11.2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97

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11.2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97
Survol de la littérature antique
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XXXIV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
11.2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97
'Quas quia Pygmalion aevum per crimen agentis
(quas = Propoetides: Mädchen auf Zypern, die Venus
verachten; Pygmalion. zyprischer Bildhauer)
245
250
255
260
viderat, offensus vitiis, quae plurima menti
femineae natura dedit, sine coniuge caelebs
vivebat thalamique diu consorte carebat.
interea niveum mira feliciter arte
sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci
nulla potest, operisque sui concepit amorem.
virginis est verae facies, quam vivere credas,
et, si non obstet reverentia, velle moveri:
ars adeo latet arte sua. miratur et haurit
pectore Pygmalion simulati corporis ignes.
saepe manus operi temptantes admovet, an sit
corpus an illud ebur, nec adhuc ebur esse fatetur.
oscula dat reddique putat loquiturque tenetque
et credit tactis digitos insidere membris
et metuit, pressos veniat ne livor in artus,
et modo blanditias adhibet, modo grata puellis
munera fert illi conchas teretesque lapillos
et parvas volucres et flores mille colorum
liliaque pictasque pilas et ab arbore lapsas
Heliadum lacrimas; ornat quoque vestibus artus,
(Heliadum lacrimas: Töchter des Sonnengottes; sie weinten
um ihren Bruder Phaethon, bis sie in Pappeln verwandelt
wurden; ihre Tränen wurden zu Bernstein)
265
dat digitis gemmas, dat longa monilia collo,
aure leves bacae, redimicula pectore pendent:
cuncta decent; nec nuda minus formosa videtur.
conlocat hanc stratis concha Sidonide tinctis
adpellatque tori sociam adclinataque colla
mollibus in plumis, tamquam sensura, reponit.
Miniatur, 15. Jh.
Pygmalion
270
275
280
'Festa dies Veneris tota celeberrima Cypro
venerat, et pandis inductae cornibus aurum
conciderant ictae nivea cervice iuvencae,
turaque fumabant, cum munere functus ad aras
constitit et timide "si, di, dare cuncta potestis,
sit coniunx, opto," non ausus "eburnea virgo"
dicere, Pygmalion "similis mea" dixit "eburnae."
sensit, ut ipsa suis aderat Venus aurea festis,
vota quid illa velint et, amici numinis omen,
flamma ter accensa est apicemque per aera duxit.
ut rediit, simulacra suae petit ille puellae
incumbensque toro dedit oscula: visa tepere est;
Weil Pygmalion sah, wie diese Frauen (= Propoetiden) ihr Leben verbrecherisch zubrachten, blieb er
einsam und ehelos, abgestossen von den Fehlern,
(245) mit denen die Natur das Frauenherz so freigebig beschenkt hat, und schon lange teilte kein
Weib mehr sein Lager. Inzwischen bearbeitete er
mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit schneeweisses Elfenbein, gab ihm eine
Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann,
und verliebte sich in sein eigenes Geschöpf. (250) Es
sieht aus wie ein wirkliches Mädchen! Du möchtest
glauben, sie lebe, wolle sich bewegen – nur die Sittsamkeit halte sie zurück. So vollkommen verbirgt
sich im Kunstwerk die Kunst! Pygmalion steht
bewundernd davor, und gierig trinkt seine Brust das
Feuer in sich hinein, das von dem Scheinbild ausgeht. Oft legt er prüfend die Hände an das Geschöpf, ob es (255) Fleisch und Blut sei oder Elfenbein, und will immer noch nicht wahrhaben, dass es
nur Elfenbein ist. Küsse gibt er und glaubt sie
erwidert; er redet mit dem Bild, er hält es im Arm.
Rührt er es an, so ist ihm, als drückten sich seine
Finger in den Körper ein; ja, er fürchtet, an den
Gliedern, die er presst, möchten blaue Male entstehen. Bald schmeichelt er, bald bringt er (260) Gaben,
wie sie ein Mädchenherz erfreuen: Muscheln, geschliffene Steinchen, kleine Vögel, Blumen in tausenderlei Farben, Lilien, bunte Bälle und Bernstein,
vom Baum getropfte Tränen der Sonnentöchter. er
schmückt ihr die Glieder mit Gewändern, die Finger
mit Edelsteinen, den Hals mit langen Ketten. (265)
Am Ohr hängt eine zierliche Perle, an der Brust ein
Geschmeide. Alles steht ihr, aber auch nackt erscheint sie nicht weniger schön. Er legt sie auf
Decken, die mit sidonischem Purpur gefärbt sind,
nennt sie seine Gemahlin, die sein Lager teilt, und
bettet den geneigten Nacken, als müsse es dieser
spüren, auf weichen Flaum.
(270) Der Feiertag der Venus, den ganz Cypern
festlich begeht, war gekommen. Schon waren die
Opferkühe, deren krumme Hörner Gold überzog, in
den schneeweissen Nacken getroffen, niedergestürzt, und Weihrauch stieg empor: Da trat Pygmalion, nachdem er der heiligen Pflicht genügt hatte,
zum Altar und sprach zaghaft: »Ihr Götter, könnt
ihr alles gewähren, (275) so soll meine Gattin« – er
wagte nicht zu sagen: »das elfenbeinerne Mädchen
sein«; darum sprach er nur: »dem Mädchen aus
Elfenbein gleichen!« Venus, die Goldene, erriet –
war sie doch selbst bei ihrem Fest zugegen –, was
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admovet os iterum, manibus quoque pectora temptat:
temptatum mollescit ebur positoque rigore
subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole
(Hymettos: Berg in Attika; durch Bienenzurcht berühmt)
285
290
295
cera remollescit tractataque pollice multas
flectitur in facies ipsoque fit utilis usu.
dum stupet et dubie gaudet fallique veretur,
rursus amans rursusque manu sua vota retractat.
corpus erat! saliunt temptatae pollice venae.
tum vero Paphius plenissima concipit heros
verba, quibus Veneri grates agat, oraque tandem
ore suo non falsa premit, dataque oscula virgo
sensit et erubuit timidumque ad lumina lumen
attollens pariter cum caelo vidit amantem.
coniugio, quod fecit, adest dea, iamque coactis
cornibus in plenum noviens lunaribus orbem
illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen.
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mit diesem Wunsch gemeint war. Und zum Zeichen, dass die Gottheit ihm hold sei, stieg dreimal
die Flamme züngelnd in die Luft empor. (280) Als er
nach Hause kam, zog es ihn zu seinem Mädchenbild. Er warf sich auf das Lager und küsste sie. Da
war ihm, als sei sie warm. Wieder legt er Mund an
Mund und tastet mit der Hand nach der Brust. Er
tastet noch, da wird das Elfenbein weich, verliert
seine Starreit, weicht zurück und gibt den Fingern
nach, so wie Wachs vom Hymettus (285) an der
Sonne geschmeidig wird, sich unter dem Druck des
Daumens zu tausenderlei Gestalten formen lässt
und in der Hand des Bildners immer bildsamer
wird. Pygmalion staunt. Er traut seiner Freude noch
nicht und fürchtet, er täusche sich. Wieder und wieder prüft der Liebende mit der Hand sein Wunschbild. Fleisch und Blut ist's; mit dem Daumen prüfte
er, wie es in den Adern pocht. (290) Da dankt der
Held von Paphos der Venus mit Worten, die aus
vollstem Herzen strömen, und presst den Mund
endlich auf wirkliche Lippen.
Das Mädchen hat den Kuss empfunden, sie ist
errötet! Jetzt hebt sie scheu zu seinem Auge ihr
Auge empor – und zugleich mit dem Himmel erblickt sie den Mann, der sie liebt. (295) Der Ehe, die
sie gestiftet, steht die Göttin bei. Schon haben sich
die Hörner des Mondes neunmal zur vollen Scheibe
gerundet, da gebiert sie Paphos, nach der die Insel
benannt ist.
(Übersetzung M. v. Albrecht)
Falconet (18. Jh.), Pygmalion und Galateia
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12. Die kaiserzeitliche Prosa : Seneca, Quintilian, Plinius
12. 1. 1. Seneca der Jüngere, De vita beata 2
Cum de beata vita agetur, non est quod mihi illud
discessionum more respondeas: 'haec pars maior esse
videtur.' Ideo enim peior est. Non tam bene cum
rebus humanis agitur ut meliora pluribus placeant:
argumentum pessimi turba est. (2) Quaeramus ergo
quid optimum factu sit, non quid usitatissimum, et
quid nos in possessione felicitatis aeternae constituat,
non quid vulgo, veritatis pessimo interpreti,
probatum sit. Vulgum autem tam chlamydatos quam
coronatos voco; non enim colorem vestium quibus
praetexta sunt corpora aspicio. Oculis de homine non
credo, habeo melius et certius lumen quo a falsis
vera diiudicem: animi bonum animus inveniat. Hic,
si umquam respirare illi et recedere in se vacaverit, o
quam sibi ipse verum tortus a se fatebitur ac dicet:
(3) 'quidquid feci adhuc infectum esse mallem,
quidquid dixi cum recogito, mutis invideo, quidquid
optavi inimicorum execrationem puto, quidquid
timui, di boni, quanto levius fuit quam quod
concupii! Cum multis inimicitias gessi et in gratiam
ex odio, si modo ulla inter malos gratia est, redii:
mihi ipsi nondum amicus sum. Omnem operam dedi
ut me multitudini educerem et aliqua dote notabilem
facerem: quid aliud quam telis me opposui et
malevolentiae quod morderet ostendi? (4) Vides istos
qui eloquentiam laudant, qui opes sequuntur, qui
gratiae adulantur, qui potentiam extollunt? omnes aut
sunt hostes aut, quod in aequo est, esse possunt;
quam magnus mirantium tam magnus invidentium
populus est. Quin potius quaero aliquod usu bonum,
quod sentiam, non quod ostendam? ista quae
spectantur, ad quae consistitur, quae alter alteri
stupens monstrat, foris nitent, introrsus misera sunt.'
Wenn es um das glückliche Leben geht, gibt es
keinen Anlass, dass du mir wie bei Abstimmungen
antwortest: »Diese Gruppe scheint grösser zu sein«;
deswegen ist sie nämlich schlechter. So gut steht es
mit den Problemen des Menschen nicht, dass das
Bessere der Mehrheit gefällt: Beweis für das
Schlechteste ist die Masse. (2) Fragen wir also, was
am besten zu tun sei, nicht was am nützlichsten, und
was uns in den Besitz dauernden Glückes setze,
nicht, was von der Masse, der Wahrheit schechtestem Deuter, gebilligt wird. Masse aber nenne ich
ebenso Menschen im Prunkgewand wie gekrönte
Häupter; nicht die Farbe der Kleidung nämlich, mit
der die Körper verhüllt sind, beachte ich; den Augen
schenke ich, wenn es um einen Menschen geht,
keinen Glauben, ich habe ein besseres und zuverlässigeres – geistiges – Auge, mit dem ich von Falschem das Echte unterscheide; den Wert der Seele
finde die Seele! Wenn sie jemals aufzuatmen und
sich in sich selbst zurückzuziehen Gelegenheit hat,
wie wird sie, sich selber die Wahrheit abringend,
gestehen und sagen: (3) »Was immer ich bisher getan habe, ich wollte lieber, es sollte ungeschehen
sein; wenn ich, was immer ich gesagt habe, bedenke,
beneide ich die zur Sprache nicht fähigen Tiere, was
immer ich gewünscht habe, erachte ich für der
Feinde Verwünschung, was immer ich gefürchtet
habe – gute Götter! –, wieviel besser war es, als was
ich begehrt habe! Mit vielen habe ich in Feindschaft
gelebt, und zu Einvernehmen bin ich auch aus Hass
(wenn überhaupt irgendein Einvernehmen zwischen
schlechten Menschen besteht) zurückgekehrt: Mir
selber bin ich noch kein Freund. Alle Mühe habe ich
mir gegeben, mich von der Menge abzuheben und
durch irgendeinen Vorzug bemerkenswert zu machen
– was habe ich anderes getan, als mich Geschossen
auszusetzen und der Böswilligkeit zu zeigen, wie
sehr sie beissen könne? (4) Siehst du jene, die meine
Redegabe loben, die meinem Reichtum nachjagen,
die um meinen Einfluss schmeicheln, die meine
Macht rühmen? Alle sind sie Feinde, oder, was das
gleiche ist, können es sein: Wie gross die Schar der
Bewunderer, so gross ist die Menge der Neider. Warum suche ich nicht lieber irgendein erprobtes Gut,
das ich empfinden, nicht eines, das ich vorzeigen
kann? Das, was man sieht, wobei man stehenbleibt,
was einer dem anderen staunend zeigt – aussen ist es
voller Glanz, inwendig erbärmlich.«
(Übersetzung Walter Kiessel)
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12. 1. 2. Seneca der Jüngere, Epistulae 41
Seneca Lucilio suo salutem
(1) Facis rem optimam et tibi salutarem si, ut scribis,
perseveras ire ad bonam mentem, quam stultum est
optare cum possis a te inpetrare. Non sunt ad caelum
elevandae manus nec exorandus aedituus ut nos ad
aurem simulacri, quasi magis exaudiri possimus,
admittat: prope est a te deus, tecum est, intus est. (2)
Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet,
malorum bonorumque nostrorum observator et
custos; hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse
tractat. Bonus vero vir sine deo nemo est: an potest
aliquis supra fortunam nisi ab illo adiutus exsurgere?
Ille dat consilia magnifica et erecta. In unoquoque
virorum bonorum
(quis deus incertum est) habitat deus. (Verg. Aen. 8,352)
(3) Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam
altitudinem egressis frequens lucus et conspectum
caeli
<densitate>
ramorum
aliorum
alios
protegentium summovens, illa proceritas silvae et
secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam
densae atque continuae fidem tibi numinis faciet. Si
quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit,
non manu factus, sed naturalibus causis in tantam
laxitatem excavatus, animum tuum quadam
religionis suspicione percutiet. Magnorum fluminum
capita veneramur; subita ex abdito vasti amnis
eruptio aras habet; coluntur aquarum calentium
fontes, et stagna quaedam vel opacitas vel immensa
altitudo sacravit. (4) Si hominem videris interritum
periculis, intactum cupiditatibus, inter adversa
felicem, in mediis tempestatibus placidum, ex
superiore loco homines videntem, ex aequo deos,
non subibit te veneratio eius? non dices, 'ista res
maior est altiorque quam ut credi similis huic in quo
est corpusculo possit'? (5) Vis isto divina descendit;
animum excellentem, moderatum, omnia tamquam
minora transeuntem, quidquid timemus optamusque
ridentem, caelestis potentia agitat. Non potest res
tanta sine adminiculo numinis stare; itaque maiore
sui parte illic est unde descendit. Quemadmodum
radii solis contingunt quidem terram sed ibi sunt
unde mittuntur, sic animus magnus ac sacer et in hoc
demissus, ut propius divina nossemus, conversatur
quidem nobiscum sed haeret origini suae; illinc
pendet, illuc spectat ac nititur, nostris tamquam
melior interest. (6) Quis est ergo hic animus? qui
nullo bono nisi suo nitet. Quid enim est stultius quam
Seneca seinem Lucilius Gesundheit
(1) Du tust etwas Vorzügliches und für Dich Heilsames, wenn Du – wie du schreibst – weiterhin
fortschreitest zu sittlicher Vervollkommnung, die zu
wünschen töricht ist, da Du sie von Dir selbst
erlangen kannst. Man braucht nicht die Hände zum
Himmel zu erheben noch den Tempelwächter anzuflehen, dass er uns zum Ohr des Götterbildes vorlasse, als ob wir dann besser erhört werden könnten:
Nahe ist Dir der Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er. (2)
So sage ich, Lucilius: ein heiliger Geist wohnt in
uns, unserer schlechten und guten Taten Beobachter
und Wächter: Wie er von uns behandelt wird, so
behandelt er selber uns. Ein guter Mensch aber ist
niemand ohne den Gott: Oder kann einer über das
Schicksal, wenn nicht von ihm unterstützt, sich erheben? Er gibt Ratschläge, die hochherzig und aufrecht: In jedem guten Menschen – (welcher Gott, ist
ungewiss) wohnt ein Gott.
(3) Wenn Du einen von alten und über die übliche
Grösse hinausgewachsenen Bäumen bestandenen
Hain findest, der den Anblick des Himmels durch die
Dichte einander gegenseitig verdeckender Zweige
verhindert – diese Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes und die Verwunderung über
den in einer offenen Landschaft so dichten und ununterbrochenen Schatten wird in Dir den Glauben an
göttliches Walten wecken. Wenn eine Höhle, tief aus
den Felsen ausgewaschen, den Berg über sich trägt,
nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch
Kräfte der Natur zu solcher Weite ausgehöhlt, wir sie
Deine Seele durch eine Ahnung von Gottesfurcht
erbeben lassen. Bedeutender Flüsse Quellen verehren
wir; das unvermittelte Hervorbrechen eines starken
Stromes aus dem Verborgenen besitzt Altäre; verehrt
werden die Quellen heisser Gewässer, und manche
Seen hat entweder schattiges Dunkel oder unergründliche Tiefe geheiligt. (4) Wenn Du einen Menschen
siehst, unerschrocken angesichts von Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten
in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren
Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die
Götter, wird Dich nicht Ehrfurcht vor ihm ankommen? Wirst Du nicht sagen: » Diese Haltung ist
grösser und erhabener, als dass man sie mit diesem
bedeutungslosen Körper, in dem sie wohnt, für vereinbar halten könnte«? (5) Göttliche Kraft ist in ihn
eingegangen: Die Seele, überragend, massvoll, alles
als gleichsam zu unbedeutend übergehend, was immer wir fürchten und wünschen, belächelnd, belebt
eine himmlische Macht. Eine derartige Seele kann
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in homine aliena laudare? quid eo dementius qui ea
miratur quae ad alium transferri protinus possunt?
Non faciunt meliorem equum aurei freni. Aliter leo
aurata iuba mittitur, dum contractatur et ad
patientiam recipiendi ornamenti cogitur fatigatus,
aliter incultus, integri spiritus: hic scilicet impetu
acer, qualem illum natura esse voluit, speciosus ex
horrido, cuius hic decor est, non sine timore aspici,
praefertur illi languido et bratteato. (7) Nemo gloriari
nisi suo debet. Vitem laudamus si fructu palmites
onerat, si ipsa pondere eorum quae tulit adminicula
deducit: num quis huic illam praeferret vitem cui
aureae uvae, aurea folia dependent? Propria virtus est
in vite fertilitas; in homine quoque id laudandum est
quod ipsius est. Familiam formonsam habet et
domum pulchram, multum serit, multum fenerat:
nihil horum in ipso est sed circa ipsum. (8) Lauda in
illo quod nec eripi potest nec dari, quod proprium
hominis est. Quaeris quid sit? animus et ratio in
animo perfecta. Rationale enim animal est homo;
consummatur itaque bonum eius, si id inplevit cui
nascitur. Quid est autem quod ab illo ratio haec
exigat? rem facillimam, secundum naturam suam
vivere. Sed hanc difficilem facit communis insania:
in vitia alter alterum trudimus. Quomodo autem
revocari ad salutem possunt quos nemo retinet,
populus inpellit? Vale.
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nicht ohne Stütze durch göttliches Walten Bestand
haben: Daher ist sie mit ihrem grössten Teil dort, von
wo sie herabgestiegen. Wie die Sonnenstrahlen die
Erde gewiss berühren, aber dort zu Hause sind, von
wo sie ausgesandt werden, so die Seele, gross, heilig
und hierher herabgesandt, damit wir das Göttliche
näher erkennen: Sie verkehrt zwar mit uns, aber behält den Zusammenhang mit ihrem Ursprung: Von
dort ist sie abhängig, dorthin blickt und strebt sie, an
unseren Dingen hat sie gleichsam als ein höheres
Wesen Anteil. (6) Was ist also diese Seele? Sie hat
Glanz durch kein Gut ausser dem ihr eigenen. Was
nämlich ist törichter, als an einem Menschen nicht zu
ihm Gehöriges zu loben? Was unsinniger als einer,
der das bewundert, was sofort einem anderen übertragen werden kann? Ein Pferd machen goldene
Zügel nicht besser. Anders wird ein Löwe mit vergoldeter Mähne in die Arena geschickt, während er
gestreichelt und, ermüdet, zur Geduld, Schmuck
hinzunehmen, gezwungen wird, anders ein ungepflegter, von unversehrter Wildheit: Dieser freilich,
im Angriff jäh, wie ihn die Natur gewollt hat,
ansehnlich durch seine schreckliche Gestalt, deren
Zierde es ist, nicht ohne Furcht angesehen zu werden, wird jenem verweichlichten und mit Gildflitter
behängten vorgezogen. (7) Niemand darf sich, ausser
des Eigenen, rühmen. Den Weinstock loben wir,
wenn er mit Frucht die Zweige belastet, wenn er
eben die Stützen durch das Gewicht dessen, was er
trägt, niederbiegt: Wird ihm einer jenen Weinstock
vorziehen, von dem goldene Trauben, goldene
Blätter herbhängen? Eigentümlicher Vorzug ist
beim Weinstock Fruchtbarkeit: Auch beim Menschen muss man das loben, was seinem Wesen eigen
ist. Eine ansehnliche Dienerschaft hat er und ein
schönes Haus, viel sät er, viel Geld verleiht er:
Nichts davon ist in ihm, sondern nur um ihn. (8) Lobe an ihm, was weder entrissen noch gegeben
werden kann, was Eigentum des Menschen ist. Du
fragst, was das sei? Die Seele und die Vernunft, in
der Seele zur Reife gekommen. Ein vernunftbegabtes
Wesen ist nämlich der Mensch: Vollendet wird daher
sein Vorzug, wenn er das erfüllt hat, wozu er geboren wird. Was ist es aber, was von ihm diese Vernunft verlangt? Ein sehr leichtes Verhalten, gemäss
der eigenen Natur zu leben. Aber das macht die
allgemeine Unvernunft sehr schwierig: In Fehlverhalten stürzen wir einer den anderen. Wie aber können die wieder zur Rettung geführt werden, welche
niemand zurückhält, welche die Masse verleitet?
Leb' wohl.
(Übersetzung Walter Kiessel)
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12. 2. Quintilian, Institutio oratoria 12,1,1–13
(1) Sit ergo nobis orator quem constituimus is qui a
M. Catone (M. Porcius Cato Censorius (234–149 v. Chr.),
kompormissloser Verfechter altrömischer Sittenstrenge) finitur
vir bonus dicendi peritus, verum, id quod et ille
posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique
vir bonus: id non eo tantum quod, si vis illa dicendi
malitiam instruxerit, nihil sit publicis privatisque
rebus perniciosius eloquentia, nosque ipsi, qui pro
virili parte conferre aliquid ad facultatem dicendi
conati sumus, pessime mereamur de rebus humanis
si latroni comparamus haec arma, non militi. (2)
Quid de nobis loquor? Rerum ipsa natura, in eo quod
praecipue indulsisse homini videtur quoque nos a
ceteris animalibus separasse, non parens sed noverca
fuerit si facultatem dicendi sociam scelerum,
adversam innocentiae, hostem veritatis invenit.
Mutos enim nasci et egere omni ratione satius fuisset
quam providentiae munera in mutuam perniciem
convertere. (3) Longius tendit hoc iudicium meum.
Neque enim tantum id dico, eum qui sit orator virum
bonum esse oportere, sed ne futurum quidem
oratorem nisi virum bonum. Nam certe neque
intellegentiam concesseris iis qui proposita
honestorum ac turpium via peiorem sequi malent,
neque prudentiam, cum in gravissimas frequenter
legum, semper vero malae conscientiae poenas a
semet ipsis inproviso rerum exitu induantur. (4)
Quod si neminem malum esse nisi stultum eundem
non modo a sapientibus dicitur sed vulgo quoque
semper est creditum, certe non fiet umquam stultus
orator. Adde quod ne studio quidem operis
pulcherrimi vacare mens nisi omnibus vitiis libera
potest: primum quod in eodem pectore nullum est
honestorum turpiumque consortium, et cogitare
optima simul ac deterrima non magis est unius animi
quam eiusdem hominis bonum esse ac malum: (5)
tum illa quoque ex causa, quod mentem tantae rei
intentam vacare omnibus aliis, etiam culpa
carentibus, curis oportet. Ita demum enim libera ac
tota, nulla distringente atque alio ducente causa,
spectabit id solum ad quod accingitur.
(1) Für uns soll also der Redner, den wir heranbilden
wollen, von der Art sein, wie ihn Marcus Cato définiert: ›ein Ehrenmann, der reden kann‹ – unbedingt
jedoch das, was in Catos Definition am Anfang steht
und auch seinem Wesen nach das Wichtigere und
Grössere ist: Ein Ehrenmann. Und dies nicht nur
deshalb, weil es, wenn die Redegewalt unseren Redner zum Schlechten ausrüstete, nichts Verderblicheres für die Interessen der Gemeinschaft und des
einzelnen gäbe als die Berdesamkeit, und wir selbst,
die wir, was Menschenkraft vermag, für die Redegabe zu leisten versucht haben, den Interessen der
menschlichen Gesellschaft die schlechtesten Dienste
erwiesen, wenn wir unsere Waffen für einen Räuber
schmiedeten und nicht für einen Soldaten. (2) Doch
warum von uns reden? Würde ja die Natur selbst mit
der Gabe, die sie doch offenbar vor allem dem Menschen verliehen und womit sie uns von den anderen
Lebewesen geschieden hat, nicht als Mutter, sondern
als Stiefmutter gehandelt haben, wenn sie wirklich
die Redegabe als Helfershelferin bei Verbrechen, als
Gegnerin der Unschuld und Feindin der Wahrheit
erfunden hat. Denn stumm geboren zu werden und
alle Vernunft zu entbehren wäre besser gewesen, als
die Gaben der Vorsehung zum Verderben gegeneinanderzukehren. (3) Weiter noch geht, was ich mit
dieser Feststellung meine: Ich sage nämlich nicht
nur, dass, wer ein Redner ist, ein Ehrenmann sein
muss, sondern dass auch nur ein Ehrenmann überhaupt ein Redner werden kann. Denn gewiss würde
man doch Menschen, die, wenn ihnen der Weg zur
Ehre und zur Schande freistünde, den schlechteren
Weg einschlagen wollten, weder Verstand
zuerkennen noch Klugheit, wenn sie so oft gegen die
schwersten strafen der Gesetze, in jedem Fall jedoch
gegen die Folter des schlechten Gewissens sich
einem unabsehbaren Geschick aussetzten. (4) Wenn
aber niemand schlecht sein kann, ohne zugleich
töricht zu sein, wie es nicht nur die Philosophen
lehren, sondern auch immer die Überzeugung des
Volkes war, so wird gewiss niemals ein Tor ein
Redner werden. Hinzu kommt, dass selbst die Hingabe an die herrlichste aller Studienaufgaben nur ein
von allen Lastern freier Geist aufzubringen vermag;
zunächst schon deshalb, weil es in derselben Brust
das Zusammenwirken von Gutem und Schändlichem
nicht gibt und derselbe Geist sowenig gleichzeitig
das Beste und Schlechteste zu ersinnen vermag, wie
derselbe Mensch zugleich gut und schlecht sein
kann; (5) sodann auch aus dem Grunde, weil das
Denken, das auf eine so grosse Aufgabe gerichtet ist,
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(6) Quod si agrorum nimia cura et sollicitior rei
familiaris diligentia et venandi voluptas et dati
spectaculis dies multum studiis auferunt (huic enim
rei perit tempus quodcumque alteri datur), quid
putamus facturas cupiditatem avaritiam invidiam,
quarum inpotentissimae cogitationes somnos etiam
ipsos et illa per quietem visa perturbent? (7) Nihil est
enim tam occupatum, tam multiforme, tot ac tam
variis adfectibus concisum atque laceratum quam
mala mens. Nam et cum insidiatur, spe curis labore
distringitur, et, etiam cum sceleris compos fuit,
sollicitudine, paenitentia, poenarum
omnium
expectatione torquetur. Quis inter haec litteris aut
ulli bonae arti locus? Non hercule magis quam
frugibus in terra sentibus ac rubis occupata. (8) Age,
non ad perferendos studiorum labores necessaria
frugalitas? Quid ergo ex libidine ac luxuria spei?
Non praecipue acuit ad cupiditatem litterarum amor
laudis? Num igitur malis esse laudem curae
putamus? Iam hoc quis non videt, maximam partem
orationis in tractatu aequi bonique consistere?
Dicetne de his secundum debitam rerum dignitatem
malus atque iniquus? (9) Denique, ut maximam
partem quaestionis eximam, demus, id quod nullo
modo fieri potest, idem ingenii studii doctrinae
pessimo atque optimo viro: uter melior dicetur
orator? Nimirum qui homo quoque melior. Non
igitur umquam malus idem homo et perfectus orator.
(10) Non enim perfectum est quicquam quo melius
est aliud. Sed, ne more Socraticorum nobismet ipsi
responsum finxisse videamur, sit aliquis adeo contra
veritatem opstinatus ut audeat dicere eodem ingenio
studio doctrina praeditum nihilo deteriorem futurum
oratorem malum virum quam bonum: convincamus
huius quoque amentiam. (11) Nam hoc certe nemo
dubitabit, omnem orationem id agere ut iudici quae
proposita fuerint vera et honesta videantur. Utrum
igitur hoc facilius bonus vir persuadebit an malus?
Bonus quidem et dicet saepius vera atque honesta.
(12) Sed etiam si quando aliquo ductus officio (quod
accidere, ut mox docebimus, potest) falso haec
adfirmare conabitur, maiore cum fide necesse est
audiatur. At malis hominibus ex contemptu opinionis
et ignorantia recti nonnumquam excidit ipsa
simulatio: inde inmodeste proponunt, sine pudore
adfirmant. (13) Sequitur in iis quae certum est effici
non posse deformis pertinacia et inritus labor: nam
XL
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
von allen, selbst den nicht mit einer Schuldfrage
verbundenen Sorgen frei sein muss. Denn so nur
wird es frei und ausschliesslich, ohne durch irgendeinen Anlass zerstreut und auf anderes abgelenkt zu
werden, nur das Ziel im Auge behalten, dem es
zustrebt. (6) Wenn aber schon zu starke Beschäftigung mit der Gutswirtschaft, nervenaufreibenden
Sorge um den Familienbesitz, Jagdleidenschaft, und
die Hingabe an die Festspielveranstaltungen den
Studien viel Zeit rauben – denn dem Studium geht
die Zeit verloren, die man einer andern Beschäftigung widmet –, was, glauben wir, werden hierin erst
Begehrlichkeit, Habgier und Neid verursachen, die
unsere Gedanken so masslos beschäftigen, dass sie
selbst unsere Schlummerstunden und was uns beim
Ruhen im Traum erscheint, beunruhigen? (7) Denn
es gibt nichts, das so zu schaffen macht, in so vielfältiger Form, so vielen und verschiedenen Gefühlsregungen unser Gemüt zerspaltet und zerreisst wie
schlechte Gedanken. Denn wenn sie auf die Untat
lauern, quälen sie sich mit Hoffnung, Mühe und
Sorgen; und auch wenn die Tat vollbracht ist, peinigt
sie die Unruhe, Reue und die Aussicht auf alle
möglichen Strafen. Wo bleibt hierbei eine Stätte für
wissenschaftliche Muse oder irgendwelche edle
Geistesarbeit ? Doch wahrhaftig nicht mehr als seine
Stätte für Fruchtertrag in einem Boden, der von
Disteln und Dornen starrt. (8) Doch weiter: Bedarf es
nicht, um den Anstrengungen der Studien gewachsen
zu sein, einer schlichten Lebensführung? Was ist
also zu erhoffen bei der Gier nach Wollust und
Lebensgenuss? Ist nicht die Ruhmesliebe ein vorzüglicher Anreiz zur Lust an literarischer Betätigung? Können wir denn also glauben, dass
schlechten Menschen etwas am Ruhme liegt? Sieht
denn weiter nicht Auch ein jeder, dass die Rede zum
grössten Teil in der Behandlung des Billigen und
Guten besteht? Wird aber hierüber der schlecht und
unbillig Denkende so reden, wie er es der Würde
dieser Gegenstände schuldig ist? (9) Schliesslich
wollen wir – um einmal den wichtigsten Teil der
Frage beiseite zu lassen – ein Zugeständnis machen,
das unter keinen Umständen möglich ist, und annehmen, der schlechteste und der beste Mensch besässen
gleichviel Begabung, Lerneifer und Bildung: Wer
von ihnen wird dann als der bessere Redner
bezeichnet werden? Natürlich doch der, der Auch als
Mensch der bessere ist. So wird also niemals ein
schlechter Mensch zugleich ein vollkommener
Redner sein. (10) Denn es kann nichts vollkommen
sein, das durch etwas Besseres übertroffen wird.
Jedoch, damit es nicht so aussieht, als hätten wir, wie
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
sicut in vita, ita in causis quoque spes improbas
habent; frequenter autem accidit ut iis etiam vera
dicentibus fides desit videaturque talis advocatus
malae causae argumentum.
Büste eines Gelehrten oder eines Redners
XLI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
die Sokratiker, uns die Antwort selbst zurechtgemacht, möge jemand so gegen die Wahrheit
verstockt sein, dass er sich zu behaupten erkühnt,
ausgestattet mit der gleichen Begabung, dem
gleichen Lerneifer und der gleichen Bildung werde
ein schlechter Mensch kein geringerer Redner sein
als ein guter, so wollen wir auch einen solchen Menschen seiner Unverstandes überführen. (11) Denn das
wird ja wohl gewiss niemand bezweifeln, dass jede
Rede das Ziel hat, dass dem Richter ihre Ausführungen wahr und anständig erscheinen. Wird nun
davon leichter ein guter Mensch überzeugen oder ein
schlechter? Der gute wird doch öfter Wahres und
Anständiges sprechen. (12) Jedoch, auch wenn er
einmal, durch eine Verpflichtung veranlasst – was,
wie wir bald zeigen werden, geschehen kann – fälschlich diesen Eindruck zu erwecken sucht, so muss
seine Ausführung zwangsläufig mit grösserer Glaubwürdigkeit Gehör finden. Schlechten Menschen
dagegen missglückt bei ihrer Geringschätzung der
geltenden Ansichten und ihrer Unkenntnis des Rechten zuweilen sogar die Verstellung. Dann gehen sie
in ihrem Beweisziel masslos, in ihrer Beweisführung
ganz ohne Takt und Anstand vor. (13) So ergibt sich
bei dem, was sie gewiss ja doch erreichen können,
nur hässliche Rechthaberei und vergebliche Mühe.
Denn wie im Leben, so haben sie auch bei Prozessen unbillige Erwartungen. Häufig aber kommt
es vor, dass ihnen, selbst wenn sie die Wahrheit
sprechen, die Glaubwürdigkeit fehlt und ein solcher
Rechtsbeistand als Beweis erscheint für eine schlechte Sache.
(Übersetzung Walter Kiessel)