod res est,
si ad disputandum eie religione veniatur, totus Papatus cum omnibus suis caderet nec possent
fidem suam tueri et fidem M ahom eti confutare [...].“ Luther: W erke [Weimarer Ausgabe].
Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 206, Z. 15 -2 2 , S. 207, Z, 3-8 .
27 Luther: W erke [Weimarer Ausgabe], Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 207, Z. 3 f. (zit. oben
Anm. 26).
28 „Cum enim in vicino nunc Turcam et suam religionem habeamus, m onendi sunt nostri, ne
specie religionis illorum et facie m orum com m oti aut vilitate nostrae fidei ac morum difformitate offensi negent C hristum suum et M ohemetum sequantur. Sed discant religionem
Christi aliud esse quam caeremonias et mores A tque Fidem C hristi prorsus nihil discernere,
utrae caeremonie, mores et leges sint meliores aut deteriores, Sed omnes in unam massam
contusas dictat ad iustitiam nec esse satis nec eis esse opus.“ Luther: W erke [Weimarer A u s­
gabe]. Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 207, Z. 2 4 -3 1.
296
T h o m a s K aufm an n
schärfen. M it dem G lauben an C hristus, den auferstandenen G ottessohn, der um
unserer Sünden w illen gestorben ist, sei ein jeder C h rist gegen Satan gerüstet. In
seiner Heerpredigt form ulierte Luther in diesem Sinne:
„[...] durch diesen artiekel w ird unser glaube gesondert von allen ändern glauben auff erden,
Denn die Jüden haben des nicht, Die Türcken und Sarracener auch nicht, dazu kein Papist
noch falscher C hrist ... Darum , w o du ynn die Türe key körnest, da du k e i n e prediger noch
bücher haben kanst, da erzele bey dir selbs, es sey vm bette odder in der erbeit, es sey mit
Worten odder gedancken, dein Vater unser, den Glauben und die Zehen gebot, und wenn du
auff diesen A rtikel [sc. den zweiten] kömst, so drucke m it dem daunien auff einen finger
odder gib dir sonst e t w a ein Z eic hen m i t der h a n d odder fuß, auff d a s du d ie s e n artiekel dir
w ol einbildcst und mercklich machest [ ...].“29
1529, das Jah r der m assivsten m ilitärischen Vorstöße der T ürken überhaupt, w ar
eben auch das A bfassungsjahr der Lutherschen K atechism en;30 eine schw erlich
nur äußerliche chronologische K oinzidenz!
Luthers Instrum entalisierung des Tractatus des Siebenbürgeners für die antiröm ische Profilierung seines rechtfertigungstheologischen Verständnisses der re­
ligio christiana im K ontext der katechetischen Z urüstung angesichts osm anischer
Invasionsängste gehört in den R ahm en einer P ublikationsoffensive der W itten­
berger T heologen, die un m ittelb ar nach der B elagerung W iens einsetzte. Sie w ar
durch die N achrichten veranlasst, die die W ittenberger nach ihrer R ückkeh r vom
M arburger R eligionsgespräch31 über den franziskanischen Propheten Johannes
H ilten erhalten hatten. A uch die von M elanchthon, Jonas und Luther von diesem
Z eitpunkt an gem einsam vertretene D eutung des „kleinen H o rn s“ aus D aniel 7
auf die T ürken w ollte man jetzt einer größeren Ö ffentlichkeit bekannt m achen.32
Denn nun hatte man den T ürken in der Schrift und dam it zugleich den exegeti­
schen A nhalt für die G ew issheit seines m ilitärischen Sieges über die christianitas
29 Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 186, Z. 15—24.
30 Vgl. zum Kontext: M artin Brecht: M artin Luther. Bd. 2: O rdnung und Abgrenzung der
Reform ation. Stuttgart 1986, S. 2 6 7 ff.; Gerald Strauss: L u th ers House o f Learning. Indoc­
trination o f the Young in the G erm an Reform ation. Baltimore, London 1978; R obert J. Bast:
H on or y o u r Fathers. Catechisms and the Emergence o f a Patriarchal Ideology in Germany,
14 0 0 -1 6 0 0 (= Studies in the medieval and reform ation thought, Bd. 63). Leiden u.a. 1997;
G erhard Bode: Instruction o f the C hristian Faith by Lutherans after Luther. In: R obert Kolb
(Hg.): Lutheran Ecclesiastical C ulture, 15 5 0 -1 6 7 5 (= B rill’s Com panions to the Christian
Tradition, Bd. 11). Leiden, Boston 2008, S. 15 9-20 4; Thomas Kaufmann: Das Bekenntnis im
Luthertum des konfessionellen Zeitalters. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 105
(2008), S. 2 8 1 -3 1 4 , bes. S. 294 ff.
31 Vgl. G erhard M av: A rt. M arburger Religionsgespräch. In: Theologische R ealenzyklopä­
die, Bd. 22. Berlin 1992, S. 75 -79.
32 Justus Jonas [Philipp M elanchthon]: Das siebend Capitel Danielis / von des Türcken G o t­
tes lesterung und schrecklicher m orderey mit U nterricht Justi Jonae. W ittenberg, Hans Lufft
[1530]; zum Druck: Hans-Joachim Köhler: Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhun­
derts. Bd. 1/2. Tübingen 1992, S. 13 9f., Nr. 1789; Ex. MF 48 1, Nr. 1291 (wie Anm . 1); vgl.
Kaufmann: Türckenbiichlein (wie Anm . 1), S. 19 2 -19 4 ; instruktiv: A n n o Seifert: D er R ück­
zug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der
Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus (= Beihefte zum A rch iv
für Kulturgeschichte, H eft 31). K öln, W ien 1990, S. 1 1 ff.
K o ntin uitäten un d T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Isla m bild
297
gefunden, die durch das prophetische Zeugnis H iltens zusätzlich bestätigt w orden
war. D urch Luthers große Vorrede zum D aniel-B uch33 w urde dieses geschichts­
theologische D eutungskonzept, das m it einzelnen vorreform atorischen prophe­
tischen T raditionen, insbesondere solchen, die in Lichtenbergers Prognosticatio
zusam m engestellt w aren,34 ko in zidierte, dem eschatologischen G rundw issen der
lutherischen K onfessionskultur35 im plem entiert.
N eben der am Tractatus des Siebenbürgeners aufw eisbaren U m gangsw eise mit
vorreform atorischen Traditionsbeständen blieben auch andere W ahrnehm ungs­
m uster in G eltung bzw. w urd en reaktiviert. Dies gilt etwa für die seit Johannes
D am aseenus36 übliche B ehandlung des Islams als einer christlichen Häresie. Sie
w ar durch Petrus V enerabilis37, den Kuesaner, R icoldus, Enea Silvio Piccolom ini
und viele andere einflussreiche A utoren, auch durch einen K onvertiten-T raktat
33 M artin Luther: Werke. Die Deutsche Bibel. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer A u s­
gabe]. Bd. 11/IL Weimar 1900, S. 1 -1 8 1 .
34 Johannes Lichtenberger: Prognosticatio super magna illa saturni ac Iovis coniunctiae
[Köln, Peter Q uentel], 1526 [VD 16 L 1592 (wie Anm . 8)]; K öhler: Bibliographie, Bd. 1/2
(wie Anm . 32), S. 304, Nr. 2185; Ex. MF 1643 f., Nr. 42 17 (wie Anm . 1); deutsche Ausgabe:
W ittenberg, Hans Lufft 1527 [VD 16 L i 597 (wie Anm . 8)]; Ex. MF 9 2 8 f., Nr. 2309 (wie
Anm . 1); Edition der Vorrede Luthers: Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 23. Weimar
1923, S. 7 -2 1 ; vgl. zur Sache: Dietrich Kunze: Johannes Lichtenberger [ f 1503]. Eine Studie
zur Geschichte der Prophetie und A strologie (= H istorische Studien, Bd. 379). Lübeck,
H amburg 1960; Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und
H olzschnitten astrologischer Flugschriften 1 4 8 8 -1 5 2 8 (= Studien und Texte zur Sozialge­
schichte der Literatur, Bd. 26). Tübingen 1990; Kaufmann: Türckenbüchlein (wie Anm . 1),
bes. S. 195 f.
35 Zu meinem Verständnis der Sache, das sich deutlich von der prim är theologiegeschichtlich-doxographischen Zugangsweise etwa K olbs (vgl. Kolb: Introduction. In: ders.: Lutheran
Ecclesiastical C ulture (wie Anm . 30), S. 1 -1 4 , bes. S. 5 ff.) unterscheidet, vgl. Kaufmann:
Konfession und K ultu r (wie Anm . 9), bes. S. 14 ff.
36 Jean Damascene: Ecrits sur lTslam, presentation, commentaires et traduction par R. Laymon Le C o z (= Sources chretiennes, Bd. 383). Paris 1992; Reinhold Glei/Adel T heodor
K h o u ry (Hg.): Schriften zum Islam. Johannes Damaszenus und T heodor A b n -Q u rra. K om ­
mentierte griechisch-deutsche Textausgabe (= C orpus Islam o-Christianum , Series Graeca 3).
W ürzburg 1995; vgl. Daniel Sakas: The Arab character o f the Christian disputation with
Islam. The case o f John o f Damascus (ca. 655-ca. 749). In: Friedrich N iewöhner/Bernard Le­
wis (Hg.): Religionsgespräche im M ittelalter (= W olfenbütteler M ittelalter-Studien, Bd. 4).
Wiesbaden 1992, S. 18 5-20 5; Stefan Schreiner: Der Islam als politisches und theologisches
Problem der C hristen und die Anfänge christlich-antiislam ischer Polemik. In: Hansjörg
Schmid u.a. (Hg.): Identität durch Abgrenzung? Wechselseitige Abgrenzungen in C hristen­
tum und Islam. Regensburg 2007, S. 11 9 -1 3 8 , bes. S. 132 fl.
37 Vgl. Petrus Venerabilis: Die Schriften zum Islam. Flg. von R einhold Glei (= C orpus Islam o-Christianum , Series Graeca 1). Altenberge 1985; James K ritzeck: Peter the Venerable
and Islam. Princeton 1964; vgl. M aria Rosa Menocal: Die Palme im Westen. Muslime, Juden
und Christen im alten Andalusien. Berlin 2003, S. 245 ff.; zum häresiologischen D iskurs im
Zusammenhang mit dem Islam in der westlichen Theologie des 12. Jahrhunderts vgl. John V.
Tolan: Saracens. Islam in the M edieval European Imagination. N ew York, Chichester 2002,
S. 135 ff.; Jose M artinez u. a.: Die lateinischen K oran-Ü bersetzungen in Spanien. In: Matthias
Lutz-Bachmann/Alexander Fidora (Hg.): Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im
Mittelalter. Darm stadt 2004, S. 27 -39.
298
T h o m a s K aufm an n
wie den des Juan A ndres38, den der Lutheraner Johann Lauterbach in lateinischer
Ü bersetzung p u b lizierte,39 perpetuiert w orden und hatte in Bernhard von L u ­
xem burgs Catalogus haereticorum von 1522, in dem „ M ahom etus“ gleich hinter
den „ Lutherani“ verzeichnet w ar,40 eine kom pakte zeitgenössische A usarbeitung
erfahren. W enn die dam natio des ersten A rtikels der „C onfessio A ugustana“41 die
M ahom etisten in einer R eihe m it den antitrinitarischen Irrlehrern42 nennt, steht
sie also in einem breiten kirchengeschichtlichen T raditionsstrom , der auch sonst in
den einschlägigen Turcica des frühneuzeitlichen Protestantism us nachw irkte. Im
U nterschied zu dem durch den Siebenbürgener repräsentierten, in der Forschung
nicht ganz zu Recht als „ethnographisch“ bezeichneten W ahrnehm ungstypus43
bezieht sich die häresiologische D eutungstradition vornehm lich auf historisches
W issen über die A nfänge M oham m eds. W eniger also die aktuelle R eligion der os­
m anischen Superm acht, das heißt die entscheidend durch ihre p h ysisch -m ilitäri3S Vgl. H artm ut Bobzin: Bemerkungen zu Juan Andres und seinem Buch C onfusion de la
secta mahomatica (Valencia 1515). In: M artin Forstner (Hg.): Festgabe fü r H ans-R udolf
Singer. Frankfurt am Main u.a. 1991, S. 529-548.
39 Johann Lauterbach: De bello contra turcas suscipiendo ... C onfusio sectae Mahometanae
ab codem latinitate donata. Leipzig. A. Lamberg 1595 [VD 16 L754 (wie Anm . 8); Ex. SUB
G öttingen 8° Hist 629]; G öllner: Turcica, Bd. II (wie Anm . 21), S. 537, Nr. 2043; vgl. zu den
Drucken, die 1594 einsetzten, Bobzin: Bemerkungen (wie Anm . 38), S. 532, Anm . 13.
40 Catalogus hereticorum om nium peile, qui ad haec usque tem pore passim literarum monumentis proditi sunt, illorum nomina, errores, et tem pora ..., Editio secunda [Köln, Eucharius
C ervicornus], 1523 [VD 16 B 1986 (wie Anm . 8); Ex. SUB G öttingen 8° HEE 794/39], J 7 r/v.
41 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. G öttingen 91982, S. 51, 5.
D er Islam gilt vornehm lich als Inbegriff des Antitrinitarism us, vgl. W ilhelm M aurer: H isto­
rischer Kom m entar zur C onfessio Augustana, Bd. 1: Einleitung und O rdnungsfragen. G ü ­
tersloh 2 1979, S. 66, Anm . 10.
42 Zum Antitrinitarism us der Reform ationszeit vgl. nur: G eorg H untston Williams: The
Radical R eform ation (= Sixteenth C en tury Essays and Studies, Bd. 15). K irkesville 32000,
S. 945 ff.; R obert Dan/Antal Pirnät (Hg.): Antitrinitarism in the Second H alf o f the 16'*' C en ­
tury. Budapest u.a. 1982; M ihaly Balazs: Early Transylvanian Antitrinitarism (1 5 6 6 -1 5 7 1 ) from Servet to Palaeologos (Bibliotheca Dissidentium, Scripta et studia, Bd. 7). Baden-Baden
1996; C hristopher J. Burchill: The H eidelberg Antitrinitarians. Johann Silvan - Adam N eu­
ser - Matthais Vehe - Jacob Suter - Johann Hasler (Bibliotheca Dissidentium , Bd. 11). Baden-Baden, B ouxw iller 1989; w eitere Hinweise bietet: Joszef Simon: Die Religionsphiloso­
phie Christian Franckens (1 5 5 2 -1 6 1 0 ?). Atheism us und radikale R eform ation im frühneu­
zeitlichen O stm itteleuropa (= W olfenbütteier Forschungen, Bd. 117). Wiesbaden 2008; zu ­
letzt auch: M artin Mulsow/Jan Rohls (Flg.): Sociniamsm and Arm inianism : Antitrinitarians,
Calvinists and cultural exchange in seventeenth-century Europe (= B rill’s studies in intel­
lectual history, Bd. 134). Leiden, Boston 2005.
43 A lm ut H öfen: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das
Osmanische Reich 14 5 0 -1 6 0 0 (= Cam pus historische Studien, Bd. 35). F rankfurt am Main,
N ew York 2003. Meine K ritik an H öferts M ethodik bezieht sich einerseits auf die von ihr
praktizierte ,Zertrüm m erung' integraler Q uellen, von denen vornehm lich die unter dem G e­
sichtspunkt der ethnographischen Inform ation interessanten Fragmente in den Blick geraten,
andererseits auf die inhärente m odernisierungstheoretische Perspektive, die das ,neue‘ ethno­
graphische vom traditionellen häresiologischen W ahrnehmungsmuster unterscheidet und
ersterem allein eine zukunftsweisende Bedeutung zuschreibt. Meines Erachtens sind die
skizzierten W ahrnehmungsweisen in vielen Q uellen untrennbar m iteinander verbunden.
K o ntin uitä ten un d T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
299
sehe B edrohlichkeit konnotierte „türkische R elig io n “, als vielm ehr der „M ahom etism us“ w urde im R ahm en dieses W ahrnehm ungsm usters traktiert.
Ein drittes W ahrnehm ungsm uster der frem den R eligion, das man als herm eneutisch-dogm atisch bezeichnen könnte, hatte in der A useinandersetzung m it der
H eiligen Schrift der T ürken und der in ih r enthaltenen Lehren ihr Zentrum . N och
1530 w ar L uther dieser Form der A useinandersetzung m it Skepsis begegnet und
hatte in N iko laus von Kues C ribratio und R ico ld u s’ Confutatio nichts anderes als
polem ische V erzeichnungen gesehen. W eil sie die „ b o n a“, die im Koran enthalten
seien, ignorierten, verm öchten sie niem anden zu überzeugen.44 Z w ölf Jah re spä­
ter, nachdem L uther E inblicke in eine H andschrift der lateinischen K oran-Ü ber­
setzung des R obert von Ketton zu nehmen G elegenheit gehabt hatte, w ar er daran
gegangen, R ico ld u s’ Schrift eigenhändig, zum Teil auch eigen w illig, zu überset­
zen, um dam it eben jenes Verfahren, das er zunächst abgelehnt hatte, erneut ins
R echt zu setzen.45 Luthers R ico ld us-Ü b ersetzun g46 ist als flankierende p u b lizis­
tische A ktion zu B iblianders K oran-A usgabe von 1543 zu interpretieren. D ie W i­
derstände des Baseler Rates gegen den D ruck w aren schließlich durch Voten L u­
thers und M elanchthons niedergerungen w orden 47 D ie Ü berzeugung der W itten­
berger, nichts könne den Vormarsch der „türkischen R elig io n “ nachhaltiger be­
hindern als eine V erbreitung des „verflucht, schendlich, verzw eifelten buch [...]
voller lugen, fabeln und aller grew el“48, hatte sich gegenüber der traditionellen
44 Siehe Anm . 13.
45 Vgl. zuletzt Ehmann: Luther, Türken und Islam (wie Anm . 11), S. 75 ff., S. 445 ff. „Aber
diese Fastnach [1542] hab ich den A lcoran gelesen Latinisch, doch seer ubel vertolm etscht,
das ich noch wünschet einen klereren zusehn, so viel aber daraus gemarckt, das dieser Bruder
Richard [d. i. Ricoldus de M ontecrucis] sein Buch nicht ertichtet, Sonder gleich mit stim ­
met.“ Luther: W erke [Weimarer Ausgabe], Bd. 53. Weimar 1920, S. 272, Z. 16 -18 .
46 Vgl. Ehmann: Ricoldus de M ontecrucis (wie Anm . 13); Luthers 1542 unter dem Titel
„Verlegung des A lcoran B ruder Richard! Prediger O rd en s“ erschienene Übersetzung ist
ediert in: Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 53 (wie Anm . 45), S. 2 7 2 -3 9 6 ; vgl. auch
Hartm ut Bobzin: „A ber i t z t ... hab ich den A lcoran gesehn Latinisch.,
Gedanken M artin
Luthers zum Islam. In: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.): Luther zwischen den Kulturen.
Göttingen 2004, S. 2 6 0 -2 7 6 ; ders.: D er K oran (wie Anm . 47), S. 95 ff.
47 Die flankierenden Texte Luthers und M elanchthons liegen v o r in: C R 5, Nr. 2 6 16 in Ver­
bindung mit Ernst Ludwig Enders: M artin Luthers Briefwechsel, Bd. 14. Leipzig 1912,
Nr. 3 142a, S. 259 f.; Luther: Briefwechsel [Weimarer Ausgabe]. Bd. 3. W eimar 1933, Nr. 2973;
Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 53 (wie Anm . 45), S. 5 6 1-5 7 2 ; Luther: Briefwechsel
[Weimarer Ausgabe]. Bd. 10. W eim ar 1947, Nr. 3802 (Luther an den Baseler Rat 27. 10. 1542),
S. 16 1-1 6 3 ; A n tw o rtb rief, dat. 8. 12. 1542, ebd., Nr. 3823, S. 2 1 7 -2 1 9 ; grundlegend, auch zu
allen die Baseler Koranausgabe betreffenden Sachverhalten: H artm ut Bobzin: D er K oran im
Zeitalter der R eform ation (= Beiruter Texte und Studien, Bd. 42). Beirut 1995, S. 159 ff.; zu
Bullinger instruktiv: H ans-M artin Kirn: Humanismus, R eform ation und Antijudaismus.
Der Schweizer Theologe Theodor Bibliander (1504/09—1564). In: Achim Detmers/Jan M a­
rius Lange van R avenswaay (Hg.): Bundeseinheit und G ottesvolk. R eform ierter Protestan­
tismus und Judentum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (= Emder Beiträge zum refo r­
mierten Protestantismus, Bd. 9). W uppertal 2005, S. 39 -58.
48 Luther: Briefwechsel [Weimarer Ausgabe]. Bd. 10 (wie Anm . 47), S. 162, Z. 35 f. Luther
setzt rhetorisch geschickt voraus, dass es nicht niedere K onkurrenzm otive zwischen den Ba­
seler D ruckern, sondern ehrenwerte religiöse Gesinnungen gewesen seien, die den Rat dazu
300
T h o m a s K aufm an n
M entalität, häretische Texte zu vernichten, zu unterdrücken, jedenfalls nicht zu
veröffentlichen, durchgesetzt. F ür das 16. Jah rh un dert bildete die dreibändige Ba­
seler A usgabe, die neben dem Text des Korans auch eine kleine B ibliothek der
w ichtigsten, im Corpus Toletanum gesam m elten sow ie aktuellerer Schriften zur
R eligion M oham m eds enthielt, den m aßgeblichen T hesaurus beinahe allen im
O kziden t verfügbaren W issens zum Them a.
D ie von R icoldus, dem K uesaner und anderen p raktizierte polem isch-apologe­
tische U m gangsw eise m it dem Koran, ihm einzelne Lehren und, m it sonstigem
h isto risch -kulturellen W issen über den Islam bereichert, dogm atische Aussagen
zu entnehm en und m it christlichen Lehrsätzen zu konfrontieren, um diese dann
nach allen R egeln der philosophischen und theologischen Vernunft zu w iderlegen,
ist im Protestantism us w eitergeführt, aber zugleich auch m ethodisch sublim iert
w orden. D ie w ahrscheinlich konsequenteste M ethodisierung der herm eneutisch­
dogm atischen U m gangsw eise m it dem Koran im Sinne des protestantischen
Schriftprinzips stam m t von dem w ürttem bergischen T heologen Lukas I. O siander. Sein Bericht / Was der Türcken G laub sey / gezogen auß dem Türckischen
Alcoran von 157049 zog aus M oham m eds A nspruch, die Propheten der jü d isch ­
christlichen Tradition als Vorläufer anzuerkennen, die herm eneutisch-apologetische K onsequenz, dass sich der Koran von seinen eigenen Voraussetzungen her an
der christlichen Bibel messen lassen müsse. D enn M oham m ed selbst habe ja etw a
den Pentateuch als „Gottes W ort in seinem G ew issen erkannt und gehalten“50;
daher seien alle m aßgeblichen Lehraussagen des Korans gem äß den G rundsätzen
lutherischer Schriftbindung an der Bibel bzw. an den aus der Bibel in den Koran
eingegangenen W ahrheiten zu messen. U nter der V oraussetzung, dass die Bibel
bewogen hatten, den D ruck zunächst zu verbieten. „Nu kann ich [sc. Luther] w ol dencken,
das ein erbar rat zu Basel dapffere Ursachen haben müssen und vielleicht sorgen, es mochte
ergerlich und ferlich sein, der Christenheit solche und dergleichen bucher auszulassen.“ Lu­
ther: Briefwechsel [Weimarer Ausgabe]. Bd. 10 (wie Anm . 47), S. 161, Z. 14 -1 6 . Seinen Ein­
satz für einen K orandruck in lateinischer Ü bersetzung begründet Luther folgendermaßen:
„Mich hat das bewogen, das man dem Mahmet oder Türcken nichts verdrieslichers thun,
noch mehr schaden zu fugen kann (mehr denn mit allen waffen) denn das man yhren alcoran
bey den C hrsiten an den tag bringe, darinnen sie sehen mugen, w ie gar ein verflucht [...] buch
es sei [...], welche die Türcken bergen und schmucken zu warzeichen [zum Beweis] ungern
sehen, das man den alcoran ynn andere spräche verdolm etscht.“ Luther: Briefwechsel [Wei­
marer Ausgabe]. Bd. 10 (wie Anm . 47), S. 162, Z. 33 -38.
49 Lukas Osiander: Bericht / Was der Türcken Glaub sey / gezogen auß dem Türckischen
A lcoran / sampt desselben W iderlegung ..., Tübingen, U lrich M orhart W., 1570 [VD 16
O l 182 (wie Anm . 8)]; Ex. MF cnach 1530> 1 8 3 9 f., Nr. 3046 (wie Anm . 1); vgl. zu Lukas O si­
ander (1 5 3 4 -16 0 4 ), der seit 1569 als H ofprediger und K onsistorialrat in Stuttgart wirkte,
Fiermann Ehmer: A rt. Osiander, Lukas. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6.
Tübingen 42003, Sp. 7 2 0 f; A rt. Osiander, Lukas. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie
der Theologie und der Kirchen, Bd. 2. M ünchen 2005, S. 10 13 f.; zu Lukas O siander in A u s­
einandersetzungen insbesondere mit M itgliedern der Societas Jesu vgl. Kai Bremer: Religi­
onsstreitigkeiten. Volkssprachliche K ontroversen zwischen Altgläubigen und evangelischen
Theologen im 16. Jahrhundert (= Frühe Neuzeit, Bd. 104). Tübingen 2005, passim; siehe
auch Kaufmann: Konfession und K ultu r (wie Anm . 9), s. v. im Register.
50 Osiander: Bericht (wie Anm . 49), S. 5.
Ko ntin uitäten und T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
30 1
eine vom Koran anerkannte, w iew o h l dessen A nspruch nach von diesem überbotene O ffenbarungsurkunde sei, folgt das lehrkom paratistische Verfahren O sianders einer im m anenten apologetischen P lausibilität. Von diesem G rundsatz her
konnte O siander, darin über die m ittelalterliche K ontroversistik eindeutig hinaus­
gehend, das Fehlen des R echtfertigungsglaubens im Koran m onieren51 und die
A useinandersetzung m it der „türkischen R eligio n “ an denselben m ethodischen
Standards orientieren, die auch für die innerchristliche K ontroversistik galten. A l­
lein von der Schrift her sei eine sachgerechte - die w ürttem bergischen Spezifika
lutherischer C h ristologie w ahrende52 - W iderlegung der „türkischen R eligio n “
m öglich. D am it aber sollte die lutherische K ontroversistik gegenüber dem Koran
der kriteriologischen U neind eu tigkeit der röm isch-katholischen K ontroversistik
überlegen und zugleich vom „E xpertenw issen“ der „E thnographen“, der ehem a­
ligen Sklaven und R eisenden, unabhängig gem acht w erden. D ie K enntnis der B i­
bel und die F ähigkeit zu ihrer A uslegun g schuf eo ipso die G ew issheit, dass „M ahomets lehr / in höchsten Stücken / daran unsere Seligkeit gelegen / nicht allein
mit der w ahren alten Propheten L ehr nicht stim m et / sondern derselben gänzlich
zu w id er / ja durch erm elte Prophetenschriften gew altiglich um gestoßen w ird
W elche allgem eineren Einsichten lassen sich aus diesen knappen B em erkungen
zum U m gang m it der „türkischen R eligio n “ für eine V erhältnisbestim m ung der
T ürkendiskurse des 16. und des 15. Jahrhunderts gew innen?
1.
D ie R eform atoren eigneten sich vorreform atorische W issens-, T raditionsbe­
stände und W ahrnehm ungsm uster der „türkischen R elig io n “ mit größter U nb e­
51 Als Quintessenz der D ifferenz eines muslimischen und eines christlichen Verständnisses
des Glaubens form ulierte Osiander: „Dann wann M ahom et von dem Glauben an G o tt sagt
so meint er anderst nicht / dann daß man glauben soll / daß ein einiger G o tt sey / der den
from m en des ewig leben und Paradiß / den bösen aber das höllisch Few r gebe / W ie aber
G ott umm C hristi w illen uns gnädig w erde / davon weist und lehret er kein einig W ort. Und
wann er schon sagt / man soll C hristo glauben / so meinet er doch nichts anders [...] dann al­
lein / man soll glauben / daß Christus ein fürtrefflicher Prophet sey gewesen [...].“ Osiander:
Bericht (wie Anm . 49), S. 86 f.
-,2 Osiander: Bericht (wie Anm . 49), S. 54 ff.; vgl. zum K ontext nur: Jörg Baur: A rt. Ubiquität. In: Theologische R ealenzyklopädie, Bd. 34. Berlin 2002, S. 2 2 4 -2 4 1, bes. S. 2 3 7 ff.; ders.:
Luther und seine klassischen Erben. Tübingen 1993; Hans Christian Brandy: Die späte
C hristologie des Johannes Brenz (= Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 89). Tübingen
1989; T heodor Mahlmann: Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem e und
Geschichte seiner Begründung. G ütersloh 1969; W alter Sparn: A rt. Jesus C hristus V. In:
Theologische R ealenzyklopädie, Bd. 17. Berlin 1988, S. 1—16, bes. S. 4 ff.
53 Osiander: Bericht (wie Anm . 49), S. 14. Die maßgebliche D ifferenz zwischen der lutherisch-protestantischen Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Judentum ist m. E. darin
zu sehen, dass im Verhältnis zu den Juden für die Legitimität der eigenen Auslegung des A l­
ten Testaments gegen seine jüdische Inanspruchnahme gekämpft wurde (s. in Bezug auf Lu­
ther: Thomas Kaufmann: Luthers ,Judenschriften‘ in ihren historischen Kontexten (= N ach­
richten der Akadem ie der Wissenschaften zu G öttingen, I. Philologisch-H istorische Klasse,
Jg. 2006, Nr. 6). Göttingen 2005), während im Verhältnis zum Islam nicht um, sondern mit
und fü r die Bibel, das heißt die D urchsetzung ihrer magistralen hermeneutischen Bedeutung
im Verhältnis zum K oran gerungen wurde.
302
T h o m a s K aufm an n
fangenheit an, w enn sich diese in ihre spezifischen Interessenslagen integrieren
ließen. D oktrin ale D issonanzen nahm man um w eiter gellenderer Ziele w illen b il­
ligend in Kauf, gleichviel ob es sich um einen „testis veritatis“ w ie Jan H us54 oder
um einen dom inikanischen O rdenstheologen w ie G eorgius de H un garia handelte.
2.
Für die Interpretation der jew eiligen M otive, die zu einer entsprechenden
A neignung führten, ist die A n alyse der spezifischen historischen M ikrokontexte
der P ub likatio n sin itiativen unerlässlich. Luthers 1518 eher en passant getätigte
A bsage an einen K reuzzug gegen die T ürken, die durch die A ufnahm e in die
B annandrohungsbulle Exsurge domine eine beträchtliche P ub lizität erreicht
hatte,55 stellte sich im Laufe der 1520er Jahre als politische und so zialp sych o lo gi­
sche H yp o th ek der R eform ation dar. Suleim ans m ilitärische E rfolgsserie - die Er­
oberung B elgrads (1521), die Einnahm e von Rhodos (1522), schließlich (p ub lizis­
tisch enorm aufgeladen56) die Schlacht von M ohacs (1526) - w urde von altgläu b i­
ger Seite propagandistisch als Folge dessen ausgeschlachtet, dass Luther angeblich
jedem D efensionsrecht gegenüber den T ürken eine A bsage erteilt hatte. H inzu
kam die in den radikalen M ilieus der reform atorischen B ew egung ins K raut schie­
ßende T ürkenhoffnung.57 M üntzer hatte auch den T ürken einen Zugang zum
G lauben zuerkannt und die Initiierung der endzeitlichen „V eränderung“ durch
die O sm anen erw artet.58 Sein Erbe H ans H u t59 und dessen Erbe A ugustin Ba54 Vgl. zuletzt: Thomas Kaufmann: Jan Hus und die frühe Reform ation. In: M artin Kessler/
M artin W allraff (Hg.): Biblische Theologie und historisches Denken. W issenschaftsge­
schichtliche Studien aus Anlass der 50. W iederkehr der Basler Prom otion von R u dolf Smend
(= Studien zur Geschichte der W issenschaft m Basel, N.F., Bd. 5). Basel 2008, S. 6 2 -10 9 ; zum
K onzept der testes veritatis: Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsam keit und konfessioneller
Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1 5 4 6 -1 6 1 7
(= Spätm ittelalter und R eform ation, Neue Reihe, Bd. 37). Tübingen 2007, S. 294 ff.
55 In der im Som m er 15 18 im D ruck erschienenen Begründung seiner 95 Thesen [Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute] hat Luther in der Erläuterung der 5. A blass­
these angemerkt, dass der Türke eine göttliche Zuchtrute sei, also eine von G o tt selbst ver­
hängte Strafe exekutiere, die der Papst nicht vergeben könne (Luther: Werke [Weimarer A u s­
gabe]. Bd. 1. W eimar 1883, S. 535, Z. 32 ff.); zur Aufnahm e des entsprechenden Satzes in Ex­
surge Dom ine vgl. C arl M irbt: Q uellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen
Katholizism us, Bd. 1. Tübingen 41967, S. 507, Nr. 789; Heinrich Denzinger: Enchiridion
sym bolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et m orum . Verb., erw. und ins
Deutsche übertragen von Peter H ünermann. Freiburg im Breisgau u.a. 3S1999, S. 492,
Nr. 1484; vgl. Luther: W erke [Weimarer Ausgabe], Bd. 7. W eimar 1897, S. 140, S. 19 0ff„
S. 443, S. 445 ff.
56 Vgl. nur G öllner: Turcica (wie Anm . 23), Bd. 1, S. 131 ff., Nr. 233 ff. [zur Publizistik des
Jahres 1526].
57 Vgl. Kaufmann: Türckenbüchlein (wie Anm . 1), S. 37 ff.
58 Vgl. nur: G ünter Franz (Iig.): Thomas Müntzer. Schriften und Briefe (= Q uellen und F or­
schungen zu r Reform ationsgeschichte, Bd. 33). G ütersloh 1968, S. 501, Z. 1 ff., S. 430,
Z. 31 ff., S. 314, Z. 5 f.; vgl. auch D ieter Fauth: Das Türkenbild bei Thomas M üntzer. In: B er­
liner Theologische Zeitschrift 11 (1994), S. 2 - 1 2 ; zu M üntzer vgl. nur G ottfried Seebaß: A rt.
M üntzer, Thomas. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23. Berlin 1994, S. 4 14 -4 3 6 .
59 Grundlegend: G ottfried Seebaß: M üntzers Erbe. W erk, Leben und Theologie des Hans
Hut (= Q uellen und Forschungen zur Reform ationsgeschichte, Bd. 73). G ütersloh 2002, hier
bes.: S. 2 1 6 ff.
K o ntin uitä ten und T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islambild
303
der60 hatten diese chiliastische H offnung über den B auernkrieg hinaus in die ver­
sprengten K leinstgruppen des apokalyptischen T äufertum s O berdeutschlands ge­
rettet. Das kleine H äuflein der G erechten w erde sich m it den T ürken vereinen, die
H errschaft der G ottlosen beenden und das Tausendjährige R eich C h risti herauf­
führen. N och Johannes Brenz käm pfte in seinem T ürkenbüchlein von 153761 ge­
gen einen radikal-pazifistischen R ezeptionsstrang der frühreform atorischen K ri­
tik am K reuzzug, der insbesondere durch den T äuferführer M ichael Sattler62 in­
auguriert w orden war. D urch die A ufnahm e und V erbreitung vorreform atorischer T ü rken literatur stellte sich die W ittenberger Reform ation also konsequent
in eine T raditionslinie der lateineuropäischen christianitas, und zw ar in doppelter
A bgrenzung sow ohl gegen die altgläubige als auch gegen die radikalreform atorische H erausforderung.
3.
D ie R eform atoren haben jene Strategie, eine abgelehnte geistige oder reli­
giöse Ü berlieferung dadurch zu bekäm pfen, dass man ihre zentralen Texte veröf­
fentlichte, nicht erfunden. In der Vorrede zu seiner K oranausgabe legitim ierte Bibliander sein U nternehm en,63 indem er historisch w eit ausgriff: auf altkirchliche
K onzilsbeschlüsse, die es K lerikern zu r Pflicht gem acht hätten, sich m it K etze­
reien zu beschäftigen, um diese zu w iderlegen; auf Petrus Venerabilis, der im Zu­
sam m enhang mit seiner Ü bersendung der K oran-Ü bersetzung R obert von Kettons an B ernard von C lairvaux dazu aufgefordert hatte, gegen die m oham m edani­
sche H äresie in K enntnis ihrer heiligen Schrift zu schreiben; auf das Vorbild der
60 Anselm Schubert: Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die G renzen der Radi­
kalen R eform ation (= Q uellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 81). G ü ­
tersloh 2008.
61 Johannes Brenz: Türcken Büchlein. W ie sich Prediger und Leien halten sollen / so der
Türck das Deudsche Land überfallen wurde. W ittenberg, G. Rhau, 1537 [VD 16 B 7988 (wie
Anm . 8)]; Ex MF cnach 1530> 85, Nr. 198, B 4V(wie Anm . 1): „Das aber etliche dagegen [sc.
ein Defensionsrecht gegenüber den Türken] schreien / eim C hristen gebühre zu leiden / und
sich nicht zu weren / wie die W iderteuffer und viel andere fürgeben / davon acht ich / habt ir
aus ändern schrifften gnugsam unterricht / wie Christus die Rach verboten / oder nicht ver­
boten habe [...].“ Dieselbe innerreform atorische Diskussionslage setzt bereits der kursächsi­
sche U nterricht der Visitatoren (1528) voraus: „Es schreyen auch etliche Prediger frevelich
vom Tuercken / Man sol dem Tuercken nicht widderstehen / Darum b das Rache den C hris­
ten verboten sey, Dis ist ein aufffrürerische rede / welche nicht sol gelitten odder gestattet
w erden.“ H ans-U lrich Delius (Hg.): M artin Luther-Studienausgabe, Bd. 3. Berlin 1983,
S. 447, Z. 2 0 -4 4 8 , Z. 2; vgl. Luther: W erke [Weimarer Ausgabe], Bd. 26, W eimar 1909, S. 228,
Z. 33 -35,
62 Vgl. A d o lf Laube (Hg.): Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1 5 2 5 -15 3 6 ),
Bd. 2. Berlin 1992, S. 1553, Z. 2 0 ff.; zum rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang z w i­
schen Sattler und den frühen, gegenüber einem Türkenzug ablehnenden Äußerungen Lu­
thers vgl. Luther: W erke [W eimarer Ausgabe], Bd. 30/11 (wie Anm . 11), S. 94, Anm . 2; See­
baß: M üntzers Erbe (wie Anm . 59), S. 371; Kaufmann: Türckenbüchlein (wie Anm . 1),
S. 206, Anm . 447; zu Sattler vgl. H ans-Jürgen G oertz: A rt. Michael Sattler. In: Neue D eut­
sche Biographie, Bd. 22. Berlin 2005, S. 446 f.; A rt. Sattler, Michael. In: Deutsche Biographi­
sche Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Bd. 2. München 2005, S. 1170.
('3 Machumetis Saracenorum Principis. Eiusque Successorum Vitae, A c doctrina, Ipseque A l­
coran .... Flic adiunctae sunt C onfutationes m ultorum ..., [Basel, Joh. O porin], 1543 [VD 16
K 258475 (wie Anm . 8); Ex. H AB W olfenbüttel T 624 Heimst 2 ° ( i ) ] , ct 1v; a 4 r; a 5 rff.
304
T h o m a s K aufm ann
H um anisten im U m gang m it Q uellen der heidnischen R ehgionsgeschichte und
auf R euehlins Eintreten für den E rhalt des Talmud zum Zweck einer R efutation
des Jud en tu m s.64 ,N eu ‘ also w ar das, w as die R eform atoren im Verhältnis zur Irr­
lehre taten, nicht in qualitativer, sondern eher in quan titativ-en tgren zen der H in ­
sicht. D enn nicht nur die G elehrten, sondern jeder lesefähige Christenm ensch
sollte nun grundsätzlich instand gesetzt w erden, sein U rteil zu bilden und sich auf
einen persönlichen E ntscheidungs- und A bw ehrkam pf gegen die „türkische R eli­
gio n “ einzustellen. D ie zahlreichen T ürkenpredigten, die vor allem von Protes­
tanten des späteren 16. Jahrhunderts veröffentlicht w urden, lieferten basales
G rundw issen zu r „türkischen R eligio n “ in der A bsicht, angesichts der befürchte­
ten, ja für gew iss gehaltenen osm anischen Eroberung M itteleuropas die C hristen
bei ihrem G lauben zu halten. Das refonnatorische T heologoum enon des Priester­
tum s aller G läubigen, das die D ichotom ie von clerici und laici aufhob,65 stellt die
V oraussetzung dieser publizistischen Intensivierung in der V erbreitung religio n s­
ku lturellen W issens über die „türkische R elig io n “ dar. Dass ein Text w ie der
Tractatus des G eorgius de H un garia nur m ehr durch protestantische D ruckpres­
sen und besonders in der V olkssprache verbreitet w urde und die von dem cluniazensischen A bt Petrus Venerabilis veranlasste Ü bersetzung R obert von Kettons
auf dem Index der verbotenen B ücher66 landete, w ar den schließlich konfessions­
trennenden Tendenzen im U m gang mit frem dem W issen geschuldet. Die D urch­
setzun gsdyn am ik der Reform ation verdankte sich auch dem U m stand, dass es ihr
gelungen schien, jenen Zustand zu überw inden, den Luther dadurch ch arakteri­
siert sah, dass „pfaffen, m ünich, leyen unternander feynder w orden seyn, dan
T ürcken und C h risten n “.67
4.
Im 15. und 16. Jah rh un d ert p luralisierten und differenzierten sich die Per­
spektiven auf die „türkische R eligio n “. T raditionelle W ahrnehm ungsm uster w ie
das häresiologische starben nicht einfach ab; neuere w ie das sogenannte ethnogra­
phische traten daneben. A ndere neuere w ie die herm eneutisch-apologetische Per­
spektive im U m gang m it dem Koran w urden quelleneditorisch fundam entiert und
m ethodologisch verfeinert. Die P lu ralisierun g der Perspektiven, das Z ugleich von
Persistenz und Innovation der W ahrnehm ungsm uster, prägte im 16. und 17. Jah r­
hundert den U m gang m it der „türkischen R elig io n “ w ie auch m it anderen P häno­
64 Vgl. dazu nur: Hans Peterse: Jacobus H oogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag
zur Geschichte des Antijudaism us im 16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für
Europäische Geschichte M ainz, Bd. 165). M ainz 1995; A rn o Herzig/Julius H. Schoeps/Saskia Rohde (Hg.): Reuchlin und die Juden (= Pforzheim er Reuchlm schriften, Bd. 3). Sigma­
ringen 1993; Daniela Hacke/Bernd Roeck (Hg.): Die W elt im Augenspiegel. Johannes
Reuchlin und seine Zeit (= Pforzheim er Reuchlinschriften, Bd. 8). Stuttgart 2002.
65 Vgl. dazu nur: Kaufmann: Geschichte der R eform ation (wie Anm . 2), S. 3 0 0 ff.; Harald
G oertz: Allgem eines Priestertum und ordiniertes A m t bei Luther (= M arburger Theologi­
sche Studien, Bd. 46). M arburg 1997; zuletzt: Tim othy J. Wengert: Priesthood, Pastors, Bi­
shops. Public M inistry fo r the R eform ation and today. M inneapolis 2008.
66 Vgl. Franz H einrich Reusch: D er Index der verbotenen Bücher, Bd. 1. Bonn 1883, N D
Aalen 1967, S. 137, Anm . 3.
67 Luther: W erke [Weimarer Ausgabe]. Bd. 6. W eimar 1888, S. 354, Z. 11 f.
Ko ntin uitäten und T ran sform atio nen im o k z id e n ta le n Islam bild
305
menen. D ie Reform ation hatte an diesen kom plexen kultur- und m entalitätsge­
schichtlichen Vorgängen teil, ja trug zur P luralisierun g der Perspektiven nicht z u ­
letzt wegen der „T urkisierung“ des jew eiligen konfessionellen G egners entschei­
dend bei.68 D iese „T urkisierung“ setzte in der reform ationszeitlichen P ub lizistik
frühzeitig ein und bestim m te die gegenseitigen W ertungsm uster der rö m isch-ka­
tholischen und der lutherischen Seite: D ie Lutheraner stellten bei den „Papisten“
eine w erkgerechte Scheinheiligkeit fest, die w eit hinter den from m en und asketi­
schen Leistungen der M uslim e zurückbleibe. U nd die K atholiken konstatierten
bei den Lutheranern und den anderen Protestanten eine letztlich von dem W itten­
berger M önch inaugurierte sexuelle H em m ungslosigkeit, einen aufrührerischen
Ikonoklasm us und eine B ereitschaft zu physischer M ilitan z, die es sonst nur beim
„T ürken“ gab. D ie Lutheraner schließlich polem isierten gegen bestim m te do ktrinale E igenheiten der Reform ierten in B ezug auf die C hristologie und die T rinitäts­
lehre, aber auch die B ilderfrage und andere Spezifika als „türkisch “. A ngesichts
der Intensität dieser w echselseitigen „T urkisierungsstrategien“ muss die B e­
schw örung des sogenannten „christlichen A bendlandes“ aus der Sicht des Frühneuzeitlers als ideenpolitische C him äre decouvriert w erden .69
5.
D er ku lturelle Z usam m enhang zw ischen dem 15. und dem 16. Jah rh un dert
ist vielfältig und unübersehbar;70 w enn die E pochentitulaturen „Spätm ittelalter“
und „R eform ation“ dazu führen, diesen Zusam m enhang zu verunklaren, bedür­
fen sie der K ritik oder der R evision. F reilich besteht dieser kulturelle Z usam m en­
hang des 15. und des 16. Jahrhunderts nicht trotz, sondern gerade w egen des B ru­
ches, der m it Luthers Bannung durch die Papstkirche und der diese beantw orten­
den E xkom m unikation der Papstkirche durch Luther gegeben w ar.71 D enn dieser
Bruch nötigte diejenigen, die sich eine R eform ation der K irche im Sinne der W it­
tenberger zum Ziel gesetzt hatten, dazu, die Ü berlieferung insbesondere der la­
teineuropäischen cbristianitas zu revidieren und dasjenige als Erbe anzueignen,
dem man selbst G eltung zuzuerkennen w illens war. Insofern w urde die R eform a­
tion auch eine entscheidende Instanz zu r V erm ittlung des M ittelalters an das kon­
fessionelle Z eitalter und die N euzeit.
Dass die historischen A usm aße jenes Bruches, der seit 1520 durch die okzidentale C hristenheit ging, sich in eben jen er Zeit auszuw irken begannen, in der die
O sm anen Europa bedrohten w ie niem als zuvor - im dritten Jah rzeh n t des
16. Jahrhunderts - , ist alles andere als eine zufällige Synchronie. O hne die T ürken
68 Vgl. dazu Kaufmann: Türckenbiichlein (wie Anm . 1), S. 42 ff., S. 174 ff.
f’9 Dass der Abendlandsdiskurs insbesondere vor dem H intergrund seiner neuerlichen
H ochkonjunktur nach dem 2. W eltkrieg (vgl. die H inweise in: O skar Köhler: A rt. A b end ­
land. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1. Berlin 1977, S. 17-42, hier: S. 19) der d rin ­
genden Selbsthistorisierung bedarf, kann man sich an den Revisionsdebatten der deutschen
Geschichtswissenschaft nach 1945 (vgl. bes. W infried Schulze: Deutsche G eschichtswissen­
schaft nach 1945. M ünchen 1989, S. 21 ff.) vergegenwärtigen.
70 Vgl. dazu Kaufmann: Konfession und K ultu r (wie Anm . 9), S. 7 ff.; ders.: Geschichte der
Reform ation (wie Anm . 2), S. 11 ff.
71 Vgl. Thomas Kaufmann: M artin Luther. München -20 10, S. 53; ders.: Geschichte der
Reform ation (wie Anm . 2), S. 2 8 6 ff.
306
T h o m a s K aufm an n
hätte die Reform ation schw erlich überlebt. Denn der D ruck Suleim ans auf die
H absburger nötigte Karl V. und Ferdinand zu K om prom issen mit den protestan­
tischen R eichsfürsten, die im Ergebnis die R eform ation politisch sicherten.72
O hne das G ottesgericht, das man in den m ilitärischen Erfolgen der O sm anen über
die christiamtas niedergehen sah, hätte w ohl auch der reform atorischen Theologie
und ihrer grundstürzenden K ritik am bestehenden K irchenw esen ein w ichtiger
rezeptionsgeschichtlicher N ährboden gefehlt. O hne die Erfolge der T ürken aber
w äre es auch w eniger dringlich gew esen, das, was C hristsein hieß, jedem C h ris­
tenm enschen katechisierend nahe zu bringen und ihn so vor den Versuchungen
der „türkischen R elig io n “ zu schützen. Sollte man also in einem historisch um fas­
senden, durchaus anspruchsvollen Sinne form ulieren: „Ohne T ürken keine R efor­
m ation“ ?
Abstract
C o nsidering the ever-recurring threat posed b y O ttom an troops after the con­
quest of C onstantinople (1453), the author analyses the relevant literature con­
cerning its depiction of the “Turkish re lig io n ”. As to the R eform ation, he stresses
that the “Turkish questio n ” played a decisive role in the conflict am ong C h ristian
groups, and that reciprocal strategies to “tu rk ish iz e ” the religious opponent w ere
em ployed. C oncerning the perception of the Turks in reform atory tim es, the pre­
reform atory “T urcica” played an ever-increasing role after the siege of Vienna.
72 Vgl. nur Stephen A . Fischer-Galati: O ttom an Imperialism and Germ an Protestantism
15 2 1-1 5 5 5 . Cam bridge 1959; W infried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Ja h r­
hundert. München 1978; zur Virulenz der Türkenfrage in den politischen Diskursen des
Reichs vgl. zuletzt: Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische
Diskurse im A lten Reich (15 5 5 -16 4 8 ) (= Studies in Medieval and Reform ation Traditions,
Bd. 126). Leiden u.a. 2007, S. 251 ff.
Yosef Kaplan
Between C hristianity and Judaism in
Early M odern Europe:
The Confessionalization Process of the
Western Sephardi Diaspora
F ifty years ago, the historian Jacob Katz defined the E arly M odern Period in A sh ­
kenazi Jew ish E urope as a tim e of social and cultural separation, a period of
“ghetto segregation ”. Katz described at length the attitude that Jew ish so ciety
developed tow ard its external surroundings, coining to the conclusion that: “The
logical co ro llary of the so cially introverted Jew ish ghetto life was the Jew ish in d if­
ference to conditions and events in the outside w orld. The tense Jew ish feeling and
apprehension regarding C h ristian ity, w hich w ere the principal characteristics of
the M iddle A ges, had disappeared during the ghetto p erio d .” 1 Katz argued that
during the sixteenth and seventeenth centuries, although the Jew was aw are that
C h ristian ity was a denial of Judaism , “w hen he had occasion to define the Jew ish
faith or to expound its tenets, he did not - as had fo rm erly been the case - do so in
term s of a com parison w ith C h ristian ity.”2 A ccording to Katz, Jew s had stopped
engaging in polem ics w ith C h ristian ity in the sixteenth century. A lthough from
tim e to tim e public controversies w ere held betw een Jew s and C h ristian s, the vast
m ajo rity of these debates “w ere accorded o n ly brief and incidental m ention in the
w ritings of the [Jew ish] scholars concerned.”3
Katz also claim ed that in Jew ish thought, “differentiation between Judaism and
C h ristian ity as opposing creeds disappeared alm ost en tirely in this p erio d ”.4 F u r­
therm ore, not even the Reform ation aroused an y p articular response am ong the
Jew s, though “Luther him self did attract some attention. [ ...] some Jew s at first
judged Luther to be a C h ristian rebel, on the verge of becom ing a Jew h im self.”
This interest, however, did not last long: “O nce the upheaval of the Reform ation
1 Jacob Katz: Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jew ish-G en tile Relations in Medieval
and M odern Times. N ew York 1962, pp. 133 f.
2 Ibid., p. 134.
3 Ibid., p. 135.
4 Ibid., p. 138.
308
Yosef Kaplan
had subsided, Jew s ceased to interest them selves in the religious differences and
controversies of the C h ristian w o rld .”3
K atz’ conclusions, especially the application of the concept “ghetto segre­
gatio n ” to the Jew s of Poland and Lithuania at that tim e, have met w ith a good bit
of criticism in recent years.6
H ow ever, if there is a Jew ish com m unity in the E arly M odern Period whose
entire existence was m arked by the test of the liv ely and tense encounter w ith the
C h ristian w o rld , religiously, socially, and culturally, it was the com m unity of Se­
phardi Jew s in the new centers they established in W estern Europe. These Jew s
w ere far from indifferent to C h ristian ity and to events in the C h ristian w orld
surrounding them . N ot o n ly had th ey grow n up from w ithin C hristianity, been
educated in its bosom , and absorbed its conceptions, but their self-dehnition as
Jew s was form ed in sharp confrontation w ith C h ristian beliefs and values. In all of
Jew ish histo ry until the m odern age, no com m unity was ever so perm eated b y
C h ristian concepts, w hich it had internalized so extensively, or showed such in ti­
mate acquaintance w ith C h ristian theology. It is also doubtful w hether an y other
Jew ish com m unity gave rise to so m any detractors of C h ristian ity, w ho w rote
such blunt and vehem ent polem ical w orks as those w ritten b y the Sephardi Jew s
in W estern Europe, form er N ew C hristian s w ho had adopted the Jew ish religion.
The entire com plex and tangled h isto ry of this D iaspora developed in the shadow
of the confrontation w ith Rom an C atholicism , along w ith a fascinating encounter
w ith m ost of the stream s of Protestantism .
I. The Mass Conversions of the Jews of Spain and Portugal
in the Late Middle Ages
It is difficult to im agine the shock that struck the Jew s of Spain in the Late M iddle
A ges. This flourishing Jew ish com m unity, w hich regarded itself as deeply rooted
in Spanish soil, w as uprooted from its home and fell apart. “The Exile of Jerusalem
in Sp ain ” w as exiled for a second tim e in 1492, and its m em bers dispersed to the
four corners of the w o rld .7 H ow ever, there p ro b ab ly was not a single exile am ong
those tens of thousands w ho did not leave behind relatives who had been bap­
tized, vo lu n tarily or by force, in the land of persecution. Indeed, since the begin­
ning of the large waves of conversion at the end of the fourteenth century, re­
lations betw een the Jew s and the com m unity of converts had been com plex and
5 Ibid., p. 138.
6 Elisheva Carlebach: Early M odern Ashkenaz in the W ritings o f Jacob Katz. In: Jay M. H ar­
ris (ed.): The Pride o f Jacob. Essays on Jacob K atz and His W ork. Cam bridge, London 2002,
pp. 65-83.
7 Jane S. Gerber: The Jews of Spain. A H istory o f the Sephardic Experience. N ew York, To­
ronto 1992, pp. 1 4 5 -2 1 1 ; Jonathan I. Israel: Diasporas within a Diaspora. Jews, C ryp to-Jew s
and the W orld M aritim e Empires (15 4 0 -17 4 0 ). Leiden, Boston, Köln 2002, pp. 1—39.
B e tw e en C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a rly M o d e r n Europe
309
tangled. A long w ith signs of so lid arity and cooperation, considerable tension and
conflict em erged betw een them, especially w ith those converts who sought to be
assim ilated into C h ristian so ciety and to assure them selves advancem ent there.
The forced departure and dispersal sharpened the separation betw een the exiles
and the N ew C hristians w ho rem ained behind and heightened the sense of failure
in the consciousness of the exiles. The conversion of tens of thousands of Spanish
Jew s rem ained an open w ound in the historical m em ory of Sephardi Jew ry.
T hroughout the Sephardi Jew ish D iaspora, in the O ttom an Em pire, in N orth A f­
rica, and in Italy, and later in N orthw est Europe and the N ew W orld, during the
entire E arly M odern Period, their rabbis and leaders w restled w ith acute ques­
tions regarding the H alakhic definition of the conversos. Some w ished to regard
them as forced converts, w hile others argued that th ey were apostates, C h ristian
in every sense.8 The Jew s of Spain knew that not all the conversos and not all of
their descendants, w ho w ere born as C hristian s, w ere cut from the sam e cloth.
T h ey kn ew that along w ith thousands of Jew s w ho had been forced to convert in
the pogrom s of 1391, there w ere m any others w ho had freely chosen to approach
the baptism al font, either in hopes that conversion w o uld raise their social status
or w ith the feeling that God had abandoned the Jew s and chosen the C hristians in
their stead. T h ey knew that some of the conversos w ere skeptics or nihilists, w ho
had become C h ristian based on the paradoxical assum ption that assim ilation in
the m ajo rity cam p w o uld help them conceal their heresy w h ile at the sam e time
freeing them of the burdens of Jew ish existence. H ow ever, the Jew s of Spain also
knew that m any of the conversos had been attracted to baptism out of true reli­
gious conviction, and indeed some of them became the chief spokesm en in the
fierce an ti-Jew ish attacks that inundated fifteenth cen tury Spain.9 A m ong the ex­
iles them selves, especially am ong the tens of thousands w ho first w ent to Portugal
and there tasted the bitterness of forced separation from their hom eland, several
hundred converted to C h ristian ity a few m onths after leaving Spain, in order to
return to their cities in C astile and recover their houses and property, according to
the prom ise that had been given to them b y the C ath o lic M onarchs in a special
decree issued at the end of 1492.10
W ithin a relatively short tim e, the exiles w ho w ent to N orth A frica, Italy, and
the O ttom an Em pire succeeded in establishing new com m unities, w here Sephardi
8 H irsch Jakob Zimmels: Die M arranen in der Rabbinischen Literatur. Forschungen und
Quellen zur Geschichte und Kulturgeschichte der Anussim . Berlin 1932; Simha Assaf: The
C onversos of Spain and Portugal in the Responsa Literature. In: Meassef Zion 5 (1933),
pp. 19—60 (in Hebrew); Benzion Netanyahu: The M arianos o f Spain. From the Late X IV th to
the Early X V Ith C en tury According to C ontem porary H ebrew Sources. N ew York 21972;
Simon Schwarzfuchs: Le retour des marranes au Judaism e dans la litterature rabbinique. In:
C arlos Barros (ed.): Xudeus e C onversos na Flistoria. Actas do Congreso Internacional
Ribadavia 14—17 de O utubro de 1991, vol. 1. Santiago de C om postela 1994, pp. 33 9-34 8.
9 Yitzhak Baer: A H istory o f the Jew s in Christian Spain, vol. 2. Philadelphia, Jerusalem
1992, pp. 13 9 -1 5 0 , pp. 2 7 6 -2 7 7 ; Benzion N etanyahu: The O rigins of the Inquisition in F if­
teenth C en tu ry Spain. N ew Y ork 1995, pp. 16 8-20 6.
10 Haim Beinart: The Expulsion of the Jew s from Spain. O xford, Portland 2002, pp. 3 2 9 -4 12 .
310
Yosef Kaplan
H alakh a and custom flourished again. The m em bers of that D iaspora, who were
m ainly concentrated in the Levant, rehabilitated them selves in their new com m u­
nities, w hich w ere form ed as an extension of Sephardi Jew ish life in the Iberian
m onarchies, and their creativity in the areas of H alakh a, exegesis, m ysticism , and
literature thrived and expanded in the new settin g.11
In contrast to the exiles w ho had gone to the M iddle East and N o rth A frica and
begun to strike root in the lands that had given them shelter, those who w ent to
Portugal suffered persecution and catastrophe. In order to m arry Isabel, the
daughter of the C atholic M onarchs, M anuel I, who ascended to the throne of P o r­
tugal in 1495, w as forced to com m it him self to rem oving the Jew s from his
country. T hus, tow ard the end of 1496 he ordered the expulsion of all the Jew s
from the kingdom , both the veteran residents and the recent exiles from Spain.
T heir num bers m ay have reached a hundred thousand, n early a tenth of the p o p u­
lation of the kingdom . A t first he gave the Jew s a year to enable them to arrange
their departure in organized fashion, but w ith in a short tim e he changed his mind
and, for en tirely pragm atic reasons, he decided nevertheless to keep the Jew s in his
kingdom . H ow ever, in order to observe his obligation to the C ath o lic M onarchs,
who had dem anded the rem oval of Jud aism from the entire Iberian peninsula, he
im posed C h ristian ity on all the Jew s. First the children w ere seized and baptized
b y force, but w ith a short tim e the decree of forced conversion w as im posed upon
the entire Jew ish p o p u latio n .12 A bout a year afterw ard, in 1498, when the few
Jew s living in the sm all kingdom of N avarre w ere expelled, the Iberian peninsula
was em ptied of all its Je w s .13
P aradoxically, however, the events of the end of the fifteenth cen tury did not
expunge the presence of the Jew s from Iberia. D uring the sixteenth and seven­
teenth centuries, the threatening shadow of Judaism became a collective obsession
in both Spain and Portugal. The establishm ent of the R o yal Inquisition in Spain in
1478, a few years before the expulsion of the Jew s, produced a m ighty bureau­
cratic m echanism , which w as ap p aren tly established so lely to investigate conversos, w ho w ere suspected of “Ju d aiz in g ”, and them alone, although the investi­
gative institution produced an attitude of suspicion against the entire com m unity
of N ew C h ristian s, w ith no distinction between lo yal C hristian s and “Ju d aiz e rs”
11 Jacob Barnai: The Jew s o f Spain in N orth Africa. In: Haim Beinart (ed.): M oreshet Sepharad. The Sephardi Legacy, vol. 2. Jerusalem 1992, pp. 6 8 -7 2 ; Avraham David: The Spanish
Exiles in the H oly Land. In: Beinart (ed.): M oreshet, vol. 2, pp. 7 7 -10 8 ; Joseph Hacker: The
Sephardim in the O ttom an Empire in the Sixteenth Century. In: Beinart (ed.): M oreshet,
vol. 2, pp. 10 9 -13 3 ; R obert Bonfil: The H istory o f the Spanish and Portuguese Jew s in Italy.
In: Beinart (ed.): M oreshet, vol. 2, pp. 2 17 -2 3 9 .
12 M aria Jose Pimenta Ferro Tavares: O s Judeus em Portugal no seculo XV, vol. 1. Lisboa
1982, pp. 4 8 3 -5 1 0 ; idem: Expulsion or Integration? The Portuguese Jew ish Problem . In:
Benjamin R. Gam pel (ed.): Crisis and C reativity in the Sephardic W orld 13 9 1-1 6 4 8 . N ew
York 1997, pp. 9 5 -10 3 .
13 Benjamin II. Gampel: The Last Jew s on Iberian Soil. N avarrese Je w ry 1479/1498. Berke­
ley, Los Angeles, O xford 1989.
B e tw een C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a rly M o d e r n Europe
311
- those who continued to observe certain Jew ish cerem onies in some m anner.14
The expectations of som e of the converts from Judaism , w ho had hoped to be left
in peace after the E xpulsion, proved vain. W ith the departure of the exiles, the
N ew C hristians inherited all the negative stereotypes that had been applied to the
Jew s, and their enem ies regarded them as Jew s in every sense. Indeed, w ith the
up rooting of Judaism , the N ew C hristians filled the social vacuum that had been
created in Spain and Portugal. The econom ic activities and social functions that
had p revio usly belonged to the Jew s now rem ained in the hands of the conversos,
who w ere a very significant percentage of the urban m iddle class. The w ealthiest
of them continued to farm and collect taxes, and now that the obstacles of religion
had been rem oved, th ey m anaged to rise to high political positions in the regim e
and even to form fam ily ties w ith the Iberian aristocracy, m ain ly w ith those w ho
had becom e im poverished and hoped to rebuild their fortunes w ith the w ealth of
the co nversos.15 H ow ever, resentm ent against the Jew ish converts had already
begun to em erge in the m id-fifteenth century, m ainly because of the strikin g social
m o bility of m any of them , w ho m anaged, b y means of their w ealth and adm inis­
trative and financial experience to gain elevated public office and im prove their
status in conspicuous fashion. The success of the N ew C hristians aroused an ag­
gressive and vehem ent public response, m ain ly am ong urban m em bers of the
m iddle class and clergym en. Both of these groups sought to block the advance of
the N ew C hristians b y means of regulations of “P u rity of B lo o d ”, w hich w ere
introduced in m ilitary and religious orders, in m unicipal councils and the un iver­
sities, and in cathedrals and guilds, w ith the aim of blocking the en try of converts
of Jew ish or M uslim o rig in .16
The h isto ry of the N ew C hristians developed d ifferen tly in Portugal. The his­
torian Y. H. Y erushalm i has described and an alyzed the differences between the
outcom es of the mass conversions in the tw o Iberian kingdom s and the influence
of these differences on the form ation of the character of the conversos in each of
them. A lthough some converts at the end of the fifteenth cen tury w illin g ly chose
14 Bartolom e Bennasar: L’Inquisition espagnole X V e-X IX e siecle. Paris 1979; Haim Beinart:
Conversos on Trial. The Inquisition in Ciudad Real. Jerusalem 19 81; Jaime C ontreras: El
Santo O ficio de la Inquisicion de Galicia. M adrid 1982; Michele Escam illa-Colin: C rim es et
chätiments dans l’Espagne inquisitoriale, 2 vols. Paris 1992; N etanyahu: The O rigins (see
note 9), pp. 925--1092, pp. 11 3 3 -1 136; Francisco Bethencourt: L’Inquisition a l’epoque m o­
derne. Espagne, Portugal, Italie, X V e -X IX siecle. Paris 1995; H enry Kamen: The Spanish
Inquisition. A H istorical Revision. London 1997, pp. 45 -65.
15 Francisco M arquez Villanueva: C onversos y cargos concejiles en el siglo XV. In: Revista de
Archivos, Bibliotecas y Museos 13 (1957), pp. 5 0 3-54 0; Kamen: Spanish Inquisition (see
note 14), pp. 28 -33.
16 A lbert Sicroff: Les controverses des statuts de “purete de sang” en Espagne du XVe au
XVIIe siecle. Paris 1960; H enry Mechoulan: Le sang de l’autre ou l’honneur de Dieu. In­
diens, juifs et morisques au Siecle d ’Or. Paris 1979; Juan H ernandez Franco: C ultura y limpieza de sangre en la Espana moderna. Puritate sanguinis. M urcia 1996; Linda M artz: Im ple­
mentation o f Pure-Blood Statutes in Sixteenth-C entury Toledo. In: Bernard D. C ooperm an
(ed.): In Iberia and Beyond. Hispanic Jew s between Cultures. N ewark, London 1998,
pp. 2 4 5 -2 7 1.
312
Yosef K aplan
C h ristian ity in Portugal as w ell, the vast m ajo rity of the Jew s there w ere converted
b y force, in rapid and unexpected collective baptism s. M oreover, m ost of the con­
versos in Portugal cam e from the ranks of the exiles from C astile, who until then
had w ithstood all possible tests of their faith and belonged to the m ost lo yal core
of Sephardi Je w ry : those w ho had been w illin g to abandon their hom eland and
forfeit m uch of their p ro p erty so lely to rem ain faithful to their religion. Since the
conversion in Portugal was collective, not o n ly did it fail to erase the m arks of co l­
lective id en tity of the baptized, but rather it m ade them stand out. A lthough all of
the Jew s (w ith the exception of a very sm all group, w hich received special per­
m ission to leave the co un try) o fficially changed their religious affiliation, the cir­
cum stances and conditions of the conversion caused them to enter C h ristian ity as
a special group and not as individuals. The conversos rem ained in their neighbor­
hoods (even after the liq uid atio n of the Jew ish quarters, w h ich started to be im p le­
m ented in 1497), continued in their professions and m eans of livelihood, and the
fam ily and social ties that bound them rem ained strong even after 1497-1507,
w hen M anuel prohibited m arriages betw een N ew C h ristian partners, forcing
N ew and O ld C hristians to interm arry. Even after M arch 1507, w hen th ey w ere
granted by a ro yal decree to leave the co u n try the situation d id n ’t change, and
their situation deteriorated w hen this perm ission was abrogated in 1532.17 The
king and the institutions of the Portuguese regim e related to the N ew C hristians
as a separate ethnic group, and this approach did not change until the m id-eigh t­
eenth century. As m em bers of a distinct group, the conversos of Portugal w ere
required to p ay collective taxes, and their representatives even received official
recognition from the C ro w n . For n early fo rty years, the N ew C hristians of P o r­
tugal m anaged to block the frequent efforts to establish a R o yal Inquisition on the
Spanish m odel, and in this struggle, th ey dem onstrated considerable political
power. H ow ever, in 1536 Pope Paul III authorized the establishm ent of the Lusitanian Inquisition, and four years later the Portuguese inquisitors began investi­
gating people suspected of Ju d aizin g .18 In the first generation of its activity, the
num ber of suspects caught in their snares w as relatively sm all. H owever, tow ard
the end of the sixteenth century, under the influence of a vigorous ideological at­
tack w aged b y Portuguese churchm en against the N ew C h ristian s, the activities of
the Inquisition received significant encouragem ent, and persecution of conversos
was exacerbated: the three Portuguese tribunals, in Lisbon, C oim bra, and Evora
held fifty autos-da-fe betw een 1581 and 1600, and at these the sentences of n early
17 Yosef Haim Yerushalmi: From Spanish C ou rt to Italian G hetto. Isaac C ardoso: A Study in
Seventeenth-C entury M arranism and Jewish Apologetics. N ew York, London 1971, pp. 3 12; Herman P. Salomon: P ortrait o f a N ew Christian. Fernäo Älvares M elo (15 6 9 -16 3 2 ).
Paris 1982, pp. 1 3 -1 7 ; Renee Levine Melammed: A Q uestion o f Identity. Iberian C onversos
in Flistorieal Perspective. O xford, N ew Y ork 2004, pp. 5 1 —60.
18 Alexandre H erculano: H istoria da origem e estabelecimento da Inquisi^äo em Portugal,
vol. 1. Lisboa 1907, pp. 2 2 8-28 6; A n ton io Jose Saraiva: Inquisi^äo e cristäos-novos. Lisboa
S1985. pp. 3 9 -5 5 ; Maria lose Pimenta Ferro Tavares: ludai'smo e Inquisieao. Estudos. Lisboa
1987, pp. 10 5 -17 3 .
Be tw e en C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a r ly M o d e r n Europe
313
three thousand people accused of Ju d aizin g was read, of whom 221 w ere burned at
the stak e.19 Thus we find that at a tim e w hen the persecution of "Ju d aizers” had
declined alm ost com pletely in Spain itself, it received enorm ous im petus in P o rtu­
gal, thanks to the vigorous activity of the L usitanian Inquisition.
The converso co m m unity in Spain and Portugal was not uniform . There w ere
some pious C hristian s, including clergym en, w ho had internalized their new faith
out of deep conviction and identified ab solutely w ith the C atholic establishm ent.
A m ong them there was no lack of people who w ere convinced that after the “J u ­
d aizers” had been punished b y the Inquisition, the cloud of suspicion that had
overhung all of the innocent conversos and N ew C h ristian s w o uld be dispersed,
and th ey could breathe easily. H ow ever, am ong the N ew C hristians w hose lo yalty
to C h ristian ity w as unim peachable, non-conform ist voices could also be heard,
those w ho sought to bring sp iritual and m oral renew al to C h ristian ity and who
advocated extensive reform s in the C hurch in the sp irit of Erasm ian hum anism .20
L ikew ise, the religious individualism of some of the conversos was expressed in
m ystical tendencies. Some of these people u ltim ately cam e into conflict w ith the
Inquisition, w hich tried to bind together their deviant view s and their Jew ish o ri­
gins, even accusing them of Ju d aizin g.21
H ow ever, along w ith clear evidence of the activity of N ew C hristians w ith total
adherence to C h ristian ity, other evidence has also been preserved, show ing that
m any conversos retained some affiliation w ith the Jew ish faith. It is difficult to
evaluate the num erical w eight of these conversos; however, even if w e assum e that
some of the accusations that the Inquisition levied against them derived from the
desire to strike at the stratum of conversos as a social class or because of ethnic
hatred, there is m ore than sufficient evidence of lo y a lty indicating that some
yearning for Jud aism had not faded from am ong m any N e w C hristians. The con­
tent of this yearn in g could take various forms and be expressed in m any w ays.
Some of the conversos w ere scrupulous about observing the Sabbath, the festivals
and fasts, although this observance w as occasionally m erely partial or sym bolic.
Some refrained from eating foods prohibited b y the Torah, though in m ost cases
they did not observe K ashrut according to Jew ish law. F ew Jew ish men w ere cir­
cum cised, but m ore than a few men and w om en am ong the conversos knew Jew ­
ish p rayers in Spanish translation b y heart, and some of them observed a num ber
of Jew ish custom s, w hich, over tim e, took on new form s and often obscured their
19 Stephen Haliczer: The First H olocaust: The Inquisition and the C onverted Jew s o f Spain
and Portugal. In: idem (ed.): Inquisition and Society in Early M odern Europe. Totowa 1987,
pp. 7 -1 8 , pp. 11 f.
20 Marcel Bataillon: Eras mo y Elspana. Estudios sobre la historia espiritual del siglo XVI.
Mexico, Buenos Aires 1950; Eugenio Asensio: El erasmismo y las corrientes espirituales
afines. C onversos, franciscanos, italianizantes. In: Revista de Filologia Espanola 36 (1952),
pp. 3 1 —99; Am erico C astro: Aspectos del vivir hispanico. Madrid 1970; Jose Luis Abelian: El
erasmismo espanol. M adrid 1976.
21 Jose C arlos G öm ez-M enor: Linaje judi'o de escritores religiosos y misticos espanoles del
siglo X V I. In: Angel Alcala (ed.): Judi'os, sefarditas, conversos. La expulsion de 1492 y sus
consecuencias. Valladolid 1995, pp. 58 7-60 0.
314
Yosef Kaplan
Jew ish o rigin .22 N atu rally the beliefs of the N ew C hristians took shape in con­
frontation and opposition to d ecidedly C h ristian concepts and attitudes. T hus, for
exam ple, the belief took root am ong the conversos that faith in Jesus did not as­
sure the redem ption of the soul but rather faith in the L aw of M oses. Since they
were prevented from observing the com m andm ents of the L aw of M oses in the
p articular circum stances in w hich th ey lived, th ey found a substitute in the
opinion that faith in the Torah was sufficient to assure redem ption.23 We find that
some of them used to call Q ueen Esther “Saint E sther”, and th ey regarded her as a
m odel and exam ple of som eone w ho concealed her Judaism because of her
m ission; as the B ook of Esther says, “Esther had not shewed her people nor her
kin d red ” (2:10), and by so doing she saved the Jew s from perdition. T h ey at­
tributed unique im portance to the Fast of Esther, and, follow ing her exam ple, the
conversos observed a three d ay fast.24
A s long as Jew s rem ained in Spain, the “Ju d aiz in g ” conversos could get help
from them in p artially observing the com m andm ents. Indeed, some of the re­
proaches leveled against the conversos b y the rabbis during the fifteenth century
derived from apprehension regarding the num erous m anifestations of closeness
betw een Jew s and conversos, from the desire to condem n im m ediately the attrib u ­
tion of an y legitim acy to the m im m alistic Jud aism of the Ju d aizin g conversos. The
rabbis did not w ish to give the im pression that partial observance of custom s was
sufficient to exempt the conversos from the p ro p er observance of Ju d aism .25
W ith the passage of tim e, the connection w ith Jew ish L aw am ong the descen­
dants of the conversos declined from that of the first generations. T heir Jew ish
know ledge dim inished, and after the expulsion of the Jew s from Spain, alm ost all
their sources of know ledge about the Jew ish religion w ere blocked. The censor­
ship of the Inquisition strictly forbade the possession of Jew ish literature, and
even d ecid ed ly C h ristian books w ere confiscated on suspicion of in directly dis­
sem inating Jew ish kn o w ledge.26
Conversos w ho w ished to rem ain lo yal to the faith of their fathers could rely
o n ly on oral traditions passed from generation to generation, although as their
separation from the Jew ish w o rld deepened, the sources of know ledge that n o ur­
ished the Jud aism of the conversos dw indled. Paradoxically, th ey also gathered
22 Israel S. Revah: Les Marranes. In: Revue des etudes juives 118 (1959/60), pp. 2 9 -7 7 ; David
M. G itlitz: Secrecy and Deceit. The Religion o f the C rvp to-Jew s. Philadelphia, Jerusalem
1996, pp. 9 7 -5 6 1.
23 Yosef Kaplan: The W estern Sephardi Diaspora. Tel A viv 1994, pp. 25 f. (in Hebrew).
-4 G itlitz: Secrecy (see note 22), pp. 37 7-379.
25 Gerson David C ohen: R eview o f B. N etanyahu’s The M arranos o f Spain. In: Jewish Social
Studies 29 (1967), pp. 17 8 -18 4 .
26 Israel S. Revah: La censure inquisitoriale portugaise au X V I siecle. Lisboa 1960; A n ton io
M arquez: Literatura e Inquisicion en Espana 1478/1834. M adrid 1980, pp. 1 4 1 -1 8 8 ; Kamen:
Spanish Inquisition (see note 14), pp. 10 3 -13 6 ; Angel Alcala: La censura inquisitorial de la
literature del Siglo de O ro en Espana y en Portugal: com paracion de sus “Indices” y sus resultados. In: Anita N ovinsky/M aria Luiza Tucci Carneiro (eds.): Inquisigao. Ensaios sobre
M entalidade, Heresias e Arte. Säo Paulo 1992, pp. 4 2 1-4 5 6 .
B e tw e e n C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a r ly M o d e rn Europe
315
scraps of inform ation and even found translated passages of Jew ish w o rks in antiJew ish sermons and libels, books against the Talmud and rabbinical Judaism that
w ere printed in Spain and Portugal durin g the sixteenth and seventeenth centuries.
H owever, this source of inform ation had its pitfalls, since along w ith inform ation
about Jew ish law s and custom s, th ey also internalized the contem pt and criticism
of the C hristian detractors, who w ere often the most rigid of spokesm en for C ath o ­
lic orthodoxy.27
II. The Creation of the Western Sephardi Diaspora
F o llow ing the annexation of Portugal to the Spanish kingdom in 1580 by P h il­
ip II, masses of N ew C hristians began to flow from Portugal to Spain in hopes of
slipping aw ay from the investigations of the Portuguese Inquisition, w hose strin ­
gency proved to be w orse than that of Spain. K now ing that from the m id-sixteenth century, the Spanish tribunals had alm ost en tirely ceased dealing w ith "Jud aizers” and was concentrating on other form s of heresy, th ey hoped to find
shelter that w o uld provide them w ith tran q u ility and security. A m ong the N ew
C hristians w ho reached Spain at that tim e a few dozen extrem ely w ealth y finan­
ciers stood out. These men had held extended negotiations w ith King Philip III
before their arrival. In return for the huge sum of I 860000 ducats, w hich the N ew
C hristians paid him , he induced the Pope to issue a general pardon for all the P o r­
tuguese N ew C hristians. W ithin a short tim e, these bankers became the central
financial support tor the Spanish crow n, and they preserved their preferred status
un til alm ost the m id-seventeenth century.28
The Portuguese N ew C hristians pinned high hopes in Philip III, the Spanish
king w ho, in 1606, rem oved the restrictions on their free movem ent. The new
voices that were heard in Spain in the first quarter of the seventeenth cen tury re­
garding the need to im prove the econom ic condition of the crow n b y attracting
N ew C hristians from beyond the borders b y means of a tolerant policy, even b y
allow ing the return of Sephardi Jew s descended from the exiles, on condition that
th ey convert, encouraged other conversos from Portugal to move to the centers of
trade in C astile and A n d alusia.29 H ow ever, before m any years had passed, the
tables w ere turned again. F o llow ing the flow of thousands of Portuguese conver­
sos, the atm osphere in Spain changed com pletely. The new presence of thousands
of Portuguese conversos once again aroused apprehension regarding the renewed
spread of the “plague of Ju d aizin g ”, and public panic reached unprecedented
17 Yosef Haim Y'erushalmi: Professing Jew s in Post-Expulsion Spam and Portugal. In: Saul
Lieberm an/Arthur H ym an (eds.): Salo W ittm ayer Baron Jubilee Volume, vol. 2. Jerusalem
1974, p p . 10 23-1058 .
28 Yerushalmi: From Spanish (see note 17), pp. 8 -1 2 , pp. 66 f.
29 Israel S. Revah: Le plaidoyer en faveur des ‘N ouveaux C hretiens’ portugais du Licencie
Martin G onzalez de C ellorigo (M adrid 1619). In: Revue des etudes juives 122 (1963),
pp. 279-398.
316
Yosef Kaplan
heights. The establishm ent of the Portuguese bankers and the extensive econom ic
activity of m any dozens of m erchants am ong the N ew C hristians rekindled the
old h o stility tow ard them. The Portuguese origins of the conversos m ade it very
easy to id en tify them as a separate ethnic group, to w hich decidedly religious
iden tifyin g m arks w ere applied. In seventeenth cen tury Spain, “P o rtugu ese” and
“Je w ish ” cam e to be syno n ym o us.30 A ll the old stereotypes regarding conversos
w ere revived, including extrem ely grave accusations regarding the plots of the
Judaizers against C hristianity. The Spanish Inquisition renew ed its investigations
against them , and betw een 1615 and 1710 th ey once again becam e the most dan­
gerous group of suspects. In C astile 32,2% of those condem ned b y the Inquisition
w ere Portuguese N ew C h ristian s.31
M eanw hile, however, a D iaspora of N ew C hristians was in form ation alongside
the D iaspora of the exiled Jew s and their descendants. D espite strict supervision
and restrictive regulations, w hich had been renew ed, g reatly lim itin g the depar­
ture of conversos from Portugal and pro h ib iting the en try of N ew C hristians to
the Spanish and Portuguese colonies overseas, throughout the entire sixteenth
cen tury the flow of conversos out of Iberia continued. O n ly a m in o rity m igrated
to the O ttom an Em pire or N orth A frica, w here th ey could o p en ly return to the
bosom of Judaism . A few dozen of these em igrants even reached Safed and Je ru ­
salem and established confraternities of repentants there, to “atone for the sin ” of
conversion to C h ristian ity.32 A m ong the founders of the co m m unity of Sm yrna,
in Turkey, tow ard the end of the sixteenth century, the large part played b y con­
versos from Portugal also stood out, three generations after the great conver­
sion.33
A t the sam e tim e, some N ew C hristians, albeit not many, also tried their luck in
the C h ristian countries of Europe, layin g the foundations for the W estern Se­
phardi D iaspora. As early as the 1530s sm all groups of N ew C hristians from Por­
tugal m anaged to establish beachheads in several places in Italy and even estab­
lished a num ber of their ow n congregations. For d ecidedly financial reasons, some
of the rulers of Italian states, and even several Popes, ignored the fact that these
people w ere C atholics in every sense, w hose adhesion to Judaism was an unpar30 Edward Glaser: Referencias antisemitas en la literatura peninsular de la Edad de O ro. In:
N ueva revista de filologia hispänica 8 (1954), pp. 3 9 -6 2 ; Yerushalmi: From Spanish (see
note 17), pp. 1 0 f.; Juan Ignacio Pulido Serrano: Injurias a C risto. Religion, polftica y antijudafsm o en el siglo XVII. Alcala de Henares 2002.
31 Jaime Contreras/Gustav Henningsen: F orty-F ou r Thousand Cases o f the Spanish Inquisi­
tion (15 4 0 -17 0 0 ). Analysis o f a H istorical Data Bank. In: G ustav Henningsen/John Tedeschi/Charles Am iel (eds.): The Inquisition in Early M odern Europe. Studies on Sources and
M ethods. Dekalb 1986, p. 119.
32 David: Spanish Exiles (see note 11), pp. 9 6 -1 0 2 , pp. 10 5 -10 7 .
33 Jacob Barnai: The O rigins of the Jewish C om m unity in Sm yrna in the O ttom an Period.
In: Pe’amim 12 (1982), pp. 4 7 -5 8 (in H ebrew); idem: Portuguese M arranos in Sm yrna in the
Seventeenth Century. In: Menahem Stern (ed.): N ation and H istory, vol. 1. Jerusalem 1983,
pp. 2 8 9 -2 9 8 (in H ebrew); idem: Congregations in Sm yrna in the Seventeenth Century. In:
Pe’amim 48 (1991), pp. 6 6 -8 4 (in Hebrew).
Between C hristianity and Judaism in Early M odem Europe
317
donable sin. The financial resources at the disposal of some of these conversos and
their connections w ith Sephardi Jew s in the O ttom an Em pire m ade them attrac­
tive to the rulers of Italian states, w ho wished to renew their com m ercial ties w ith
the Levant, w hich had suffered greatly after the fall of C onstantinople to the O t­
tom ans in 1453. The Jew ish m erchants, w ith extensive ties in the East and West,
could penetrate the countries of the M iddle East and reach places that w ere inac­
cessible to Genoese and Venetian m erchants.34 D uke Ercole II of Este granted a
w rit of extensive privileges to the Jew s, ostensibly o n ly Jew s from the Levant, to
come and settle in his duchy, but in fact this concession was intended to attract
N ew C hristians from Portugal to his state. As a result of this move, a new com ­
m un ity was established in Ferrara, w hich w as w ell know n because of the printing
house of Yom Tob A thias and A braham U sque, in w hich the renow ned trans­
lation of the B ible into Spanish w as published (know n as the “Ferrara B ib le”).35 In
A ncona, too, in the Papal states, a Jew ish co m m unity of conversos arose under the
eaves of the v ery leaders of the C atholic C hurch. The Popes granted them protec­
tion and in 1544, 1547, and 1553 th ey granted them generous privileges for the
same financial reasons that had dictated the p o licy of the D uke of Este.36 In 1548,
D uke C osim o I de M edici invited Jew ish m erchants from the Levant and P o rtu­
guese m erchants to come and settle in Pisa. This tim e, however, as a condition for
granting his protection to those w ho came from the W est, th ey had to obligate
them selves to continue living as C hristians. H ow ever, am ong the Jew s who ar­
rived in Pisa from the Levant and received the righ t to live there openly as Jew s,
there w ere also form er N ew C hristians w ho successfully concealed their C atholic
past.37
Even though the Jew ish settlem ent in A ncona u ltim ately ended in tragedy,
when Pope Paul IV brought about the burning at the stake of tw en ty-five form er
conversos in 1555,38 and even though in 1581 the Portuguese conversos w ho had
reverted to Jud aism w ere expelled from Ferrara, these first efforts at settlem ent
34 Israel: Diasporas (see note 7), pp. 4 1 —65; Bonfil: The H istory (see note 11), pp. 222-228.
35 Cecil Roth: The M arrano Press at Ferrara 15 52-1555 . In: M odern Language R eview 38
(1943), pp. 3 0 7 -3 1 7 ; Yosef Haim Yerushalmi: A Jew ish Classic in the Portuguese Language.
In: Samuel Usque: Consolai^äo äs Tribula^öes de Israel. Edi^äo de Ferrara, 1553 com estudos
introdutorios p or Yosef Haim Yerushalmi e Jose V. de Pina M artins. Lisboa 1989, pp. 15 -12 3 ;
Renata Segre: Sephardic Refugees in Ferrara: Two N otable Families. In: Gampel (ed.): Crisis
(see note 12), pp. 16 4 -18 5 .
36 A riel Toaff: N uova luce sui marrani di Ancona. In: Studi sulPebraismo italiano in memoria
di Cecil Roth. Rome 1974, pp. 2 6 3 -2 8 0 ; Renata Segre: N uovi Docum enti sui M arrani d ’A n cona (15 5 5 -15 5 9 ). In: Daniel Carpi/Shlom o Sim onsohn (eds.): Michael 9 (1985), pp. 130—
233; Shlom o Simonsohn: M arranos in Ancona under Papal Protection. In: Carpi/Simonsohn
(eds.): Michael 9 (1985), pp. 2 3 4 -2 6 7 ; Bernard D. Cooperm an: Portuguese C onversos in A n ­
cona: Jewish Political A c tivity in E arlv M odern Italy. In: C ooperm an (ed.): In Iberia (see
note 16), pp. 29 7-35 2.
37 Israel: Diasporas (see note 7), p. 74.
38 Marc Saperstein: M artyrs, M erchants and Rabbis: Jew ish C om m unal C on flict as Reflected
in the Responsa on the B oycott o f A ncona. In: Jewish Social Studies 43 (1981), pp. 2 15 -2 2 8 ;
Toaff: N uova (see note 36); Segre: N uovi (see note 36).
318
Yosef Kaplan
w ere harbingers of a new D iaspora w ith in the general Sephardi D iaspora.39 These
w ere com m unities established in the heart of C h ristian Europe b y the form er
N ew C hristians them selves. Indeed, this D iaspora was distinct from the Sephardi
D iaspora in M uslim countries in that the vast m ajo rity of its m em bers w ere
form er conversos or their descendants. Toward the end of the sixteenth century,
tw o im portant com m unities w ere established in Italy, w hich w ere settled by N ew
C hristians w ho had returned to Judaism : Leghorn in the D uchy of Tuscany and
Venice, w hich was the m ain city of the Sephardi D iaspora in Europe until the
1630s, serving as the central bridge betw een the Sephardim in the East and those in
the W est.40
O ther N ew C hristian s slipped aw ay from Iberia to the Spanish and Portuguese
colonies in A m erica, but those w ho chose that m igration route did not do so in
order to change their official religious affiliation. Som e of them w ere m otivated by
financial interest or b y the desire to escape the suspicion of the Inquisition. But
even w hen th ey distanced them selves from the Iberian center, th ey could not ob­
scure their Jew ish origin. In the N ew W orld, too, th ey w ere forced to act w ith
great prudence, especially in the last third of the sixteenth century, w hen the Span­
ish Inquisition began to spread its arms there: in 1570s it established tw o tribunals
on the new continent, in M exico and Lim a, and in 1610 it added a third tribunal,
this tim e in C artagena de Indias.41 The Portuguese Inquisition did not place the
investigation of faith in B razil in the hands of a separate tribunal, but b y means of
the visits of inquisitors w ho w ere sent from Lisbon, it rem inded the N ew C h ris­
tians in its large co lo n y that even overseas th ey w ere under close scrutiny.42
Indeed, m any N ew C hristians w ho left Spain and Portugal in the E arly M odern
Period did not do so in order to return to Judaism . N ot everyone w ho escaped
from the persecution of the Inquisition necessarily regarded departure from Iberia
39 A ro n Di Leone Leoni: Due personaggi della “N ation Portughesa” di Ferrara: un martire e
un avventuriero. In: La Rassegna Mensile di Israel 57 (1991), pp. 4 0 7 -4 4 8 ; idem: Documents
inedits sur la “N ation Portugaise” de Ferrare. In: Revue des etudes juives 152 (1993),
p p . 13 7 -17 6 .
40 R enzo Toaff: La N azione Ebrea di L ivorno dal 1591 al 1715. Nascita e svlluppo di una comunita di mercanti. In: A riel Toaff/Simon Schwarzfuchs (eds.): The M editerranean and the
Jews. Banking, Finance and International Trade (X V I-X V III Centuries). Ramat Gan 1989,
pp. 2 7 1-2 9 0 ; idem: La N azione ebrea a L ivorno e a Pisa (15 9 1 -17 0 0 ). Firenze 1990; Francesca
Trivellato: The Fam iliarity o f Strangers: The Sephardic Diaspora, Livorno, and C ro ss-C u l­
tural Trade in the Early M odern Period. N ew Haven 2009; Benjamin Ravid: A Tale o f Three
Cities and their Raison d ’Etat: Ancona, Venice, Livorno and the C om petition fo r Jewish
Merchants in the Sixteenth Century. In: A liza M eyuhas G inio (ed.): Jew s, Christians and
M uslims in the M editerranean W orld after 1492. London 1992, pp. 13 8 -16 0 ; idem: A n Intro­
duction to the C harters o f the Jew ish M erchants o f Venice. In: Elliott H orowitz/M oises O rfali (eds.): The M editerranean and the Jews. Society, C ulture and Econom y in Early M odern
Times, vol. 2. Ramat Gan 2002, pp. 2 0 3 -2 4 7 ; R obert C. Davis/Benjamin Ravid (eds.): The
Jews o f Early M odern Venice. Baltimore, London 2001.
41 Israel: Diasporas (see note 7), pp. 9 7 -12 3 .
42 A rn old W iznitzer: Jew s in C olonial Brazil. M orningside Heights 1960, pp. 12-42; Anita
N ovinsky: Cristäos N ovos na Bahia. Säo Paulo 1972; Bruno Feitler: Inquisition, juifs et nouvcaux-chretiens au Bresil. Le N ordeste X V IIe et X V IIIe siecles. Leuven 2003.
B e tw e en C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a r ly M o d e r n Europe
319
as an opportune tim e to adhere to Judaism . Some of the em igrants o n ly w anted to
find a safe haven in order to continue their econom ic activities, and others were
driven by the urge for adventure to take up a w andering life or to seek their fo r­
tune in distant places. O thers left Iberia because th ey had fallen victim to the laws
of P u rity of Blood, w hich w ere introduced in various institutions in Spain and
Portugal and discrim inated against people of Jew ish or M uslim origins. For
exam ple, Paulo de Pina reached Italy from Portugal in 1599, after he had been re­
jected b y the Jesu it O rder because of the d iscrim in ato ry regulations that had been
introduced in that O rder six years earlier. H e hoped that in Italy he w o uld be able
to accom plish w hat had been denied him in his hom eland. H owever, follow ing a
m eeting in Leghorn w ith Eliahu M ontalto, a N ew C h ristian w ho had returned to
Judaism at that tim e, he decided to adhere to the Jew ish religion. H e changed his
nam e to R euel Jessurun and becam e an active m em ber of the Sephardi com m unity
of A m sterdam .43
The com m unities of the W estern Sephardi D iaspora w ent out of their w a y to at­
tract N ew C hristian s to them and to Judaism , but their efforts w ere not alw ays
successful. M an y descendants of the conversos possessed a strong C hristian con­
sciousness, and those w ho sought to assim ilate turned a deaf ear to the pleas of
their relatives, w ho had alread y been absorbed in Jud aism and sought to bring the
others in after them . Some conversos felt torn betw een co n tradicto ry tendencies
to C h ristian ity and Jud aism and found it difficult to come to a clear decision.
M an y N ew C hristian s w andered am ong the states and cities in the East and West
for m any years w ith o u t being able to come to a final decision. Som etim es, after
they had ap p aren tly determ ined to join Judaism , th ey changed their m inds and
retracted their decision.
D ecidedly econom ic interests led N ew C hristians from Portugal to the N eth er­
lands, w hich w ere part of the Spanish Em pire, and there, too, th ey could not re­
turn to Judaism . Indeed, some of them w ere not interested in doing so and were
m ainly draw n to the com m ercial and financial center that was arising in A ntw erp,
from w hich th ey engaged in w id e-rangin g activity.44
H undreds of N ew C hristians slipped across the Pyrenees to France, m ainly in
the m id-sixteenth century, settling in a num ber of places in the w est, near the
Spanish border: St. Jean de L uz, D ax, B iarritz, B idache, L abastide-C lairance, and
in towns in A quitain e such as Peyrehorade, B ordeaux, and B ayonne. In the sub ­
urb of St. E sprit of that city one of the m ost vital centers of N ew C hristians, w ith a
rather strong leaning tow ard Judaism , took shape. From 1550 on, the N ew C h ris­
tians in France received Lettres Patentes from the kings, who recognized them as
m erchants, “m em bers of the Portuguese n atio n ”, and granted them extensive au­
tonomy. A ccording to the privileges accorded them b y the rulers of France from
43 Wilhelmina C. Pieterse: Daniel Levi de Barrios als geschiedschrijver van de PortugcesIsraelietische gemeente te Am sterdam in zijn ‘Triumpho del govierno popular’. Am sterdam
1968, p . 65.
44 Hans Pohl: Die Portugiesen in A ntw erpen (1567-1648 ). Zur Geschichte einer Minderheit.
Wiesbaden 1977.
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Yosef Kaplan
then until the early eighteenth century, th ey w ere perm itted to adm inister the af­
fairs of their group b y them selves and, although th ey w ere foreign m erchants,
th ey w ere also allow ed to bequeath their p ro p erty to their offspring. O fficially
th ey w ere treated as C atholics, but historical research has show n that the kings of
France and local officials knew of their connection w ith the Jew ish religion and
preferred to ignore it. As long as these im m igrants concealed their cerem onies
from the public eye, the French authorities ignored their hidden Judaism . Indeed,
throughout the sixteenth century, the N ew C h ristian population in France was
seldom harm ed, and o n ly one auto-da-fe on the part of the Papal Inquisition was
held there, in Toulouse in 1680, w here the “Jew ish h eresy” of seven Portuguese
m erchants w as p u b licly proclaim ed.45 Indeed, m any N ew C hristians settled in
France and exploited the special conditions that prevailed in that co un try to lead a
rather varied kind of “Ju d a iz in g ” life, but it rem ained covert and obscured until
the early eighteenth century. O u tw ard ly th ey behaved as C atholics in every re­
spect. T h ey baptized their children, took com m union, and participated in church
cerem onies. D avid G raizbord has explored the divided w o rld of m any of the N ew
C hristians in France, in cluding some w ho had alread y m anaged to live in Jew ish
com m unities in northern Europe, Italy, and elsew here, but for various reasons
th ey w ound up in France and returned to C h ristian ity, either out of conviction or
m erely for appearance’s sake. Fie describes their vacillation betw een C h ristian ity
and Jud aism and show s how social conditions, personal and fam ily circum stances,
and various external factors played a decisive role in their choice and in the
form ation of their religious faith. It seems that quite a few conversos in France
w ere destitute, and som etim es the lim ited means at th eir disposal did not perm it
them to leave France. H ow ever, in m any cases, the decision to rem ain in France
m ain ly reflected the divided sentim ents of people w ho found it difficult to p artici­
pate in established com m unal life or refused to return to the Jew ish religion for
various reasons.46
In parallel to the m igration of conversos from Portugal to Spain and from Spain
to France, from the end of the sixteenth century, hundreds of Portuguese N ew
C hristians began to flow to Venice and Leghorn in Italy, and to A m sterdam and
H am burg in northw est Europe. In those cities, and later in London as w ell, Ibe­
rian conversos established their ow n Jew ish com m unities, o p en ly adhering to J u ­
daism . H owever, u n lik e the exiles w ho established their com m unities in the first
years after the E xpulsion from Spain, m ain ly in the O ttom an Em pire, according
to the patterns of the venerable tradition of Sephardi Judaism , and u n lik e the N ew
C hristians w ho returned to Jud aism a generation after the E xpulsion in Ferrara or
A ncona, w h ile the m em ory of Jud aism w as still fresh in their m inds, the conversos
45 Gerard Nahon: From N ew Christians to the Portuguese Jew ish N ation in France. In:
Beinart (ed.): M oreshet (see note 11), pp. 33 6-36 4; idem: M etropoles et peripheries sefarades
d ’Occident. K airouan, Am sterdam , Bayonne, Bordeaux, Jerusalem. Paris 1993, pp. 95—183,
pp. 23 5-25 9.
46 David L. G raizbord: Souls in Dispute. C onverso Identities in Iberia and the Jewish D ias­
pora, 15 8 0 -17 0 0 . Philadelphia 2004.
B e tw e e n C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a r ly M o d e r n Eu rop e
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w ho established the new com m unities in Italy and northw est Europe from the
end of the sixteenth cen tury on returned to the Jew ish religion after a separation
of four or more generations. The founders of these com m unities and m ost of their
m em bers in the seventeenth cen tury w ere born outside of Judaism and the store of
inform ation th ey brought w ith them about the Jew ish religion was m inuscule.
T h ey had grow n up w ith o u t know ledge of the H ebrew language and in total
isolation from T alm udic and R abbinical literature. T h eir lim ited fam iliarity w ith
Jew ish custom s w as vague, and w h at th ey did know cam e m ain ly from traditions
that had been preserved in their fam ilies, w hich w ere quite far from H alakhic Ju ­
daism and offered peculiar variants of the Jew ish religio n to the Jew ish w orld of
the conversos. H ow ever, despite the difficulties w ith w hich th ey w ere forced to
cope, the founders of these com m unities com m itted them selves to the process of
rap id ly building institutions and societies w h ile tryin g to acquire and reinvent the
tradition of Sephardi Judaism . In the course of their return to Judaism , th ey w ere
helped b y a num ber of rabbis from the Levant and Italy, and th ey established an
im pressive organizational infrastructure.47 It should be m entioned that in Venice
and Leghorn, the Jew ish socialization of the conversos was also made possible by
virtue of the encounter w ith Sephardi Jew s from the Levant, w ho w ere active there
as early as the first half of the sixteenth century. H ow ever, the cultural gaps be­
tween the Sephardim w ho cam e from M uslim lands and the conversos w ere quite
large. The N ew C hristian s w ho adopted Jud aism at the end of the sixteenth cen­
tu ry and throughout the seventeenth cen tury did indeed lack Jew ish education.
H owever, b y contrast, m any of them brought a rich cultural heritage w ith them,
w hich w as unknow n to the Sephardim of the Levant and N orth A frica. M an y of
the m em bers of the w ealth y stratum of the conversos had studied in universities in
Spain, Portugal, and France. T h ey knew the Iberian languages inside out, and they
also had m astered Latin and som etim es French as w ell. Som e of them w ere p h y si­
cians or jurists and had also been professors in universities such as those of Sala­
m anca, A lcala de H enares, C oim bra, and even Toulouse. M ost of them w ere also
very w ell versed in C h ristian th eo lo gy and scholastic philosophy. Q uite a few of
those w ho returned to Jud aism had been educated in Jesu it sem inaries, and there
w ere even form er m onks and clergym en am ong them .48 The m etam orphosis that
m any of them underw ent w ith in a few years was tru ly astonishing. As in fifteenth
century Spain, there had been rabbis such as Solom on H alevi of B urgos, w ho, a
short tim e after his conversion to C h ristian ity, became the Bishop of Burgos and
47 Yosef Kaplan: The Sephardim in N orth-W estern Europe and the N ew W orld. In: Beinart
(ed.): M oreshet (see note 11), pp. 2 4 0 -2 7 8 , pp. 2 4 0-24 3, pp. 27 3-27 8.
48 Yerushalmi: From Spanish (see note 17), pp. 70 -8 9 ; Yosef Kaplan: From C hristianity to
Judaism. The Sto ry o f Isaac O rob io de Castro. O xford 1989, pp. 8 -1 5 , pp. 6 4 -7 5 , pp. 9 7 -10 3 ;
Richard A youn: Elie M ontalto, un medecin marrane. In: Novinsky/Tucci C arneiro (eds.):
Inquisi$ao (see note 26), pp. 2 9 2 -3 0 6 ; David B. Ruderman: Jew ish Thought and Scientific
D iscovery in Early M odern Europe. N ew Haven, London 1995, pp. 2 7 3-30 9; Natalia Muchnik: Une vie marrane. Les peregrinations de Juan de Prado dans l’Europe du XVIIe siecle.
Paris 2005, pp. 6 7 -10 3 .
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Yosef Kaplan
took the nam e of Pablo de Santa Marfa, so, conversely, in the seventeenth century,
the D om inican F ray Vicente de Rocam ora became a preacher in the Sephardi
com m unity of A m sterdam under the name of Isaac de R ocam ora.49
In Italy the veteran Sephardi Jew s, m ost of w hom came from the Levant, were
called “levan tin i”, and the conversos from Spain and P o rtugal were called “ponentin i”, that is, w esterners, although some form er N ew C hristian s m anaged to ob­
scure their C atholic past b y passing as Sephardi Jew s from the Levant (in some
cases th ey had actu ally lived in the East for some tim e after their departure from
Spain or Portugal). The difference betw een the “levan tin i” and the “p o nentini”
was not exhausted b y their differences in education and Jew ish background; there
w ere also very significant social and econom ic differences between them. True,
there w ere quite a few w ealth y m erchants am ong the Sephardim from the Levant
w ho had made fortunes from their involvem ent in M editerranean trade, for after
en try to the O ttom an realm b y Italian C h ristian m erchants w as blocked, the Jew s
replaced them. H ow ever, the financial w eight of the Sephardim in the Levant was
not com parable to that of the W estern Sephardi financial elite. The conversion to
C h ristian ity of scores of Jew ish financiers in Spain and Portugal at the end of the
M iddle Ages opened extensive possibilities to them , such as no group of Jew ish
m erchants had hitherto know n. A ll the legal restrictions that had been im posed on
the Jew s w ere rem oved in a trice, giving them countless new possibilities to in ­
crease their w ealth. M oreover, their conversion to C h ristian ity took place pre­
cisely at the beginning of Spanish and Portuguese colonial expansion, and the
N ew C hristians plutocrats received a golden o p p ortun ity to seize im portant po si­
tions in the w id e-ran gin g com m erce betw een the Iberian states and the new colo­
nies on the A m erican continent.30
U n like the situation in northern Italy, w here the conversos who returned to J u ­
daism encountered Sephardi Jew s from the N ear East and N orth A frica, and even
A shkenazi Jew s, in northw est Europe there w as no Jew ish presence before the
settlem ent of the Portuguese N ew C hristians. W ith their adoption of Judaism ,
th ey became the first Jew s in A m sterdam , the first Jew ish residents of H am burg,
and later in London as w ell. D uring the seventeenth and eighteenth centuries, Se­
phardim from M uslim countries and Italy joined the W estern Sephardi com m u­
nities; however, m ost m em bers of those com m unities w ere form er N ew C h ris­
tians or their descendants. From N ew C hristians, th ey had become "N ew Je w s ”,
for H alakhic Jud aism was indeed new to them, and before th ey established their
com m unities, th ey had never know n the taste of open and organized Jew ish life.
Once th ey w ere established, these com m unities becam e a m agnet for more N ew
C hristians, who joined them in waves of im m igration that continued at least until
around the 1730s.51 L argely speaking, A shkenazi Jew s arrived in the w ake of the
49 Baer: A H istory (see note 9), pp. 13 9 -15 0 ; N etanyahu: The O rigins (see note 9), pp. 168—
206; Cecil Roth: A Life o f Menasseh ben Israel. Rabbi, Printer, and Diplom at. Philadelphia
1945, pp. 12 0 -12 2 .
50 Israel: Diasporas (see note 7), pp. 6-8 .
51 Gerber: The Jew s (see note 7), pp. 17 7 -2 1 1 ; Yosef Kaplan: A n A lternative Path to M o-
B e tw e en C h r is t ia n it y and J u d a is m in E a rly M o d e r n Europe
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Sephardi Jew s, and at least during the early stages after their arrival, they were
econom ically and o rgan izatio n ally dependent upon the Sephardim w ho had p re­
ceded them in those respects.52
In the E arly M odern Period, especially during the seventeenth century,
mem bers of the Spanish and Portuguese D iaspora and their N ew C hristian
partners in Iberia, France, the southern N etherlands, and the N ew W orld became
trans-cultural econom ic agents and trailb lazin g entrepreneurs. T heir com m and of
a num ber of languages, their fam iliarity w ith the Spanish and Portuguese econo­
my, and their acquaintance w ith the local cultures in a num ber of countries, thanks
to their great m obility, gave them m any advantages over other m ercantile groups,
and these advantages did not escape the eyes of the rulers and governors. N ot o n ly
in the D utch R epublic but also in other m aritim e and colonial pow ers such as
England and Venice, the potential latent in these international m erchants, the
members of the “Spanish and Portuguese Jew ish N atio n ”, w as valued. France,
too, w hich did not allow the presence of Jew s