Preuschen, Karl A. (1987) (62,7 KiB)
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Karl A. Preuschen Didaktische Probleme der kommunikativen Grammatik. Zum Unterrichtspraktischen Ort des Sprichworts Series B: Applied and Interdisciplinary Papers ISSN 1435-6481 Essen: LAUD 1987 (2nd ed. with divergent page numbering 2009) Paper No. 161 Universität Duisburg-Essen Karl A. Preuschen Didaktische Probleme der kommunikativen Grammatik. Zum Unterrichtspraktischen Ort des Sprichworts Copyright by the author 1987 (2nd ed. with divergent page numbering 2009) Series B Applied and Interdisciplinary Paper No. 161 Reproduced by LAUD Linguistic Agency University of Duisburg-Essen FB Geisteswissenschaften Universitätsstr. 12 D- 45117 Essen Order LAUD-papers online: http://www.linse.uni-due.de/linse/laud/index.html Or contact: [email protected] Karl A. Preuschen Didaktische Probleme der kommunikativen Grammatik. Zum Unterrichtspraktischen Ort des Sprichworts Seit neusprachlicher Unterricht unter dem didaktischen Prinzip der Einsprachigkeit und des Primats der Mündlichkeit erteilt wird, 1 ist die vis-à-vis-Situation von Lehrer und Schüler(n) die Sozialform des sprachpädagogischen Geschehens (außerhalb des Sprachlabors). Sein Ziel ist die "Begabung" (im Sinne Heinrich Roths) der Schüler mit der Kommunikationsfähigkeit in einer Fremdsprache. Der neusprachliche Unterricht kann (im Unterschied zu dem stärker buchbezogenen altsprachlichen Unterricht) das persönliche Gegenüber umso besser für sein Ziel auswerten, als die vis-à-vis-Situation den Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion darstellt. Aus diesem Grunde lohnt es sich für die Didaktik des neusprachlichen Unterrichts, von wissenssoziologischen Untersuchungen dieser Situation Kenntnis zu nehmen, da sie letztendlich den Schüler zur gesellschaftlichen Interaktion in der fremdsprachigen Alltagswelt des Auslandes anleiten will. Daß dazu mehr als nur sprachliche Kenntnisse und Fähigkeiten gehören (und seien sie noch so verwendungsgerecht gruppiert wie in Leech/Svartriks Communicative Grammar oder gar in den situationsbezogenen Langenscheidts Sprachführern) ist jedem Lehrer aus seiner Erfahrung bekannt. Die Suche nach Hilfsmitteln zur sprachlichen Bewältigung der fremden Wirklichkeit, die zwar eng mit der jeweiligen Landessprache verknüpft ist, sie aber zugleich übersteigt, soll den Gegenstand der vorliegenden Erörterung bilden. Ehe wir aber nach Gesichtspunkten und didaktisierbaren Hilfsmitteln für die Erfassung der kulturspezifischen Eigentümlichkeiten der jeweils dem Schüler nahezubringenden fremden Umwelt fragen, erscheint es uns notwendig, die grundsätzlichen Einsichten in die gesellschaftliche Konstruktion der Alltagswelt (wenigstens der europäischen oder von Europa geprägten Alltagswelt) zu vergegenwärtigen und auf ihre Nutzbarmachung für den Unterricht zu befragen, die beispielsweise Peter Berger und Thomas Luckmann (aus der Erfahrung deutscher Soziologen in den Vereinigten Staaten entstanden) als theoretische Grundlegung erarbeitet haben. 2 In gegenstandsbezogener Betrachtung der sozialen Wirklichkeit, wie sie der Soziologie angemessen ist, charakterisieren die genannten Autoren den Modellfall gesellschaftlicher Interaktion so: "Als vis-à-vis habe ich den Anderen in lebendiger Gegenwart, an der er und ich teilhaben... solange die Situation andauert. Ein ständiger Austausch von Ausdruck findet statt." Dabei kann, so müssen wir für unser Aufgabengebiet 1 2 s. u. a. Lorenzen, Käte, Englischunterricht, Bad Heilbrunn, 1971, u. ö. Berger, Peter und Thomas Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. dt. Ausg. Frankfurt/Main 1969, insbes. S. 31ff. 1 ergänzen, schon auf der Ebene gegenseitiger mimischer Anregung durch unterschiedliche Erziehung die Bereitschaft zum Eingehen auf das reziproke Minenspiel zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen (in unserem Falle etwa zwischen einem englische native Speaker und seinem deutschen Schüler) unterschiedlich groß sein, ja auf einer Seite verweigert oder zumindest in ihrem Ausdrucksgehalt mißverstanden werden, denn das Verstehen von Ausdrucksbewegungen setzt deren Sinnhaftigkeit voraus. Das Wesen der Verständigung, erfolge sie nun auf der Ebene der Mimik und Gebärdensprache, oder in gesteigertem Maße auf der Ebene artikulierter Wortsprache, ist Sinnerfassung. Wie aber Verständigung zwischen Individuen praktisch möglich ist, sei am Beispiel der Einführung eines für mindestens einen Teilnehmer der Situation fremden Sprachmaterials durch einen anderen in der bisher eingehaltenen objektivierenden Einstellung einer Situationsbeschreibung gezeigt, für die das innere Geschehen des Sprachverstehens nach dem Muster der Erzeugung sinntransportiernder Schallwellen erscheint. Das Sinnverstehen selbst bleibt jedoch, solange man sich zu seiner 'Erklärung' des Bildes vom Transport von abgrenzbaren Einheiten zwischen zwei isolierten Personen ("Sender" und "Empfänger") bedient, unbegreiflich, denn es setzt in vergröbernder Weise voraus, was es erklären soll. Es bedarf hier vielmehr einer Wendung des Denkens von den beobachteten Vorgängen auf sich selbst. Erst "in der Einstellung der Reflexion seiner selbst zeigt sich dem Denken, daß Verständigung nicht ein nur dort [scil, beim Lehrer] Vorhandenes nach hier [scil. zum Schüler] weiter befördert, sondern es ereignet sich ein Bewußtwerden und Ergreifen eines Etwas, das hier sowohl wie dort potentiell vorhanden war und gleichsam nur der Erweckung harrte". 3 Sinnerfassen ist nicht als Ergreifen eines Mittels durch Individuen in ihrer Vereinzelung angemessen zu verstehen, denn: "Der hat nicht Sinn, verwendet nicht Sinn, sondern lebt im Sinn. Und diese seine Lebensluft bildet zugleich die Sphäre der Gemeinsamkeit, die nicht von der Einzelexistenz her erst geschaffen zu werden braucht, weil sie allem besonderen Dasein voraufliegt... Und was immer er im Leben und Leiden von dieser Gemeinsamkeit wahrhaft erfahren mag, das ist nicht das 'Werk' seiner isolierten Schöpferkraft, sondern nur eine durch seine faktische Situation und Leistungsmöglichkeit bestimmte Auswahl aus der Unendlichkeit des ihm potentiell Erschlossenen". 4 Illustrierbar ist dieses Prinzip der Auswahl für den Sprachdidaktiker am Beispiel der Auswahl der ganz wenigen Phänomene, die eine Sprachgemeinschaft aus der Fülle der dem Menschen anatomisch und physiologisch möglichen Unendlichkeit akustischer Hervorbringungen trifft. Wenden wir die Richtung unseres Denkens nunmehr auf die gesellschaftliche Funktion der Sprache, so ist es für unsere Zielsetzung zunächst wesentlich festzustellen; der bedeutsame Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und anderen Zeichensystemen besteht in ihrer Ablösbarkeit von der jeweiligen Vis-à-vis-Situation ihrer Verwendung. Nur weil Sprache Sinn, Bedeutung und Meinung vermitteln kann, die nicht direkter Ausdruck 3 4 Litt, Theodor, Einleitung in die Philosophie, Lpzg. 11933, S. 99. ders. a. a. O. S. 105. 2 des Subjekts hier und jetzt sind, kann sie auch außerhalb der Sprachgemeinschaft, deren Muttersprache sie ist, als Fremdsprache gelehrt werden. Weil ich in ihr Unzähliges sprechen kann, "was in der Vis-à-vis-Situation gar nicht zugegen ist, auch von etwas, was ich nie erlebt habe oder erleben werde",5 kann Sprache u. a. auch zum Medium der Täuschung wie auch der ästhetischen Fiktion, zur Vergegenwärtigung von Vergangenem und Projektion in die Zukunft, aber auch zur Grundlage des pädagogischen Bezugs werden, d.h. des persönlichen Verhältnisses zwischen Erziehern und den ihnen anvertrauten Kindern.6 Dank ihrer Ablösbarkeit von der jeweiligen Verwendungssituation ist die Sprache auch "der Speicher angehäufter Erfahrungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln". 7 Davon profitiert der Fremdsprachenunterricht gleichsam parasitär, sofern er sich die Aufgabe bewußt macht, daß er mit dem fremden Sprachschatz zugleich aus fremden Erfahrungen gewonnene Einsichten und Einstellungen vermitteln kann, indem er ihre Kenntnis über die ursprüngliche Sprachgemeinschaft hinausträgt, in der Hoffnung, den geistigen Horizont und evtl. auch die praktischen Lebenschancen seiner Schüler zu erweitern. So trägt jede Sprache, die in größerem Umfang als Fremdsprache gelehrt wird, zur geistigen Bereicherung der Menschheit bei. Daß die Sprache die Kraft hat, das "Hier und Jetzt" zu transzendieren, ist auch die grundlegende Voraussetzung dafür, daß der Schüler von der Teilnahme an diesem Unterricht einen Gewinn an Verständigungsmöglichkeiten auch außerhalb der Schule erwarten kann, obgleich jede Sprache ihren Ursprung in der Alltagswelt der jeweiligen Sprachgemeinschaft hat und sich primär auf diese bezieht. Nun wird die "erlebte Alltagswelt von pragmatischen Motiven bestimmt, jenem Bündel von Bedeutungen, das direkt zu gegenwärtigen und zukünftigen Tätigkeiten gehört".8 Sie können daher nur angemessen erfahren werden, wenn die bloße Sprachkenntnis ergänzt wird durch eine wenigstens rudimentäre Kenntnis der Formen des Zusammenlebens des Volkes, dessen Sprache ich als Fremdsprache lerne. Nun speichert jede Sprache in ihrem Bestand an semantischen Einheiten die Erfahrungen der Sprachgemeinschaft. 9 Ihr Alltagswissen schließt als wesentlichen Bestandteil dieser Erfahrungen das Wissen um die Relevanzstrukturen der betreffenden Gesellschaft (s. Berger/Luckmann S. 47) und die teils bewußte, teils unbewußte Befolgung des üblichen Sprachverhaltens ein. Da jede Sprache nicht nur, wie Berger/Luckmann meinen, in ihren semantischen Einheiten sondern auch in ihrem Formbestand und ihren syntaktischen Strukturen Schemata für die Objektivationen meiner Erfahrungen bereit hält, "mittels derer sie nicht nur für mich, sondern prinzipiell für alle Mitglieder der jeweiligen Sprachgemeinschaft Sinn haben können, macht sie meine 5 6 7 8 9 Berger/Luckmann, a. a. O. S. 39. Lit. zum Thema Sprache und Erziehung, s. u. a. Loch, Werner, Artikel "Die Sprache" in Speck, Josef und Gerhard Uehle, Handbuch pädagogischer Grundbegriffe, Bd. II S. 481-528, Mü. 1970. s. o. Anm. 5 Berger/Luckmann, a. a. O. S. 40. Aufschlußreiche Spezialstudien bietet u. a. die Reihe Europäische Schlüsselwörter (hrsg. v. Leo Weisgerber f. d. Sprachwissenschaftliche Kolloquium Bonn) München 1963 ff. 3 Erfahrungen mitteilbar, allerdings um den Preis einer Typisierung und Entpersönlichung. So subsumiert die Sprache spezielle Erlebnisse ständig unter allgemeine Sinnordnungen, die objektiv und subjektiv wirklich sind".10 So ist die Sprache an der Erzeugung eines potentiell gemeinsamen Wissensvorrats aller Sprachgenossen beteiligt und schafft dem sie erlernenden Ausländer Zugang zu ihm. Das Alltagsweltwissen des einzelnen Mitgliedes einer Sprachgemeinschaft ist nun, zumindest in seinen für sein Leben zentralen Bereichen, nicht chaotisch sondern "nach Relevanzen gegliedert...". 11 Die Grundstruktur der Relevanz in der Alltagswelt liefert mir der gesellschaftliche Wissensvorrat als Fertigware... Schließlich und endlich hat auch der gesellschaftliche Wissensvorrat als Ganzes seine eigene Relevanzstruktur. So ist es etwa im Sinn des gesellschaftlichen Wissensvorrats der amerikanischen Gesellschaft belanglos, ob jemand die Bewegungen der Gestirne verfolgt, um die der Börse vorauszusagen. Aber man untersucht den Zungenschlag einer Person, um etwas über ihr Liebesleben zu erfahren. In anderen Gesellschaften kann dagegen Astrologie für Volkswirtschaft höchst relevant und Sprachanalyse für Erotik völlig irrelevant sein. 12 Daher darf der Sprachdidaktiker mit Aussicht auf einigen Erfolg erwarten, daß ihm die Auffindung gesellschaftlicher Relevanzstrukturen, neben den Sprachstrukturen auch Grundformen und -weisen des Zusammenlebens der native Speakers in ihrer Heimat den Schülern wenigstens in ausgewählten Beispielen nahezubringen. Dabei wird es sich um solche Relevanzstrukturen handeln müssen, die über die für das Leben in westlichen Industriegesellschaften allgemein zutreffenden, wie sie von Berger und Luckmann vielfach angeführt werden hinausgehen. Für unsere primär sprachdidaktischen Zwecke können u. U. Arbeiten aus dem Gebiet der Soziolinguistik dem Lehrer aufschlußreiche, seine eigenen Auslandserfahrungen erweiternde und korrigierende Informationen liefern. Sofort didaktisierbar erscheinen mir ihre Ergebnisse zur Zeit kaum. Sicherlich ist es interessant, von Labov den eigenen Eindruck bestätigt zu erhalten, daß sich das Sprachverhalten des Verkaufspersonals New Yorker Warenhäuser in einer dem Sozialprestige und der sozialen Herkunft ihrer Käuferschichten korrespondierenden Weise voneinander unterscheidet. Auch die Kenntnisnahme von Regeln für rituelle Beschimpfungen 13 können einen Lehrer interessieren, wenn nicht gar amüsieren - als Unterrichtsgegenstände empfehlen sie sich ebensowenig wie die für andere Zwecke höchst wertvollen Untersuchungen über das Sprachverhalten von Angeklagten im Strafprozeß. 14 Wenn mit dem Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts nach Peter Doyés' 10 11 12 13 14 Berger/Luckmann, a. a. O. S. 47. ders. a. a. O. S. 47 ders. a. a. O. S. 47 s. Labov, William, Sprache im sozialen Kontext, dt. Ausg., Kronberg 1976. s. Leodolter, Ruth, Interaktion und Stilvariation; Teilaspekte einer explorativen Studie über das Verhalten von Angeklagten vor Gericht, in: Viereck, Wolfgang (Hrsg.), sprachliches Handeln - Soziales Verhalten. München 1976, S. 139-70. 4 vielzitiertem Wort aus alter humanistischer Tradition, immer ein Zweifaches gemeint ist, "eine Sache und die diese Sache bezeichnende Sprache", 15 so genügt die Aneignung des bloßen Sprachmaterials alleine noch nicht, auch wenn es, wie in der "Commünicative Grammar angeordnet ist. Ebensowenig hilft die bloße Belehrung über Tischsitten 16 und andere Gewohnheiten des Alltagslebens als Redethemen im Unterricht. Der Zweck der Sprache im Alltag, auf deren Beherrschung der Englischunterricht der Haupt- und Realschule weitgehend abzielt, in jedem Lande unter den Einheimischen "die Verständigung mit den Traditionsverwandten über die materielle Umwelt [ist], deren Menschen und Mitmenschen zur Aufrechterhaltung ihres eigenen Daseins und ihres Menschseins bedürfen" 17 , die die genetisch erste erlebte Welt der Altersgenossen unserer Schüler ist. 18 Daher benötigen wir nicht nur die Kenntnisse über die sozialen und naturgegebenen Strukturen des Lebensraumes des anderen Volkes, wobei offensichtlich die soziale Schichtung innerhalb der englischsprachigen Völker nicht unberücksichtigt bleiben darf, 19 im Unterschied zu den in unseren Lehrwerken allein vorgestellten wohlhabenden Eigenheim und Auto besitzenden Mittelstandsfamilien. Knüpfen wir an die Heimannsche Trias Wissen, Können, Haltungen, die Doyé in die Didaktik des Englischunterrichts eingeführt hat, an, so bedarf der Begriff der Haltungen einer für den Fremdsprachenunterricht spezifischen Differenzierung. Es kann sich hier nicht allein um die vielberufene Erziehung unserer Schüler zur Haltung der Weltoffenheit und Toleranz (nach dem Zweiten Weltkrieg, z. Zt. der Entstehung der neueren Didaktik des Englischunterrichts an Haupt- und Realschulen spezifische Tugenden eines geschlagenen Volkes in einem besetzten Land?) sondern es muß zugleich um eine Einsicht in die Haltung der Mitglieder des anderen Volkes zu ihren Mitmenschen zu ihrer eigenen Lebenswelt und zu Personen anderer Völker (etwa zum ethnischen Minderheitsproblem in Großbritannien) gehen, also um Einstellungen, aus denen heraus sie von ihrer Sprache immer neu variierenden und sie damit zugleich verändernden, Gebrauch machen. Zur situationsgerechten Benutzung einer Sprache im Alltagsleben gehört bekanntlich auch die Beherrschung von idiomatischen Sprachformeln. "Sie müssen nicht nur gelernt 15 zuerst in dessen Aufsatz Didaktische Grundprobleme des neusprachlichen Unterrichts in, Die Deutsche Schule, Heft 2, 1964, S. 87-97. 16 Doyé, a .a. O. S. 93. Zum Begriff der Sitte als Grundbegriff der Volkskunde s. Lutz, Gerhard, Die Sitte, in Zeitschrift für Deutsche Philologie, 77. Band, Heft 4, 1958, S. 337-361. 17 Brepohl, Wilhelm, Die Heimat als Beziehungsfeld, Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat, in der Zeitschrift Soziale Welt, Bd. 4,1952, S. 12-22, Zitat S. 21. 18 Brepohl, a. a. O. S. 17. 19 "Ich beging den schweren Fauxpas, als ich in einer Gesellschaft den Namen Wilde nannte. Das war über ein Jahrzehnt nach seinem Prozeß". schrieb Gustav Hillard (pseud. f. Gustav Steinbömer) in dem Erinnerungsbuch. Herren und Narren der Welt, München 1954, S. 303. - Im Gegensatz zur Prüderie der Oberschicht erscheint der Sinn für den Zusammenhalt der Gleichgestellten, insbes. der Familienangehörigen, "the sense of keeping the house together", von der Angst der Unterschicht vor den Behörden motiviert, die den Fallengelassenen ins Arbeitshaus stecken können. s. dazu Hoggart, Richard, The Uses of Literacy, Harmondsworth 1963, p. 34. 5 werden: mit ihnen muß der pragmatische, i. e. soziale Verwendungskontext gelernt werden, der nicht übertragbar ist, sondern kulturspezifische Kennzeichen aufweist; z.B. Kcokurrenzregeln, die festlegen, in was für Sequenzen sie vorkommen können. So ist beispielsweise nicht in jeder soziokulturellen Gruppe bei gleichen Gelegenheiten die Danksagung am Platz, und auch Entgegnungen auf Danksagungen unterscheiden sich auf charakteristische Weise. Im Deutschen kann man etwa in vielen Danksagungskontexten mit 'Gern geschehen' [im amerikanischen Englisch mit 'You're welcome'] antworten, keinesfalls jedoch in allen". 20 So ist, um ein anderes Beispiel anzuführen, das in der Communicative Grammar von Leech/Svartvik zusammengestellte Material zur Ausformulierung von Zeitangaben und Zeitverhältnissen dem non-native Speaker außerordentlich hilfreich für alle Redeanlässe, die sich auf die physikalische oder die erlebte Zeit beziehen. Aber dieses Material kann keine Angaben über die (womöglich schichtenspezifischen) Konventionen der zeitlichen Gliederung des Zusammenlebens mitteilen (etwa von Lehre des Sprichwortes "Don't overstay your welcome", oder das Einsicht in die Zeitlichkeit unseres Daseins vermittelnde "Time stays for no man; time lost we cannot win", oder das die Zeit als Spanne ökonomischen Handelns "Time is money" oder als Objekt klugen Disponierens deutende "Everything comes to him that waits"). Dem auf die Zeit bezüglichen Sprachmaterial entspricht das bei Leech/Svartvik zur Orientierung im äußeren dreidimensionalen Raum gebotene. Jenseits dieser Zusammenstellung liegt jedoch für den des jeweiligen Landes Unkundigen die Aufgabe, das kulturspezifische räumliche Bezugssystem, das unterschiedliche Verhältnis der Einheimischen zu spezifischen Räumen zu erfassen, etwa die so aufschlußreiche kultur- und schichtenspezifische Ausgestaltung von Wohnräumen, die von der Art der Zwecksetzungen und der Ordnungs- und Wertvorstellungen der Einrichtenden abhängen21 und ihnen daher (selbst)verständlich sind (worauf die neuere Semiotik des Raumes beruht), für den Ausländer aber aufschlußreiche Quellen zum Verständnis des anderen Volkes darstellen. Bei unserer Suche nach didaktisierbaren Äußerungen jener spezifischen Lebenseinstellungen, die aller Sprachpragmatik zugrunde liegen und Aufschluß über die wahrscheinlichsten Anwendungsbereiche ihres Materials geben, sind wir im vorangegangenen Abschnitt auf jene "Texte" minimalen Umfangs gestoßen, die Sprichwörter und Redensarten (proverbs and sayings) genannt werden. 22 Allerdings interessieren uns im Rahmen unserer Aufgabenstellung nicht so sehr die kultur-historischen Auskünfte ihrer Metaphern und Bildfelder oder ihre literarische Form, die die 20 Coulmas, Florian, Rezeptives Sprachverhalten. Eine theoretische Studie über Faktoren des sprachlichen Verstehensprozesses, Hamburg, 1977, S. 213ff. zit. bei Pilz, Klaus Dieter, Phraseologie, Sammlung Metzger, Bd. 198, Stuttgart, 1981, S. 114. 21 s. dazu Dilthey, Wilhelm, Der objektive Geist und das elementare Verstehen, Gesammelte Schriften, Bd. VII., S. 208, sowie Bollnow, Otto-Friedrich, Mensch und Raum, Stuttgart, 1963, bes. S. 203-213. 22 s. u. a. die Auswahlbibliographie von Mathilde Hain, in Der Deutschunterricht Jg. 15, Heft 2, S. 49-50. 6 Sprichwortforschung beschäftigt haben, auch nicht in erster Linie der internationale und zwischensprachliche Vergleich von Äquivalenzen, wie sie etwa bei Reinsberg-Düringsfeld, Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen, 1872-75 gesammelt sind und deren didaktische Verwendungsmöglichkeit Friedrich Schubel erörterte. 23 Unser Interesse am Sprichwort konvergiert vielmehr mit der volkskundlichen Forschung, speziell der Schwietering-Schule, die über die philologische Anschauungsweise hinausgeht, um vor allem nach der "Funktion des Sprichworts im Sprachleben, nach dem tieferen Sinn des Gebrauchs dieser volkstümlichen Kleinform" 24 zu fragen. An diesem methodischen Ansatz zeigt sich, "daß im Sprichwortschatz einer Sozialgruppe die traditionellen Werte und Normen der Sitte und Sittlichkeit in leicht gängiger Münze ausgeprägt vorliegen". 25 Leider gibt es noch keine adäquaten Untersuchungen für den Didaktiker, die nach dieser Methode erarbeitet sind, so daß wir unsere Anregungen mit Hinweisen auf die Gebrauchssituation oder -anlasse aus unserer eigenen Beobachtung bzw. aus dem Wortlaut des jeweiligen Sprichworts fürs erste beschließen müssen. Beginnen wir unseren Überblick über einige Sprichwörter mit einer kleinen Gruppe 26 aus der Oberschicht der Sprachgemeinschaft, gleichsam als Kontrastfolie zur Mehrzahl der darauf folgenden; das durch Bacon berühmt gewordene Manners maketh man besagt, daß die Akzeptierung eines Mannes durch die Gesellschaft die Aneignung der Gesamtheit ihrer kultivierten Verhaltensweisen (und keineswegs Schwertgewandtheit allein oder gar literarische Bildung allein) voraussetzt. Hier gilt Habit is second nature. Daß eine angesehene Stellung in der kultivierten Gesellschaft auch geistige Schulung erfordert, besagt in äußerster Zuspitzung das Sprichwort Better unborn than untaught. In Schwierigkeiten geraten, gilt es To keep up appaerances. Kluge Wahrung der eigenen Position läßt es gerate: erscheinen, daß All truth is not always to be told. Die Stellung des Mannes in der großen Gesellschaft beruht weitgehend auf seiner Beständigkeit, die das ethisch verwerfliche Sprichwort If you tell a lie, stick to it höher stellt als die Forderung der Wahrhaftigkeit (bekanntlich wurde Lord Profumo von seinen Standesgenossen erst fallen gelassen, als er zugab, das Parlament belogen zu haben - erst in zweiter Linie wegen der geleugneten Tatsachen selbst). Ansehen gründet sich in dieser Gesellschaftsschicht nicht nur auf gleiche Gesinnung, Bildung und bewährte Zuverlässigkeit, sie setzt auch einen letzten inneren Abstand vom Mitmenschen, eine abgeschlossene persönliche Sphäre voraus, denn Familiarity breeds contempt. Diesen zumeist erzieherisch gemeinten und in Erziehungs23 24 25 26 Schubel, Friedrich, Methodik des Englischunterrichts, Frankfurt/Main 1958, bes. S. 47-52. Hain, Mathilde, Das Sprichwort, wie oben Anm. 22, S. 22, S. [36]-50, Zitat S. 45. Hain, Mathilde, s. Anm. 24. Die zitierten Beispiele sind folgenden Quellen entnommen, Archer, Proverbia Britannica, Washington University Studies, vol. XI, Humanistic Series No. 2, pp. 409-423, 1924, für die älteren Sprichwörter; die Orthographie wurde der modernen Rechtschreibung angeglichen, mit wenigen charakteristischen Ausnahmen. Die übrigen Sprichwörter wurden dem Bändchen von A. Johnson, Common English Proverbs, London, 31964 entnommen. 7 situationen gebrauchten Sprichwörtern aus der Oberschicht ließen sich noch zahlreiche Ratschläge, etwa aus den Briefen Lord Chesterfields an seinen Sohn, anfügen, auf die wir hier verzichten wollen. Eine von der bisher angeführten Gruppe von Sprichwörtern deutlich verschiedene Lebenseinstellung dokumentieren die dem puritanisch geprägten Mittelstand entstammend, unter denen die klassisch gewordene Formulierung seines Sobrietätsideals, Early to bed and early to rise makes a man healthy, wealthy, and wise schon sehr früh in manchen Lehrwerken angeführt wird. An dieses Sprichwort ließen sich späterhin folgende anschließen, die derselben Mentalität entstammen, wie What is worth doing at all, is worth doing well, Every man for himself and God for all, Honesty is the best policy, Even reckoning maketh long friends, By wisdom peace, by peace plenty, Better be envied than pittied, Beggars should not be choosers , 'An unbidden guest knoweth not where to sit, He that hath an ill name is half hanged, He that hath plenty of good, shall have more: he that hath little, shall have less he that hath right nought right nought shall possess Hold fast when you have it. It is easier to descend than to ascend. Whit is never good till it be bought. Die in den hier angeführten Lehensweisheiten der besitzenden Schicht sich ausdrückende Mentalität ließe sich in dem Satz John Lockes ausgesprochen:"[man] is willing" to join in society with others who are united, or have a mind to unite, for the mutual preservation of their lives, liberties, and estates, which I call by the general name 'property'". (The Second Treatise of Government, eh. IX, § 123). Einem in deutlicher Weise von den soeben zitierten proverbs verschiedenen Lebenskreis, dem der kleinen Leute, der lower middle class, begegnen wir in den folgenden Sprichwörtern: Be it better be it worse, do yee after him that bears the purse, Believe well and have well, It is better to kiss a knave, than to be troubled by him, It is better to be a shrew than a sheep, Many hands make light work, Many kinsfolk, few friends , Many small make a great, Self do, self have, Never pleasure without repentance , Enough is as good as a feast, When thieves fall out, true men come to their goods , Home's homely. Vollends am unteren Ende der sozialen Skala sind Lebenserfahrungen gewonnen, die sich in den letzten, hier folgenden, Sprichwörtern äußern: An ill cook that cannot lick his fingers, Better fed than taught, Hunger maketh hard beans sweet, Hunger is the best sauce, Hungry dogs will eat dirty puddings, Little knoweth the fat sow what the lean doth mean, Where nothing is, a little doth ease. Wenn wir hier bekannte englische Sprichwörter nicht nach ihren formalen Eigenschaften oder nach Bildfeldern ihrer Metaphorik sondern nach der ihnen eingezeichneten sozialen Perspektive gruppiert haben, so haben wir diese Anordnung nicht in erster Linie gewählt, um Stoff für Unterrichtsstunden der Erörterung von Fragen des Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft vorzubereiten, sondern vor allem, um sie als Orientierungshilfen zu empfehlen, mittels derer das in der Communicative Grammar 8 zusammengestellte Material erst situationsgerecht und der Lebenswirklichkeit des anderen Landes gemäß in Sprachübungen und bei Auslandsaufenthalten angewendet werden kann als Markierung des sozialen Kontextes und Erfahrungsschatzes, ohne den nicht einmal auf der schlichten Ebene der Dingwahrnehmung jene Typisierungsverfahren ausgeführt werden könnten, die zum Verstehen der Alltagswelt und zum Eintritt in sprachliche Interaktionssituationen mit den native Speakers erforderlich sind. 27 Darüberhinaus gilt von den Sprichwörtern: "They form part of the verbal background of the English people, a knowledge of whose language is incomplete without some acquaintance with their behaviour and habits of thought". 28 27 Schwarz, Howard, Allgemeine Merkmale, in Weingarten, Elmar (Hrsg.) et al. Ethnomethodologie, Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, stw 71, Frankfurt/Main 21979, S. 327-67, bes. S. 334-341. 28 Johnson, A., Common English Proverbs, London 31965, p. III. Als Beispiel einer strukturalistischen Untersuchung englischer Sprichwörter sei genannt: Norrik, Neal, How Proverbs Mean (mit einer ausführlichen Bibliographie) Den Haag, 1985 9