El beso de la mujer araña - Genderportal
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Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Geschlechterkonstruktion im argentinischen Roman „El beso de la mujer araña“ Bachelor-Arbeit Universität St. Gallen Verfasser: Nadja Eichin Referent: Prof. Dr. phil. Yvette Sánchez Abgabetermin: 13. 6. 2005 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Abstract In der vorliegenden Arbeit soll die Konstruktion von Geschlecht in Manuel Puigs „El beso de la mujer araña“ betrachtet werden. Dies geschieht anhand einer Analyse der Fussnoten und der beiden Hauptcharaktere Molina und Valentín sowie mit Hilfe einiger Theorien zur Geschlechterkonstruktion. Dazu erfolgt zunächst eine kurze Einführung in die Thematik und in verschiedene Ansätze der Gender Studies. Die Fussnoten werden auf ihre Bedeutung und insbesondere auf den Inhalt der Thesen Anneli Taubes hin untersucht, letztere werden zudem aufgrund ihres Rückgriffs auf diesen mit dem Ansatz der Psychoanalyse verglichen. Hinsichtlich des Verhaltens und der Überzeugungen der Charaktere erfolgt dagegen eine Bezugnahme auf die Theorien Judith Butlers. Diese Vorgehensweise gründet auf der konstruktivistischen Annahme, die Menschen seien bzw. werden von ihrer Umwelt beeinflusst und geprägt. Hierbei wird auch der spezifisch lateinamerikanischen Beurteilung der Homosexualität Rechnung getragen sowie im Falle Valentíns der Position des Marxismus. Stereotypisierungen in ihren Darstellungen wie auch innere Widersprüche der Personen werden herausgearbeitet, wobei ein besonderes Augenmerk auf der (Nicht)Veränderung der Personen liegt. Der Roman zeigt alternative Existenz- und Handlungsformen auf, Geschlechter und binäre Sexualität bleiben jedoch bestehen. 1 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Inhaltsverzeichnis 1 Einführung............................................................................................................................... 3 2 Die Konstruktion von Geschlecht ............................................................................................. 3 3 2.1 Gleichheit und Differenz.................................................................................................. 4 2.2 Konstruktion und Dekonstruktion .................................................................................... 5 2.3 Geschlecht in der Psychoanalyse...................................................................................... 9 2.4 Die Theorien zur Homosexualität in „El beso de la mujer araña”.................................... 10 Darstellung der Charaktere und ihres Geschlechts in „El beso de la mujer araña“ ................... 15 3.1 3.1.1 Die Heldinnen in den erzählten Filmen .................................................................. 15 3.1.2 Überzeugungen und Verhalten............................................................................... 28 3.1.3 Marica und Frau .................................................................................................... 39 3.2 4 Molina........................................................................................................................... 15 Valentín......................................................................................................................... 40 3.2.1 Filme und Delirium ............................................................................................... 40 3.2.2 Überzeugungen und Verhalten............................................................................... 44 3.2.3 Macho und Mann .................................................................................................. 51 Fazit ...................................................................................................................................... 52 Anhang .......................................................................................................................................... 53 Erklärung ................................................................................................................................... 53 Interview mit Dr. phil. Katrin Meyer .......................................................................................... 53 Abbildungsverzeichnis Tabelle 1: Vergleich der Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht (eigene Darstellung) .................. 8 Tabelle 2: Vergleich von Psychoanalyse und den „Theorien“ Anneli Taubes (eigene Darstellung) .. 12 2 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ 1 Einführung Einst träumte Zhuang Zhou, ein Schmetterling zu sein, quicklebendig, der beschwingt umherflatterte und freudig seinen Regungen folgte. Dabei wusste er nicht, dass er Zhuang Zhou war. Plötzlich wurde er wach; da war er Zhuang Zhou – ganz eindeutig nur dieser. Nun wei[ss] man nicht, ob es Zhuang Zhou war, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling, oder ob es ein Schmetterling war, der geträumt hat, er sei Zhuang. Es gibt aber gewiss zwischen Zhuang Zhou und einem Schmetterling einen Unterschied. Dies ist damit gemeint, wenn gesagt wird: ,Die Wesen unterliegen dem Wandel.’ (Zhuangzi „Schmetterlingstraum“ zit. in Jäger 9) Die Wirklichkeit ist relativ und subjektiv. Sie ist abhängig von der Perspektive des Einzelnen. Was ist real und was nicht? Ist etwas real, weil wir es selbst als solches empfinden? Diese Relativität der Wirklichkeit umfasst auch das Geschlecht und die Geschlechtlichkeit. Was ist eine Frau, was ein Mann? Welche Faktoren sind ausschlaggebend für die Einordnung als weiblich oder männlich? Man1 mag sich fragen, ob die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern denn nicht offensichtlich ist, schliesslich ist sie eine Grundsäule unserer Gesellschaft und unserer Betrachtung der Welt. Aufbauend auf dieser Frage werden im ersten Teil dieser Arbeit einige Theorien zur gesellschaftlichen Existenz von Geschlechtern aufgeführt, die verschiedene Erklärungen und Begründungen bieten sowie unterschiedliche Positionen einnehmen. Die entsprechenden Erkenntnisse sollen sodann auf den Roman „El beso de la mujer araña“, dt. „Der Kuss der Spinnenfrau“, des argentinischen Autors Manuel Puig angewendet werden. Dies erfolgt zum einen über die Fussnoten, bei denen die Thesen Anneli Taubes mit der Psychoanalyse verglichen werden, zum anderen über verschiedene Aspekte des Auftretens und Handelns der beiden Hauptcharaktere Molina und Valentín, für die auf Judith Butler zurückgegriffen wird. Ein Fazit fasst die Erkenntnisse zusammen. 2 Die Konstruktion von Geschlecht Die Frage nach der Entstehung von Geschlecht – anstelle der Annahme einer natürlichen Zweigeschlechtigkeit2 - ist relativ neu. Die so genannten Gender Studies, die aus der Frauenforschung und der Frauenbewegung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hervorgingen (Kroll V), etablierten sich insbesondere in den darauf folgenden 80er Jahren. In Abgrenzung zu ihren Vorgängern befassen sich die Gender Studies nicht mit „der“ Frau und ihrem Wesen, sondern mit der 1 Im Folgenden wird, sofern dies nicht durch die Umstände anders verlangt wird, die männliche Form verwendet. Die Betonung der (zumeist abgeleiteten) weiblichen Form oder die Verwendung künstlicher neutraler partizipialer Begriffe vergrössert den gedanklichen Graben zwischen den Geschlechtern umso mehr. 2 So kennen verschiedene Stämme der amerikanischen Urbevölkerung mehr als zwei Geschlechter (Treibel 144). Auch im Abendland tauchte die Androgynie trotz des bürgerlichen Zwei-Geschlechter-Modells des 18. Jahrhunderts immer wieder auch als Utopie auf (Lindhoff 9/10). 3 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Geschlechtlichkeit bzw. dem Geschlecht als Grundlage jeglicher Forschung. (Feldmann und Schülting 143/44) 2.1 Gleichheit und Differenz Innerhalb der Frauenforschung gab und gibt es zunächst zwei grundlegende Theorien: die der Gleichheit und die der Differenz (Brander 8). Beide beabsichtigen, die Hierarchisierung der Geschlechter zu beenden, halten jedoch an der Zwei-Geschlechtlichkeit fest. Erstere betrachtet Weiblichkeit3 als ein Gefängnis, das den Frauen von einer patriarchalen Kultur aufgezwungen werde. Die Geschlechtsunterschiede werden als zufällig, sozialisiert angesehen, und es herrscht das Ideal der universellen Gleichheit. (Young 38-57) Das Soziale und die gesellschaftliche Ordnung seien immer „gendered“, also von Geschlechtsvorstellungen und -erwartungen durchzogen (Lorber 84). Die Befreiung der Frauen müsse über den Ausbruch aus der Weiblichkeit in die von Männern beherrschten Bereiche erfolgen (Young 39). Massgebend für diese Richtung ist Simone de Beauvoir. Sie argumentiert, die Welt habe immer den Männern gehört und die Frau werde nicht als autonomes Wesen angesehen. So werden Transzendenz und Selbstbestimmung dem Mann, Immanenz und Passivität jedoch der Frau zugeordnet. Dem stellt de Beauvoir ihre These entgegen, wonach die biologischen Gegebenheiten genau (und ausschliesslich) jenen Wert besitzen, den die Menschen ihnen zuordnen. (1 : 11-51) „On ne naît pas femme: on le devient.“ [Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.] (285) Der Einzelne sei angesichts dieser Sozialisation machtlos, zugleich Opfer als auch schuldig wider Willen, nichtsdestotrotz handle es sich hierbei nicht um ein unabwendbares Schicksal. Zu einer Veränderung der Verhältnisse müssen Kinder beiderlei Geschlechts nicht nur nach denselben Methoden, sondern auch im gleichen Klima erzogen werden. Dies impliziert die Übernahme traditionell männlicher Werte durch die Frau. Eine endgültige Befreiung der Frau sei jedoch erst durch den Zugang zur Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft möglich, da dadurch auch die Männer aus ihrer Entfremdung befreit werden. (2: 521-577) Homosexualität betrachtet de Beauvoir als in der jeweiligen Situation gewählt, begründet und frei übernommen (89-129). Sie sieht die Männlichkeit4 als Verkörperung des Menschseins, Weiblichkeit – und die entsprechenden Werte – dagegen lediglich als Gefängnis. Der Ansatz der Differenz strebt hingegen eine Aufwertung und Positivierung der Weiblichkeit und traditionell weiblicher Eigenschaften an und löst die Frau aus ihrer Opferrolle. Die Verfechter dieses Standpunktes vertreten die Auffassung, die weibliche Reproduktionsarbeit schaffe eine stärkere Verbindung zur Natur und zum Leben. Weiblichkeit gilt als Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft. 3 In der westlichen Kultur traditionell: Zaghaftigkeit, Besonnenheit, Friedfertigkeit, Kooperationsbereitschaft, Taktgefühl, Fügsamkeit, Impulsivität, Warmherzigkeit („Männlichkeit“), Schwäche, Irrationalität, Passivität und Unterwerfung („Geschlechterrolle“). 4 Traditionell: Mut, Waghalsigkeit, Stärke, Konkurrenzdenken, Dominanz, Selbstbewusstsein, Selbstbeherrschung, Grundsatztreue, Gewaltbereitschaft („Männlichkeit“), Aktivität und Rationalität („Geschlechterrolle“). 4 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Die soziale Pluralität soll anerkannt und gelebt werden, die Dichotomie Männlichkeit – Weiblichkeit wird jedoch beibehalten. (Young 47-60) Bewusstsein und Persönlichkeit des Einzelnen sind „gendered“, vom sozialen Geschlecht beeinflusst. (Lorber 84) Geschlechtsunterschiede sind je nach Autor auf die Natur oder die Sozialisation zurückzuführen. Hier stellt sich die Frage, auf welche Grundlage eine Befreiung der Frauen aufgebaut werden soll, da den männlichen Tätigkeiten kaum bzw. eine geringere Bedeutung zugeschrieben wird als den weiblichen (61). Utopien des Gynozentrismus sind die Mythen über matriarchalische Gesellschaften, die Suche nach weiblichen Traditionen und eine weibliche Betrachtungsweise der männlichen Diskurse (Geier 170). Der Differenzansatz findet insbesondere in den psychologischen Analysen seine Verbreitung (West und Zimmerman 15). So gibt auch Luce Irigaray der Weiblichkeit eine psychoanalytische, positive Basis, womit sie sich den Vorwurf des Biologismus einhandelte. Frauen seien in heutigen Gesellschaften nicht intelligibel, sondern lediglich der Spiegel des (männlichen) Anderen. Sie haben deshalb den Zugang zur Weiblichkeit verloren. Diese sei das Ergebnis von Begehren und Libido und lasse sich nur in frauenbezogenem Umfeld finden und bewahren. (Schrader 192) Die Konfrontation der beiden Richtungen vernachlässigt jedoch die Unterscheidung zwischen formaler (theoretischer) und materieller (praktischer) Gleichheit (Meyer). 2.2 Konstruktion und Dekonstruktion Im Konstruktivismus wird die Geschlechterdichotomie als Ergebnis der Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln angesehen. Der unterschiedliche Zugang zu Macht und Ressourcen gelte gesellschaftlich zwar als Folge der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sei aber eigentlich die Folge gesellschaftlich geschaffener Ungleichheit. Die Ansätze lassen sich gliedern in: Mikrosoziologie (basierend u.a. auf Harold Garfinkels Ethnomethodologie), Systemtheorie5, Sozialphilosophie und Diskurstheorie, Die Arbeiten Pierre Bourdieus sowie Wissenschaftshistorie6. (Hartmann-Tews 210/211) Die Mikrosoziologie, bzw. der Sozialkonstruktivismus, verneint die Existenz natürlicher Geschlechtsunterschiede und betrachtet Zwei-Geschlechtlichkeit als soziale Konstruktion (Treibel 134/35). Candace West und Don H. Zimmerman unterscheiden sex, sex category und gender, wobei die Zuordnung zu einer Geschlechtskategorie grundsätzlich durch die Anwendung der Geschlechtskriterien des biologischen Geschlechts erfolge, im täglichen Leben jedoch anhand der 5 Vgl. Luhmann, Niklas. Soziale Systeme – Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. 6 Auch Wissen und Wissenschaft sind hier in den Kreislauf der Konstruktion von Realität, Gesellschaft und Geschlecht eingebunden (Kahlert 403) 5 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ individuellen Selbstdarstellung festgemacht werde. Doing gender, d.h. Geschlecht als Prozess, sei Automatismus und unvermeidbar. Da jede Handlung nach dem sozialen Geschlecht beurteilt werde, entstehe bei „unangemessenem“ Verhalten Druck auf das Individuum, seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht zu beweisen. (14-26) Nach Garfinkel beeinflusst Geschlecht sämtliche sozialen Interaktionen und ist omnirelevant. Der Einzelne präsentiere sich selbst als zu einem bestimmten Geschlecht zugehörig, wobei Transsexuelle aufgrund der gesellschaftlichen Geschlechterdichotomie zu einer Über-Identifikation mit ihrem „neuen“ Geschlecht neigen. (Treibel 136-144) Da die westlichen Gesellschaften keine Geschlechtsindifferenz zulassen, halten sie sich an rigide „klassische“ Vorstellungen über Mann und Frau. Transsexuelle besitzen nicht die körperliche Geschlechtsidentität, die sie von der Gesellschaft zugeordnet bekommen. (Meyer) Carol HagemannWhite (224-234, 131/32) betrachtet auch die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht als biologistisch und argumentiert, es gebe keine natürliche Zwei-Geschlechtlichkeit, sondern lediglich verschiedene kulturelle Konstruktionen, wie sich am Beispiel anderer Kulturen zeigen lasse, die u.a. Zwischengeschlechtlichkeit oder den Geschlechtswechsel zuliessen. Das Kind sei Subjekt seiner Identitätsbildung, für die eine Selbstzuordnung zu einem Geschlecht unabdingbar sei. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen sozialen Umfeldern erfolge dabei aber mehrheitlich unbewusst. Der eng mit dem Konstruktivismus verbundene Dekonstruktionsansatz meint, universelle Bezugskategorien seien nur scheinbar geschlechtsneutral und die Aufrechterhaltung der Unterschiedlichkeit der Geschlechter führe dazu, dass Differenzen vermieden werden, die die Einheit des Subjekts bedrohen könnten. Geschlecht dient demnach der Aufrechterhaltung bzw. Etablierung einer stabilen Persönlichkeit. Bedeutungen seien temporär und mehr oder minder willkürlich. Bei den Autoren des Dekonstruktionsansatzes gilt das Hauptaugenmerk der Art und Weise, wie das binäre Geschlechtersystem entsteht, und nicht länger seinen Folgen und Auswirkungen. Soziale und individuelle Prozesse und Diskurse werden als Ursache der bestehenden Ordnung angesehen. Zugleich soll aber auch das bestehende binäre Geschlechtersystem destabilisiert werden. (Bischoff 62) Der Dekonstruktivismus ist somit nach wie vor Teil des Konstruktivismus, interessiert sich aber für dessen Grenzen (Meyer). Für Michel Foucault, den Begründer der Diskurstheorie, sind das Subjekt, Geschlecht und Sexualität in komplexe Machtbeziehungen eingebunden (Schlünder 112/13), die sich im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität als Erfordernisse der Natur ausgeben (Ott 111). Auch der Aufbau und die Funktionsweise des einzelnen Staates gründen auf jeweils unterschiedlichen und relativ autonomen Herrschaftsverhältnissen (Foucault 428), der Einzelne werde durch die Sexualität gesellschaftlich eingebunden (Ott 111). Auf die Arbeiten Foucaults greift auch Judith Butler zurück (Bischoff 63), die sich vehement gegen den Biologismus stemmt (Meyer). Sie bezeichnet die Kategorien sex, gender und desire, d.h. Begehren, als kulturell verfasst und mittels des Überbegriffs Geschlecht als natürliche Einheit konstituiert. Macht und Diskurs schreiben die Dichotomie der Geschlechter in Subjektivität, Identität und Körperlichkeit fest. Die Geschlechterordnung grenze den Einzelnen als Subjekt von anderen Objekten ab, gestalte sein Selbstverständnis sowie das Verständnis seines Körpers. Das Fundament der gesellschaftlichen 6 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Ordnung sei die Zwangsheterosexualität (Funk 45), die die Dichotomie von männlich und weiblich voraussetze (Butler 23). Butler macht geltend, dass auch die Auswahl dessen, was zur Kategorie Geschlecht gezählt werde, einer normativen Entscheidung unterliege (xxi). „There is no gender identity behind the expressions of gender; that identity is performatively constituted by the very “expressions” that are said to be its result.” [Es gibt keine Geschlechtsidentität hinter den verschiedenen Arten, gender auszudrücken; diese Identität wird selbst durch genau jene „Ausdruckshandlungen“ produziert, die ihr Ergebnis sein sollen.]7 Geschlecht sei eine Handlung, wenn auch nicht die eines bereits existierenden Subjektes. (33) Die Geschlechterdifferenz und die Geschlechter selbst seien in ihrer Existenz bereits heterosexuell (Meyer). So gehe es zwar um die individuellen Körper einzelner Menschen, aber die Handlung selbst sei eine gesellschaftliche. Der Handelnde werde in und durch die Handlung produziert. Die ständige Wiederholung der Darstellung führe zu ihrer Legitimation und ihrer Festschreibung. (Butler 178-181). Heterosexualität als Original sei lediglich eine Parodie der Idee von natürlich/originell, es gebe keine Sexualität vor und ausserhalb des gesellschaftlichen „Gesetzes“, welches uns dies nur vorgaukle. Auch der Körper sei der Vorstellungskraft unterworfen (41-94), und selbst die biologische, scheinbar natürliche Zweiteilung der Geschlechter anhand von Äusserlichkeiten, DNS usw. sei nicht eindeutig. Sowohl soziales als auch biologisches Geschlecht seien sozial konstruiert, die Unterscheidung der beiden erweise sich als überflüssig. Der Körper sei demnach lediglich ein Medium, das Bedeutungen transportiere und übermittle. Geschlecht bleibe immer nur eine Norm und könne nie vollständig verinnerlicht werden. Als subversive Strategien, die die Geschlechterordnung bewusst unglaubwürdig machen, betrachtet Butler Ausdrucksformen, die als nicht intelligibel angesehen werden. Diese umfassen unter anderem drag8, cross-dressing9 oder butch/femme10-Identitäten, da diese innerhalb der die Ordnung etablierenden Wiederholungen erfolgen (siehe oben). Innerhalb derselben gebe es Möglichkeiten der Abweichung und der Veränderung. Identität sei kein unabänderliches Schicksal, aber ebenso wenig vollständig künstlich. (136-189) Unterwerfung unter und Erzeugung der gesellschaftlichen Ordnung, Souveränität und Verletzlichkeit des Einzelnen – dies seien die Machteffekte, die zur Konstruktion des Subjekts beitragen (Funk 46). Kritisch lässt sich zum Dekonstruktionsansatz anmerken, dass es durch die Auflösung der Geschlechter nicht mehr möglich ist, bestehende Hierarchien und Ungleichheiten zu benennen und zu bekämpfen. Es gibt keine Frauen und Männer mehr, also gibt es auch kein Gleichstellungsproblem. Zudem orientieren sich individuelle Identitäten an geschlechtstypischen Stereotypen, so dass deren Abschaffung die Persönlichkeit des Einzelnen betrifft. (Nussbaum) (zum Vergleich der verschiedenen Ansätze siehe Tabelle 1) Eng mit den Arbeiten Judith Butlers verbunden ist die Queer Theory, die die Existenz 7 Übersetzungen erfolgen, sofern nicht anders angegeben, durch den Verfasser dieser Arbeit. D.h. die gegengeschlechtliche Verkleidung in homosexuellen Subkulturen zur ironisch-humoristischen Darstellung und Distanzierung von den dargestellten Rollen (Jung 46). 9 D.h. das Sich-(Ver)Kleiden in Art und Weise des anderen Geschlechts. In den Gender Studies ist dieses Konzept zentral zur Widerlegung der Existenz des natürlichen Geschlechts. (Lehnert „Cross-dressing“ 53/4) 10 Die Zuteilung einer männlichen, butch, und einer weiblichen, femme, Rolle in lesbischen Paaren. Sie sei subversiv, da gesellschaftliche Rollen scheinbar imitiert werden. (Lehnert „Butch-Femme“ 45) 8 7 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ fester Identitäten herausfordert und die Relevanz grosser Kategoriegruppen für die Identitätsbildung aufgrund ihrer Heterogenität verneint (Gauntlett). Ausgangspunkt Gleichheit Differenz Dekonstruktion Weiblichkeit als Positivierung der Fundament der Gefängnis; durch Weiblichkeit; Frau nicht Gesellschaft ist Gesellschaft länger Opfer; Zwangsheterosexualität; aufgezwungen; sozialisierte oder dadurch notwendig Homosexualität freie natürliche Unterschiede Geschlechterdichotomie; Entscheidung in jegliche jeweiligen Situation Geschlechtlichkeit und Sexualität durch soziales Handeln bestimmt Mensch = Mann = Frau; Weiblichkeit als - Schlüssel zu besserer Gesellschaft Handlungsprioritäten Ausbruch aus Anerkennung der Subversive Handlungen Weiblichkeit; Pluralität; Aufwertung innerhalb Ordnung, um Übernahme männlicher des Weiblichen Zwangsheterosexualität Werte und Geschlechter zu hintergehen Ziel Auflösung der Weibliche Sichtweise; Geschlechterordnung Hierarchisierung der Aufwertung weiblicher unglaubwürdig machen Geschlechter; Ideal der Werte universellen Gleichheit Kritik Menschlichkeit = Beibehalten der Verlust von Identitäten; Männlichkeit; Festhalten Geschlechterdichotomie; keine konkreten an Zwei- Gefahr des Biologismus Handlungsoptionen Geschlechtlichkeit Tabelle 1: Vergleich der Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht (eigene Darstellung) Auch in die Literaturwissenschaft haben die oben erwähnten Theorien ihren Eingang gefunden. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam die Argumentation auf, dass jegliche Literatur nicht von den herrschenden Geschlechtervorstellungen unabhängig betrachtet werden könne. Auch die Sprache selbst sei in vorgegebenen Bedeutungsmustern, darunter vor allem Logo- und Phallozentrismus, gefangen. Man könne in literarischen Texten lediglich Aussagen zu Geschlechterrollen und –bildern finden, nicht jedoch über die „wahre“ Natur eines Geschlechts. (Wende 240-242) Traditionell wird zwischen einer Frauen- und eine Männersprache unterschieden, wobei ersterer eher kooperative, letzterer eher kompetitive Elemente zugeschrieben werden. Entsprechend der Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit werden den Frauen Indirektheit (leere Adjektive usw.), Unsicherheit (Abschwächungen, pragmatische Partikel) und das Thematisieren der Situation unterstellt. Empirisch 8 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ lässt sich diese Unterscheidung jedoch nicht bestätigen. (Hellinger 125/26, Meyer). Der Feminismus als besondere Kategorie der Literaturwissenschaft bemüht sich um eine feministische Interpretation und eine Auflösung der Geschlechterdichotomien im Sinne des Dekonstruktivismus. (Best 176/77) 2.3 Geschlecht in der Psychoanalyse Die Psychoanalyse unterscheidet mehrere Phasen der psycho-sexuellen Entwicklung des Kindes, in denen Es, Ich und Über-Ich herausgebildet werden. Während das Es aus Trieben bestehe und Lustgewinn sowie Bedürfnisbefriedigung anstrebe, komme mit der Herausbildung des Ichs Wahrnehmung und Willensbildung und somit das Realitätsprinzip hinzu. Mit der Überwindung der ödipalen Situation im Alter von circa 6 Jahren entstehe sodann das Über-Ich, was zur Übernahme von gesellschaftlichen Werten und Normen führe. Zu diesem Zeitpunkt erfolge auch die Herausbildung der Geschlechtsidentität. Das sexuelle Begehren nach dem andersgeschlechtlichen Elternteil habe unterschiedliche Implikationen für Mädchen und Jungen. Bei letzteren entstehe durch die Angst vor der Kastration, die die Voraussetzung der sexuellen Befriedigung sei11, und das daraus folgende Trauma eine Identifikation mit dem übermächtigen Vater. Das Mädchen dagegen müsse sich zunächst von der Mutter als Bezugsobjekt lösen. Sein Penisneid im Anschluss an dessen Entdeckung und das Gefühl der Minderwertigkeit führen dazu, dass der Mutter als gleichem Wesen die Schuld dafür gegeben werde. Der unerfüllbare Wunsch nach einem Penis führe zur Orientierung nach dem Vater, der als Liebesobjekt begehrt werde. Um ihm zu gefallen, identifiziere sich das Mädchen mit der Mutter. Geschlechterrollen und weibliche Defizite werden demnach von Freud als naturgegeben angesehen. Eine Weiterentwicklung von Nancy Chodorow erklärt die Geschlechtsunterschiede durch die traditionelle Arbeitsteilung, die dazu führe, dass nur Frauen „muttern“. Die Mütter erleben Mädchen und Jungen unterschiedlich, was zu einer differenzierten Behandlung führe. Dementsprechend symbolisiere der Penis Unabhängigkeit und Privilegien, und das Mädchen sehe im Vater einen möglichen Verbündeten, um sich aus der im Vergleich zum Jungen engeren Beziehung zur Mutter zu lösen. Letzteres bedeutet eine höhere Beziehungskompetenz der Mädchen und – nunmehr - männliche Defizite. Die psychoanalytischen Thesen der Reifungskrisen und der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen haben weite Verbreitung gefunden. Die Triebtheorie und die ungenügende Auseinandersetzung mit den sozialen Gegebenheiten sowie die implizite Beschränkung auf die bürgerliche Kleinfamilie wurden dagegen bemängelt und weiterentwickelt. Auch erfolgt die Herausbildung der Geschlechtsidentität bereits vor dem 6. Lebensjahr. (Tilman 57-73) Nichtsdestotrotz nehmen auch Autoren wie de Beauvoir (1: 274) oder Butler (86, 97), Jacques Lacan, Luce Irrigaray, Julia Kristeva usw. auf die Psychoanalyse Bezug (Meyer). 11 Die Kastration sei Folge und Strafe der sexuellen Liebe zur Mutter bzw. Voraussetzung derselben zum Vater (Tilman 63). 9 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Freud betrachtet Heterosexualität als naturgegebenes „Normales“, Homosexualität dagegen als (negative) Abweichung (Brandt 189). Er lehnt die Thesen der Homosexualität als angeborener Degeneration ab, sieht in ihr aber eine Störung in der Entwicklung des Geschlechtstriebes. Sexuelle Neigungen sind für ihn eine Verbindung angeborener und beeinflussender Faktoren. Die ursprüngliche (kindliche) Bisexualität werde nach der Pubertät durch den Einfluss verschiedener Faktoren in die eine oder andere Richtung geführt. Frühe Sexualeinschüchterung durch ein Geschlecht und/oder die erfahrene Zuneigung und Fürsorge durch das andere führen zu einem entsprechenden Abwenden von bzw. Zuwenden zu einem Geschlecht. Eine intensive, zeitlich aber begrenzte Fixierung auf die Mutter in der Kindheit, die zur Identifikation mit derselben führe, lasse den Jungen sich selbst als Sexualobjekt nehmen. Das Fehlen einer Vaterfigur und das Entstehen eines Vaterkomplexes, der dann später in einer homosexuellen Beziehung gelöst werden soll, die Erziehung von Jungen durch Männer oder die Verachtung gegenüber den Frauen als Penislose werden als die Inversion begünstigend angesehen. Es gebe männliche Homosexuelle, die sich als Frau fühlen, „Subjekthomoerotiker“, und solche, die sich als Mann verstünden, „Objekthomoerotiker“, wobei oftmals eine Mischung aus beiden Positionen festzustellen sei. Der Narzissmus bei der Wahl des Sexualobjektes und die Praxis des Analverkehrs gelten als primitive und archaische Konstitutionen der Psyche. (Mitscherlich 48-57) Bei Mädchen sei es der anhaltende Wunsch nach einem Penis bzw. danach, ein Mann zu sein, der Homosexualität und die Selbstidentifikation als Mann bewirke (279). Trotz traditioneller Erziehung der Kinder durch die Frauen ist dies für Freud kein Ausgangspunkt homosexueller Neigungen, was er mit der geschlechterspezifischen Überwachung der (jeweils gleichgeschlechtlichen) kindlichen Sexualität und der damit einhergehenden Autorität zu erklären versucht (132). Die Psychoanalyse soll im Folgenden im Vergleich mit den Theorien Anneli Taubes in den Fussnoten des Romans zu deren Interpretation dienen. 2.4 Die Theorien zur Homosexualität in „El beso de la mujer araña” Die Fussnoten im Roman beinhalten – mit Ausnahme der zweiten – Theorien zur Homosexualität. Nach Aussage Manuel Puigs dienen sie vor allem der Aufklärung in einer Zeit voller Vorurteile und Unwissenheit (Amícola und Engelbert 629), doch erschöpft sich damit ihre Funktion keineswegs. So reflektiert allein schon die gesellschaftliche Differenzierung von Hetero- und Homosexualität in den Erklärungsansätzen die von Butler kritisierte Zwangsheterosexualität und das binäre Geschlechtersystem. Heterosexuell, homosexuell, bisexuell usw. ergeben nur dann einen Sinn, wenn diese Bezeichnungen in eine gesellschaftliche Ordnung eingebunden sind, die (ausschliesslich) zwei Geschlechter unterscheidet. Sobald die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern anerkannt oder aber das Bestehen einer Begriffs- und Beschreibungskategorie Geschlecht verneint wird, werden auch die gängigen Ausdrücke sexueller Ausrichtung inkorrekt bzw. irrelevant. Bei der Annahme einer Vielzahl von Geschlechtern bedarf es weiterer Begriffe, um diese „neuen“ Formen der Sexualität zu benennen. Zudem beziehen sich Homosexualität, Bisexualität und Heterosexualität üblicherweise auf das vermeintlich unveränderliche biologische Geschlecht, erkennen somit weder 10 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ dessen Uneindeutigkeit und Konstruiertheit noch zumindest die Existenz eines sozialen Geschlechtes an. Die Fussnoten, von deren Theorien viele auf Sigmund Freuds Psychoanalyse gründen (Puig 103), beinhalten im Übrigen einige Informationen zu geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen – ein weiteres Indiz dafür, dass Geschlecht und Sexualität sehr eng miteinander verknüpft sind. So wird auf S.200 des Romans die Sozialisierung im Sinne der männlichen Überlegenheit thematisiert und Stereotype von Mann und Frau dargelegt: Der starke, gewalttätige Mann sucht die Frauen zu erobern; diese wiederum streben eine Bindung an den Mann an. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit der Fussnoten wird durch die fehlende Exaktheit der Zitate als auch durch die Berufung auf die nicht existierende Anneli Taube hinterfragt (Balderston 586). In ihr findet sich der im Text hinter Dialoge, offizielle Berichte oder Gedankengänge zurücktretende Erzähler wieder. Interessant ist hierbei auch die Wahl einer weiblichen und nicht einer männlichen Person, in der sich der Autor repräsentiert sieht. Dies wird durch die Manuskriptnotiz „ME alone!!!!“ [ich alleine] verdeutlicht. (570) Damit stellt der Autor nicht nur die schicksalhafte Unabänderlichkeit des eigenen Geschlechts in Frage, sondern parodiert zudem den Glauben an die Objektivität der Wissenschaft: Die Fussnoten scheinen wissenschaftlich-objektiv, sind es jedoch nicht. Somit werden nicht nur die wiedergegebenen Thesen ad absurdum geführt, sondern auch die Sinnhaftigkeit solcher Untersuchungen in Frage gestellt. Wissenschaft kann nie objektiv sein, da sie von Menschen betrieben wird, die in ihrer Zeit verfangen und somit in einem gewissen Masse an deren Normen und Werte gebunden sind. Vor diesem Hintergrund erhalten die Theorien Taubes (Puig 209-211) besonderes Gewicht. Sie benennen die Entscheidung eines Kindes gegen die aggressive Männlichkeit bzw. die Unterwerfung der Weiblichkeit als eine bewusste, die sich zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr ereignet. Das binäre Geschlechtersystem bietet dem Kind jedoch nur eine einzige Alternative zu der von ihm erwarteten Identität – die des anderen Geschlechts. Intime Beziehungen zum anderen Geschlecht sind für das aufbegehrende Kind unvorstellbar, da diese immer auch die gesellschaftlichen Rollenverteilungen und Geschlechtervorstellungen widerspiegeln. „[L]os modelos ,burgueses’ de homosexualidad“ (211), die bürgerlichen Modelle der Homosexualität, d.h. die stereotypen Paarbeziehungen bürgerlicher Ideologie, sind die Folge der herrschenden Moralvorstellungen. Auch die beiden Hauptcharaktere des Romans sind stark von diesen geprägt, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Dies stellt eine Einschränkung der eigenen Möglichkeiten dar (Bacarisse Impossible Choices 105/6). Diese sieht in der Frauenbewegung die Grundlage dafür, Homosexualität aus der Marginalisierung zu befreien, da sich die festgeschriebenen Geschlechterzuschreibungen aufzulösen beginnen. Nicht übersehen werden darf dabei jedoch, dass diese Thesen im Zuge ihrer Darlegung zugleich wieder eingeschränkt werden. Die Bezeichnung der angeführten stereotypen Vorstellungen bezüglich homosexueller Menschen als „prejuicio, u observación justa“ [Vorurteil oder genaue Beobachtung] (Puig 211) zeigt diese Unsicherheit. Es wird die Frage aufgeworfen, ob die Darstellung Homosexueller in der Tradition heterosexueller, angenommener, Geschlechtereigenschaften ein Vorurteil darstellt, das sich auf die Wertevorstellungen der Gesellschaft stützt und sie reflektiert, oder aber insofern „wahr“ ist, als dass sich diese selbst auf diese Weise identifizieren und somit wiederum ein Ausdruck gesellschaftlicher 11 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Geschlechtersozialisation Geschlechterunterschiede Ursachen der Homosexualität Psychoanalyse „Anneli Taube“ Identifikation mit Identifikation mit gleichgeschlechtlichem Elternteil; gleichgeschlechtlichem Elternteil; mehrere Entwicklungsphasen, Rollenstereotype lassen nur zwei entscheidend ist ödipale Situation Möglichkeiten Biologisch bedingt; Herausbildung Keine natürliche, geschlechtlich über sexuelles Begehren bedingte Identität Homosexualität als Abweichung in Identifikation mit der sexuellen Entwicklung, andersgeschlechtlichem Elternteil Zusammenwirkung von als bewusste Entscheidung; angeborenen und erlernten Ablehnung der gesellschaftlich Faktoren vorgegebenen Geschlechtlichkeit; dadurch Verunmöglichung klassischer heterosexueller Beziehungen Relevantes Alter 6. Lebensjahr 3. – 5. Lebensjahr Handlungsprioritäten Ursprüngliche Bisexualität, endet Befreiung aus Geschlechterrollen mit „Kultur“ beinhaltet auch Befreiung der Homosexualität Tabelle 2: Vergleich von Psychoanalyse und den „Theorien“ Anneli Taubes (eigene Darstellung) Realität sind. Auffallend ist hierbei auch, dass nichtsdestotrotz keine natürliche und gegebene Geschlechtlichkeit angenommen wird. Vergleicht man diese Sichtweise nunmehr mit derjenigen der Psychoanalyse, so stellt man sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede fest (siehe auch Tabelle 2). Nicht mehr die ödipale Situation mit Kastrationsangst und Penisneid ist entscheidend für die Formierung der eigenen Geschlechtsidentität, sondern es sind vielmehr die gesellschaftlichen Rollenvorbilder, die verinnerlicht oder umgekehrt werden. Sexuelle Neigungen sind so eine Folge der Geschlechtsidentität, wohingegen die Psychoanalyse diese aus dem Zusammenwirken von Angeborenem und Erlerntem erklärt und als eine Frage der menschlichen Entwicklung betrachtet. Ein weiterer Unterschied ist das relevante Alter, das von Taube heruntergesetzt wird. Dies trägt der Kritik Rechnung, die von Untersuchungen gestützt werden, die eine feste Geschlechtsidentität bereits vor dem sechsten Lebensjahr festgestellt haben. Kritisch lässt sich anmerken, dass der psychoanalytische Biologismus zwar nunmehr differenzierter betrachtet wird, Homosexualität nichtsdestotrotz aber nach wie vor zu erklären versucht wird, indem auf Geschlechterrollen zurückgegriffen wird. Homosexualität ist in diesem Sinne ein Fehlen von Wahlmöglichkeiten, nicht jedoch etwas „Natürliches“. Im Gegensatz zu einigen Autoren, die die These einer bisexuellen Utopie und die Anerkennung der eigenen gegengeschlechtlichen Charakterzüge in den Theorien Anneli Taubes sehen (Levine 258), wird hier argumentiert, dass die entsprechenden Aussagen hauptsächlich von den zuvor in den Fussnoten angeführten Autoren gemacht wurden, von Taube aber kaum aufgenommen werden. Sie bleibt in ihrer eigenen Zeit und deren Moralvorstellungen gefangen. 12 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Die Unterscheidung von Mann und Frau wird zwar als sozial konstruiert betrachtet, aber durch Anneli Taube nicht grundsätzlich in Frage gestellt12. Betrachtet man den Titel des erfundenen Buchs Taubes, Sexualidad y revolución [Sexualität und Revolution], erkennt man die Wechselbeziehung, die diesen beiden Begriffen zugeschrieben wird. Dies bezieht sich zum einen auf die im Zuge der Frauenbewegung aufkommenden Auflösungen von Geschlechterklischees, die bereits bei der Zusammenfassung der Taub’schen Thesen Erwähnung gefunden haben. Diese Entwicklung wird durch das Schlagwort der sexuellen Revolution treffend zusammengefasst. In Verbindung mit der 68er-Bewegung wurden Forderungen nach einer Befreiung der Sexualität laut, die mit dem Wunsch nach politischer und gesellschaftlicher Veränderung einhergingen. Ausgehend von Herbert Marcuse und Wilhelm Reich galt die sexuelle Befreiung als Mittel zur Befreiung des Einzelnen. (Prinz 361) Die revolutionäre Dimension der Sexualität des Buchtitels knüpft an die Rolle des „filósofo crítico“ [kritischer Philosoph] (Puig 199) an, die Homosexuelle laut den in den Fussnoten dargelegten Theorien Herbert Marcuses einnehmen. Die Homosexualität ist subversiv, da sie der „natürlichen“ Heterosexualität entgegenläuft. Sie bietet somit einen Ansatzpunkt für die gesellschaftliche Veränderung, für eine gesellschaftliche Revolution. Somit wäre also nicht Valentín der revolutionäre Part, sondern Molina. (Balderston 568/9) Auf diese These wird später bei der Beschreibung der einzelnen Charaktere noch vertieft eingegangen. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Revolutionarität der sexuellen Revolution umstritten ist und war. So fand eine Verfestigung von geschlechtlichen Rollenvorstellungen statt. Michel Foucault betrachtete die sexuelle Revolution in der Folge auch als in die diskursiven Machtmechanismen integriert. (Prinz 362) Somit stellt sie keine Lösung aus den gesellschaftlichen Verhältnissen dar, sondern bestärkt diese im Gegenteil noch, da sie sich innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses bewegt und mit ihm konform läuft. Entsprechendes liesse sich hier auch über die Homosexualität sagen. Diese Bedenken sind jedoch nicht Bestandteil der in den Fussnoten wiedergegebenen Theorien und ebenso wenig derjenigen Taubes. Die Fussnoten sind aufgrund ihrer Natur nicht Teil des eigentlichen Textes, sondern ans Seitenende verbannt, vom Rest des Textes getrennt. So spiegeln sie die (damalige) Marginalisierung der Homosexualität bzw. der Sexualität und der Geschlechtlichkeit im Allgemeinen in der Gesellschaft wieder. (Ezquerro 501) Auf der anderen Seite ist jedoch ihre Existenz an sich ebenfalls von Bedeutung: Sie sind zwar marginalisiert, aber vorhanden. In gleicher Weise könnte man die Sexualität und die Einteilung in zwei Geschlechter beschreiben, als Tabu, das nicht diskutiert werden darf. Die Fussnoten stellen einen essentiellen Bestandteil des Romans dar13. Sie setzen dort ein, wo 12 Siehe auch Dabove (35). Eine andere Ansicht vertritt Muñoz (80). In dieser Arbeit werden die Fussnoten als dem Text gleichgestellt betrachtet. Andere Meinungen bezeichnen sie entweder als nebensächlich oder aber als eigentlichen Haupttext (Fabry 33-73). So ist für Elías Miguel Muñoz der fiktive Text eine blosse Wiederholung der Theorien in den Fussnoten. Zugleich wirft er dem Autor vor, erneut die Wahrheit verkünden zu wollen, (72) wohingegen Pamela Bacarisse ihm als postmodernen Autor jedes Streben nach “certainty“ [Gewissheit] abspricht (Bacarisse Impossible Choices 36). 13 13 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Spannungen zwischen den Charakteren Molina und Valentín entstehen, die auf ein mangelndes gegenseitiges Verständnis, auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen sind (Levine 258). Demzufolge ist auch ihrem Verschwinden (nach S.211) eine grosse Bedeutung zuzumessen, da es vermuten lässt, dass nunmehr die Konflikte zwischen den beiden Charakteren in Bezug auf Sexualität und Geschlecht gelöst sind. Die Homosexualität, marginalisiert in den Fussnoten, kann auch als Symbol verstanden werden für die unterdrückten Bereiche der Gesellschaft, für die Unterdrückung durch die Herrschenden (Schlickers 205). So sah Argentinien seit Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts mehrere Militärregierungen, die schliesslich 1973 wiederum durch die Peronisten abgelöst wurden. Die verschiedenen Militärdiktaturen bemühten sich um eine Unterdrückung des Peronismus unter anderem über den Ausschluss von Wahlen. Dies führte jedoch dazu, dass sich oppositionelle Arbeiter mit ihm identifizierten und dass eine peronistische Guerrillabewegung entstand. Das Militär sah sich schliesslich gezwungen, Wahlen unter Einschluss der Peronisten abzuhalten, die diese auch für sich entschieden. Juan Domingo Perón starb bereits im darauf folgenden Jahr, woraufhin die Montoneros14 erneut zu den Waffen griffen. Die erneute Machtübernahme durch die Militärs im Jahre 1976 führte zum guerra sucia, zum schmutzigen Krieg mit den guerrillas. (Brown 226-237) Vor diesem Hintergrund ist auch „El beso…“ zu sehen, das 1976 nach mehreren Verzögerungen erschienen ist. Der Roman sollte 1973 erscheinen (Amícola und Engelbert 629) und spielt 1975 mit Bezügen zu 1972 (Puig 151), das heisst seine Beginne gehören in die Zeit der Militärdiktatur, die effektive Handlung aber in die der peronistischen Regierung. Da der Roman jedoch 1973 erscheinen hätte sollen, befinden wir uns wohl nichtsdestotrotz im Umfeld der Militärdiktaturen15. Dies lässt sich auch aus den umfassenden Befugnissen des Militärs im Roman selbst herauslesen, so z.B. auf S.151, wo die Inhaftierung Valentíns ohne Prozess erwähnt wird. Somit verkörpern die Fussnoten diejenigen Bereiche der Gesellschaft, die unter den Militärs unterdrückt worden sind. Dies war, wie man angesichts der Art des Regimes erwartet, nicht nur die Homosexualität, sondern alle möglicherweise die Ordnung gefährdenden Handlungen und Meinungen, also auch die politische Subversivität Valentíns und seiner Genossen. Hiermit wird eine Art Seelenverwandtschaft oder zumindest eine Leidensgenossenschaft zwischen den beiden Hauptcharakteren suggeriert. Es gibt verschiedene Arten der Subversivität und des Widerstandes, auch unbewusste. Dies trifft jedoch nicht allein auf die Zeit der Militärdiktaturen zu, sondern in gleichem Masse auf die peronistische Herrschaft. So gibt es Anspielungen auf Perón, der während der Militärdiktatur im ausländischen Exil lebte. In einer der Fussnoten, S.89, derjenigen, die sich auf den Propagandafilm der Nationalsozialisten bezieht, wird Hitler als „Conductor“ [Leiter, Führer] bezeichnet. Dies ist an sich nicht verwunderlich, da er in der Tat diese Bezeichnung für sich in Anspruch nahm, allerdings handelt es sich hierbei ebenfalls um den Übernamen Peróns (Levine 71), so dass dieser Titel im argentinischen Kontext letzterem zugeordnet werden dürfte. Für Hitler würde 14 Guerrilla von leicht nationalistischer Ausrichtung, die zur grössten Argentiniens wurde. Sie geriet in Konflikt zu Perón, als dieser sich auf die Seite des rechten Flügels schlug. (Brown 232-234) 15 Diese Annahme gründet sich auch auf die Tatsache, dass nach der Machtübernahme der Peronisten 1973 alle politischen Gefangenen freigelassen wurden. Die Montoneros unterstützen zu dieser Zeit nach wie vor Perón. (Brown 234) 14 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ wahrscheinlich eher die deutsche Bezeichnung gebraucht, zumal dieselbe Fussnote auf derselben Seite „Volk“ im Deutschen verwendet und nicht übersetzt. Die geäusserte Kritik betrifft somit beide Arten von Regimes. Im Hinblick auf das Thema Geschlecht und Konstruktion beinhaltet dies die Konstanz der gesellschaftlichen Werte. Autoritäre Regimes verlangen Anpassung und Konformität vom Einzelnen und dulden kein Abweichen (Levine 71). Dies betrifft politische Einstellungen wie auch sexuelle und geschlechtliche Identitäten und Selbstdarstellungen. 3 Darstellung der Charaktere und ihres Geschlechts in „El beso de la mujer araña“ 3.1 3.1.1 Molina Die Heldinnen in den erzählten Filmen Luis Alberto Molina16, im Roman von seinem Zellenkollegen Valentín durchweg mit seinem Nachnamen, benannt, ist 37 Jahre alt und sitzt wegen der Verführung Minderjähriger eine Haftstrafe ab17 (Puig 49, 151). Er versteht sich selbst als Frau: „ya que las mujeres son lo mejor que hay... yo quiero ser mujer.“ [da die Frauen das Beste sind, was es gibt… will ich eine Frau sein.] (25). „Yo siempre con la heroína.“ [Ich immer mit der Heldin.] (Puig 31) Mit diesen Worten identifiziert sich Molina mit seinen weiblichen Hauptfiguren. Die Filme drücken seine Sicht der Welt (Teltscher 219) und des Menschen aus (Muñoz 66) und sollen Valentíns Verständnis für diese erlangen. Dadurch gibt Molina ein Stück seiner selbst preis, seine Überzeugungen und das eigene Rollenbild. Er projiziert seine eigenen Vorstellungen und Wünsche auf diese virtuellen Figuren. Die tragischen Filmschlüsse deuten das Ende des Romans an (Teltscher 219). Beim ersten Film handelt es sich um eine ungefähre Nacherzählung von „Cat People“ (Katzenmenschen, 1942) (Schlickers 250-52). Molina identifiziert sich hierbei mit Irena, der weiblichen Hauptfigur. Auch die Tatsache, dass nur Irena beim Namen genannt wird, lässt diese Fokussierung deutlich werden. Irena ist in Molinas Erzählung jung und modisch: Handschuhe, Plüschmantel, lackierte lange Fingernägel deuten auf einen gewissen Wohlstand hin. Auch die Tatsache, dass sie in Budapest Kunst studiert hat, weist in diese Richtung. Sie steht auf eigenen Füssen, ist unabhängig. Irena und der Architekt treffen sich nur durch Zufall wieder, da sie ihn, wenn auch nicht ausdrücklich, am nächsten Tag versetzt. Er lädt sie zum Essen ein, und er möchte ihr ein Geschenk kaufen, um ihren beruflichen Erfolg zu feiern und um sie zu „erobern“ („conqustársela“: 16 Nach Pamela Bacarisse besitzt „Alberto“ machistische Implikationen und ist „Luis“ ein Allerweltsnamen, die Person somit austauschbar (Impossible Choices 141/42). Durch die Endung auf –a werde dagegen Molinas Weiblichkeit betont (64). 17 Dieser Haftgrund führt zu einiger Verwirrung in der Literatur, denn Molinas Festlegung auf die passive Rolle sollte diesem Vorwurf gerade entgegenstehen (Bacarisse The necessary dream 92), weshalb die Tabuisierung der Homosexualität als wahrer Grund seiner Gefangenschaft gesehen wird (Teltscher 217/18). 15 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Puig 13). Damit wird die klassische Rolle des starken Mannes suggeriert, des Gentlemans und des Eroberers. Diese wird durch die der schwachen Frau ergänzt, die erobert werden will bzw. keine andere Wahl hat. Allein durch diese Ausdrucksweise wird eine Ungleichheit zwischen beiden konstruiert und die Rollenteilung von aktivem Mann und passiver Frau eingeführt, die sich auch im Ritual des Heiratsantrages äussert („su elegida“ [seine Auserwählte] (16)). Sie überwindet für ihn ihre Angst und begleitet ihn in das osteuropäische Restaurant. Von Anfang an, vom Schatten über ihrem Gesicht zu den Ereignissen in der Tierhandlung, wird ein dunkles Geheimnis angedeutet, das Irena in sich trägt. Sie traut sich offenbar jedoch nicht, ihm dieses zu gestehen, sondern ist scheu und zurückhaltend, weicht zu grosser Intimität aus. Auch bei der Begegnung mit der anderen „Katzenfrau“ erscheint sie schwach und zerbrechlich, ist den Tränen nahe. Sie möchte sich von ihrem Verlobten beschützen lassen und versteckt sich in seiner Umarmung. Sie zeigt ein kindliches Schutzbedürfnis, indem sie ihren Kopf auf seine Beine legt. Zu diesem Bild trägt auch die „bondad“ [Güte] des Architekten bei, der alt und weise und somit überlegen erscheint. Die Legende der Katzenmenschen entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn die daheimgebliebene Frau dem Teufel verfällt, weil die Frauen des Dorfes zu schwach sind, sich gegen die hungrigen wilden Tiere zu verteidigen, während die (starken) Männer auf einem „Guerra Santa“, einem heiligen Krieg gegen das Böse sind. Die Katzenfrauen repräsentieren das Gefährliche, das Bedrohliche in den Frauen, das beim Kuss eines Mannes zum Vorschein kommt und diesen verzehrt und tötet. Nichtsdestotrotz erscheint Irena hilfebedürftig, ihr Verlobter gibt ihr Kraft und beruhigt sie. Er kümmert sich nach ihrem Geständnis um sie wie um ein Kind. Im Gegenzug fällt sie daraufhin in die Rolle der fürsorglichen Hausfrau und bereitet ein reichhaltiges Frühstück zu. Die folgenden Besuche im Zoo erscheinen durch das Nichteinhalten der Abmachung zum Besuch eines Psychoanalytikers und die damit einhergehende Heimlichkeit als Verrat an ihrem Ehemann und somit als falsch. Damit wird eine moralische Unterlegenheit geschaffen. Der Architekt ist das unschuldige, hart arbeitende Opfer einer frigiden Ehefrau. Dadurch und durch ihren Verrat treibt sie eine Kluft zwischen sich und ihren Mann. Ihre grundlose Eifersucht bringt die grausame Katzenfrau zum Vorschein, die den Vogel tötet. Sie verfolgt und bedroht die Arbeitskollegin des Architekten, wodurch sie ihren Mann weiter von sich entfremdet und dessen Annäherung an die Kollegin begünstigt. Schliesslich tötet sie den Psychoanalytiker, nachdem sie ihn, wenn auch unbeabsichtigt, dazu ermuntert hat, sie zu küssen. Die Psychoanalyse, der Psychoanalytiker als „agente de la interpretación“ [Agent der Interpretation] (Dabove 34) versagt. Unterdessen wird Irena bereits von ihrem Mann, dessen Kollegin und der Polizei gesucht, was sie zu einer Kriminellen macht. Der Panther symbolisiert das Böse; indem Irena die Schlüssel an sich nimmt, erliegt sie dessen Versuchung und besiegelt schlussendlich ihr eigenes Schicksal. Irena wird dämonisiert, ihr Tod ist die Folge ihrer eigenen Natur und ihrer Schwäche. Das Böse ist ein Teil von ihr, sie stellt eine Gefahr dar, zugleich ist sie jedoch schwach und schutzbedürftig, kindlich. Ihre finanzielle Unabhängigkeit kontrastiert mit ihrer intellektuellen und moralischen Unselbständigkeit. Nichtsdestotrotz ist sie die einzige, die mit Namen genannt wird, was ihr Persönlichkeit und Individualität zugesteht. Diese werden allerdings durch die stetige Präsenz des Todes wieder negiert (Dabove 46/7), zumal im Angesicht des Todes eine Gleichstellung der Menschen, d.h. aller Menschen erfolgt. Der Tod macht alle gleich. Molinas Ausspruch „Que sueñes 16 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ con Irena.“ [Träum von Irena.] deutet angesichts der Tatsache, dass sich Molina mit Irena identifiziert und dass er kurz darauf behauptet, er wisse, dass sich Valentín zur Architektin hingezogen fühle, den Wunsch Molinas an, von Valentín begehrt zu werden. (Puig 15) Die Identifikation Molinas mit Irena bezieht sich ebenfalls auf seine Sexualität, die unkontrollierbar und ohne Hoffnung auf Erfüllung scheint (Bacarisse Impossible Choices 41, Wiegmann 110). Die Fähigkeit Irenas zur Verwandlung ist ein Mittel, die vorgegebene Rolle zu durchbrechen. Dadurch, dass die Katzenfrau als etwas Unnatürliches angesehen und in der Folge marginalisiert wird, ist sie eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm. Diese gesteht der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft allein den passiven, inferioren Part zu. Die Katzenfrau ist jedoch stark, stärker als der Psychoanalytiker, und aggressiv, besitzt demnach klassische „männliche“ Eigenschaften. Sie versucht, sich anzupassen, rebelliert aber letztendlich durch ihre Verwandlung, aber auch – in endgültiger Art und Weise – durch ihren Tod, gegen die engen sozialen Regeln und die vorgegebene Rolle. Molina ergeht es ähnlich, denn auch er steht ausserhalb der gesellschaftlichen Normen. (Campos 538-540) Auch er versucht, sich dahingehend anzupassen, als dass er sich mit der weiblichen Rolle (über)identifiziert. Vergleicht man Molinas Darstellung mit dem Film selbst, so lassen sich bedeutsame Unterschiede im Hinblick auf die weibliche Geschlechterrolle erkennen. Die Irena der Filmerzählung ist um einiges selbstbewusster. Sie ergreift die Initiative und lädt den Architekten bei ihrer ersten Begegnung zu sich ein. Auch die Verwandlung zur Katzenfrau erfolgt nicht durch einen blossen Kuss, sondern dadurch, dass den Frauen Unrecht geschieht, sie schlecht behandelt werden. (Schlickers 250/51) So bittet Irena den Architekten auch, sie vor Eifersucht und Zorn zu bewahren (Cat People). Damit liegt ein grösserer Teil der Schuld beim Mann als bei Molinas Version, denn er löst durch sein Verhalten die Verwandlung aus und ist somit Ursache des folgenden Unglücks. Der These, Irena wäre im Film bösartig und rachsüchtig (Bacarisse The necessary dream 97) wird hier widersprochen, denn ihre Eifersucht ist wohlbegründet, sie ermuntert den Psychoanalytiker keineswegs, im Gegenteil, usw. (Cat People) Die Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen betonen die traditionellen Rollenvorstellungen der Geschlechter, die Molina verinnerlicht hat, weiter: Er gibt nicht nur einen Film wieder, der ihm gefallen hat, sondern verändert diesen, so dass er in sein eigenes Weltbild passt. Dies bedeutet Passivität aber auch die Stereotypisierung der Frau in „Hure und Heilige“. Beim zweiten Film, den Molina erzählt, handelt es sich um einen erfundenen nationalsozialistischen Propagandafilm (Bacarisse The necessary dream 89)18. Er spielt in Paris zur Zeit der Besatzung. Die Protagonistin der Erzählung heisst Leni – erneut ist sie die einzige der Erzählung mit Namen – und ist eine bekannte Revuesängerin. Laut Molina ist sie „[l]a mujer más más divina“ (Puig 57), die absolut göttlichste Frau und damit seine Idealvorstellung, sein Vorbild. Ihr Aussehen und ihre Schönheit werden verklärt, sie erscheint irreal – „parece una estatua“ [sie scheint eine Statue zu sein] 18 Sabine Schlickers zieht hier Parallelen zu „Die gro[ss]e Liebe“ (1941/42) (253). Dieser Zusammenhang ist allerdings lediglich ein entfernter, sowohl im Hinblick auf die Handlung als auch auf das Verhalten der Charaktere. Es geht darum, den Geliebten mit dem Vaterland zu teilen. (Die gro[ss]e Liebe) 17 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ (61). Für Lenis Bewunderer, den Chef der deutschen Gegenspionage, ist Schönheit gleichbedeutend mit Güte19. Während ihrer Darbietung erscheint sie hilflos und passiv. Im Gespräch mit ihrer Arbeitskollegin vermittelt sie dagegen den Eindruck von Überlegenheit und Weisheit, wohingegen die andere jung, unerfahren und unsicher erscheint und sich ratsuchend an ihre Kollegin wendet. Der deutsche Offizier ist jung und gutaussehend, kulturinteressiert und gebildet. Leni möchte jedoch ihre Unabhängigkeit wahren und hält ihn zunächst auf Distanz, auch aus politischen Gründen. In diesem Sinne kann man auch den schottischen Whisky verstehen, den Leni anstelle des deutschen Schnapses, den der deutsche Offizier bestellt, verlangt und kaum anrührt. Liebe und Politik stehen im Film im Widerspruch zueinander, aber stets nur für die betroffenen Frauen. Sie sind es, die Opfer bringen müssen. Lenis Arbeitskollegin stirbt für ihre Liebe – und den Verrat an Frankreich und der Résistance. Leni selbst zeigt sich zunächst von der Galanterie des deutschen Offiziers, der ihr seltene und teure Blumen schenkt, sie zum Essen einlädt, ihr die Hand küsst usw., wenig beeindruckt. Erst die Angst bringt sie dazu, eine grössere Nähe zu ihm zuzulassen bzw. zu suchen. Der Schatten, den sie bei sich zu Hause hinter einem der Fenster erblickt, lässt sie an das Schicksal ihrer Arbeitskollegin denken, die ihre Liebe zu einem deutschen Leutnant mit dem Leben bezahlen musste. Deshalb bittet sie ihren Begleiter, sie mit zu sich zu nehmen. Sie hat Angst und sucht Schutz. Sie ist eine „mujer fragilísima“, eine sehr zerbrechliche Frau (62). Dem steht der deutsche Offizier als starker und trotzdem gefühlvoller Held im Kampf für sein Vaterland gegenüber. Die Frauenfiguren sind auf Kunst und Privates beschränkt, die Verantwortlichen von Résistance wie auch der Besatzungsmacht sind Männer. (Puig 55-63) Leni wird von der Résistance erpresst, ihren Geliebten auszuspionieren und Informationen zu beschaffen. Sie muss sein Vertrauen missbrauchen, um ihren Verwandten, der als Druckmittel dient, zu retten. Sie ist hilflos, ein Spielball mächtiger Männer. Nichtsdestotrotz bewältigt sie ihre Aufgabe clever und phantasievoll, indem sie ihre Abwesenheit durch das Auflegen einer Schallplatte verheimlicht. Später flieht sie vor dem Tod ihres Verwandten, der sie dadurch befreien wollte, quer durch Paris. Ihre Flucht ist eine Flucht vor der Realität, der Wahrheit des Augenblicks, und endet in den Armen des deutschen Offiziers. Diese Harmonie hindert Leni aber nicht daran, der Ermordung Gefangener ablehnend gegenüberzustehen, und sich diesmal aus freiem Willen der Résistance zuzuwenden. Sie lässt sich nicht von ihrem Geliebten vereinnahmen und behält ihre geistige Unabhängigkeit. (79-88) Dies ändert sich erst als sie Berlin besucht. Die Erfahrungen, die sie dort macht, die Dinge, die sie dort sieht, überzeugen sie – natürlich – von der Integrität ihres Geliebten und von der Richtigkeit seines Standpunktes. Von nun an ist sie der nationalsozialistischen Mission treu ergeben und spioniert die Résistance aus. Sie hat sich der Sache ihres Geliebten angeschlossen. Sie tötet den Chef der Gegenseite, indem sie ihm vorspielt, ihn verführen zu wollen, ein klassisch weibliches Motiv. Sie stirbt in den Armen des 19 Das u.a. in der Kunst zum Ausdruck kommende nationalsozialistische Schönheitsideal konzentrierte sich auf riesenhafte Masse sowie muskelbepackte Körper, die den „edle[n], heroische[n] deutsche[n] Mensch[en]“ verkörperten (Goerlitz und Immisch 88). Dem Konflikt zwischen der nationalsozialistischen Frauenfeindlichkeit und dem Bedürfnis, diese für die eigenen Ziele einzuspannen, begegnete man mit der Heroisierung von Haushalt und Mutterschaft (Clark 68). Die Aufgabe der Frau war die „Erhaltung“ des Volkes (Birk et al. 118). 18 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ deutschen Offiziers als Heldin des Deutschen Reiches. Ihre Liebe wird fürs Vaterland, zu dem sich Leni nun auch zugehörig fühlt, geopfert – für ein höheres Ziel. So ist auch der Weg ihres Geliebten am Ende ein Weg des Lichts und der Freude. (97-100) Leni gibt ihre Einstellungen und Überzeugungen zugunsten denen des von ihr geliebten Mannes auf, was zwar zu ihrem Tod, aber auch zu ihrem Glück führt. Trotz ihrer anfänglichen Eigenständigkeit wirkt sie am Schluss passiv und identitätslos. Auch als Heldin bleibt sie passiv: Sie bringt den Führer der Résistance dazu, in seinen eigenen Tod zu rennen, als er mit ihr schlafen will. Durch ihren Tod, den sie nicht verhindern kann, da sie hilf- und wehrlos ist, wird sie zur Heldin. Die Fussnote (88-94), die einzige, die sich nicht mit Theorien zur Homosexualität befasst, gibt sich als Teil eines Filmbeschriebs des Filmes „Destino“ [Schicksal] der verantwortlichen Filmstudios aus und enthält eine Zusammenfassung desselben. Sie durchbricht damit die Regelhaftigkeit der Fussnoten, steht einer Systematisierung entgegen und erschwert ihre Hierarchisierung in Verbindung mit dem übrigen Text (Zapata 226). Dargestellt wird nunmehr die politische Sicht des Filmes, die der nationalsozialistischen Propaganda, wohingegen Molina sich auf die Romantik und die Liebesbeziehung konzentriert. Dabei wird der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend die Natürlichkeit der weiblichen Schönheit betont. „’[L]a misión de ella es ser hermosa y traer hijos al mundo.’“ [Ihre Mission ist es, schön zu sein und Kinder zur Welt zu bringen.] (89) Den Frauen wird somit die traditionelle Rolle von Hausfrau und Mutter zugewiesen. Die Aufgabe der Frau, in der sie sich selbst verwirklichen kann, ist, das deutsche Volk zu vergrössern und so der nationalsozialistischen Sache zum Sieg zu verhelfen. Leni erfährt hier eine andere Art der Wertschätzung aufgrund ihrer Natürlichkeit und Weiblichkeit. Nunmehr wird auch der deutsche Offizier, der zuvor anonym geblieben ist, mit Namen – Werner – genannt. Damit erhält er Kontur, wird aber auch zur Hauptfigur der Handlung, da er bereits in der Erzählung Molinas der Überlegene gewesen ist. Diese Beziehung wird hier nun umso deutlicher, wie z.B. in dem Wortpaar „ordenar“ [befehlen] – „obedecer“ [gehorchen] (91). Sowohl das weibliche Frauenbild der Natürlichkeit und Emotionalität als auch die übrige nationalsozialistische Ideologie mit ihrer Rassenlehre – die „jüdische Weltverschwörung“ – und Selbsterhöhung finden hier ihren Ausdruck. Auch wenn die Fussnote einige Durchbrechungen des Sprachstils und der Wortwahl einer propagandistischen Veröffentlichung aufweist, wie „su arrogante uniforme“ [seine arrogante Uniform] (91), wird hier nicht davon ausgegangen, dass dieselbe ein weiteres Ausdrucksmittel Molinas ist (vgl. dazu Bacarisse The necessary dream 106), sondern im Gegenteil ein neues Element der Erzählung darstellt (Zapata 226). Die Ausdrucksweise ist nicht die Molinas (Kerr 671), zum einen aufgrund der ausgeprägten Wiedergabe propagandistischen Materials und der Konzentration auf Politisches, zum anderen aufgrund der grösseren Distanziertheit der Wiedergabe im Hinblick auf die Liebesgeschichte, die schliesslich einer „höheren“ Sache untergeordnet wird. Das Gewicht liegt auf der inneren Wandlung Lenis. Die nicht ins Bild passenden Einwürfe durchbrechen und konterkarieren die manipulative Einflussnahme, indem sie das Gesagte wiederum in Frage stellen. Sie stellen einen unabhängigen Kommentar dar, der aber nicht direkt die politische bzw. ideologische Aussage kritisiert, sondern diese vielmehr indirekt, gerade durch seine scheinbar apolitische Natur und Subtilität ironisiert. Die Grossschreibung von „la Verdad“ [die Wahrheit] (Puig 94) erinnert an den religiösen Dogmatismus mit seinem Anspruch auf die absolute Wahrheit, was zwar durchaus im 19 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Sinne des Nationalsozialismus zu verstehen ist, aber hier reichlich lächerlich erscheint, genauso wie das Picknick, welches eher an eine romantische Begegnung denken lässt. Auch die Ausdrücke wie „corazón de mujer“ [Frauenherz] (92) oder die Begründung von Lenis Interesse am Innersten Hitlers durch ihr Frausein betonen das (nationalsozialistische) Frauenbild und führen es zugleich ad absurdum. Was ist ein „corazón de mujer“? Welchen Sinn sollte es haben, das Geschlecht in solch einer banalen Situation zu betonen? Leni muss zwischen ihrer Liebe zum deutschen Offizier und ihrer Treue zu ihrem Land wählen (Bacarisse The necessary dream 105). Ihre Liebe siegt über die Politik20 und den Tod (Campos 541), aber auch über ihre Überzeugungen, die sie opfert. Leni ist eine Gefangene der Situation, der Ereignisse, die sie erbarmungslos mit sich reissen (Bacarisse The necessary dream 106). Auch Molina sieht sich – aus einer wertneutralen Perspektive gesehen – in einer ähnlichen Lage, wenn er sich zwischen seiner Liebe zu Valentín und seiner Verpflichtung gegenüber dem Regime entscheiden muss (Schlickers 260). Den dritten Film, „The Enchanted Cottage“ (Mit den Augen der Liebe, 1945) (Schlickers 258) erzählt sich Molina selbst und erlebt gedanklich die Erfahrungen seiner Protagonistin mit. Dieser innere Monolog wird durch die Kursivschreibung verdeutlicht, die den Text von seiner Umgebung abhebt. Molina versetzt sich in die Bedienstete hinein, die zwar äusserlich hässlich ist, jedoch eine wunderschöne Stimme hat. Sie ist unterwürfig und traut sich nicht, das Paar anzusehen, das sich für das Haus interessiert. Auch das Verhältnis zur Hausherrin wird anfänglich durch dieses Bewusstsein der sozialen Unterschiede bestimmt. Die Hausherrin erscheint als Tyrannin, der man nichts recht machen kann, der die kleine Bedienstete nichts entgegenzusetzen hat. Innerhalb des verlobten Paares ist es der Mann, der über die gemeinsame Zukunft bestimmt, und fest dazu entschlossen ist, in das Haus einzuziehen, auch wenn seine Verlobte nichts von dieser Idee hält. Nichtsdestotrotz empfindet die Bedienstete alias Molina sofort Gefallen an ihm, was sich auch an der Antipathie zeigt, die sie seiner Freundin gegenüber empfindet. So bezeichnet sie sie als „bastante antipática“ [ziemlich unsympathisch] (Puig 106). Bei seiner Rückkehr aus dem Krieg ist er von einer Narbe entstellt, welche an Valentíns Muttermal (222) erinnert, ebenso wie der anschliessende Gedankensprung zu Valentín. Molina fühlt sich zu ihm hingezogen, obwohl er durch Folter und Krankheit „entstellt“ ist (Campos 544). Die Arroganz der Filmfigur indes hat sich nicht gemildert, sondern vielmehr verstärkt, dient nunmehr aber grösstenteils seinem eigenen Schutz. Er fühlt sich verwundbar und hilflos und erhofft sich, sich mittels der Distanz zu anderen Menschen selbst zu schützen, nachdem er sein gutes Aussehen und damit einen Teil seines bisherigen Lebens verloren hat. Er versinkt in Selbstmitleid, wagt sich weder seinen Eltern noch seiner Verlobten zu zeigen und schliesst sich in seinem Zimmer ein. Die beiden Aussenseiter, die hässliche Dienerin und der entstellte Mann, tun sich zusammen, um dem Leben zu trotzen. Durch ihre Liebe erstrahlen sie an ihrem Hochzeitsabend und in der Folge in unfassbarer Schönheit. Diese Schönheit ist jedoch nicht wirklich bzw. entspricht 20 René Campos sieht darin auch die Beseitigung des grundlegenden Unterschieds zwischen den beiden Hauptcharakteren (541), was allerdings die Bedeutung der sozialen Rahmenbedingungen und Normen zu stark vernachlässigt. 20 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ nicht der angenommenen Wirklichkeit mit ihrer Betonung des Äusseren. Diese Erfahrung ist für beide schmerzvoll, da sie nach wie vor in der dominanten gesellschaftlichen Realität gefangen sind. Erst der Blinde, für den Äusserlichkeiten keine Bedeutung besitzen, weist ihnen den Weg zurück ins Glück, indem er ihnen fast mit den Worten Antoine de Saint-Exupérys (Chapitre XXI) sagt, die Seele sehe besser, was wichtig sei. Diese ist – im Gegensatz zum Herzen – auch nicht biologisch fassbar und determiniert. Molina, der sich selbst als Frau sieht, wird von den von ihm begehrten Männern als ihresgleichen wahrgenommen, was es ihm verunmöglicht, die Beziehung seiner Träume zu führen. Die Bedeutungslosigkeit von Äusserlichkeiten und die Konzentration auf innere Werte ermöglichte es ihm, den Mann fürs Leben zu finden. In dessen Augen würde er vom hässlichen Entlein zu einer schönen Frau werden. Diese Transformation ist in der Filmerzählung an die vorherige Entstellung des Mannes gekoppelt, der zu diesem Schritt nur aus einer Position der Schwäche hinaus fähig ist. Erst durch den Verlust eines Teils seiner Überlegenheit gelangen beide auf eine Stufe, auf der sie sich begegnen können. Beide brauchen einander. (Puig 104-116) „The Enchanted Cottage“ ist (scheinbar) der einzige, der von Molina erzählten Filme, der einen glücklichen Ausgang hat. Im Gegensatz zu den anderen weiblichen Hauptfiguren, die zu Beginn gut dastehen, schön und erfolgreich sind, ist die Bedienstete weder das eine noch das andere, wird aber am Ende belohnt. (Schlickers 258) Andererseits bezieht sich diese Beobachtung allein auf die Liebesbeziehung der Hauptdarsteller – so wird sowohl im nationalsozialistischen Propagandafilm, dem erfundenen Film sowie dem letzten Film (siehe unten) eine hoffnungsvolle Szenerie beschrieben: Trauer geht einher mit Erfüllung, im Dienst des Vaterlandes, der eigenen Überzeugung bzw. der Verwirklichung eines eigenständigen Lebens. In diesem Sinne bezeichnet auch Pamela Bacarisse den Glauben an die hässliche Dienerin als irreführend (Impossible Choices 119), da damit keine Lösung verbunden sei. Beide, die Bedienstete als auch Molina, halten an der Sehnsucht fest, einmal als das erkannt zu werden, was sie ihrem Wesen nach sind (The necessary dream 110). Den nächsten Film, der vom Autor frei erfunden ist (Schlickers 258), erzählt Molina Valentín, um ihn von seinen Schmerzen abzulenken, die von dem vergifteten Essen herrühren. Deshalb wählt er auch einen Film aus, der ihm zwar selber nicht gefällt, von dem er aber annimmt, Männer im Allgemeinen und Valentín im Besonderen würden ihn mögen: „Es de esas películas que les gustan a los hombres...” [Es ist einer dieser Filme, die den Männern gefallen…] (Puig 118) So dreht sich die Erzählung auch um einen jungen Mann und nicht um eine Frau wie zuvor, in dem Molina Valentín wieder zu erkennen glauben scheint. Der Protagonist stammt aus einem reichen Elternhaus, was ihm den Zugang zu den entsprechenden Kreisen wie auch das Fahren von Rennen erlaubt. Um seinen idealistischen Überzeugungen gerecht zu werden, verzichtet er jedoch darauf, Markenwagen zu fahren und baut seine eigenen, was jedoch nichts an der Tatsache ändert, dass er seinem Vergnügen nachgeht. Es scheint fraglich, ob dieser Beruf es ihm auch ermöglicht, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dies geschehe aus bereits vorhandenem Vermögen, das er sich nicht selbst verdient hat: „le da vergüenza ser un vago que no hace nada“ [es ist ihm peinlich, ein Faulpelz zu sein, der nichts tut] (119). Trotzdem bittet er seinen Vater um Geld. Der Spass und die Freude, seiner Leidenschaft nachzugehen, haben über seine (links)politischen 21 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Ideale gesiegt. Dieser innere Konflikt geht nicht spurlos an ihm vorüber, so dass er Zuflucht im Alkohol sucht. Zudem macht er sich Vorwürfe, seine Mutter alleine gelassen zu haben – ohne dass ihn das jedoch dazu verleitet, sie aufzusuchen. Auch seinen Vater, der sich um ihn sorgt, stösst er vor den Kopf. Er erscheint irrational und kindisch, undankbar gegenüber seinem fürsorglichen Vater. Nichtsdestotrotz macht er sich mehr Gedanken um seine Familie als um die politische Sache (Bacarisse The necessary dream 112). Seine Anklage der Automobilkonzerne klingt wie auswendig gelernt, abgedroschene Phrasen, wie sie von einem linken idealistischen Spinner erwartet werden21. Die Liebe seines Vaters endet tödlich, er opfert sich, um seinen Sohn zu retten, und auch wenn dieser zuvor alles unternommen hat, um seinerseits seinen entführten Vater zu retten, hat dessen Tod durch die Hände der guerrilleros keinerlei Einfluss auf seine Sympathien. Er schliesst sich ihnen im Gegenteil sogar an. Auch seine Liebe zu seiner Freundin kann ihn nicht davon abhalten, so dass diese alleine wieder nach Monaco zurückfährt. Sie wird erneut von einem geliebten Mann verraten und zurückgelassen. Sie ist das Opfer seiner Besessenheit, die umso unverständlicher ist, da er sich jenen Leuten anschliesst, die seinen Vater ermordet haben. Auch er opfert seine Liebe und sein Glück für seinen Traum22. (Puig118-126) In dieser Erzählung gibt Molina seine Meinung über Valentín preis: Er glaubt, dieser verschwende sein Leben, indem er alleine für den Kampf, für die Sache lebt. Er selbst versteht diese Selbstaufopferung keinesfalls, diese ist für ihn verrückt und nicht nachvollziehbar, insbesondere (im Film) nach dem Tod des Vaters. Politik ist für ihn nicht von Bedeutung, schon gar nicht ist sie wichtiger als das Glück einer Familie. 23 Dies entspricht der traditionellen Unterscheidung der Politik als männlich und der Familie als weiblich. Molina möchte, dass Valentín sich ihm anvertraut (Logie 525), weshalb er bewusst marxistische Klischees verwendet (Zapata 221), nichtsdestotrotz aber seinen Überzeugungen Ausdruck verleiht. Der vorletzte und erste Film des zweiten Teils des Buches – basierend vor allem auf „I walked with a Zombie“ (Ich folgte einem Zombie, 1943) (Schlickers 258) – besitzt wiederum eine weibliche Protagonistin. Diese erscheint sehr jung und naiv, insbesondere in ihrem Verhalten gegenüber dem Kapitän des Schiffes, dem sie ihre Träume und Wünsche bzw. ihre „ilusiones“ [Hoffnungen, Träume, Illusionen] (Puig 164) erzählt. Dieser weiss jedoch mehr als sie und vermittelt dadurch den Eindruck von Überlegenheit, der durch seine kryptische Warnung noch verstärkt wird. Im Gegensatz zu den anderen Hauptfiguren wird sie viel häufiger als „chica“ [junge Frau, aber auch Kind, Mädchen] ( „mujer“ [Frau] etc.) bezeichnet, wohingegen jene öfters einfach unter „ella“ [sie] fungieren, ein Hinweis auf ihre Jugend und Unerfahrenheit. Der Mann scheint von seinem Gutsverwalter in irgendeiner Weise abhängig zu sein, er widersetzt sich ihm nicht, weder in Bezug auf die Unterschrift noch auf die Zerstörung der Rumflasche. Er ist schwach. Bereits in der ersten Nacht auf der Insel 21 Andererseits brachte die Stadt-Guerrilla notwendigerweise eine gewisse Rigidität mit sich (Rhode 96). Ein Zwang zur Entscheidung zwischen Mutter und Geliebter und ein darauf aufbauender Bezug zu Molina (Bacarisse Impossible Choices 47) scheint hier allenfalls sekundär zu sein, zumal der Protagonist auch vorher die Möglichkeit gehabt hätte, zu ihr zu gehen. 23 Dagegen ist Pamela Bacarisse der Auffassung, Molina würde zwar das Verhalten Valentíns ablehnen, den Helden in diesem Film jedoch bewundern (The necessary dream 103). 22 22 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ wird die Frau von ihm alleingelassen: Sie muss auf ihn warten. Dieser Zustand lässt in ihr Neugierde, aber auch eine gewisse latente Eifersucht auf die angeblich verstorbene Frau ihres Mannes, d.h. die andere Frau, die von ihrem Mann geliebt worden ist, aufkommen, so dass sie im Haus herumschnüffelt. Sie ist schreckhaft und ängstlich, Schatten und Geräusche jagen ihr Angst ein, ohne dass sie einen Grund hätte, sich vor der Insel zu fürchten, abgesehen von den mysteriösen Andeutungen des Kapitäns. Voller Panik weiss sie weder ein noch aus, entmutigt fällt sie in Ohnmacht, in Erwartung ihres Schicksals. Nachdem ihre rückwärtsgewandte Flucht misslungen ist, gibt sie die Hoffnung auf. Sie ist passiv. Später traut sie der eigenen Wahrnehmung nicht und widerspricht auch der Haushälterin nicht, als diese ihr Erlebnis ins Reich der Träume verbannt. Sie ist sich ihrer selbst nicht sicher. Der Frau ist es jedoch vergönnt, ihrem Mann – zumindest zeitweilig – Frieden zu schenken, dies ist nachgerade ihre Aufgabe, da die Bediensteten ihr die meisten Aufgaben abzunehmen scheinen. Auf der anderen Seite traut sie sich nicht, ihren Mann direkt und persönlich auf seinen Aufenthaltsort der vergangenen ersten Nacht anzusprechen, sondern richtet ihre Fragen an die Haushälterin. Trotz ihrer Verliebtheit besteht demnach ein Rangunterschied zwischen den Eheleuten. Als er mitten in der Nacht aufsteht, stellt sie sich schlafend, sie verstellt sich, spricht ihn nicht an. Sie kümmert sich um ihn, will ihm ein Gefühl der Geborgenheit geben, ein Gefühl der Nähe. Dadurch will sie ihn aus seiner trüben Stimmung reissen, sein Vertrauen gewinnen, um ihm zu helfen, seine Probleme zu lösen. Die Trunksucht des Mannes verstärkt den Eindruck von Schwäche, den er bereits zu Beginn des Filmes vermittelt hat. Sie wiederum spricht dieses Thema nie an. Sie macht sich zwar Sorgen um ihn und durchstöbert deshalb als auch aus latenter Eifersucht auf seine frühere Frau seine Sachen, benimmt sich dabei allerdings wie ein Kind, das Angst hat, von seinen Eltern bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Sie konfrontiert ihn nicht. Auch als er ihr ohne irgendwelche Erklärungen verbietet, das verlassene Haus zu betreten, hakt sie nicht nach. Sie ist zwar entschlossen, hinter das Geheimnis ihres Mannes zu kommen, muss dann allerdings erneut von der mütterlichen Haushälterin vor den Zombies gerettet werden, da sie vor Angst wie erstarrt ist und nicht handeln kann. (Puig 163-180) Auf der anderen Seite hat sich die erste Ehefrau für ihren Mann geopfert, der dieses Opfer jedoch missverstand und in seiner Wut und Eifersucht seine Geliebte tötete. Er reagierte nicht mit Enttäuschung und verletzter Trauer, sondern mit Wut und Zorn. Er war nicht mehr Herr seiner Gefühle und rächte sein Gefühl des Verratenseins an seiner Frau, die er liebte, und nicht am Gutsverwalter, der aus seiner Sicht genauso schuldig hätte sein müssen. Dies steht im Gegensatz zu den Handlungen des Magnaten im letzten Film. Die erste Frau ist ein dankbareres Opfer, und der Gutsherr glaubt, mehr Rechte über sie zu haben. Die Haushälterin war Opfer ihres bösen Ehemanns, ebenso wie die ehemalige Ehefrau nun als Zombie den Zudringlichkeiten des Hexers hilflos ausgeliefert ist. Sie dient diesem nurmehr zur Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse. Der Ehemann vertraut sich seiner Frau nicht an. Er gibt ihr nur Befehle, die zwar aus seiner Sorge um sie und seinem Bedürfnis, sie zu schützen, rühren, sie aber nichtsdestotrotz wie ein Kind dastehen lassen. Die Frau leidet wiederum unter seinem mangelnden Vertrauen und seiner Trinkerei. Sie ist machtlos. Ein Ausdruck dafür ist auch die Tatsache, dass sie sich aus Angst vor dem unbekannten Eindringling im Zimmer einschliesst. Nichtsdestotrotz stellt sie sich um ihrer Liebe Willen ihrer Angst sowohl vor dem Hexer und den dunklen Geheimnissen der Insel als auch vor dem 23 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Begehren des Verwalters. Sie hat nach wie vor schreckliche Angst, sie versteckt sich jedoch nicht länger. (189-195) Trotz aller Willensstärke kann sie allerdings nicht verhindern, dass sie der (magischen) Anziehungskraft des Hexers erliegt, für den auch sie nichts weiter als ein Sexualobjekt ist, ebenso wie seine ehemalige Frau und die ehemalige Frau des Gutsbesitzers. Erst die Ankunft ihres Geliebten gibt ihr die Kraft, den Bann zu brechen, alleine ist sie dazu nicht in der Lage. Dieses Ereignis gibt ihr in der Folge zwar den Mut, ihren Mann wegen seiner Trunkensucht zu konfrontieren, um ihre Ehe nicht zu zerstören, in Bezug auf die Machenschaften des Hexers bewahrt sie aber Stillschweigen – „como si no hubiese pasado nada“ [als ob nichts geschehen wäre] (214). Sie dringt mit ihren Worten jedoch nicht zu ihrem Mann durch, der erneut gewalttätig wird, ohne dass sie sich wehren könnte oder würde. Auch der Versuch der Haushälterin, den Hexer aufzuhalten, schlägt aufgrund ihrer mangelnden Kraft fehl, und sie stirbt. Die Frau wiederum überwindet ihre Angst erst, als sie hört, dass ihr Mann im Sterben liegt, und kommt aus ihrem Zimmer. Sie handelt aber erneut nicht, sondern bleibt passiv. Der Mann dagegen findet in den letzten Minuten seines Lebens noch zu „wahrer“ Grösse, zeigt seiner ehemaligen Frau einen Ausweg aus ihrem Dasein – ohne sich jedoch bei ihr für ihren Tod zu entschuldigen – und erzählt den Bediensteten die Wahrheit über den Hexer, vor dem er nunmehr keine Angst mehr hat bzw. die einzig verbliebene Angst ist die, zu einem Zombie zu werden. Dies zu verhindern liegt jedoch nicht in seiner Macht, sondern in der der anderen. Die Frau verlässt die Insel, sie will nichts mehr mit all dem zu tun haben. Sie freut sich zwar über den Abschied, den ihr die Bewohner geben, aber sie besitzt keine (positive) emotionale Bindung an diesen Ort. Sie hat die Bewohner vom Hexer befreit, indem sie die Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hat, bedarf aber nach wie vor eines starken Mannes, der sie beschützt. So breitet sich am Ende des Filmes eine glückliche Zukunft zusammen mit dem Kapitän vor ihr aus. (212-216) Sie zieht einen Schlussstrich, auch unter ihre eigene Schuld: „an authority figure will be there to protect and guard the victim against future misery“ [eine Autoritätsfigur wird dort sein, um das Opfer vor zukünftigem Elend zu beschützen und behüten] (Bacarisse The necessary dream 120). Die abschliessende Reise mit dem Schiff steht möglicherweise für den Tod am Ende des Romans (121), ähnlich wie der griechische Charon die Seelen der Verstorbenen über den Styx fährt (Sachse 48). Dieser mag zwar die Protagonisten des Filmes nicht betreffen, dafür aber diejenigen des Romans. Im tatsächlichen Film lebt die Ehefrau noch, ist aber ebenfalls ein Zombie, wenn auch im Geheimen. Die Zombies überleben das vom Gutsherrn gelegte Feuer, das sie befreien sollte und kommen immer wieder, es gibt also keine Erlösung (Bacarisse The necessary dream 118/19) Die Protagonistin soll hier die Ehefrau pflegen (Campos 545), womit es sich hier nicht um eine Liebesgeschichte im klassischen Sinn handelt, da erstere zur Ausübung einer Tätigkeit, nicht als Ehefrau des Gutsherrn auf die Insel kommt. Sie besitzt demnach eine gewisse Selbständigkeit. Das Interesse an der im Film gezeigten Unterdrückung der Arbeiter (Bacarisse Impossible Choices 82) erklärt sich jedoch grösstenteils aus dramaturgischen Notwendigkeiten. Im Gegensatz zur zitierten Autorin wird hier die Auffassung vertreten, dass sich die Darstellung der sozialen Verhältnisse auf die Bedeutung der Arbeiter für die Handlung ergibt. Die Unterdrückung mündet in ihrer Wut zum Abschluss der Erzählung. Die scheinbare Allmacht des alten Herrn ermöglicht die Entstehung der Zombies. Auch in den vorhergehenden Filmen waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen implizit enthalten, 24 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ z.B. in der Person der Bediensteten in „The Enchanted Cottage“, ihrer Lebensgeschichte und ihrer Abhängigkeit von ihrer Dienstherrin. Bedeutsamer scheint hier der Vergleich von Zombies und Frauen. So symbolisieren erstere letztere in ihrer Hilf- und Wehrlosigkeit angesichts ihrer Ausbeutung und ihrer Schwäche. Dies erklärt auch, entsprechend den Worten der Haushälterin, die Existenz eines einzigen weiblichen Zombies: Sie sind nutzlos, da sie zu schwach sind. (Bacarisse The necessary dream 118) Die Protagonistin ist deshalb in Gefahr, weil ihr Mann nicht in der Lage ist, sie zu beschützen (Wiegmann 111). Sie selbst kann es nicht. Der letzte, erfundene, wenn auch auf „Camille“ (1937) beruhende (Speranza 554) Film, den Molina Valentín erzählt, handelt von einer ehemaligen mexikanischen (Campos 546) Schauspielerin und Tänzerin, die sich nach ihrer Heirat aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Sie arbeitet nicht mehr, obwohl sie dies mittlerweile gerne wieder tun würde, da ihr dies ihr Mann verboten hat („pidió“ [bat] – „se negó“ [weigerte sich]: Puig 229). Er hat damit Macht über sie und ist ihr überlegen. Sie kann nicht gegen seinen Willen handeln. Auch als sie dem Reporter begegnet, und dieser sie bittet, sie zu begleiten, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihren Mann zu verlassen. Dies liegt bemerkenswerterweise auch daran, dass ersterer sie unter Druck zu setzen versucht, indem er ihre Entscheidung jetzt oder nie verlangt: „le dice que todos los hombres son iguales, que ella no es una cosa, algo que se maneja como ellos quieren, por capricho, y que le tienen que dejar tomar su propia decisión.” [sie sagt zu ihm, alle Männer seien doch gleich, sie sei keine Sache, etwas, das sich so lenken liesse wie sie wollen, aus einer Laune heraus, und sie sollen sie doch ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen.] (Puig 229). Damit betont sie ihre Eigenständigkeit, ihre Existenz als vernünftiges und mündiges Wesen und verwahrt sich gegen Bevormundung. Zuvor hatte sie sich bereits bemüht, keinen dauerhaften Kontakt zu ihrer Karnevalsbekanntheit aufkommen zu lassen. Diesem dagegen geht die mysteriöse Unbekannte nicht mehr aus dem Kopf, das Geheimnis hält ihn in seinem Griff. Zunächst scheint die Sängerin bei ihrer erneuten Begegnung auch nicht abgeneigt, sie gesteht ihm sogar, dass sie ihn „brauche“. Umso härter ist der Schlag für sein Ego, als sie sich dann doch anders entscheidet, für den anderen Mann. Er ist wütend und erbittert. Die angebotene Bezahlung lässt ihn in seiner eigenen Vorstellung als käuflich erscheinen, als jemand, der seine Ideale als Journalist verraten hat. Auch wird der Gefallen, der aus einer Position der Stärke und der Überlegenheit versprochen wurde, zu einem reinen Tauschgeschäft auf gleicher Ebene bzw. sogar in eine unterlegene Position herabgewürdigt, da der Eindruck entsteht, er hätte dies alles nur um des Geldes Willen getan. Er bereut sein Aufbrausen zwar alsbald, versucht dies aber nur mit Alkohol zu ertränken. Dies zeigt eine gewisse Schicksalsergebenheit und Passivität, da der Alkohol kaum eine Lösung bringen wird, eine traditionellerweise eher weibliche Eigenschaft. Seine Dichtung zum Musikstück stellt seine sanfte, romantische Seite dar. Der Text beinhaltet jedoch nur eine explizite Liebeserklärung ihrerseits, nicht eine seinerseits. Seiner Verbitterung und seinem Gefühl des Verrats, welches im Gegensatz zu seinem vorhergehenden Bedauern steht, gibt er darin Ausdruck, dass er ihr die Fähigkeit zu lügen unterstellt und auf einen Tag in der Zukunft hofft, an dem sie ihm nichts mehr bedeuten wird. Trotzdem hofft er auf ein weiteres Treffen, an dem sie ihn allerdings versetzt, da sie Angst um ihn hat. Sie möchte ihn beschützen und nicht die Ursache seines Todes sein. Dies führt 25 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ dazu, dass sich der Reporter erneut betrinkt, um seinen Kummer zu betäuben. Auch die ehemalige Schauspielerin ist hilflos – hilflos gegenüber ihren Gefühlen, aber auch hilflos gegenüber ihrem Mann, der eifersüchtig ist und sie zu Boden stösst. Sie wehrt sich nicht und bleibt passiv, sie erduldet. Auf der anderen Seite ruiniert sich der Journalist seine Karriere, um seine Geliebte zu schützen, und sein Leben aus Kummer und Liebe zu ihr. Liebe ist für ihn nur eine Illusion, etwas Irreales, Unwirkliches: „…otra mentira…que triunfé en el amor“ […eine weitere Lüge…dass ich in der Liebe Erfolg habe] (234). Als er sich die unmännlichen Tränen abwischt, verschwindet die Erscheinung seiner Geliebten, indem er seine Gefühle unterdrückt, versagt er sich sein eigenes Glück. Dies wiederum treibt ihn erneut dazu, etwas zu zerstören – sein Glas ist es, an dem er seine Wut auslässt. (Puig 226-235) Die Sängerin wird durch ihre Begegnung aufgerüttelt und versucht, sich von ihrem Magnatenehemann zu lösen. Sie nimmt ihren Beruf wieder auf. Auch die Einmischung ihres Mannes, der bemüht ist, ihr Steine in den Weg zu legen, um ihr die finanzielle und materielle Grundlage ihrer Rebellion zu nehmen, schreckt sie nicht. Sie emanzipiert sich, denn sie möchte alleine, ohne irgendeinen Mann, auch ohne ihren Geliebten zurechtkommen. Stattdessen ist sie es, die ihm zu Hilfe kommt, als er aufgrund seines Alkoholismus praktisch am Ende ist. Dies ist ihr jedoch nur möglich, indem sie sich einem anderen Mann hingibt, sich und ihren Körper von diesem benutzen lässt. Sie bringt ihren Stolz als Opfer für ihre Liebe dar. Sie ist es dann auch, die ihm ein Heim gibt. Er kann es jedoch nicht ertragen, misstraut ihrer Treue und ihrer Liebe. Als er entdeckt, dass sie sich prostituiert, um ihrer beider Lebensunterhalt zu verdienen, überkommt ihn die Scham. Er schämt sich der Grund dafür zu sein, er schämt sich, ihr eine Last, von ihr abhängig zu sein. Nach einem erfolglosen Versuch, sich Arbeit zu beschaffen, zieht er es vor, alleine weg zu gehen, um ihr keine Last mehr zu sein. Er redet nicht mit ihr, sondern schleicht sich sogar heimlich davon. Er versucht nicht, gemeinsam eine Lösung zu finden. Er nimmt ihrem Opfer seine Grundlage, seine Berechtigung, er anerkennt es nicht an, sondern verschmäht es. (239-245) Ihr Ehemann dagegen zollt ihr Respekt, er erkennt in ihrem Opfer die Tiefe ihrer Liebe. Er bereut sein Handeln, gibt sie frei, verzichtet auf sie und seine Liebe. Er übergibt ihr die Juwelen, die er ihr einst geschenkt hat und auf die sie als Zeichen ihrer Unabhängigkeit bei ihrem Weggang verzichtet hat. Es ist jedoch zu spät, ebenso wie die Einsicht des Geliebten, dass seine Gründe, sie zu verlassen, nichtig gewesen sind. Seine Erkenntnis kommt zu spät. Die Möglichkeit, gemeinsam ein Leben zu führen, ist an seinen Vorurteilen gescheitert, seinen Vorurteilen bezüglich des Mannes als desjenigen, der das Geld verdient – woran er immer noch festhält, als er von seiner Karriere phantasiert – als auch der Scham gegenüber der Prostitution. Nach seinem Tod zieht sie einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben, indem sie die Juwelen zurücklässt und sich so ihrer finanziellen Mittel beraubt. Sie trauert, weiss aber nun, das Leben zu lieben, zu geniessen, was in ihrem Lächeln zum Ausdruck kommt. Eine Frau kann auch alleine, ohne einen Mann an ihrer Seite, durchs Leben gehen. (260-263) Obwohl auch hier also die Frau sehr stark klassische weibliche Eigenschaften wie Schönheit, Sanftheit, Verletzlichkeit besitzt, nimmt sie die handelnde Rolle ein und damit eine klassische männliche Position. Durch ihr Überleben, d.h. ihren Triumph über die sozialen Zwänge, wird eine alternative Identifikationsmöglichkeit ausserhalb der weiblichen Rolle eingeführt. (Campos 547-549) Nichtsdestotrotz bleibt sie in ihrem Verhältnis zu den Männern der unterlegene Part: Sie muss Angst 26 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ haben, dass ihr Ehemann sie zurückholt. Sie wird von ihrem Geliebten verlassen. Für letzteren prostituiert sie sich sogar (Muñoz 67), was dieser jedoch, gefangen im gesellschaftlichen Normennetz, nicht verstehen kann oder will (Bacarisse Impossible Choices 54). Die weiblichen Protagonistinnen der Filme spiegeln in ihrem Auftreten und Handeln Molinas Weiblichkeitsideal wider. Sie müssen wählen (Bacarisse The necessary dream 96/97): Zwischen ihrer Liebe und ihrem Vaterland, ihrem Gewissen (Leni), ihrer Liebe und dem eigenen Stolz (die mexikanische Sängerin), ihrer Liebe und ihrem bisherigen Leben (die Monegassin), ihrer Liebe und ihrer Natur (Irena), ihrer Liebe und ihrem Bedürfnis, beschützt zu werden (die Ehefrau in „I walked with a Zombie“). Es ist eine Wahl zwischen ihrer Liebe und ihrer Selbstverwirklichung24, denn beide entsprechen sich nicht. So ist das einzige glückliche Pärchen, die einzige Liebesbeziehung mit glücklichem Ausgang, in „The Enchanted Cottage“ zu finden, also in jenem Film, den Molina Valentín nicht erzählt. Die Darstellung der Frauen erfolgt klischeehaft und an das Gegensatzpaar von Hure und Heilige angelehnt: Sie sind schön25 und begehrenswert – mit Ausnahme der Bediensteten, die sich ihren Lebensunterhalt auf andere Weise verdienen muss – sowie dem Mann unterlegen, für den sie sich aufopfern. Er ist ihr Lebensinhalt. Die Männer aber erscheinen schwach, ohne die klassischen männlichen Eigenschaften wie Mut oder Stärke – (Schlickers 261) mit Ausnahme Werners. Stattdessen versuchen sie, ihre Probleme mit Hilfe des Alkohols zu lösen (Journalist, Gutsherr), sich zu verstecken (entstellter Mann), sich hinter Dogmen zu verbergen (guerrillero) oder ihnen einfach auszuweichen (Architekt). Die Frau „está destinada“ [ist vom Schicksal bestimmt]. Sie ist passiv, im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte freiwilliges Opfer für den geliebten Mann. (Dabove 29) Dies muss nicht ihren Tod beinhalten, tut es dies jedoch, so fügt sich auch dieser in das Muster ein (51). Auffallend ist auch ihre Beschäftigung mit der Kunst (45): Irena malt, Leni singt und tanzt, die Mexikanerin singt und schauspielert, die Monegassin ist Direktorin einer Modezeitschrift. Sie sind in ihrem Erfolg auf eine traditionell weibliche Sphäre beschränkt. Juan Pablo Dabove meint, im letzten Film eine Umkehrung der Rollen von Mann und Frau zu erkennen, so dass ersterer nunmehr der „destinado“ [vom Schicksal Bestimmte] ist (30). Dies vernachlässigt allerdings die grössere Unabhängigkeit des Journalisten gegenüber den Heldinnen der vorhergehenden Filme. Er opfert zwar seine Karriere für seine Liebe, gibt sich danach aber auf. Er stirbt nicht als Selbstopfer, sondern aufgrund seiner Unfähigkeit, sich von seiner Geliebten helfen zu lassen. Trotz seiner gescheiterten Existenz bleibt er aktiv: Er entscheidet sich, fortzugehen. Irenas Tod ist weniger eine bewusste Entscheidung als ein Impuls, Leni stirbt für die Ideale ihres Geliebten. Andererseits lassen sich durchaus „weibliche“ Eigenschaften erkennen, denn auch sein Opfer geschieht bewusst und aus Liebe. Er unterschlägt Material und zerstört fremdes Eigentum. Auch wenn letzteres aufgrund seines mittlerweile erfolgten beruflichen und sozialen Abstieges ebenso sehr Spuren des Trotzes enthält, so ist der zentrale Punkt seine Liebe zur Sängerin. Diese Leidenschaft für einen anderen muss nicht zum Tod führen, wie Dabove anführt, ist aber trotzdem unabhängig vom 24 25 Sie haben Probleme, ihre Identität zu definieren (Schlickers 261). Güte und Schönheit, Treulosigkeit und Bosheit als Eigenschaftspaare sind die Regel (Dabove 28). 27 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Geschlecht, ebenso wie das „devenir mujer“ [Frauwerden] (30). Die Rollen der Geschlechter werden im letzten Film zwar nicht umgekehrt, aber sie bewegen sich aufeinander zu. Die teilweise Aufweichung der Geschlechterrollen bzw. die Abweichung von ihnen ist allerdings zweischneidig (Schlickers 261): Auch die letzte Liebesgeschichte endet tragisch, da sich beide schwer damit tun, diese Abweichungen im anderen zu akzeptieren. Sie scheint sein Opfer, das zum Ende seiner beruflichen Karriere führte, nicht zu würdigen, jedenfalls kommt dieses Thema nie zur Sprache. Er will nicht von ihr abhängig sein. Die Darstellungen sind ein Ausfluss des patriarchalischen Systems, die Annahme, dass dieses sich im „Verrat des hilflosen Mannes durch die Frau“ äussert (Schlickers 261), scheint jedoch aufgrund der Überlegenheit des Mannes und der Zwangslage der Frauen weniger zutreffend. Die Filme sind Trost und Ablenkung, (Fabry 234) sie erlauben einem Phantasie und Freiheit (Zapata 44). Sie sind Flucht und Verführung (Fabry 235). Die in ihnen dargestellten Zwänge sind ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, des repressiven politischen Systems. Das dagegen Ankämpfen (Schlickers 259) entspricht dem Kampf Valentíns und seiner Genossen. Ersteres endet jedoch stets – mit einer Ausnahme – tragisch. Es ist ein Vorausblick auf das Ende des Romans (Teltscher 219). Auch das Verschwinden der Personennamen im Verlauf der Filme und der damit einhergehende Verlust der Individualität verdeutlicht die Bedeutungslosigkeit des Individuums angesichts der sozialen Zwänge. Es kann keine Veränderung in der Welt bewirken. Dies steht im Gegensatz zum politischen Engagement Valentíns. (Schlickers 263) Das Erzählen der Filme stellt für Molina einen Ausgleich zum ansonsten unterordnenden Verhalten gegenüber Valentín dar, eine andere Art von Machtausübung (Teltscher 219), während er ausserhalb der Zelle, in der Gesellschaft, keinerlei Macht besitzt (Kerr 657). Sie sind der Vorteil der Frau aus ihrer Unterwerfung (Zapata 83). Für Molina „las historias son“ [sind die Geschichten], sie enthalten Wahrheiten und stellen zunehmend die Wirklichkeit in Frage (Dabove 22/23), wenn sie von den Geschlechterstereotypen abzuweichen beginnen. Das tragische Ende und der Tod sind unvermeidbar. Die Gesellschaft erlaubt kein Glück, die Hoffnung ist trügerisch. Es bedarf stets einer Wahl, eines Verzichts – eines Verlusts. Die Liebesbeziehungen sind genauso hoffnungslos wie die zwischen Molina und Valentín. Die Filme spiegeln ebenso sehr Molinas inneren Konflikt wider, seine Zwickmühle von Liebe und Verrat an Valentín (Wiegmann 107). Sie schlagen eine Brücke zwischen den beiden Zelleninsassen, lassen diese zu sich selbst finden (109) und ermöglichen ihre Annäherung. So erfolgt die Bitte um und das Versprechen eines Kusses unmittelbar nach Beendigung des letzten Filmes. 3.1.2 Überzeugungen und Verhalten „[Y]o quiero ser mujer“ [Ich möchte eine Frau sein] (Puig 25), mit diesen einfachen, bereits oben zitierten, Worten stellt Molina das gesellschaftliche Geschlechtersystem grundlegend in Frage: Er möchte die unbezwingbare Grenze überschreiten (95). Auch in seiner spöttischen Bemerkung auf Valentíns Ablehnung der weiblichen Version seines Namens, wonach er sich nicht so sicher sei, dass dieser keine Frau sei, klingt diese Ablehnung der gesellschaftlichen Rollenzuteilung an (44). Molina 28 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ träumt von einer monogamen Partnerschaft, ewiger Liebe und Romantik. Er möchte „die Frau an seiner Seite“ sein und fühlt sich als eine typische„señora burguesa“ [bürgerliche Frau] (50). Somit wünscht er sich genau das, was eine Frau zu wollen hat (Bacarisse The necessary dream 111). Da er aber keine Frau im biologischen Sinne ist, bezeichnet Peter Teltscher diesen seinen Wunsch als sehr viel revolutionärer als die von Valentín promulgierte Geschlechtergleichstellung (221). Gegen diese Auffassung lässt sich argumentieren, dass im Zuge der Geschlechtergleichheit die vorgegeben Rollen in Frage gestellt würden und somit schlussendlich auch die Heterosexualität als Norm, wohingegen durch Molinas Sichtweise diese im Gegensatz noch verfestigt wird, da auch die Menschen ausserhalb dieser Rollen an ihnen festhalten. Molina ist sich der Feinheiten der Sprache bewusst, ihrer Rolle in der Konstruktion und Aufrechterhaltung des Geschlechtersystems. So lehnt er zum einen ihren Androzentrismus ab (Muñoz 80), indem er sich gegen „¡hombre!“ [Mann!] (Puig 35) als Allerweltsbezeichnung stellt, zum anderen nutzt er die Eigenheiten der spanischen Sprache, um seine Identität auszudrücken und spricht von sich zuweilen in der weiblichen Form: -a statt –o (68, 138). Schönheit und Kunst sind nach seiner Ansicht Frauenangelegenheiten (83), die Abwertung weiblicher Eigenschaften verletzt ihn, da er in ihnen die Möglichkeit für eine bessere Welt sieht, ohne dabei allerdings politische Visionen zu haben. Zudem hinterfragt er deren Anbindung an das Geschlecht des Einzelnen und ihre Beschränkung auf Frauen, will aber nichtsdestotrotz einen klassischen starken Mann. (35) So verherrlicht er Gabriel und will nichts auf ihn kommen lassen, verflucht im gleichen Atemzug aber die Männer als solche (64). Molina bewundert die Stärke und das Durchsetzungsvermögen Gabriels, eines „hombre de veras“ [wirklichen Mannes] (68). Der Mann führt und herrscht, er ist stark, furchtlos, hübsch, selbstbewusst und doch bescheiden. Die Frau muss bewundernd zu ihrem Mann aufsehen können. Für Molina ist Gabriel26 wie er ihn sieht der ideale Mann, den er auf ein Podest stellt, um es gar nicht genauer wissen zu müssen. (69, 75, 246) Er möchte sich für ihn aufopfern27, ihn verwöhnen und sich mit bzw. durch ihn identifizieren (76). Er bewundert den Machismo (Bacarisse Impossible Choices 24). Seine Hilfsangebote werden jedoch wie im letzten Film aus Stolz abgelehnt (Puig 75). Ein Mann weint nicht (113, 234), ein Mann muss seiner Frau in allen Belangen überlegen sein. Sie darf nicht mehr verdienen als er, um sein Ego nicht zu belasten (75). Für Molina ist es völlig normal, dass Gabriel früher ein Frauenheld war und die Frauen anscheinend nur Nummern. Andererseits glaubt er ihm doch nicht alles, sondern hegt leichte Zweifel an seiner Aussage zu den Gründen für das Ende seiner Fussballkarriere. (73/74) Interessanterweise lehnt Molina den Psychoanalytiker im ersten Film ab, obwohl dieser nach eigener Aussage ein Frauentyp sei – ebenso wie Gabriel (26). Als Molina Valentín Gabriels Namen verrät, so geschieht dies nicht zufällig, sondern es verdeutlicht ein Loslassen Molinas. Zuvor wollte er den Namen für sich behalten, um die Person für sich zu haben. Indem er den Namen nun teilt, gewährt er Gabriel Individualität und Menschlichkeit: Er ist nicht perfekt. (77) Dies bedeutet eine Revision 26 Der Erzengel Gabriel ist in Judentum, Christentum und Islam der Bote Gottes und Ausleger von Visionen, in den ersten beiden auch der Herr des Paradieses (Gabriel (Erzengel)). 27 Auf den ersten Blick, bevor die Kollaboration mit dem Direktor offenbar wird, erscheint auch der Verzicht auf die grössere Portion Essen als Ausdruck dieser Bescheidenheit (95, 116). 29 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ seines Männerbildes. An seiner Sehnsucht nach Gabriel (113) und der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft und das Scheitern seiner Ehe (73) hält er aber fest. Als Valentín seine Idealvorstellung der Weiblichkeit abwertet, ist er verletzt (144), denn damit stellt dieser Molinas Identität in Frage. Er widersetzt sich dessen Gleichheitsanspruch mit der Berufung auf seine Gefühle, seine innersten Überzeugungen, und nicht mit Argumenten, die ihm unzulänglich erscheinen (247). Zu seiner eigenen Sexualität besitzt Molina ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits spricht er mit Valentín sehr offen darüber, spottet, dass ihm der Architekt aus seiner Erzählung als Mitgefangener lieber wäre und konfrontiert Valentín nach dessen Ausweichen (23). Andererseits sind die gesellschaftlichen Vorurteile nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Er übernimmt die gängigen Bezeichnungen (Schlickers 229), z.B. „locas“ [eigentlich Verrückte] aus Trotz, aber auch mit einem gewissen Gefühl des Schams (73). Ironisch spielt er mit der Bedeutung der Wörter „loco“ und „loca“ (85) oder bezeichnet sich selbst als „degenerado“ [verkommene Person] und versteht Valentín absichtlich falsch (163). Die gesellschaftliche Verachtung der Transsexuellen offenbart sich im Verhalten und der Geringschätzung durch den Richter (110) als auch der anfänglichen Angst Gabriels, der nichts mit Molina zu tun haben wollte, da er vermutlich nicht „angesteckt“ werden wollte. Er ist ja „normal“, wie es Molina so schön ausdrückt. Dies bedeutet wiederum, dass er sich selbst nicht als normal ansieht – auch wenn diese Bezeichnung durchaus spöttisch zu verstehen ist. Die Übernahme abwertender Bezeichnungen in einem positiven Sinn kann jedoch zweischneidig sein, denn sie kann der Beleidigung eine gewisse Rechtfertigung geben. (73) Molina und seine „amigas“ [Freundinnen], die sich als Ausdruck ihrer Persönlichkeit unterschiedliche Frauennamen (von Schauspielerinnen) geben (269, 275, 277), haben untereinander kein Vertrauen, denn sie haben die gesellschaftlichen Vorurteile übernommen und verinnerlicht (207). Sie erkennen sich ineinander selbst wieder, wehren sich aber dagegen, da sie davor zurückschrecken, sich selbst zu erkennen, und halten es deshalb nicht lange zusammen aus (218). Durch die Imitation von stereotypen Schauspielerinnenrollen, die von der Verwendung ihrer Namen bis zur Annahme entsprechender Verhaltensweisen geht, soll die Wirklichkeit geflohen und das Glück der Vorbilder erreicht werden (Bacarisse Impossible Choices 103/04). So setzt Molina in seinen Filmerzählungen Schönheit und Güte gleich, obwohl er erfahrungsgemäss weiss, dass dies nicht der Realität entspricht (70). Zwischen den Frauen der Familie und Molina besteht ein starker Zusammenhalt, den man an den häufigen gemeinsamen Unternehmungen und Telefongesprächen erkennen kann (Puig 270). Der einzige männliche Verwandte, der erwähnt wird, der Patenonkel, bringt seine Verachtung und seine Geringschätzung zum Ausdruck (272). Auch im Bericht des Geheimdienstes scheint diese Einstellung durch (269, 271), ebenso in der Verwirrung des Agenten, statt der – aufgrund der Namen – erwarteten Frau und des erwarteten Mannes zwei Männer zu sehen (271). Die Frauen erscheinen toleranter. Molina denkt in klassischen heterosexuellen Paarbeziehungen, weshalb es für ihn unumgänglich ist, von sich als Frau zu sprechen, wenn die Rede auf Gabriel kommt (69). Dies lässt Elías Miguel Muñoz schliessen, dass die Geschlechter für ihn unabänderlich seien (68). In dieser Form verkennt diese Aussage aber die Tatsache, dass Molina die Grenze zwischen den Geschlechtern ja gerade zu überschreiten versucht. Er kann sich keine Existenz ausserhalb des gesellschaftlich definierten Systems der Geschlechterrollen und der Heterosexualität vorstellen, weshalb er zwischen 30 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ biologischem und sozialem Geschlecht unterscheidet (Puig 207), was wiederum bei Valentín auf Befremden stösst (Teltscher 220). Molina träumt von einem starken, überlegenen Mann und einer klassischen Familie. Dies ist in dieser Gesellschaft jedoch nicht möglich, denn das starre Geschlechtermodell lässt einen Mann, so wie er von Molina begehrt wird, sich nach einer biologischen und sozialen Frau sehnen. (Puig 207, 218) Molina ist seelisch erschöpft, da ihm Erfüllung versagt bleibt (219), er hat Angst, immer allein und einsam zu sein. Er möchte ein eigenes Leben, eine eigene Familie haben. Er möchte mit Valentín vereint sein. (258) Molina ist apolitisch und schafft sich seine eigene kleine perfekte Welt (23). Die aufständischen Montoneros Valentíns (Beckford Jessen 71) widersprechen demnach in ihrer Existenz nachgerade Molinas eigenen bürgerlichen Vorstellungen (Bacarisse Impossible Choices 54). Er ist zwischen seiner Mutter und Valentín hin- und hergerissen, er will sich für sie aufopfern (Puig 245). Molina besitzt eine sehr enge Bindung zu seiner Mutter und erträumt sich zu Beginn seine Zukunft mit Gabriel nicht zu zweit, sondern zusammen mit ihr (76). Seine „mamá“ [Mama] – und auch in der dritten Person nicht „madre“ [Mutter] – ist ihm sehr wichtig, und er fühlt sich für ihren schlechten Gesundheitszustand verantwortlich, weil sie sich vor der Gesellschaft für ihn schämen muss. Auf der anderen Seite akzeptiert sie ihn jedoch so, wie er ist, und hält zu ihm. (41, 110) Diese enge Bindung zwischen den beiden (127) wird nach Molinas Erfahrungen gesellschaftlich oft sofort als „Ursache“ seines sexuellen und geschlechtlichen Verhaltens gesehen (23, 41), und auch das typische Mädchenspielzeug als sein liebstes (225) entspricht diesem Klischee der „Verweiblichung“. Das gesellschaftliche Schubladendenken stösst Molina ab, da es ihn zur Sache degradiert, zu einem Forschungsobjekt der Anomalie (Kerr 654). Andererseits sucht er aber auch einen Sinn, etwas Grösseres im Leben als seine Arbeit und seine Mutter (77). So wird Valentín im Verlauf des Romans immer mehr zum wichtigsten Menschen in seinem Leben (217). Molinas ideale Mutter ist eine traditionelle grosse Dame des Hauses (Puig 22). Dieses verklärte Bild blendet jegliche sozialen Bedingungen aus und berücksichtigt auch nicht, dass die Ehe seiner eigenen Mutter alles andere als glücklich gewesen ist (110). Molinas Wut über den Widerspruch Valentíns zeigt die enge Bindung seiner Weltsicht und seiner eigenen Identität an diese Vorstellung, die durch Valentín in Frage gestellt werden (Schlickers 227). In der Nacherzählung von „The Enchanted Cottage“ kommt mit den Ausdrücken „si…“ [wenn] und „tal vez…“ [vielleicht] die Möglichkeit einer relativen anstelle einer absoluten Wahrheit zum Ausdruck (Puig 104). Dies scheint Molina selbst jedoch aufgrund seines Festhaltens an den vorgegebenen Rollenvorstellungen nicht bewusst zu sein. Ebenso überraschend ist für ihn die Erkenntnis, dass Valentín auch Architektur studiert hat, da er dies für eine Frauensache hielt (83). Er muss sein Bild neu überdenken, denn Valentín ist für ihn ja nicht irgendein Mann. Er besteht aber darauf, seine eigene Identität zu haben und fragt, warum er sich für das rechtfertigen müsse, was bzw. wie er sei, und seine Andersartigkeit nicht akzeptiert werden könne. „[H]ay de todo.“ [Es gibt von allem etwas.] stellt die Klassifizierung der Homosexualität als solche in Frage, da die Einheitlichkeit des Begriffes hinterfragt wird. (246) Als Molina von seiner Angst spricht, Valentín zu verlieren, und erklärt, wie glücklich er doch gewesen sei, benutzt er „contento“ in der männlichen 31 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Form, obwohl dieser Zustand in Verbindung mit Valentín steht (245). Als er von Gabriel gesprochen hatte, hatte er es für unumgänglich erklärt, von sich als Frau zu sprechen (69). Durch seine Vereinigung mit Valentín ist es für ihn nicht mehr von Bedeutung, die männliche und die weibliche Form zu unterscheiden (Dabove 37), denn „Molina encuentra en las mujeres, no a la Mujer…, sino el modo singular de devenir-mujer.“ [Molina findet in den Frauen nicht DIE Frau…, sondern die einzige Möglichkeit der Frau-Werdung.] (30) Die Imitation der fixen weiblichen Rolle ist für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, eine Frau zu sein, nunmehr zeigen sich ihm aber auch andere Wege. Er möchte nicht die Katzenfrau sein, die tötet und keine Erfüllung findet. Die von Valentín vorgeschlagene Spinnenfrau, die zwar auch tötet, aber Erfüllung findet, sagt ihm dagegen zu. (Puig 265) Beide bleiben alleine, da ihre Natur ihnen eine Beziehung versagt (Wiegmann 134), während die Katzenfrau jedoch Leid verursacht, verringert die Spinnenfrau es (135). Die Benennung ist ein passiver Akt seitens Molinas, der Valentíns Definition seiner Identität lediglich noch zustimmt (Puig 265). Auch die Spinnenfrau ist passiv und wartet ab. Sie ist aber auch gefährlich und den Männern insofern überlegen, als dass sie zumeist grösser ist und die Männchen in Gefahr schweben, nach der Begattung gefressen zu werden. Lucille Kerr zieht ausserdem eine Verbindung zwischen ihr und dem Film „Spider Woman“ (1944), in dem eine „femme fatale“ der Überzeugung ist, in der überlegenen Position zu sein und ihren Gegenspieler, einen Detektiven, gefangen zu haben, die Situation eigentlich aber gerade andersherum ist. (Kerr 664) Diese „femme fatale“ verkörpert das Schicksal, das verändert und zu eigenem Denken ermächtigt, das aber nicht zu einer grösseren Erfahrung führen muss (Dabove 43). Molina ist der Anstoss für Valentín, sich zu verändern. Molinas Sprache wie auch seine Beschreibungen der Filme enthalten viele starke oder übertriebene bzw. gehäufte Adjektive (Puig 177/78, 187/88: genial), z.B. „la nariz chica respingada“ [die kleine Stupsnase] (9) oder „más redondo que ovalado“ [eher rund als oval] (24). Seine Sprache ist anschaulich und detailliert (Schlickers 198). Lange Sätze ohne Unterbrechungen, kaum Kommas oder andere Satzzeichen sind weitere Indizien für seine Mitgerissenheit und sein Miterleben, seine weibliche Emotionalität (Puig 17/18, 173). Er legt Wert auf das Aussehen insbesondere der weiblichen Hauptdarstellerinnen. Die Männer dagegen werden kaum beschrieben, ihr Aussehen wird vielmehr sogleich gewertet. So ist der Architekt auf den ersten Blick ein verständnisvoller, ruhiger Mensch (11). Molina interpretiert zudem während seines Erzählens, dementsprechend beinhaltet „una cara … de diablo“ [ein Gesicht… des Teufels] (9) bereits eine Wertung und einen Hinweis auf die weitere Handlung. Besonders auffallend ist sein Versuch, die Stimmung, die Atmosphäre der Szenerie und des Filmes mittels sehr genauer Beschreibung der Umgebung einzufangen (11, 25, 87, 171). Es geht ihm um die „Seele“ des Filmes, nicht um Genauigkeit: „ay, no me exijas tanta precisión.“ [ach, verlang doch nicht solche Genauigkeit von mir.] (12) Damit versucht er, eine Erklärung der Gefühle und des Verhaltens der Figuren zu vermitteln (31) und legt den Schwerpunkt seiner Darstellung auf Romantik und Kitsch (61, 63, 172). Er zieht eine Trennlinie zwischen dem Film selbst und der dahinter stehenden Realität, beide können und sind für ihn insbesondere im Propagandafilm unabhängig voneinander (84). Die Liedauszüge im letzten Film spiegeln die Gefühle Molinas gegenüber Valentín wider (175). Molina fühlt sich durch die Kommentare und Einwürfe 32 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Valentíns gestört, da es seine Geschichte, seine Erzählung ist. Er ist der Erzähler, er bestimmt über das Geschehen (11, 15, 37). Es beleidigt ihn, wenn Valentín die Handlung vorwegnimmt (13), und er hält ihn für undankbar (22). Trotzdem ist Molina glücklich, dass er durch das Erzählen der Filme etwas für seinen Zellengenossen tun kann (43) und vergewissert sich immer wieder, dass diesem der Film auch behagt (85, 88). Er möchte ihm gefallen, aber die Filme sind auch ein Mittel der Selbstoffenbarung, weshalb er Valentín bittet, ihm ebenfalls einen Film zu erzählen (102). Nach der Kritik und der Verachtung Valentíns angesichts des nationalsozialistischen Propagandafilms, entschliesst sich Molina, ihm keine Filme mehr zu erzählen, die ihm selber gefallen, damit der andere sich nicht wieder darüber lustig machen kann. Dies verletzt ihn, da er durch seine Erzählungen sein Innerstes preisgibt. (116) So ist auch der nächste Film einer, der nach Meinung Molinas den Männern gefällt (118). Molina spielt mit Valentíns Unwohlsein seiner Sexualität gegenüber (Puig 65), Gabriel schmeichelte er, um ihm seine Befangenheit zu nehmen (73), denn er ist die gesellschaftliche Verachtung gewöhnt, sie verletzt ihn aber nichtsdestotrotz (65). Er erscheint flatterhaft und oberflächlich (67), ist fürsorglich und gefühlvoll. So bietet er Valentín Wasser an, indem er dieses als „linda“ [süss] und „fresquita“ [ganz frisch] (14) beschreibt, als käme es aus einer Bergquelle und nicht einer Leitung in der Grossstadt. Von seinem Zellengenossen fordert er das Recht ein, zu weinen, es ist ihm aber trotzdem peinlich (63/64). Molina möchte Verständnis und Zuneigung, ist verletzlich, (161, 217, 256) und auch eitel (218). Er versucht Valentín dazu zu bringen, den Film emotional zu bewerten (189) und seine Gefühle auszusprechen (220). Zuweilen scheint er klein und hilflos zu sein (217, 256), andererseits gibt er Valentín ohne etwas zu sagen, zu verstehen, dass er ihm nicht so einfach verzeihe (198), womit er dessen Schuldbewusstsein steigert. Molina weint leicht und fleht seinen Zellengenossen an (217, 257). Er ist sanft und geduldig (Bacarisse The necessary dream 89), romantisch (Puig 17) und interessiert sich für Kunst und Oper (25), Mode (16), das leichte Leben und Vergnügen (57), auch in seinem Beruf (77). Jeden Augenblick zu geniessen (33), sei ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Auf Valentíns Überheblichkeit reagiert er spöttisch, als er meint, er sei nicht so dumm wie dieser zu glauben scheine (205). Er ist spontan und tolerant (Bacarisse The necessary dream 90), seine Bildung und sein Hintergrund sind ganz anders als die Valentíns (88). Er zitiert Blaise Pascal (Puig 263), ein Zeichen für sein neues Selbstbewusstsein (Zapata 224), ebenso wie das Beharren auf seiner eigenen Interpretation des Filmes (Fabry 87). Schliesslich tauschen er und Valentín in der Diskussion über das Ende des letzten Films die Rollen, so dass Molina nun als kritischer Advokat auftritt (Kerr 662). Molina ist sich der versuchten Manipulation durch seinen Zellengenossen bewusst (Puig 258), als auch der Tatsache, dass er verfolgt wird (274). Er zeigt einen grösseren Realitätssinn, denn er sieht trotz Valentíns politischem Engagement deutlicher als dieser die Gefahr, die mit dessen Auftrag einhergeht (267). So redet er, damit Valentín nichts sagen und so vielleicht etwas verraten kann (Fabry 84). Der Politik steht Molina aber ablehnend gegenüber, denn er misstraut ihren Indoktrinationsmöglichkeiten (Puig 34, 52, 77, 119). Als er Gabriel als „condenado“ [Verdammten] (71) bezeichnet, betont er den gesellschaftlichen und kontextabhängigen Einfluss auf den Einzelnen und lässt eine leise Unzufriedenheit mit den Verhältnissen erkennen. Er 33 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ legt viel Wert auf Höflichkeit und ist durch Valentíns schonungslose Direktheit brüskiert („…“). Dagegen widerspricht er seinem Zellengenossen indirekt, indem er sich zunächst rechtfertigt und danach seinen Wunsch in einem höflichen Fragesatz formuliert (14). Molina ist ein Mensch, dem Harmonie sehr viel bedeutet, weshalb ihm jeder Streit unangenehm ist (35, 63) und er zögert, seine Meinung zu äussern (206). So bittet er Valentín auch, sich nicht zu beschweren, da dies ohnehin nichts bringe (93/94). Auch Beziehungen und menschliche Nähe bedeuten ihm viel (96, 101), so dass er seinen Zellengenossen beim Vornamen nennt, um ihren persönlichen Kontakt zu betonen (33) (Wiegmann 123). Er ist mit- und feinfühlig, erahnt Valentíns Gefühle (Puig 48) und zeigt Verständnis (205). In Bezug auf andere Menschen, d.h. Individuen abgesehen von seinen idealisierenden Vorstellungen, vertritt er eine eher realistische Einstellung. Er gesteht ihnen ihre eigenen Schwächen zu und zeigt Verständnis für den Regisseur des nationalsozialistischen Propagandafilmes (98). Sein Menschenbild ist pessimistisch und egoistisch (206). Molina kümmert sich um das Kochen – für sich und für Valentín, beendet dies aber als sich Valentín mit ihm streitet, da er verletzt ist und sich unverstanden fühlt (33/34). Deshalb lässt er diesen dann „con toda libertad“ [mit aller Freiheit] sein Essen selbst zubereiten, um ihm zu zeigen, dass er im Unrecht ist und sich irrational verhält, denn Valentín ist von diesem neuen Arrangement nicht gerade begeistert (204). Dadurch, dass Molina den Kürbis für sich beansprucht, betont er seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit (205), denn er behält nun etwas für sich selbst. Das Essen dient auch als Mittel der Verführung (161, 189, 197), da die Liebe bekanntlich durch den Magen geht. Als es zur Neige geht, ist dies ein Hinweis auf den Tod aber auch auf das Ende der Verführung28 (237). Diese ist nun abgeschlossen. Molina macht Valentín indirekt klar, dass das Essen ihm gehöre, dieser ihm also etwas schuldig sei, indem er zuerst von sich spricht, um sich dann zu verbessern und auf sie beide Bezug zu nehmen. Damit hat er auch das Recht, über dieses zu bestimmen, was er tut, indem er Valentín vorschreibt, was dieser essen darf. Er ist streng, freut sich aber auch, dem anderen eine Freude bereiten zu können. (161, 196) Er hat die Oberhand, ist die Herrin des Hauses. Um es Valentín leichter zu machen, die Situation zu akzeptieren, stellt er dieses Arrangement als gegenseitige Vereinbarung dar, nennt eine Bedingung und fragt zum Schluss „¿trato hecho?“ [abgemacht?]. Er behandelt ihn wie ein Kind, (162) ist fürsorglich (168) und gluckenhaft (188). Da er mehr über die Behandlung von Krankheiten zu wissen scheint, ist er in der überlegenen Position (189). Molina verhält sich in einer Weise, die man üblicherweise als mütterlich besorgt bezeichnet, wenn er Valentín „niña Valentina“ [Mädchen Valentina] (43) oder „che“ [Junge] (47, 98) nennt. Durch Fragen wie „¿Vos creés?“ [Glaubst du?] und „¿Te parece?“ [Meinst du?] erweckt er den Eindruck von gutmütiger Überlegenheit, Erfahrung und Geduld. (47) Er beruhigt und beschützt (133), teilt sein Essen mit Valentín (134) und ernährt ihn somit. Er bemuttert ihn wie ein krankes Kind (123), ist hilfsbereit und tatkräftig (128) – er ist in seinem Element (145). Damit nimmt er eine traditionell weibliche Rolle im “klassischen machistischen Machtgefüge“ ein (Teltscher 219) und reproduziert die Stereotypisierung der Frau, indem er das Klischee in seiner extremen Form umzusetzen versucht (Muñoz 61). Als Valentín ihn nicht mehr zu brauchen scheint, ist er enttäuscht 28 Z.T. wird auch die Auffassung vertreten, die Verführung sei nicht beabsichtigt (Fabry 235). 34 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ (187/88). Er bringt seinen Zellengenossen dazu, ihm etwas über seine Freundin zu erzählen, indem er den Eindruck vermittelt, Valentín für schwach und emotional zu halten und so eine Gegenreaktion provoziert. Dadurch dass er Film und Wirklichkeit vermischt und aus der Geschichte Valentíns einen Film macht, nimmt er diesem seine Hemmungen (49). Er arbeitet subtil und suggestiv (188). Durch Behauptungen fordert er Valentín dazu heraus, das Gegenteil zu sagen (219). Während Valentín sich um Geist und Intellekt sorgt, räumt Molina der Gesundheit und dem Körper Vorrang ein (77). Die Vorwürfe Valentíns, er würde abschweifen (33) und man könne mit ihm nicht diskutieren (70) kränken ihn und er fühlt sich herabgesetzt. Er ist auch durch dessen Abweisung verletzt, in der dieser das Lernen einer Unterhaltung mit ihm vorzieht, und reagiert mit leisem Spott (15). Auf der anderen Seite erscheint er vernünftig und realistisch in Bezug auf klassische Frauenthemen wie Abtreibungen, er stellt kurze und präzise Fragen (51). Gegenüber Valentín ist er vorsichtig und unsicher, wie dieser regiert (31). Er richtet sein Verhalten auf ihn aus. Er bietet ein „Opfer“ an, als er sich bereit erklärt, Filme zu erzählen, da er weiss, dass er danach nicht einschlafen kann (77). Molina behandelt Valentín aber durchaus auch mit Spott und Ironie und gibt bissige Kommentare ab, wie den über die Sinnlosigkeit, im Dunkeln Zeichen zu geben (23), oder er zieht ihn wegen der Inkoherenz seines Verhaltens auf (32, 86). Einerseits versucht er, Valentín von seinem Abkommen mit dem Direktor abzulenken (89/90, 110, 255), andererseits hat er das Bedürfnis, es ihn wissen zu lassen (25, 121, 257) und sich vor sich selbst zu rechtfertigen (96, 110). Er möchte Valentíns Vergebung und das Spiel beenden, z.B. indem Valentín auf die Krankenstation geschickt wird (121). Da er sich selbst nicht traut, möchte er nichts erfahren, das den Direktor interessieren könnte, und weicht vor dem Vertrauen seines Zellengenossen zurück (135/36, 218). Er mag es nicht, von oben herab behandelt zu werden (102), ist aber unsicher und braucht die Bestätigung eines anderen: „¿verdad?“ [nicht wahr?] (137). Mit dieser Unsicherheit hängt auch seine Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit infolge Valentíns Rat, sich mit jemandem zusammenzuschliessen, zusammen (218). Es ist ihm unangenehm, zu lügen, weshalb ihm auch keine rationalen Argumente für seine Position einfallen (95, 136). Dies lässt seine Weigerung, ins Krankenhaus zu gehen unvernünftig und grundlos erscheinen, wohingegen Valentíns wohlbegründet und nachvollziehbar ist (117). Für sein Alter erscheint er naiv und unwissend, kindlich. Der Eindruck von Schwäche wird von ihm selbst dadurch verstärkt, dass er sein Unwohlsein auf seine Nerven schiebt (90). Dies ist zwar unverfänglich, aber auch eine klassische Erkrankung der „schwachen“ Frauen. Gegen Ende des ersten Teils des Romans beginnen die beiden Gefangenen jedoch ein viel intensiveres Gespräch zu führen als zu Beginn. Auch die Frage Molinas nach dem Seconal deutet ein erstes leichtes Interesse an politischen Dingen an (117). Nichtsdestotrotz hält er seinen Zellengenossen für fanatisch, da sich dieser lieber seinen Studien widmet als sich mit ihm zu unterhalten oder sich Filme erzählen zu lassen (188). Sein Interesse an Valentíns Lesestoff dient zwar auch der Kommunikation, da er aber schon weiss, dass es sich um etwas Politisches handelt, zeigt er doch ein gewisses Interesse an der Thematik (197, auch 206, 256). Molina traut sich die Politik, die schliesslich auch eine Männerdomäne ist, nicht zu und hat keine Hoffnung, dass sich die Gesellschaft ändern wird (218). Seine Bereitschaft, Valentíns Plan auszuführen gründet auf seinem Willen, alles zu tun, was dieser ihm sagt (267), seinem „Mann“ zu gehorchen (Dabove 56). Er erfüllt somit ein Versprechen und bleibt abhängig. Dementsprechend 35 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ zögert er auch, Valentín das Versprechen zu geben, sich nicht mehr länger geringschätzig behandeln zu lassen (Puig 265), zeigt jedoch bei seiner Verhaftung ein neues Selbstvertrauen, als er die Ausweise der entsprechenden Personen zu sehen verlangt (279). Im Bericht der Gefängnisdirektion wird Molina eine gute Führung bescheinigt. Er ist demnach eher jemand, der sich anpasst und Schwierigkeiten oder Konfrontationen vermeidet. (Puig 151) Gegenüber dem Gefängnisdirektor verhält er sich ängstlich und schwach. Er weint, ist unterwürfig und entschuldigt sich ständig. Vorsichtig versucht er, direkten Fragen auszuweichen bzw. indirekt zu antworten und zu erreichen, dass Valentín kein vergiftetes Essen mehr bekommt. Der Direktor reagiert darauf mit Verachtung und Distanz, auch wenn er ihm ein Taschentuch anbietet, das dieser jedoch nicht annehmen will, um dem Direktor nichts schuldig zu sein. (153/54) Molina gibt sich hilflos und unfähig und bekommt dadurch, was er wollte: das Essenspaket (155/56). Er ist subtil, bedient die Klischees und Vorurteile des Direktors, der ihn auch verachtungsvoll „¡Pobre Molina!“ [Armer Molina!] nennt (156) (Wiegmann 114). Molina hintergeht die Taktik des Direktors, Valentín durch vergiftetes Essen zu schwächen und leistet erfolgreich passiven Widerstand. Dies ist ihm möglich, da er von allen, auch von dem vertrauensseligen Valentín, unterschätzt wird (113). Mit dem zweiten Teil des Romans “empieza una nueva vida” [beginnt ein neues Leben], da er seinen Entschluss gefasst hat (Puig 161) und seine Treue nunmehr Valentín gehört. Deshalb gerät er auch in Panik und ist verzweifelt, als Valentín auch mit seinem Essen krank bleibt, denn er befürchtet, vom Direktor durchschaut und ausmanövriert worden zu sein (168). Indem er zögerlich ist und herumdruckst, vermeidet er es, selbstbewusst zu erscheinen, was den Direktor die Geduld verlieren lässt (201). Molina verhält sich unterwürfig und bettelt geradezu um das Essen: „de veras de veras“ [wirklich wirklich] (203). Da er nach Meinung der zuständigen Autoritäten aus Angst vor Repressalien durch die guerrilla unkooperativ ist, wollen sie ihn kaltblütig benutzen. Sein Tod ist unabwendbar, denn er ist entbehrlich, ein amoralisches Subjekt. (249/50) Der Direktor behandelt Molina wie ein lästiges Kind (253) und bringt somit seine konservativ-bürgerlichen Moralvorstellungen zum Ausdruck (Schlickers 207). Molina macht sich durch seinen Gefühlsausbruch, sein Betteln, in der gleichen Zelle bleiben zu dürfe, verdächtig, ebenso wie durch seine mangelnde Euphorie über seine Freilassung. Er versucht sogar, für Valentín noch etwas zu essen herauszuschlagen. (Puig 252/53) Zudem verteidigt er sich offensiv gegen den Vorwurf, er erfülle seine Pflicht nicht (251). Auf der anderen Seite ist er es, der eine Verlegung vorschlägt, um den Druck zu erhöhen. Er will nicht länger lügen. (202) Die kursiv geschriebenen Gedankenbruchstücke der beiden Hauptfiguren ziehen sich von S.164 bis zu S.216 hin. Molinas beginnen mit seiner Sorge um seine Mutter mit ihrem schwachen Herzen und enden damit, dass der Patient Valentín ausser Gefahr ist und die Schwester über ihn wacht. Dazwischen ist sein Bedürfnis zu erkennen, sein Gewissen zu erleichtern. Er trägt schwer an seinem Geheimnis, daran, dass er sich zur Kollaboration mit dem Gefängnisdirektor bereit gefunden hat. Er traut sich jedoch nicht, es Valentín zu sagen, da er den Vertrauensverlust zwischen ihnen fürchtet, weshalb er sich vorstellt, das Geheimnis im Schlaf preis zu geben. Schlaf bedeutet Vertrauen und 36 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Unschuld, ein Schlafender ist unbelastet und ehrlich. Er erlangt Vergebung. Der Schlafwandler weiss nicht, wie ihm geschieht. Er handelt unbewusst und ohne Erinnerung. Genauso fühlt sich Molina angesichts der widersprüchlichen Interessen, die an ihn herangetragen werden. Molina sieht sich in der Rolle der Krankenschwester, die sich um den „enfermo contagioso“ [ansteckenden Kranken] kümmern muss. Der Kranke ist Valentín, der Molina potentiell mit seinen Ideen ansteckt, die aber den Tod bringen29. Molina ist ihm ausgeliefert, seinen Gedanken und seiner Anziehungskraft. Er kann nicht widerstehen: „la muerta“ [die Tote] ist er von Anfang an, sein Schicksal ist bestimmt. (167, 177) Molina wird der gewaltsamen Welt gewahr (Bacarisse The necessary dream 116). Auf der anderen Seite ist die Beziehung wechselseitig. Molina lockt Valentín mit seinen Filmen und zieht ihn in seinen Bann. Er ist sich dieser Tatsache wohl bewusst, was auch der Spott in seinem Blick andeutet, als er Valentín betrachtet. (Puig 174) Trotz seiner Angst um und vor30 Valentín möchte Molina nicht, dass der Patient gesund wird und für immer geht. Er möchte, dass er bleibt. (192) Seine geheime Sehnsucht einer Beziehung zu Valentín spiegelt sich in der Vorstellung wider, der Patient könnte sich auf die junge, schöne Krankenschwester stürzen, welche nicht entkommen könnte. Dies stellt auch sein Bild seiner selbst dar. (193) Die Zuneigung Molinas zu Valentín lässt sich unter anderem an den Namen erkennen, die er ihm gibt. So sind „pedazo de pavo“ [du Dummkopf] (31), „pavo“ [Dummkopf] (95), „sonso“ [Dummer] (122) zärtlich, als Ausdruck der Hingezogenheit zu verstehen. Jede andere Vertraulichkeit würde von Valentín umgehend zurückgewiesen werden. Molina möchte sich an die Worte erinnern, mit denen die hässliche Bedienstete die Liebe ihres Angebeteten erlangt hat (111), denn er möchte hinter ihr Geheimnis gelangen, um auch für sich die Liebe zu finden bzw. zu gewinnen. Seiner Einsamkeit und Sehnsucht macht er in einem Bolero Luft (140). Der „amor extraño“ [die seltsame Liebe] (137), das Nichtaufgeben sowie die anhaltende Hoffnung (147) ebenso wie später die „prisionera“ [Gefangene] (229) sind ein Hinweis auf die Situation der beiden Gefängnisinsassen. Die Zelle ist ein „mundo raro“ [eine seltsamen Welt], denn in ihr herrschen andere Gesetze, die allein die Liebe möglich machen (234). Molina liebt Valentín und nennt seinen Namen noch vor seiner Mutter (265). Da er selbst zwiespältige Gefühle hegt, traut er sich nicht, seinem „pobre tesoro“ [armen Schatz] zu sagen, dass er entlassen wird (254). Molina lehnt Valentíns Berührungen zunächst ab, da er Angst hat, sich falsche Hoffnungen zu machen. „Sí“ [ja] ist dann aber auch die Zustimmung zu dessen intimen Handlungen, (219) zumal eben diese Reaktion Valentíns von Molina beabsichtigt gewesen ist (Kerr 662). Molina ist glücklich und dankbar, auch Valentín Freude schenken zu können (Puig 220). Beim Sex ist er dann aber passiv. Er liefert sich ihm aus, als er meint, Valentín könne alles mit ihm machen, was er wolle, da er selber es wolle. Er liegt unten, in unterlegener Stellung, und wird penetriert. Auf der anderen Seite begegnen sich die beiden von Angesicht zu Angesicht, was die Gemeinsamkeit des Augenblickes betont. Es ist Molina, der sagt „te tengo“ [ich habe dich] und damit andeutet, dass er genau dies angestrebt hat. Es 29 Nach anderer Auffassung versucht die Krankenschwester, sie beide vor der „ansteckenden und vergiftenden Umwelt“ zu schützen (Wiegmann 111). 30 Die in den Gedanken inhärente Gewalt deutet möglicherweise auf Molinas eigenen Tod hin (Echavarren 599). 37 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ ist für ihn die Erfüllung seines Traumes, umso mehr als er auch die Bestätigung Valentíns erhält, über dessen Gefühle er unsicher war. Er ist gerührt und scheint zu weinen. (221) Persönlichkeiten und Identitäten verschwimmen ebenso wie Zeit oder Ort, und es stellt sich die Frage, was eigentlich die Realität ist. Die Anonymität der Dunkelheit hat etwas Unwirkliches, (222) die gehäufte Verwendung von Namen ist dagegen ein Ausdruck von Intimität (221). Das Ich tritt zurück, was auch durch die grammatikalische Vermischung der ersten und der zweiten Person deutlich wird (Kerr 663). Am nächsten Morgen hat Molina Angst, alles könnte bereits wieder zu Ende sein. Er ist sehr verletzlich. (Puig 224) Trotz der äusseren Umstände ist er mit sich im Reinen. Beim Sex und danach ist Molina nicht sich selbst, was für ihn eine Erleichterung ist, da er sich in seinem Körper nicht wohl fühlt. Er ist mit seinem Geliebten vereint, dann aber weder Frau noch Mann. Die Auflösung der Geschlechter stellt eine Befreiung aus dem gesellschaftlichen Normensystem dar und führt zu einem Gefühl der Sicherheit. (238) Die Unterschiede und die Totalität der Wahrheit und der Realität werden nivelliert (Masiello 585). Dagegen argumentiert Lucille Kerr, dass die Unterschiede durch die gegenseitige Kontrolle und Machtausübung der beiden Zellengenossen lediglich weniger sichtbar werden, und verneint eine Transformation der beiden ineinander (Kerr 662). Für einen Moment geschieht dies jedoch. Molina möchte dieses Glück festhalten und hat Angst (Puig 263), da er sich der Temporarität bewusst ist und keine Hoffnung hat, etwas Ähnliches im „normalen“ Leben zu erfahren. Deshalb äussert er den Wunsch, nun zu sterben. (239) Er kann nicht mehr weiterleben wie zuvor, am Rande der Gesellschaft und in seiner abgeschlossenen Welt (Schlickers 240). Nach dem Scheitern des ersten Treffens mit der guerrilla bereitet er sich sodann auch auf den Tod vor, indem er Geld auf den Namen seiner Mutter deponiert (Puig 278). Seine Liebe zu Valentín indes geht niemanden etwas an, insbesondere nicht seine unzuverlässigen „amigas“, denen er nichts von ihm erzählt und sie sogar anlügt (269). Es ist sein Geheimnis, das er mit niemandem teilen kann, denn dadurch würde es seinen Glanz und seine Intimität verlieren. Er bricht den Kontakt zu Gabriel ab (273, 275), zieht einen Schlussstrich unter diesen Teil seines Lebens. Seine Gedanken sind nunmehr auf Valentín ausgerichtet (270, 273), auch sein Tod steht mit ihm in Verbindung (279). Molina bleibt weiterhin seinen bürgerlichen Moralvorstellungen verhaftet, denn auch wenn sein Tod einem gesteigerten sozialen Bewusstsein entsprungen sein mag, so ist er doch vor allem eine Wiederholung von Lenis Schicksal (Dabove 55), ein Opfer der Liebe (Bacarisse Impossible Choices 124). Dies lässt Sabine Schlickers vermuten, er wäre „nicht zu einer so vollständigen Person geworden wie Valentín“ (Schlickers 243), und Lucille Kerr sieht darin die Grenzen seiner Macht (658). Andererseits ist sein Tod jedoch nicht endgültig, weshalb er auch durch und in Valentín(s Delirium) weiterlebt (Kerr 648). Der Kuss, um den er bittet (Puig 264), soll als Abschiedsgeschenk und zur Erinnerung dienen. Im Gegensatz zum Sex, der auch Ausdruck und Ausleben von Begierden ist, drückt ein Kuss Liebe und Zuneigung aus, insbesondere, wenn er von diesem losgelöst ist. Deshalb bedeutet Molina die Zusage Valentíns sehr viel und er erklärt sich bereit, dessen Wunsch nachzukommen, als ein (Gegen)Beweis seiner Liebe (267), auch wenn er um die tödlichen Folgen des Kusses weiss (Bacarisse Impossible Choices 110). Zwar bedeutet der Kuss auch eine Umkehrung der Schuld, hier wird aber im Gegensatz zu Geneviève Fabry (234) der durch ihn entstandenen Gleichheit eine wichtige Rolle zugewiesen, denn er bedeutet die Akzeptanz, die von der Gesellschaft versagt wird. Alternative 38 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Existenzen abseits des patriarchalen Wertekodex aber innerhalb des Systems führen dort nur zu Trauer und Einsamkeit (Bacarisse Impossible Choices 46). Das bedingungslose Unterwerfen unter vorbestimmten (Geschlechter)Rollen ist aber ebenso sehr ein inneres Gefängnis (Zapata 79), so dass der Tod der einzige Ausweg ist. Molina will und kann sich nicht (völlig) ändern (Muñoz 61), denn eine deutliche Änderung wäre eine Anpassung und dies widerspräche seiner eigenen Identität. 3.1.3 Marica und Frau In den vom Katholizismus geprägten Ländern existiert oft eine Mythologisierung der Mutterschaft als Kern der Weiblichkeit (Bacarisse Impossible Choices 37), kombiniert mit einer herausragenden Bedeutung des Machismo. Homosexualität ist durchaus mit dem Machismo zu vereinbaren, vorausgesetzt, die aktive, „männliche“ Rolle wird beibehalten und nicht die passive der Frau angenommen, (Levine 71) denn in Lateinamerika ist traditionell – heute nicht mehr in diesem Masse – nur der passive Partner einer gleichgeschlechtlichen männlichen Beziehung per Definition homosexuell31 (Teltscher 18; s. auch Perlongher 638/39). Dieser wird durch die Penetration entmännlicht (15), gibt somit seine Männlichkeit bewusst auf, wird aber erst durch den aktiven Partner in seiner Homosexualität bestätigt, (20) ebenso wie die Frau erst durch den Mann zur Frau wird (15). „Weibliche“ Passivität, Schwäche und Unterordnung werden übernommen (21), die Weiblichkeit zu imitieren versucht. Peter Teltscher sieht deshalb in dieser Praxis eine Stützung und keine Infragestellung der Machtverhältnisse, da marica und Macho in einer ebensolchen Diametrie zueinander stehen wie Frau und Mann. (35) Die klassischen Paarbeziehungen werden reproduziert. Auf der anderen Seite sieht Elías Miguel Muñoz in der Homosexualität eine Herausforderung der kulturellen Stabilität und darin wiederum den Grund für ihren Ausschluss, da der herrschende Diskurs heterosexuell sei (77). Auch die soziale Unterdrückung der Frau werde durch ihre Darstellung durch einen Mann deutlich gemacht (69). Letzterem wird hier durchaus zugestimmt, aber die Tatsache, dass Homosexualität in Lateinamerika in den klassischen Begriffen der Heterosexualität zu erklären versucht wird, zeigt die Übermacht des Geschlechtersystems. Molina selbst fordert das System nicht bewusst heraus, dies geschieht vielmehr allein aufgrund seiner Existenz und dies auch nicht direkt, sondern indirekt, indem er eine alternative Existenz aufzeigt. Er übernimmt klassisch weibliche Rollen, wenn er Valentín bemuttert oder sich unterwirft. Er erledigt die Hausarbeiten materieller (Kochen usw.) wie auch immaterieller Art (Beziehungspflege usw.). Eine Familie wäre sein Lebensinhalt, ein überlegener, dominanter Mann, der ihn beschützt, sein Traum. Seine Unsicherheit drückt die weibliche Schwäche aus, seine emotionalen Argumentationen und farbigen Beschreibungen ihre Irrationalität. Er ist listig und nützt die Vorurteile der anderen aus, aber auch die List wird traditionellerweise den Frauen zugeschrieben. Molina verändert sich, wenn er sich bei seiner Verhaftung nicht einschüchtern lässt, bleibt aber gleich, wenn er sich für seinen Geliebten opfert und dessen Auftrag ausführt, obwohl er weiss, dass er verfolgt wird. Allerdings 31 So fallen hier im Gegensatz zu anderen Kulturräumen Homosexualität und Transsexualität zusammen (vgl. Meyer). 39 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ kann er sich auch nicht grundlegend ändern, denn dann würde er sich ja der herrschenden Moral unterwerfen und sich anpassen. Dies stände aber der Infragestellung der gesellschaftlichen Normen und Werte entgegen, würde sie vielmehr noch bestätigen. 3.2 3.2.1 Valentín Filme und Delirium Valentín Arregui Paz ist 26 Jahre alt und befindet sich als politischer Gefangener in Haft – „en espera de juicio“, d.h. ohne Prozess und Verurteilung (Puig 151). Sein familiärer Hintergrund ist ein gehobener, er ist ein Bourgeois (Bacarisse Impossible Choices 6). Sein Vater ist tot, zu seiner Mutter hat er keinen Kontakt (Puig 125-127). Valentín identifiziert sich nur im ersten der von Molina erzählten Filme ausdrücklich mit einer der männlichen Hauptpersonen. Dies ist in „Cat People“ der Psychoanalytiker, (Puig 31) der von Molina als „buen mocísimo” [sehr männlich] und Macho beschrieben wird. Dazu dient der nach seiner Meinung angeberische Schnurrbart als auch sein arrogantes Auftreten in dem Wissen, bei Frauen anzukommen. (26) Ebenso wie der Psychoanalytiker geht Valentín die Filmgeschichte analytisch an und führt die Ängste Irenas auf ihre Angst zurück, mit einem Mann intim zu werden und zu schlafen. (37) In diesem Sinne weigert er sich, Irena als „mujer pantera“, als Katzenfrau, wahrzunehmen. Valentín bezeichnet sie stattdessen als „psicópata asesina“ [psychopathische Mörderin], und der Psychoanalytiker versucht, sie mittels einer Radikalkur zu heilen. Er möchte ihr zeigen, dass sie unbesorgt mit einem Mann intim werden kann, und gibt seinen Begierden nach. Dieser Entschluss ist jedoch folgenschwer: Statt dass die erhoffte Heilung eintritt, verwandelt sich Irena erneut in eine „mujer pantera“ und tötet den Psychoanalytiker. (45) Sein Egozentrismus und seine Unfähigkeit, über seinen eigenen Horizont hinauszusehen, hinderten ihn daran, die Wahrheit zu erkennen. Die Psychoanalyse hat versagt und ihrem Vertreter sogar den Tod gebracht. Valentín zeigt Interesse für die Kollegin des Architekten, einer „normalen“, zurückhaltenden Frau (Campos 539), die ihren Geliebten am Ende durch Irenas eigenes Verhalten doch noch bekommt, während dies im Film bereits zuvor der Fall ist (Cat People). Die Geschichte Molinas vom reichen guerrillero erlebt Valentín in einem Traum nach. Dabei kommt seine Wunschvorstellung einer perfekten Frau zum Vorschein: Diese soll nicht nur seine eigenen Ideale teilen, sondern auch der gleichen Schicht angehören. Dies zeigt sich z.B. an „una mujer que sabe dar órdenes al personal de servicio“ [eine Frau, die dem Dienstpersonal Befehle zu geben weiss] (Puig 128). Diese Frau scheint Valentíns ehemalige Geliebte zu sein. Darauf weist das Telegramm zum Tod des Vaters ihres Geliebten hin, zumal in dem von Molina erzählten Film der Sohn beim Tod seines Vaters unmittelbar anwesend ist. Auch beinhaltet der Traum eine gewisse Bitterkeit, die sich in der Bezeichnung der Geliebten als „peligrosa“ [gefährlich] und Valentíns bzw. der Liebe beider als „lastre“ [Ballast] (129) zeigt. Bedeutsam ist hier auch, dass der Tod des Geliebten erwähnt wird, wo doch weder der guerrillero aus Molinas Film noch Valentín tot sind. Ein Hinweis auf den bevorstehenden Tod Valentíns? Dem Leser wird ein Einblick in seine Beweggründe für den bewaffneten Kampf – die Ausbeutung und das Elend der einfachen Menschen und die Grausamkeit 40 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ der Kapitalisten – wie auch in seine Ängste, aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit für seine Gesinnungsgenossen nicht akzeptabel zu sein, gewährt. Die Darstellung der Mutter und ihre Schwierigkeiten, ihren Sohn zu liebkosen, ergeben das Bild einer distanzierten Beziehung. Auch ihre Handlungen weisen in diese Richtung, sie erscheinen durch die Betonung der starren Körperhaltung kalt und emotionslos. Sie scheint die Liebe für ihren Sohn nicht ausdrücken zu können. Der Vater hingegen war immer schon von seiner Familie entfremdet. Er bemühte sich um die Lebensverhältnisse seiner Arbeiter, erwartete dafür aber widerspruchslosen Gehorsam, Loyalität und Dankbarkeit. Er vertrug keine Widerworte – weder von seiner Frau noch von seinen Angestellten. Der angebliche Mord an einem aufmüpfigen Bediensteten zeigt ihn als gefühlskalten und arroganten Grundbesitzer. Valentín hat Angst davor, wie sein Vater zu sein, dessen Wesen geerbt zu haben. Dies zeigt seine Bezeichnung desselben als Kriminellen und ihrer beiden Blutes als ebenfalls kriminell. Er wendet sich stattdessen dem Gegenpart der Oligarchen zu, doch kann er seiner Herkunft nicht entfliehen. Gegenüber der guerrillera empfindet er angesichts ihrer Ungebildetheit Verachtung. Er findet keine Worte, keinen Weg, mit ihr zu kommunizieren, die Barriere zwischen den Klassen zu überwinden, sondern „benutzt“ sie, um seine Gelüste zu befriedigen, empfindet aber nur Abscheu für sie. Er ist der überlegene Mann, der Macho, dem die Frauen nichts bedeuten, denn er denkt nur an seine verlassene Geliebte und nicht an die Frau, mit der er schläft. Dies können auch seine Schuldgefühle nicht ändern, was gerade an der Wortwahl und deren Wiederholung zu erkennen ist. Er bezeichnet sich selbst als grausam, seine Geliebte als ausgebeutet, verachtet sich selbst und sucht doch nur Nähe. (Puig 128-133) Selbst die Aussicht auf ein gemeinsames Kind stösst ihn ab, die rassistischen Vorurteile seines Standes sind fest in seinem Unterbewusstsein verankert. Er ist bereit, alles aufzugeben, wenn seine Mutter32 ihn begleitet, wird von dieser aber erneut zurückgestossen, nachdem sie ihn bereits im Hinblick auf den Tod seines Vaters, der unschuldig ist, belogen hat. Dieser Verrat kam durch die Abhängigkeit der Mutter von ihrem Geliebten zustande, ihrer weiblichen Schwäche. Ihr Sohn befiehlt ihre Erschiessung und findet dadurch selbst den Tod. Er stirbt von der Hand seiner Gesinnungsgenossen und mit dem Anblick der Verdammung in den Augen der Mutter seines Kindes. Er stirbt, ohne sich entschuldigen zu können, ohne sich aus seinen eigenen inneren Widersprüchen und konträren Abhängigkeiten befreien zu können. (148-150) Dieser Alptraum ist natürlich keine reine Wiedergabe von Valentíns Leben, was allein schon an der Tatsache zu erkennen ist, dass er „in Wirklichkeit“ nicht von seinen Mitkämpfern getötet wird. Nichtsdestotrotz wird seine innere Zerrissenheit ebenso deutlich wie seine allmähliche Öffnung (Schlickers 234; s. auch Ezquerro 498), durch die er sich nunmehr zumindest unbewusst diesen Konflikt eingesteht. Valentín reklamiert für sich das Recht, Molinas Filme zu hinterfragen und zu kritisieren (Puig 22), und stellt deshalb immer wieder Zwischenfragen. Logik und Exaktheit sind ihm wichtig, so erkundigt 32 Pamela Bacarisse zieht hier eine Verbindungslinie zwischen dem Verrat der Mutter und der beginnenden Lösung Molinas von seiner Mutter (The necessary dream 112/13). 41 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ er sich beispielsweise, ob der Panther Irena denn nicht riechen könne. (9) Mit seinen Fragen unterbricht er den Erzählfluss, die Geschichten und ihren Spannungsbogen, teilweise haben sie fast den Charakter einer Herausforderung (10, 12, 24). Er versucht, Molinas Erzählung zu regulieren (Fabry 82/83). Versteht er das Erzählen der Filme zu Beginn noch als einen Gefallen seinerseits Molina gegenüber, so bittet er diesen später von sich aus um einen Film (Puig 163) und löst sich von dieser Einschätzung. Er unterbricht ihn auch nicht mehr und möchte die Erzählung nicht mehr durch anderweitige Diskussionen unterbrechen (228-234). Er ist ein kritischer und pragmatischer Zuhörer (20, 56, 57, 80, 84, 98), seine Skepsis nimmt aber im Verlauf des Romans ab (79-83). Valentín versucht nicht mehr, die Handlungen psychologisch oder psychoanalytisch zu analysieren wie zu Beginn (21, 23, 24, 28, 37). Diese Erklärungsversuche sind auch ein Ausdruck der eigenen Ängste, so die kastrierende Mutter, die dem Mann seine Männlichkeit gestohlen hat (23) (Schlickers 252). Er reagiert mit Spott (Puig 13, 27) und Ablehnung (43, 63, 97, 189), kann sich aber nicht gegen die Anziehungskraft der Filme wehren (47, 85, 196). Schliesslich stimmt er den Filmen, die für ihn zu etwas Kostbarem geworden sind, das man nicht „verschwenden“ darf (211), auch während des Tages zu und überlässt Molina die Wahl (225). Er unterwirft sich somit in einer gewissen Weise Molinas Urteil (Bacarisse The necessary dream 122). Indem er die Romantik und Melancholie des Endes des letzten Filmes als das Beste des Filmes bezeichnet, ist es Valentín nicht mehr möglich, sich aus dem Netz Molinas zu befreien, denn er hat dessen Botschaft bereits verinnerlicht. Er übernimmt dessen Motto, für den Augenblick zu leben, als er die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit aller Dinge betont. (Puig 263) Pamela Bacarisse bezeichnet diesen Augenblick als den Höhepunkt seiner Feminisierung (Impossible Choices 35). Zeigt Valentín zu Beginn kein Interesse an Details wie modischen Feinheiten, Dingen des Vergnügens und der Leichtigkeit (Puig 16, 57, 172) und ist ausschliesslich auf die Handlung fixiert (18, 19, 170), so ändert sich dies im Verlauf des Romans. Gegen Ende ist er es, der seinen Zellengenossen zu einer intensiveren Beschreibung ermahnt (227). Auch anderweitig interessiert er sich für die Atmosphäre und zeigt Phantasie, indem er sich etwas ausmalt und nicht allein auf Fakten abstellt (237). Er projiziert von Anfang an seine eigenen Vorstellungen in die Filme hinein (11). So fühlt er sich zur Kollegin des Architekten hingezogen, von der er nicht viel weiss, die er sich jedoch als stille, sanfte Frau vorstellt (15), die zudem respektvoll und diskret ist (28). Das am Ende des Romans durchlebte Delirium33 Valentíns (Puig 283-286) dreht sich um ein Gespräch mit (vermutlich) Marta34, seiner grossen Liebe, der er seine Erlebnisse schildert. Ihr Einssein ist eine Überwindung der materiellen Welt, in der das nicht möglich ist. Ihre Liebe ermöglicht diese Vereinigung, die aber keine Überschreitung der Geschlechtergrenzen beinhaltet, denn Valentín ist nach wie vor ein Mann und Marta eine Frau, noch dazu eine ganz bestimmte Frau. Sowohl die Eingeborene als auch die Spinnenfrau verkörpern Molina. Erstere rettet ihn vor dem Ertrinken und er berührt sie ohne Unbehagen, nicht wie in seinem Alptraum, als er Widerwillen empfindet. Es fehlt ihr etwas, um die Verkörperung Martas zu sein, wie Molina der weibliche Körper 33 34 Er ist sich trotzdem seiner insoweit bewusst, als dass er die Namen usw. seiner Kampfgenossen nicht verrät. Auch wenn sie dies nicht bestätigt. 42 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ fehlt (Wiegmann 138). Die Spinnenfrau ist selbst in ihrem eigenen Netz gefangen, ebenso wie Molina, dessen Verführung Valentíns ihn ebenfalls gefangen nahm. Seine Zuneigung lässt ihm kaum eine Wahl. Das Netz ist ihres, durch ihre soziale Einbindung aber auch das der Gesellschaft, denn die Spinnenfrau wird durch diese als solche bestimmt: Ihr Netz ist ihr Schicksal (Wiegmann 270). Valentín hat Mitleid mit ihr bzw. Molina, findet jedoch davon unabhängig Gefallen daran, mit ihr/ihm zu schlafen. Er liebt sie/ihn zwar nicht, nicht auf diese Weise (Puig 283-286), überwindet aber durch die Zuneigung zur Eingeborenen und zur Spinnenfrau den Machismo (Zapata 136). Indem Valentín Molina allein die Motive hinter seinem Tod zu kennen zubilligt, versucht er nicht länger, diesen zu analysieren, sondern gesteht ihm seine individuelle Freiheit zu und akzeptiert seine Entscheidung als Ausdruck derselben. (Puig 283-286) Es gibt keine Ausbeutung oder Unterdrückung mehr (Schlickers 266). Die Filme und Gespräche der beiden werden wieder belebt durch Andeutungen und Zitate, sie sind die Basis des Deliriums, durch sie wird es erst ermöglicht. Das Delirium ist somit auf gewisse Weise eine Zusammenfassung des Romans, da auch die Konflikte wieder aufgegriffen werden, so der Widerwille Valentíns der Eingeborenen gegenüber, seine Beziehung zu Marta usw. (Ezquerro 409). Dies lässt einige Autoren schlussfolgern, dass sich nichts geändert habe, sich alles nur wiederhole, oder dass die Filme einfach der einzige Weg seien, dem Terror zu entgehen, indem man sich von der eigenen Individualität löse (Fabry 67). Auf der anderen Seite herrscht die Meinung, dass die Existenz Martas im Inneren Valentíns, d.h. in einem Körper, dazu führe, dass beide hinsichtlich ihres Geschlechtes oder ihrer Geschlechtsidentität nicht mehr unterscheidbar seien (Campos 549) und ein neues Geschlecht35 entstehe (Muñoz 62). Dieses sei jedoch nicht in der existierenden repressiven Gesellschaft verwirklichbar (Teltscher 223). Die Bewusstseinswerdung sei dann eine Homosexualisierung (Fabry 58). In diesem Sinne sei die Spinnenfrau eine Zusammensetzung der Frauenbilder Valentíns und spiegle die Ängste des Mannes gegenüber der Frau wider (Wiegmann 269). Das westliche Gegensatzdenken von entweder Mann oder Frau werde in Frage gestellt (105), ebenso wie die Annahme, dass es für eine stabile gesellschaftliche Ordnung einer klaren sexuellen Differenzierung bedürfe (Bacarisse Impossible Choices 67). Die einzige natürliche Sexualität sei die totale und seine eigene Identität solle man nicht innerhalb eines (einzigen) Geschlechts festlegen (Dabove 24). Doch auch wenn die Bisexualität schlussendlich die Lösung sein mag, so legt sich der Roman selbst nie in dieser Art und Weise darauf fest: Weder Molina noch Valentín sind bisexuell und wollen es auch gar nicht sein (36). Ihre Erfahrungen zeigen nur Möglichkeiten auf, die sie selbst jedoch nicht verwirklichen. Der Tod wird durch den dunklen Tunnel mit dem Licht am Ende symbolisiert. Die Zukunft ist der ewige Kampf für seine Überzeugungen, der auch ohne Valentín weitergeht, denn er existiert seit jeher, schon immer, und wird auch nicht enden. (Puig 283-286) (Bacarisse The necessary dream 93) Die Liebe zeigt uns unsere Gefangenschaft auf, aber sie ist nicht dazu in der Lage, uns zu befreien (Fabry 35). Es herrscht sowohl Bewegung als auch Bewegungslosigkeit, denn Molina und Valentín sind gleich und doch verschieden (68/69). 35 So wird argumentiert, Valentín fände die Frau in sich und so zu seiner Bisexualität (Muñoz 75, 80). 43 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ 3.2.2 Überzeugungen und Verhalten Valentín glaubt nicht an monogame Beziehungen, weshalb er es als einzige Pflicht versteht, dem Partner gegenüber ehrlich zu sein und ihm die entsprechenden Bedürfnisse offen zu erzählen. So scheint er in seiner Erzählung über Martas Eltern der Frau grössere Vorwürfe zu machen als dem Mann, da sie schwach ist und in ihrer Opferrolle ihren Mann vor der Tochter blossstellt. Valentín verwahrt sich gegen die bürgerlichen Wertvorstellungen. Er verweist auf die Frauenbewegung, die es mit sich bringe, dass Frauen keine bürgerlichen Rollen mehr einnehmen wollen. Realistisch, aber kaum einfühlsam erfasst er das Dilemma Molinas, wonach „richtige“ Männer „richtige“ Frauen wollen. (Puig 50) Valentín zerstört Molinas Ideal der perfekten Mutter, indem er ihm seine klassenbewusste politisch-gesellschaftliche Interpretation der Ausbeutung darlegt (22/23). Er fordert ihn auf, zu „gestehen“, dass das von ihm beschriebene bürgerliche Haus seinen Wunschvorstellungen entspricht und gibt dadurch die eigene Ablehnung zu erkennen (25). Auf der anderen Seite schreibt er Empfindlichkeit und Sentimentalität klischeehaft den Frauen zu, einem Mann dagegen würde ein Übermass an Gefühlen nur schaden (34/35), denn dieser muss stark und aktiv sein, Gefühle bedeuten soviel wie Schwäche (47, 182, 246). Valentín lehnt Molinas Männerideal ab, denn er hält es für nicht realistisch. Er meint, man könne sich seiner selbst in dieser Gesellschaft nicht sicher sein, weshalb es nicht möglich sei, sich selbst zu verwirklichen. (69) Für ihn ist Männlichkeit gleich Stolz, Würde und Respekt für andere. Bei seiner Definition hat er jedoch Schwierigkeiten, da er selbst kein klares Bild zu haben scheint. So erscheint dieses eher als ein Bild der Menschlichkeit, nicht nur der Männlichkeit, was ihm allerdings nicht bewusst ist. Auch seine Vorstellung ist ein Ideal, ebenso (un)erreichbar wie Molinas. (70) Trotz der Schwierigkeiten, die er bei der Definition von Männlichkeit hat, stellt er die Existenz der Geschlechterkategorien nicht in Frage (Schlickers 225). Wenn er Molinas Vision der universalen Weiblichkeit als irreal bezeichnet, so lässt sich sein Glaube an die Unveränderlichkeit des Geschlechtersystems erkennen. Im Gegensatz dazu hält er das politische System für veränderbar, seine Vision demnach für real und überlegen. (Puig 35) Er wehrt sich gegen die Klassifizierung der Architektur und der Kunst als Frauensache, da er dies als Beleidigung auffasst (83). Valentín verwahrt sich auch gegen die weibliche Form seines Namens, denn er fühlt sich dadurch in seiner Geschlechtsidentität verletzt (44). Das Vermischen männlicher und weiblicher Formen durch seinen Zellengenossen irritiert ihn (67-69), und ihm ist unwohl angesichts Molinas Abgrenzung gegenüber den Männern. Statt zu versuchen, diesen zu akzeptieren, bemüht er sich darum, ihn zu verstehen und zu analysieren. (65, 246) Seine Umschreibung der „gente de tus inclinaciones“ [Leute deiner Neigungen] spiegelt seine Berührungsängste wider (66). Valentín weicht Molinas Hindeutung auf seine Transsexualität aus und reagiert überheblich, vorurteilsbehaftet oder spöttisch. Er glaubt, alles zu wissen, was es über Molina zu wissen gibt, indem er ihn wie alle anderen beurteilt, ohne ihn zu kennen. (23, 70, 72, 116, 163) Er zeigt eine manische Ablehnung gegenüber der Trans- und Homosexualität (Logie 525). Seine Frage nach der Identität des anderen spiegelt diese fehlende Akzeptanz und das Verhaftetsein in gesellschaftlichen Vorurteilen wider (Puig 25), ebenso wie die Annahme, im Hinblick auf Themen der Sexualität gegenüber Molina keinerlei Skrupel haben zu müssen (49). Sein Geständnis und die Selbsterkenntnis, dass er sich eigentlich nach Marta sehnt, verursachen in ihm Scham- und Schuldgefühle, denn diese ist keine 44 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ befreite Frau, sondern eine in traditionellen Werten erzogene (147). Diese Erkenntnis ist schmerzhaft, da die Abgrenzung zum „Feind“ nunmehr fehlt, er kann diese unbewussten Gefühle jedoch nicht kontrollieren (148). Auf der anderen Seite beschreibt er Marta auch als unabhängigen Menschen, der sich gegen die gesellschaftlichen Ansprüche von Ehe und Kindern zur Wehr setzte (51). Valentín bezeichnet sie als kastrierende Mutter – wie die im ersten der von Molina erzählten Filme. Sie macht ihm durch ihre Stärke Angst, er will sich dies aber nicht eingestehen und begründet das Ende ihrer Beziehung damit, dass sie zu sehr geklammert habe und vom politischen Kampf abgefallen sei. (143) (Logie 525) Dementsprechend „brauchte“ sie auch ihren Arbeitskollegen (Puig 51), da sie allein zu schwach gewesen wäre. Hinsichtlich Valentíns derzeitiger Freundin lässt sich anhand des Briefes ebenfalls eine gewisse Rollenverteilung erkennen. Der Brief spiegelt die Unsicherheit der Frau wider, die sich darin äussert, dass sie ihren Freund für intelligenter, stärker und bewundernswert hält. (138) Für Valentín ist es zudem selbstverständlich, dass seine Freundin hübsch ist (42). Andererseits gesteht er ihr aber die Freiheit zu, für ihre Überzeugungen zu kämpfen und beschränkt diese Aufgabe nicht nur auf Männer (48). Dann ist Valentín wieder voller Vorurteile. Er wirft Molina vor, wie eine „señora de antes“ [Dame von früher] zu sprechen, indem er diesen generell kein Interesse an der Politik unterstellt (85). Auch die Überzeugung, dass keiner vermuten werde, dass Molina etwas über Valentíns Angelegenheiten wisse, zeigt die Geringschätzung von Frauen bzw. Homosexuellen (218). Valentín zeigt sich aber auch einfühlsam und aufmerksam (67, 75). Auf die Bemerkung seines Zellengenossen, dass er eines Tages vielleicht entdecken werde, dass er „más loca“ [schwuler] als Molina sei, entgegnet er ausweichend „Puede ser.“ [Kann sein.] Dies beinhaltet zwar eine implizite, aber keine kategorische Abweisung mehr. (83) Er zieht Molina wegen dessen Verwendung der weiblichen Form auf (98) und fragt ihn neckend, ob er Angst habe, zuzunehmen (95) und bezieht sich so auf ein weiteres Klischee von Weiblichkeit. Er spricht das Tabu der Sexualität an, fordert Molina auf, sich selbst zu akzeptieren, auf sich stolz zu sein und sich nicht dafür zu schämen, wie er ist. Valentíns Gleichheitsideal36 äussert sich in seiner Ablehnung der Unterwerfung, widerspricht aber zugleich seiner eigenen Hingezogenheit zu einer bürgerlichen, wenn auch selbstbewussten Frau. (246) Er hat es nicht verinnerlicht (Teltscher 221), seine Hingezogenheit zu Marta kommt einem Verrat an seinen Idealen gleich (Kerr 663). Er bezeichnet die bürgerlichen Geschlechtervorstellungen als Gehirnwäsche, die Molina passiv über sich ergehen lassen habe. Ob er die Behauptung, er würde sich von seinem Zellengenossen penetrieren lassen, wenn er nicht Angst vor den Schmerzen hätte, im Ernstfall der Wahrheit entsprechen würde oder nicht, jedenfalls zeigt die Aussage allein schon eine Horizonterweiterung, da er nicht mehr automatisch davor zurückschreckt, sich mit Fragen der Trans- und Homosexualität zu befassen. Valentín bemerkt allerdings nicht, dass er damit Molinas Weltbild ins Wanken bringt. (Puig 247) Deshalb könnte man auch sagen, er versuche, seinem Zellengenossen sein eigenes Weltbild überzustülpen (Kerr 667). Valentín spürt die Macht der Gesellschaft und ihrer Normen auch in der Zelle, in seinem eigenen Verhalten und der Beziehung zwischen beiden. Er bedauert dies, da er meint, sie könnten hier ihre 36 Im gleichen Sinn ist sein Ausspruch „ser macho, no da derecho a nada“ [ein Mann zu sein, gibt einem das Rechts auf nichts] zu verstehen (247). 45 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Beziehung doch eigentlich nach eigenem Gutdünken und frei von sozialen Einschränkungen gestalten. (Puig 206) In seiner Naivität und seinem Idealismus verkennt er, dass auch sie beide sich gegenseitig ausnutzen und unterdrücken, ebenso wie er die soziale Bestimmung des Geschlechts ignoriert. Verführung Valentíns durch Molina auf der einen, Essenszubereitung durch Molina auch für Valentín beispielsweise auf der anderen Seite sind Ausdruck dieser Wechselbeziehung. Valentíns Protest zu letzterem scheint eher symbolischer Natur (33), und als er sich wieder selbst um seine Mahlzeiten kümmern darf/muss, kann er nicht zugeben, dass ihm das vorherige Arrangement besser gefallen hat (204, 208). Trotz seiner altruistischen und sozialbewussten Einstellung scheint er sich seiner eigenen Verhaltensweise gegenüber Molina und den Frauen im Allgemeinen (vgl. den Alptraum) nicht bewusst zu sein (Bacarisse Impossible Choices 24). Sein Stolz untersagt es ihm, sich weiter bemuttern zu lassen, als er wieder gesund ist. Er möchte nicht das Gefühl haben, etwas schuldig zu sein, da dies seiner (unbewussten) Vorstellung der männlichen Überlegenheit widerspricht. (Puig 188) Tut er zu Beginn Molinas Selbstaufopferung noch als Schwäche ab, so anerkennt er diese schliesslich als dessen Form von Güte (257). Indem Valentín Molina als Spinnenfrau benennt, ist er zwar immer noch der Überlegene, zeigt dadurch aber auch, dass er sich der Verführung durch Molina bewusst ist, ohne dass er sich dagegen wehrt (vgl. unten). Durch seinen Zellengenossen ist er dazu veranlasst worden, über Dinge nachzudenken, die er vorher als gegeben angenommen hat, über Sexualität und Geschlecht sowie über den Widerspruch zwischen seiner Ideologie und seinen Gefühlen. Er ist seinen Idealen treu geblieben und hat sie ausgeweitet, weshalb er Molina das Versprechen abnimmt, selbstbewusster zu sein und sich nicht herumschupsen zu lassen. (265) Valentín ist engagiert und der Meinung, man müsse die Dinge ändern, wenn sie einem nicht gefallen. Man müsse sich wehren, nicht den Umständen ergeben, sondern gemeinsam einen Ausweg aus der Ausbeutung suchen. (Puig 76/77) Der Einzelne trage eine Verantwortung für die Gesellschaft, Zivilcourage sei eine unabdingliche Charaktereigenschaft (108). Aus dieser Einstellung heraus erklärt er sich auch nur zögerlich bereit, sich nicht mit dem Wärter anzulegen (93/94), denn er hat, wie aus den Dokumenten der Gefängnisdirektion zu erfahren ist, schon einen Hungerstreik aus Protest über den Tod eines anderen Gefangenen hinter sich (151). Er möchte diskutieren und seine Meinung austauschen – im Gegensatz zu Molina – (63, 88, 238), hält seine Werte und Ideale aber für überlegen, ist dogmatisch (Bacarisse The necessary dream 90) und sich des Einflusses der (konservativen) Gesellschaft nicht bewusst (Schlickers 226). Der Widerspruch Molinas verletzt ihn (Puig 108), er will ihn überzeugen (117). Bücher sind für Valentín ein Weg, die Wirklichkeit zu überwinden, wohingegen die Filme Molinas lediglich dazu dienen, dieser zu fliehen. Durch die Schaffung einer Traumwelt und der damit einhergehenden Verdrängung der unangenehmen Dinge entfremde man sich von der Realität, den Menschen und sich selbst. (85) Dies sei genauso gefährlich wie kollektive Entfremdung (Bacarisse Impossible Choices 72). Da die Bücher ihm zur Erkenntnisgewinnung dienen, weist er Molina auch kühl zurück, als dieser sich mit ihm unterhalten möchte. Er ist unflexibel, da er sich an seinen Zeitplan halten will. (Puig 101) Er besitzt eine rigide Selbstdisziplin (Bacarisse The necessary dream 90) und „muss“ studieren (Puig 103). Dem steht 46 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ seine Naivität (Logie 525) anderen Menschen gegenüber entgegen. Er fragt sich nicht, warum das von ihm so gefürchtete Seconal nicht routinemässig beim Verhör und der Folter eingesetzt wird (Puig 117), oder ob Molina nicht ein Spion sein könnte bzw. von den zuständigen Autoritäten befragt werden könnte (136, 255). Trotzdem scheint er vom Schicksal überzeugt zu sein (143), einem Schicksal, das passiv macht. Dies äussert sich in seiner Version des Boleros: statt „aunque“ [selbst wenn] setzt er „porque“ [weil] und macht die Aussage somit zu einer Tatsache, nicht einer Möglichkeit, deren Zukunft festgeschrieben ist (146). Als Molina ihn allerdings nach dem Ende des Filmes fragt, weiss er dieses nicht oder kann es sich nicht vorstellen: die Zukunft ist unsicher (260), es gibt nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Wahrheiten (Fabry 88). Nichtsdestotrotz gibt er seinen Kampf nie auf, er erkennt vielmehr, dass gerade die Klassenstrukturen, die er ablehnt und beseitigen möchte, auch ihn prägen (Muñoz 71). Beide können sie nichts tun wegen Molinas Freiheit - und auch sonst nicht, da sie von gesellschaftlichen Zwängen umgeben sind, es bleibe aber immer, sich politisch zu engagieren. Valentín will Molina zwar davon überzeugen, sich zu organisieren (Wiegmann 115), gesteht ihm aber die Wahl zu: er kann. (Puig 217, 255) Im Gegensatz zu seinen politischen Überzeugungen fordert Valentín Molina auf, sich anzupassen und sich zufrieden zu geben, was die übrigen gesellschaftlichen Normen und sein Leben angeht (258), dabei aber die Hoffnung nicht zu verlieren, da sich die Dinge ja ändern könnten (218). Als er auf Molinas Zustimmung, ihm zu helfen, seinen Kampfgefährten eine Nachricht zu übermitteln, nur wortkarg reagiert, ist dies ein Ausdruck dafür, dass er dies allein als Molinas Entscheidung betrachtet und ihn zu nichts zwingen will (267). Valentín ist brüsk (Puig 12), kalt, mürrisch und unnachgiebig. Er befiehlt, bittet nicht und nimmt keine Rücksicht, (14) sondern ist direkt (184) und sagt, was er denkt. So fühlt er sich überlegen und wissender, versteht aber den Spott Molinas nicht und ist hilflos angesichts dessen Sarkasmus (15, 88, 116). Er ist mechanisch und engstirnig (Bacarisse The necessary dream 98), hält seine Zeit für zu wichtig und betrachtet es als Gefallen seinerseits, sich die Filme anzuhören (Puig 21). Molina sei im Übrigen nur dazu gut, die Filme zu erzählen (63). Trotz seiner Überheblichkeit und Geringschätzung Molinas (23) hat er andererseits keine Ahnung von Kunst oder Oper (25). Er ist stolz auf seine Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, ein Einzelkämpfer und kein (marxistischer) Gemeinschaftsmensch (14). Dementsprechend bezeichnet er sich auch als Geizhals, als er sich als unfähig erkennt, Geschenke zu würdigen (205). Indem er Molina beim Nachnamen nennt, betont er die formale Distanz zwischen ihnen (24) (Wiegmann 123). Valentín betrachtet alles aus dem Blickwinkel der Logik und der Vernunft heraus, selbst sein eigenes Verhalten (29, 102, 121, 127, 134) und will analysieren und diagnostizieren (96, 101) (Logie 525). Sein Idealismus lässt ihn alles, auch seine Gefühle, seinen Idealen unterordnen. Er klammert sich an sie, rezitiert von anderen und doziert (Schlickers 197)37. Seine Gefühle kann er nicht ausdrücken, denn er ist es nicht gewohnt, sich mit ihnen zu beschäftigen, ebenso wenig kann er mit denen anderer Menschen umgehen: Er weiss 37 Laut Sabine Schlickers möchte er mit der Ablehnung der offiziellen Sprache sein Denken autonom gestalten (197). Stattdessen rezitiert er aber nur von anderen Quellen. 47 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ nicht, wie er auf Molinas Tränen reagieren soll (Puig 218). Valentín verkörpert das Bild des harten Einzelkämpfers (Teltscher 218), für den nur die Zukunft zählt (Schlickers 223). Da er nicht frei diskutieren kann, sondern einen genauen Plan braucht, kritisiert er auch Molinas vermeintliches Abschweifen. (Puig 33/34, 71, 77, 127) Als er jedoch selbst droht, eine Diskussion zu verlieren, weicht er seinerseits auf eine andere Ebene aus, die sexuelle, und erkennt Molinas Punkt erst nach dessen Einlenken und somit aus einer Position der Stärke an. (35, 102, 104) Aus diesem Grund bereitet es Valentín auch Unbehagen, dass er seine eigenen Gefühle nicht kontrollieren kann, denn er befürchtet einen Verlust der Kontrolle. (47) Er möchte die Kontrolle haben, über das, was er tut, als auch über das, was er sagt, da beides auch der Selbstpreisgabe dient (53). Die Macht, die Worte haben können ist ihm durchaus bewusst: „Si no sé lo que digo, no me gusta hablar.“ [Wenn ich nicht weiss, was ich sage, rede ich nicht gerne.] (212), auf der anderen Seite erkennt er aber den Einfluss der Religion (86, 187) oder des gesellschaftlichen Androzentrismus (35, 161) auf die Sprache nicht. Es ist ihm peinlich, dass er krank ist und Molinas Hilfe braucht (123, 133, 145), denn er fühlt sich hilflos. Er zeichnet ein realistisches Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse (73, 74, 137), Molina gegenüber verhält er sich aber teilweise sehr unsensibel und egozentrisch (63, 101). Auch ist er sich nicht zu schade, zu seinem eigenen Nutzen an Molinas Mitgefühl zu appellieren, auch wenn dies zu Lasten dieses geht (77). Auf der anderen Seite tut ihm sein eigenes Verhalten immer wieder leid (52, 135, 140). Während seiner Krankheit benimmt er sich wie ein Kind, ist ungeduldig und hartnäckig angesichts seines Wunsches nach Süssigkeiten. (162/63) (Kerr 659) Wenn er weinerlich ist und sich auf Molina verlässt (184), wird er „menschlicher“ (Bacarisse The necessary dream 89). Da ihm diese Abhängigkeit jedoch unangenehm ist, lehnt er es, als es ihm wieder besser geht, entschieden ab, sich weiterhin bevormunden zu lassen. Er wehrt sich dagegen, dass jemand anderes für ihn die Entscheidungen trifft, (Puig 196) da er seine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zurück möchte, die sichere Distanz (197) (Schlickers 234). Dieses Aufbegehren lässt ihn gewalttätig und zerstörerisch werden, was ihm wiederum äusserst unangenehm ist, weil er damit die Kontrolle verloren hat. In diesem Streit ist es für ihn aber gerade darum gegangen, diese nicht zu verlieren. Er schämt sich und möchte Molinas Vergebung. (Puig 198) Valentín nimmt zunehmend Anteil an seinem Zellengenossen, erkundigt sich, wie Molina von der Gefängnisleitung behandelt worden sei (92), und spricht ihm implizit und explizit sein Vertrauen aus (136, 226). Auch seine Öffnung hinsichtlich seiner Freundin (135/36), seines Kampfgefährten (144) oder des Briefes (137/38) reflektiert dies. Valentín werden die Ähnlichkeiten zwischen letzterem und Molinas Bolero bewusst, was dazu führt, dass er dieses in ganz neuem Licht sieht (140, 146). Als er erfährt, dass Molina bald fort sein wird, ist er geschockt und betrübt (208) und kann sich nicht konzentrieren (212). Er ist verzweifelt (Bacarisse The necessary dream 116). Daneben kommen aber auch seine Selbstzweifel zum Vorschein, er ist sich seiner selbst nicht mehr sicher (Puig 135) und orientierungslos: „yo no puedo creer en nada.“ [Ich kann an nichts glauben.]. Die Angst vor dem Tod (144) hinterlässt bei ihm ein Gefühl der Verwirrung und der Einsamkeit (146), bis er schliesslich unter dem Druck der Gefangenschaft, Krankheit, Folter, den schlechten Nachrichten des Briefes, der Einsamkeit und der Unfähigkeit, sich weiterhin vor seinen Gefühlen zu verstecken, zusammenbricht (147). Er möchte nicht sterben, sondern leben. Seine Ideologie, die das Inkaufnehmen des ersteren fordert, gerät in 48 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Konflikt mit seiner Erziehung und seinem Familienhintergrund, nach denen er das Leben geniessen soll (Puig 182), gleiches gilt für seine Geschlechterrolle des aggressiven und heterosexuellen Mannes (Teltscher 217). Valentín ist sich seiner Sache, seiner selbst nicht mehr sicher. Er hat Zweifel, ist verwirrt und zerrissen und ersehnt sich eine höhere Gerechtigkeit. (Puig 182) Seine zunehmende Emotionalität kommt auch darin zum Ausdruck, dass er von Molinas Mutter als „mamá“ (161) und nicht mehr als „madre“ (41) spricht. Er erzählt von sich aus seine Gefühle und diktiert Molina den Brief an Marta, in dem er seine Einsamkeit und Sehnsucht ausdrückt (180/81). Dies gelingt ihm, indem er die Sprache aus Molinas Filmerzählungen übernimmt (Schlickers 197, 234). Sodann schämt er sich aber seiner Schwäche, die ihn dazu gebracht hat, seine Gefühle auszusprechen (185). Valentín wird im Verlauf des Romans höflicher: „por favor“ [bitte], „perdón“ [Entschuldigung] (171-174) und bittet Molina fast schüchtern, den Film zu Ende zu erzählen (212). Er ist rücksichtsvoller (223) und schämt sich schliesslich auch nicht mehr seiner Gefühle und Hoffnungen (256, 263/64), sondern akzeptiert sie (Campos 549). Nunmehr lässt er sich sogar bemuttern (Logie 525) und gönnt sich auch einmal eine Pause in seinen Studien (Puig 223). Seine Haltung ist nicht mehr so absolut38 und er zeigt mehr Toleranz und Verständnis, als er Molina zugesteht, dass es manchmal auch gut sei, nichts zu denken. Auch er selbst will nicht um der intellektuellen Auseinandersetzung Willen studieren, sondern ebenfalls um an nichts denken zu müssen. Indem er nicht mehr auf alles eine Antwort und eine Erklärung haben möchte, akzeptiert er Molinas Verhalten. (224) Als er energisch die Traurigkeit zu vertreiben sucht und eine Abgrenzung zur Aussenwelt etabliert, bejaht Valentín zugleich ihre Gemeinschaft in der Zelle und will Molina vor Kummer bewahren und beschützen (235), wodurch er aber wieder eine männliche Rolle übernimmt. Da es ihm peinlich ist, reagiert Valentín auf Molinas Geständnis seiner Gefühle für ihn durch die Vermeidung des Blickkontakts. Darauf angesprochen, stellt er sich dem zwar, fühlt sich aber bedrängt und stellt ablenkende Fragen, als ihm Molina sagt, dass er ihm etwas erzählen müsse, da er Angst davor hat, es könnte die gleiche Thematik umfassen. (207) Durch Valentíns Frage, ob es eine Beziehung zwischen Molinas Lieblingspuppe der Kindertage und ihm gebe, wird deutlich, dass er sich der Manipulation durch den anderen bewusst ist, ohne sich jedoch weiter darum zu kümmern. Es macht ihm nichts mehr aus, (225) er geniesst es sogar (Schlickers 236). Die Initiative beim Sex geht von Valentín aus, auch wenn es Molina gewesen ist, der verführt hat. Er ist aktiv. (Puig 219, 221, 239) Valentín fordert Molina auf, sich nicht selbst herabzusetzen, indem er die Schande und Scham betont, die Valentín möglicherweise empfinde (221). Er zeigt sich einfühlsam (239) und weist auf die Gegenseitigkeit ihrer Beziehung hin (220). In Verkennung der Tatsachen, der Verführung durch Molina und seinen eigenen Motiven – Trost zu spenden und seine Bedürfnisse zu befriedigen39 – glaubt er, Sex sei die Unschuld schlechthin (224). Da er sich nicht vorstellen kann, dass eine derart intime Handlung für andere Zwecke missbraucht werden kann, verspürt auch er ein Gefühl der 38 In seiner Beurteilung des Regisseurs des nationalsozialistischen Propagandafilms äussert meint er noch, man müsse sich entscheiden – für ihn eine Entscheidung zwischen Gut und Böse. (98) (vgl. auch Muñoz 62) 39 Dies vermittelt das Bild eines „aggressiv sexuellen und kontrollierenden Machos“ (Kerr 662). 49 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Sicherheit nach dem Sex (238). Es ist für ihn die Zeit für Vertrauen (219), was sich in der Bereitschaft zeigt, sich von Molina liebkosen zu lassen (220). Als Ausdruck der Zärtlichkeit ist der Diminutiv Molinita (217, 219, 223) zu verstehen, aber auch als Ausdruck der Überlegenheit, zumal Valentín ihn auch bei einem seiner Vornamen oder Carmen (72) nennen könnte. Auf der anderen Seite ändert er nichts an der weiblichen Endung des Namens. Er ist verlegen angesichts Molinas Offenheit über seine Gefühle (259), zögert aber nicht mit seiner Antwort, als Molina ihn um einen Kuss zum Abschied bittet (264) und gibt ihm kurz darauf unabhängig von diesem Versprechen, demnach nicht aus einer Verpflichtung heraus, einen Kuss (267). Damit macht er deutlich, dass Molina ihm nicht nur zur Lustbefriedigung gedient hat, sondern ihm durchaus etwas bedeutet. Der Kuss ist ein Geschenk, er schliesst Valentíns Entwicklung ab, deutet aber bereits auf den Tod hin (Kerr 664). Er ist aber auch die Umkehrung der Schuld40, die seine Unabhängigkeit in Frage gestellt hatte (Fabry 233). Die Stille versinnbildlicht die Unzulänglichkeit von Worten, „no sé nada“ [ich weiss nichts] das Zurücktreten des Wissens hinter die Gefühle. Beim Sex ist es möglich, sich selbst zu vergessen (Puig 221), nicht an sich zu denken (220). Die Stille ist die einzige Möglichkeit, sich gegen die Aussenwelt, die Gesellschaft, zur Wehr zu setzen, denn durch sie wird die Reproduktion der sozialen Normen zumindest sprachlich verweigert (Muñoz 73). Das letzte Mal, als die beiden Sex haben, geschieht dies bei Licht. Es passiert nicht länger in dunkler Anonymität und Heimlichkeit und beinhaltet eine vollständige Akzeptanz, (Puig 266) denn Valentín ist sich immer der Tatsache bewusst, dass er mit einem Mann schläft (Muñoz 73). Valentíns Gedankenbruchstücke sind von Gewalt durchzogen, brutal und düster (Puig 164, 170, 174) (Schlickers 190). Diese Gewalt richtet sich vorwiegend gegen Molina, dessen Kopf gläsern ist, also leicht zu durchschauen, und leer, nur mit Bildern gefühlt, mit Bildern von Heiligen und Nutten. Beides sind Klischees, die sich an entgegengesetzten Enden der moralischen Skala der Gesellschaft gegenüberstehen41. Am unteren Ende stehen mit den Nutten jedoch nur Frauen, während „santos“ beide Geschlechter umfassen mag. Valentín zerschlägt den Kopf42, wodurch diese stereotypen Bilder hinausfallen, Platz für etwas Anderes entsteht, er diesen aber auch zerstört und tötet. (Puig 176) Der Glaskopf ist zerbrechlich wie die virtuellen Welten, die Molina durch die Filme entstehen lässt (Beckford Jessen 78). Obwohl er diese Bilder zerstören will, infizieren sie ihn auch, was ihn verstört und das Thema wechseln lässt (Puig 180). Die Filme und ihre Botschaft einer ihm fremden Lebensphilosophie faszinieren ihn. Valentín ist verwirrt, verzweifelt und fühlt sich schuldig. Er ist gefangen in den Zwängen, die ihn zum Henker Molinas machen – eine Ahnung von dessen Ende. (192/93) Dadurch, dass er Molina nicht ernst nimmt und sich von ihm distanziert, vermeidet er es, in seiner Schuld zu stehen, denn er nimmt ihm die Berechtigung dazu (213). Das daraus resultierende Schuldbewusstsein ist jedoch zu stark, so dass er damit beginnt, es abzubauen, indem er die Filme 40 Diese Wechselbeziehung der Schuld wird z.T. auch als grundlegend für die Beziehung der beiden erachtet (Kerr 654). 41 Gut und Böse (Schlickers 190) 42 Geneviève Fabry sieht in ihnen deshalb auch ein Orakel (142). 50 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ lobt (217). Die Gedanken sind Ausdruck des gesellschaftlichen Machismo und seiner Überlegenheit, dessen Macht sich Valentín nicht bewusst ist (Wiegmann 111/12). 3.2.3 Macho und Mann Der Marxismus schreibt die Bedeutung der „Frauenfrage“ dem Kapitalismus zu, da dieser auf der unbezahlten Reproduktionsarbeit der Frauen basiere (Chatterjee 11/12). Eine kulturelle Neubildung der „Frauen“ sollte so im Zuge der Oktoberrevolution möglich sein, wenn diese die entsprechenden Normen und Werte der bolschewistischen Propaganda verinnerlichten (16). Die Ideale einer Geschlechtergleichheit wurden in der Sowjetunion jedoch nicht verwirklicht (160), Ideologie und Realität klafften wie so oft auseinander (6). Auch bei den lateinamerikanischen guerrillas herrscht(e) ein zwiespältiges Bild der Beteiligung und der Stereotypisierung in Verführerin und Mutter entsprechend der herrschenden Ideologie (Rhode 90-105), welche eine genaue Unterscheidung in aktiv und passiv gebietet (Teltscher 11). So wird die Heterosexualität des aktiv Agierenden beim gleichgeschlechtlichen männlichen Sex nicht berührt oder in Frage gestellt (16). Der homosexuelle Geschlechtsakt dient so dem Abbau überschüssiger sexueller Energie43 (21), ermöglicht dem aktiven Partner, dem chongo, jedoch keine Identifikation (18). Auf der anderen Seite besteht ein grosser Druck, die eigene Männlichkeit ständig zu beweisen (12): Stärke, Aktivität und Macht sind ihre konstitutiven Elemente (21), wobei der Macho den Verlust seiner überlegenen Position und die Versuchung fürchtet, die entgegengesetzte Rolle einzunehmen (22). Der Mann konstituiert sich durch die Ablehnung der Weiblichkeit (Muñoz 76). So stehen sich der Mythos des Machismo und der Sozialismus diametral gegenüber (Schlickers 224). Dieser Konflikt zeigt jedoch regelmässig einen Triumph des ersteren (Schlickers 228, Teltscher 225). Auch in Valentíns Innerem herrscht dieser Widerspruch vor, sein Verhalten und seine Äusserungen stimmen nicht überein. Er promulgiert die Geschlechtergleichheit, hält aber unbewusst an den bürgerlichen Vorstellungen fest. Er verachtet die weiblichen Eigenschaften in Molina und somit auch die Frauen, deren Werte er für unterlegen hält. Das dichotome Geschlechtersystem ist für ihn selbstverständlich, weshalb ihn die Vermischung der Geschlechter durch Molina auch so aus der Fassung bringt, denn ihre Trennung ist ein grundlegender Bestandteil seiner Weltsicht. Er fühlt sich Molina überlegen und repräsentiert den starken, rationalen Mann, der unabhängig ist und keine Hilfe braucht. Im Laufe des Romans lernt er dann aber nicht nur, weibliche Werte wie Phantasie und Lebensfreude zu schätzen, sondern beginnt auch, die normative Heterosexualität in Frage zu stellen. Dies geschieht insbesondere durch seine Überlegungen zum Tausch der Rollen beim Sex und nicht sosehr durch diesen selbst, da Heterosexualität in Lateinamerika wie gesagt durch die aktive Rolle bestimmt ist. Valentín akzeptiert Molina nunmehr, und es ist ihm möglich, seine Liebe zu Marta mit seinem politischen Kampf zu vereinen. Ersteres, d.h. die Akzeptanz von Menschen, die sich nicht konform zum herrschenden Geschlechtersystem verhalten, ist nach Laurie Essig ebenfalls eine Möglichkeit, Geschlechtergrenzen zu überwinden 43 vgl. Valentíns Ejakulation (Puig 187 ) 51 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ (161). So wird gerade durch Valentíns anfängliche klassische Männlichkeit und seine Öffnung gegenüber weiblichen Werten das patriarchale System hinterfragt (Muñoz 74). 4 Fazit Die Identität Molinas lässt sich als männliches Equivalent zu butch/femme verstehen, denn während die butch in einer lesbischen Beziehung die klassische Rolle des Mannes übernimmt, übernimmt er in einer schwulen die klassische Rolle der Frau. Demnach wäre seine Identität nach Judith Butler eine Möglichkeit, das herrschende Geschlechtersystem von Innen zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Diese These begründet Butler damit, dass diese Existenzformen intelligibel seien. Auf der anderen Seite wird Homosexualität in Lateinamerika gerade anhand dieser Rollen definiert. Ihre Imitation wird für das eigene Selbstverständnis zwingend vorgeschrieben, im Gegensatz zu anderen Kulturen, an die Butler vermutlich gedacht hatte, in denen die Homosexualität aufgrund des Begehrens besteht. Somit kann die Übernahme einer weiblichen Rolle durch Molina nicht per se als subversiv angesehen werden. Andererseits kann man aber sehr deutlich die von ihr thematisierte Zwangsheterosexualität erkennen, da die Partner der gleichgeschlechtlichen männlichen Beziehung in das herrschende heterosexuelle System eingeordnet werden. Die Gesellschaft schreibt ein bestimmtes Verhalten vor, welches die eigene Identität formt. Molina will eine Frau sein, weil ihm die als weiblich erachteten Werte und Normen besser scheinen und nicht, weil ihm der weibliche Körper besser gefällt. Der Körper übermittelt diese Botschaft nur, womit seine Unterscheidung des biologischen und sozialen Geschlechts hinfällig ist. Geschlecht ist eine Norm, an der der Einzelne sich orientiert. Deshalb versucht Molina, die stereotype Rolle der Frau möglichst genau zu übernehmen, denn er kann sich selbst nur als Frau fühlen, wenn er den gesellschaftlichen Erwartungen an diese entspricht. Im Gegensatz zu Valentín ist er aufgrund seiner abweichenden Körperlichkeit viel stärker gefordert, sein Geschlecht zu beweisen, da er rein körperlich als Mann eingeschätzt werden würde. Deshalb ist es ihm auch nicht möglich, sich grundlegend zu verändern, denn diese Veränderung ginge ja gerade in Richtung Männlichkeit, die er aber nicht repräsentieren möchte. Es ist schwierig, sich aus den gesellschaftlichen Vorgaben und Regeln zu lösen. Valentín auf der anderen Seite besitzt eine sozial konforme Geschlechtsidentität, die nur oberflächlich durch seine Ideologie beeinflusst wird. Er ist sich der Tatsache gar nicht bewusst, dass die Geschlechter von der Gesellschaft erschaffen werden. Diese Erkenntnis kommt ihm erst durch die Begegnung mit Molina. Durch sein politisches Engagement und seine Distanz zur herrschenden Gesellschaft ist es ihm nun auch möglich, Geschlecht im Rahmen des gesellschaftlichen Machtdiskurses zu sehen. Zwar hat er sich bereits zuvor für die Geschlechtergleichheit ausgesprochen, diese Forderung aber nie kritisch und intellektuell betrachtet, was er nun tut. Valentín revidiert sein eigenes Verhalten, löst sich aber auch von Vorurteilen gegenüber der Homosexualität und des Mannes als überlegenem Part. Er verkörpert die Möglichkeit einer anderen Existenz, ohne sich völlig von seiner Identität zu lösen. Er zeigt einen Weg, beschreitet ihn jedoch nicht selbst. 52 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Anhang Erklärung Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe und ohne Verwendung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe, dass ich sämtliche verwendeten Quellen erwähnt und gemäss gängigen wissenschaftlichen Zitierregeln korrekt zitiert habe, dass ich ohne schriftliche Zustimmung des Rektors keine Kopien dieser Arbeit an Dritte aushändigen werde, ausgenommen nach Abschluss des Verfahrens an Studienkollegen und – kolleginnen oder an Personen, die mir wesentliche Informationen für die Bachelor-Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Interview mit Dr. phil. Katrin Meyer St. Gallen, 25.1.2005 Katrin Meyer, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Germanistik und Kirchengeschichte und ist seit April 2001 Assistentin und Lehrbeauftragte für Philosophie an der Universität St. Gallen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Poststrukturalismus, Geschichtsphilosophie und feministische Theorie. („Fachbereich Philosophie – Personal – Dr. Katrin Meyer“) Was ist das Hauptanliegen der Ansätze von Gleichheit und Differenz in den (neueren) Geschlechtertheorien? Gleichheit und Differenz sind wichtige Schlagworte. Sie bezeichnen verschiedene Positionen im Feminismus bzw. in den Geschlechtertheorien. Es gibt eine Richtung des Feminismus, der die Gleichheit favorisiert, und sich damit befasst, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden und gleiche Rechte und Chancen haben. Der Differenzansatz sagt, Männer und Frauen sind nicht gleich und man muss sie deshalb in ihrer Besonderheit berücksichtigen. Diese Form von Problembewusstsein, d.h. die Gegenüberstellung der beiden Ansätze, ist meiner Meinung nach schief, weil dabei die Unterscheidung von formaler und materieller Gleichheit verwischt wird. Auch 53 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ der Feminismus, dem es um die Anerkennung von Differenz geht, besitzt natürlich eine Idee von formaler Gleichheit, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleiche Rechte haben sollen. Die Gegenüberstellung von Gleichheit und Differenz muss also nicht ein Gegensatz sein. Das Differenzdenken wehrt sich gegen die materielle Gleichheit, indem es auf die Bedeutung der Differenz für die Anerkennung des Einzelnen aufmerksam macht. Meiner Meinung nach ist die Anerkennung von Differenz in diesem Sinne unverzichtbar. Es ist in der aktuellen Diskussion nicht mehr möglich, eine materielle Gleichheit von Menschen zu behaupten, sei es interkulturell, zwischengeschlechtlich oder in anderen Dimensionen. Heute ist die Herausforderung die, die Differenz anzuerkennen und trotzdem die formale Gleichheit zu respektieren. Beide müssen in ein Verhältnis gebracht werden. Das ist die Perspektive für einen aktuellen Feminismus. In welchem Verhältnis stehen Biologismus und Konstruktivismus in der Geschlechtertheorie? Diese Unterscheidung ist eine der wichtigsten in der feministischen Theorie. Die Differenzierung von sex und gender, die eine der tragenden Begrifflichkeiten ist, reflektiert auf sie zurück. In diesem Sinne sind alle oder zumindest die meisten sozialwissenschaftlichen Geschlechtertheorien konstruktivistisch. Sobald sie mit dem Begriff gender, dem sozialen Geschlecht, arbeiten, arbeiten sie konstruktivistisch. Diese Ansätze einer konstruierten Geschlechtsidentität stehen biologistischen Erklärungen, die die Existenz einer natürlichen Determination von Geschlechtsidentität stützen, kritisch gegenüber. Man könnte nun argumentieren, dass es vielleicht, wie es die Unterscheidung von sex und gender zeigt, Restbestände von biologistischen Denkansätzen gibt, die auch in konstruktivistischen Theorien notwendig sind. Diese beziehen sich auf die Körperlichkeit des Menschen, auf die sexuellen Unterschiede im Biologischen. Das Zurückgreifen auf biologistische Erklärungen zum Verständnis der körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern beinhaltet jedoch die Gefahr, dass man damit das Tor für einen Biologismus öffnet, der auch auf das Feld des Handelns übergreift. Erklären wir unser Verhalten mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns, so greifen wir nicht auf soziale Konstruktionen zurück, sondern auf chemische Prozesse und genetische Ausstattung. Das wäre heute die (neuro-)biologistische Antwort auf den Konstruktivismus. Diese Auseinandersetzung zwischen Konstruktivismus und Biologismus finden Sie nicht nur in den Geschlechtertheorien, sondern ganz allgemein zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. Judith Butler würde sagen, wir brauchen überhaupt keinen Biologismus. Jene, die noch mit dem Begriff sex operieren, würden sagen, wir haben noch einen kleinen biologistischen Ansatz nötig. Die Naturwissenschaft würde sagen, wir brauchen den Konstruktivismus nicht, wir können alle Phänomene neurobiologisch erklären. Ich persönlich glaube, dass es ein Spannungsverhältnis gibt und dass man den Biologismus nicht einfach wegdenken kann. Die Antwort liegt jedoch nicht darin, dass wir den Menschen biologisch zu analysieren versuchen, sondern darin, dass wir die Biologie selbst als Teil von Konstruktionsverfahren verstehen. Der Konstruktivismus ist viel versprechender. 54 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Wie ist das Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Dekonstruktion? Was ist ihr Hauptanliegen? Der Konstruktivismus ist historisch gesehen die frühere Position. Wir können ihn letztlich ab Simone de Beauvoirs These aus den 50er Jahren „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht.“ ansetzen. Die Dekonstruktion ist eine kritische Antwort auf den Konstruktivismus, aber nicht im Sinne des Biologismus, dass man sagt, wir gehen aus diesem Ansatz heraus und wählen eine ganz andere Methodik. Der Dekonstruktivismus bleibt Teil des Konstruktivismus, reflektiert ihn aber noch einmal auf seine Grenzen hin. Dieses Verhältnis können Sie sehr gut am Begriff DeKonstruktivismus sehen. Dekonstruktion ist nicht Destruktion, das wäre der reine Gegensatz. Konstruktion – Destruktion. Der Begriff Dekonstruktion ist eine philosophische Neuschöpfung und stammt von Martin Heidegger und Jacques Derrida. Er bezeichnet ein Verhältnis, in dem sich die Theorie bewusst wird, dass sie einerseits etwas hinterfragt und kritisiert, andererseits aber gleichzeitig Teil desselben bleibt. Es geht nicht darum, etwas zu destruieren, sondern in der Konstruktion zu zeigen, dass es, sobald man etwas konstruiert, zugleich auch etwas zu dekonstruieren gibt. Dies kann ich vielleicht an einem Beispiel deutlich machen. In der Geschlechtertheorie ist es insbesondere Judith Butler, die diese Position vertritt. Ihr Beispiel, an dem sie die Dekonstruktion vollzieht, ist das Verhältnis von Geschlecht und Sexualität oder Begehren. Sie zeigt, dass die Konstruktion von Geschlecht als Mann oder Frau jeweils auch etwas ausschliesst, die Unterscheidung von Homosexualität und Heterosexualität. Dies ist eine andere Art der Unterscheidung. Es gibt kein übergreifendes Verhältnis im Sinne „zuerst, als Allgemeines, die Geschlechterdifferenz und dann, als Besonderes, die Differenz in der Sexualität“, sondern die Geschlechterdifferenz ist, so wie sie gedacht wird, immer schon heterosexuell. Mann und Frau sind eigentlich heterosexuelle Konzepte. Wenn man „Frau“ sagt, ist das Begehren ein Teil dieser Konstruktion, die Sexualität ist ein Teil dieser Konstruktion. Gleichzeitig wird sie aber konzeptionell ausgeschlossen. Dies ist dann Einschluss und Ausschluss zugleich. Genauso verhält es sich mit der Homosexualität, sagt Judith Butler. Diese ist etwas, das gar nicht benennbar ist. Damit man überhaupt von Frauen und Männern sprechen konnte, wurde die Homosexualität ausgegrenzt. Die Dekonstruktion zeigt diesen Ausschluss, bleibt aber in dieser Terminologie. Wir können nicht wirklich darauf verzichten, von Männern und Frauen zu reden. Es ist eine soziale Konstruktion. Welchen Einfluss hatten der Feminismus und die Frauenbewegung auf die gesellschaftliche Stellung und das Selbstverständnis Homosexueller? Die homosexuelle Emanzipation im 20. Jahrhundert hängt sehr stark mit der Änderung der Gesetzgebung zusammen, namentlich mit der Aufhebung der Sodomitenartikel. In einigen Ländern, wie Jamaika, gibt es sie nach wie vor, in der Schweiz existiert jedoch nur noch der Jugendschutzparagraph. Selbstverständlich gibt es einen wechselseitigen Einfluss zwischen dem Feminismus und der homosexuellen Emanzipation. Die Theorie formt nicht einfach die Praxis, 55 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ sondern der Aktivismus, die politischen Bewegungen seit den 60er Jahren haben ihrerseits die Theorie mit beeinflusst. Es ist wichtig, dass man diesen Einfluss nicht nur hierarchisch und einseitig betrachtet. Mittlerweile gibt es eine sehr verbreitete Theorie von homosexueller Forschung, die Queer Theory. Sie ist seit den 90er Jahren sehr breit gefächert und insbesondere in den USA verankert. In der Schweiz kommt sie erst langsam an die Unis oder in die politische Meinungsbildung. Auch für die Queer Theory ist Judith Butler wichtig, vor allem im deutschen Sprachraum. Die Queer Theory ist überhaupt sehr stark von lesbischen Frauen mitbestimmt. Im Politischen dagegen liegt das Hauptaugenmerk auf den Schwulen, die eine grössere Diskriminierung erfahren, aber auch grössere Aufmerksamkeit. Worin unterscheiden sich Homo- und Transsexualität? Homosexualität kommt von homoios, griechisch „gleich, die Gleichen, der Gleiche“. Sie meint gleichgeschlechtliches Begehren, also Frauen, die Frauen begehren, oder Männer, die Männer begehren, und sich dabei in ihrer Körperlichkeit entsprechend ihrer offiziellen Geschlechtsbezeichnung wahrnehmen. So sagen lesbische Frauen: „Ich habe einen weiblichen Körper, und ich möchte einen weiblichen Körper haben.“ Transsexualität auf der anderen Seite ist unabhängig vom Begehren und bezieht sich auf das Körper- und Identitätsbewusstsein der Person. Transsexuelle Menschen besitzen eine andere körperliche Geschlechtsidentität als sie gesellschaftlich zugeordnet bekommen. Sie werden z.B. als Männer bezeichnet und fühlen sich in einem weiblichen Körper oder möchten einen weiblichen Körper haben. Sie imaginieren ihn und können versuchen, ihn operativ oder durch Hormone umzuwandeln: Von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann. Transsexualität muss nicht, kann aber eine biologische Basis haben. Die so genannten Zwitter, eine Art androgyne oder geschlechtliche Mischform, kommen mit nichteindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt. Diese werden sodann vereindeutigt, meistens in Richtung weibliche Geschlechtsmerkmale. Dies zeigt wiederum den Konstruktivismus unserer westlichen Gesellschaft, die eine eindeutig zuordenbare Geschlechtsidentität fordert. Indifferenz in Geschlechterfragen ist schlicht unmöglich. Man kann heimatlos sein, staatenlos, aber das Geschlecht sollte nicht unbestimmt sein. Es muss eindeutig sein und von Anfang an klar. Hier versucht die Transsexualitätsbewegung, politischen Druck zu machen. Sie plädiert für das Recht, das eigene Geschlecht ändern zu können. Mittlerweile ist es möglich, sein Geschlecht offiziell zu ändern, sofern man genügend medizinisch-psychiatrische Beweise vorlegt. Angestrebt wird möglicherweise auch das Recht, eine geschlechtliche Indifferenz stehen zu lassen und Neugeborene nicht operativ auf ein Geschlecht festzulegen. Dies alles hat nichts mit Homosexualität zu tun. Sie können einen männlichen Körper haben, sich aber körperlich als Frau fühlen und auch das Bedürfnis haben, als Frau begehrt zu werden. Dann sind sie definitionsgemäss nicht homosexuell, weil das Begehren aufgrund der eigenen Imagination heterosexuell ist. Sie ändern Ihren Körper, aber Ihr Begehren ist eigentlich heterosexuell. Darum kann es letztlich auch zu einer Spannung zwischen dem Feminismus und der Transsexualitätsbewegung kommen, weil transsexuelle Personen oft sehr rigide, 56 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ konventionelle Vorstellungen von Mann und Frau haben. Männer, die denken, sie haben einen weiblichen Körper und ein weibliches Begehren, versuchen dies oft in einer Art und Weise zu realisieren, die von Frauen, die das Gefühl haben, sie haben einen weiblichen Körper und auch gesellschaftlich so eingeordnet werden, zu durchbrechen gesucht wird. Trotzdem ist die Transsexualität für die feministische Theorie wichtig, weil sie ein Argument gegen den Biologismus darstellt. Auf der anderen Seite könnte man sie auch als Argument gegen den Konstruktivismus ansehen: Wenn Kinder doch ihren Körpern entsprechend in ihrer Geschlechtsidentität sozialisiert werden, woher kommt dann dieser Wunsch, einen anderen Körper zu haben? Dies müsste man vielleicht mit der Psychoanalyse untersuchen. Es ist eben nicht alles nur biologistisch, genetisch definiert und vielleicht auch nicht alles nur sozial konstruiert. Vielleicht existiert noch eine Psyche? Welchen Stellenwert/ Einfluss besitzt die Psychoanalyse heute in den Geschlechtertheorien? Ihr Stellenwert ist teilweise sehr gross. Dies hängt jedoch sehr von der jeweiligen Theorie ab. Es gibt viele Theorien, wie Gesellschaftstheorien, politische oder Geschichtstheorien, die brauchen keine Psychoanalyse und kommen sehr gut ohne sie zurecht, weil sie ganz andere Fragen behandeln. Aber die Psychoanalyse ist dort wichtig, wo es um das Subjekt geht, vor allem in philosophischen Zusammenhängen aber auch in sprachwissenschaftlichen. Hier liegt das Interesse darauf, was ein Subjekt konstituiert, was die Identität konstituiert. Was heisst eigentlich Geschlechtsidentität, wie verstehen wir, was ein Mensch ist? Was definiert ein Geschlecht? Für diese eher grundlegenden Fragen ist die Psychoanalyse sehr interessant. Freud selbst wird heute z.B. von sehr vielen Feministinnen rezipiert und kritisch gelesen, so z.B. Luce Irrigaray. Heute wird auch sehr viel mit Jacques Lacan gearbeitet, weil er erklärt, welche Rolle die Sprache für die Ausbildung der Identität besitzt. Auch das Verhältnis zum Begehren, die Logik des Begehrens werden thematisiert. Julia Kristeva, eine psychoanalytische, philosophische Sprachtheoretikerin, ist stark von Lacan beeinflusst und auch Judith Butler arbeitet, wenn auch kritisch, mit Freud und Lacan. Gibt es spezifisch „weibliche“ bzw. „männliche“ Sprachstile? Es gibt sehr viele soziolinguistische Analysen, die die menschlichen Sprachstile analysieren. Dazu gehören zum Beispiel die Analysen politischer Diskussionen im Hinblick auf Rededauer, Aggressivität usw., die vor allem in den 1980er Jahren von feministischen Sprachwissenschafterinnen durchgeführt wurden. Hierbei liegt das Problem immer in der Frage der Verallgemeinerbarkeit oder auch dem Einfluss anderer Variablen wie dem sozialen Status, dem Grad der Ausbildung usw. Dies führt zu einer kritischen Hinterfragung der groben Begriffe von “männlichen“ und „weiblichen“ Sprachstilen. Was mir persönlich aber trotzdem eingeleuchtet hat und was ich auch oft empirisch bestätigt finde, das ist die These, dass der weibliche Sprachstil oft darin besteht, die Situation mit zu thematisieren. Das Verhältnis zwischen denen, die miteinander 57 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ sprechen, wird somit Teil der Unterhaltung. Die Sprache hat immer zwei Ebenen: Zum einen die Ebene, in der man eine Information weitergibt, die sachliche Ebene. Dies kann auch ein Gefühl sein, das man ausdrückt, aber in dem Moment, wo man es expliziert, gehört es zur Sachebene. Zum anderen die Ebene, die nicht den Gesprächsgegenstand, sondern die Handlungskonstellation zum Inhalt hat. Offenbar ist es oft so, dass Frauen diese Kommunikationssituation anders herstellen, anders um sie besorgt sind. Dies drückt sich vor allem in einer einleitenden Vorbereitung aus. Man versucht zuerst, auf eine zwischenmenschliche Ebene zu kommen, wo das, was man sagt, nicht so wichtig ist wie die Tatsache, dass man zur Kenntnis nimmt, dass die andere Person hier ist. Sind Sie gut angekommen, stimmt die Stimmung hier, sitzen Sie gut? Dies muss nicht ausgesprochen werden. Es gibt eine Taktik, sich dessen zu versichern, dass man miteinander kommunizieren kann, oder auch die andere Person geneigt zu stimmen usw. Es wird versucht, die Situation so zu organisieren, dass Kommunikation überhaupt möglich ist und dass Sie das sagen können, was Sie wollen. Dies ist offenbar bei Männern weniger der Fall. Sie gehen direkter auf die Sache zu. Man muss sich nicht vorher vergewissern, wo die andere Person ist. Dies wird sich dann vielleicht auch zeigen. Wie die beiden Stile bewertet werden ist eine Frage der Kriterien. Beim „weiblichen“ braucht man vielleicht länger und kommt weniger schnell auf den Punkt, aber die Kommunikationssituation kann natürlich auch stabiler sein. Vielen Dank für das Gespräch! 58 Geschlechterkonstruktion in „El beso de la mujer araña“ Literaturverzeichnis • Amícola, José y Manfred Engelbert. “Fragmento del Seminario con Manuel Puig en Göttingen. Encuentro del 29 de mayo de 1981.“ 1992. Manuel Puig: El beso de la mujer araña – Edición crítica. Colección archivos, 42. Coordinadores José Amícola y Jorge Panesi. 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