Weder Mann noch Frau - Kastrationsspital.ch
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Weder Mann noch Frau - Kastrationsspital.ch
Weder Mann noch Frau Menschen ohne eindeutiges Geschlecht wurden früher unfreiwillig auf Mädchen oder Knabe getrimmt. Heute seien Intersexuelle akzeptiert, behaupten Mediziner. Interessengruppen widersprechen – und fordern «Menschenrechte für Zwitter». Von Alex Reichmuth und Kat Menschik (Illustration) Eine Art Monster: Intersexuelle spüren, dass sie auf eine unheimliche Art anders sind. 48 Schon früh wusste Reno aus Bayern, dass sie anders ist als andere Mädchen. «Ich verhielt mich schon immer eher männlich», sagt die 38-Jährige, die sich unter ihrem geschlechtsneutralen Übernamen zitieren lässt. Reno spielte mit Buben, trieb mit ihnen Sport und besuchte in der Schule den Werkunterricht. Reno wirkt auch äusserlich ziemlich männlich, wird sogar oft für einen Mann gehalten. Als sie pünktlich mit zwölf Jahren die Periode bekam, war Reno enttäuscht. «Ich wollte nie eine Frau sein.» Als Frau gelten will hingegen Caster Semenya. Die südafrikanische 800-Meter-Läuferin wurde im Anschluss an ihren überraschenden Weltmeistertitel 2009 vom Weltleichtathletikverband vorübergehend gesperrt. Der Grund: Verdacht auf Intersexualität, die der Läuferin einen unfairen Vorteil verschafft haben könnte. Semenya musste eine Geschlechtsuntersuchung über sich ergehen lassen. Eine solche Untersuchung hat auch Reno aus Bayern hinter sich – allerdings freiwillig. So bekam sie im Alter von dreissig endlich bestätigt, dass sie das adrenogenitale Syndrom hat, also intersexuell ist. Genetisch ist Reno eine Frau. Aber ihr Körper produziert wegen einer vergrösserten Nebenniere zu viel männliche Sexualhormone – was zu einer Vermännlichung der Körpers führt. Zwitter zu sein, war für Reno eine Erlösung: «Endlich hatte ich schwarz auf weiss, dass ich biologisch anders bin und nicht etwa an psychischen Problemen leide.» Mit sich im Reinen sein – davon kann Jessika-Katharina Möller-Langmaack, kurz Jessi, aus Niedersachsen nur träumen. «Ich habe auf dieser Welt nichts mehr verloren», sagt die 28Jährige. Sie leide an einer «kaputten Psyche», nach all dem, was sie durchlebt habe. Von aussen ist Jessi zwar als Frau erkennbar. Aber: «Ich habe einen Penis.» Oder zumindest etwas Ähnliches. Sie habe früher versucht, selber «den Genitalbereich umzugestalten» – was aber scheiterte, weil sie ohne Erfahrung und Betäubung vorging. Manchmal kratze sie sich «da unten» aber so lange, bis alles entzündet sei. Jessi benutzt drastische Worte: «Vielleicht fault das Teil ja irgendwann ab.» Genetisch ist sie tatsächlich männlich. Ihre Geschlechtschromosomen sind XY – wie bei einem Mann. Aber ihr Körper reagiert kaum auf männliche Hormone. Die männlichen Geschlechtsmerkmale sind darum schwach ausgebildet. Dem sollte nachgeholfen werden: Weltwoche Nr. 42.10 Jessi wuchs als Knabe auf und bekam ab dem dreizehnten Altersjahr männliche Hormone. Fünf Jahre lang musste sie Testosteron schlucken, obwohl sie nie ein Mann sein wollte. Mit achtzehn rebellierte sie. Sie erkämpfte sich einen weiblichen Vornamen und nahm fortan weibliche Hormone zu sich. Der jahrelange Kampf um die körperliche und seelische Identität hat Spuren hinterlassen – sie leidet an Selbstzweifeln und Depressionen. «Kastriert» und «zurechtgestutzt» Laut einer Studie des Hamburger Instituts für Sexualforschung hat fast jeder zweite inter sexuelle Mensch schon an Suizid gedacht. Jeder zehnte hat sich bereits selber körperlich verletzt. Viele Intersexuelle wachsen mit einem Stigma auf: Sie spüren, dass sie anders sind. So unheimlich anders, dass man es niemandem sagen darf: eine Art Monster. Vor allem in früheren Jahrzehnten wurden intersexuelle Kinder über ihre körperliche Be sonderheit nicht aufgeklärt. Nur hinter vor gehaltener Hand machten Ärzte und Eltern allenfalls Andeutungen, mit finsterer Miene. Dazu kamen in vielen Fällen Operationen, Behandlungen und Untersuchungen, oft vor Scharen von Medizinstudenten, deren neugierigen Blicken sich die «abnormen» Kinder schutzlos ausgeliefert sahen. Eine grosse deutsche Studie deckte 2008 auf, dass etwa achtzig Prozent der befragten 400 intersexuellen Menschen operiert worden sind – meistens als Neugeborene oder Kleinkinder. Viele von ihnen wurden nicht oder ungenügend über Diagnose und Behandlungen aufgeklärt. Ein grosser Teil der Betroffenen ist noch immer unzufrieden mit dem Resultat dieser Operationen und Behandlungen. Im Gegensatz zu Jessi, die lange männliche Hormone einnehmen musste, wurden die meisten Intersexuellen zu Frauen gemacht – frei nach dem medizinischen Grundsatz, dass, ein «Loch» zu machen, einfacher ist, als einen «Pfahl» zu bauen. So wurden vielen Kindern die im Bauch verborgenen Keimzellen oder Hoden wegoperiert, die zu gross geratene Klitoris zurechtgestutzt (oft unter Verlust der Empfindungsfähigkeit), der Harnausgang versetzt oder eine sogenannte Neovagina angelegt (die dann während Jahren mit einem Stab gedehnt werden musste). Und sie bekamen jede Menge Hormone und Medikamente, meist aber keine klaren Informationen. Die Betroffenen litten an den Folgen schmerzhafter Eingriffe und an Narben, wurden wegen der Hormone später fettleibig oder neigen heute zu Stoffwechselstörungen, Diabetes und Osteoporose. Daniela Truffer, 45, aus Zürich hat solches erlebt. Als sogenannter XY-Frau wurden ihr mit zweieinhalb Monaten die Hoden wegoperiert und mit sieben Jahren das Genital operativ verkleinert. Mit zwölf Jahren bekam sie Weltwoche Nr. 42.10 künstliche Hormone, die nach der Entfernung wichtiger Genitalien nun lebensnotwendig waren. Aufgeklärt und informiert wurden weder sie noch ihre Eltern. Daniela Truffer ahnte aber immer, dass sie «abartig» war. Endgültige Gewissheit hatte Truffer erst vor fünf Jahren, als ihr das Spital, in dem sie damals behandelt wurde, ihre Krankenakte auslieferte. «Das Kind ist ein Mädchen [. . .], die ganze Erziehung hat sich danach zu richten», steht in diesen Akten. Und: «Mit niemandem ausser den Eltern und dem Arzt [. . .] soll über die Geschlechtsfrage weiter diskutiert werden.» Sie sei «kastriert» und «zurechtgestutzt» worden, sagt Daniela Truffer. Ihre Hoden habe man «weggeschmissen». Truffer ist heute die bekannteste Schweizer Vorkämpferin für Intersexuelle. In der von ihr präsidierten Organisation Zwischengeschlecht.org haben sich etwa ein Dutzend Menschen mit uneindeutigem Geschlecht gefunden. «Wir sind keine Therapiegruppe, sondern eine Menschenrechtsgruppe», stellt Truffer klar. Kampf statt Mitleid ist angesagt. Das Bestreben, Kinder ohne eindeutiges Geschlecht zu Buben oder Mädchen zu machen, geht auf den amerikanischen Geschlechterforscher John Money zurück. Er war überzeugt, dass ein Kind mit der entsprechenden Erziehung in jeder Geschlechterrolle glücklich werden könne – vorausgesetzt, es wisse nichts über seinen ursprünglichen Zustand. Vor Intersexuell ist nicht transsexuell Intersexuelle Menschen (auch Zwitter oder Hermaphroditen genannt) sind genetisch, hormonell oder aufgrund ihrer Geschlechtsorgane nicht eindeutig männlich oder weiblich. Je nach Definition ist jeder fünftausendste oder sogar jeder hundertste Mensch intersexuell. Eine häufige Form ist das adrenogenitale Syndrom (AGS): Die Betroffenen sind genetisch zwar weiblich. Wegen eines erblichen Defekts produzieren ihre Nebennieren aber zu viele männliche Sexualhormone, was zu einer Vermännlichung des Körpers führt. Die Klitoris gleicht oft einem kleinen Penis. Menschen mit einer Androgeninsensitivität (AIS) hingegen sind genetisch eigentlich Männer. Weil ihre Körperzellen aber nicht auf Geschlechtshormone reagieren, entwickeln sich die männlichen Geschlechtsmerkmale nicht. Die Betroffenen sehen äusserlich aus wie Frauen. Intersexualität ist nicht Transsexualität. Trans sexuelle sind biologisch eindeutig männlich oder weiblich, fühlen sich psychisch aber dem anderen Geschlecht zugehörig und streben darum häufig eine Geschlechtsumwandlung an. (ar) allem in den sechziger und siebziger Jahren waren Operationen, um Kindern zu einem eindeutigen Geschlecht zu verhelfen, anerkannter medizinischer Standard. Gesellschaftliche Zwänge Die Zeit der Zwangsoperationen und der Heimlichtuerei sei längst vorbei – das sagen die Ärzte, die sich heute um intersexuelle Kinder kümmern. Laut Primus Mullis, Hormonspezialist am Berner Inselspital, sind allerdings gewisse Operationen und medikamentöse Behandlungen bei zwischengeschlechtlichen Kindern notwendig, zum Beispiel wenn ein ungünstig liegender Harnausgang Infektio nen verursacht oder wenn eine vergrösserte Nebenniere, die zu viel männliche Hormone produziert, gleichzeitig auch zu lebensbedrohendem Salzverlust führt. Den Entscheid über allfällige Operationen und Behandlungen, sagt Mullis, treffe ein Team von Ärzten und Psychologen völlig transparent zusammen mit den Eltern. Wenn möglich, warte man mit einem Eingriff so lange, bis das Kind selber entscheiden könne. Es gebe aber auch gesellschaftliche Zwänge zu akzeptieren, meint Primus Mullis: «Wir leben nun mal in einem dualen Geschlechtersystem.» Ein Kind müsse sich zwangsläufig einordnen – ob es nun operiert sei oder nicht. «Es gibt zum Beispiel keine öffentlichen WCs für Intersexuelle.» Für Mullis ist darum jedes Kind, das ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt kommt, ein «medizinisch-sozialer Notfall». Solche Äusserungen bringen die Intersexuel le Daniela Truffer in Rage. Viele Mediziner würden zwischengeschlechtliche Menschen noch immer nicht akzeptieren, den Eltern «Horrorgeschichten» auftischen und diese zu Behandlungen drängen, sagt Truffer. Sie verlangt, dass nicht lebensnotwendige Behandlungen und Operationen so lange verschoben werden, bis der heranwachsende Mensch selber einen Entscheid fällen kann. «Menschenrechte auch für Zwitter», fordert Truffer. Primus Mullis vom Inselspital hat für dieses Auftreten wenig Verständnis. Niemand mehr stelle heute die Rechte von Zwischengeschlechtlichen in Frage, sagt der Arzt, doch leider neigten manche Aktivisten zu Extremismus. Mullis weiter: «Dass es ein Problem sein soll, wenn ich nur schon die Worte ‹Störung› oder ‹Patient› in den Mund nehme, das frustriert mich.» Ob auch die Rechte der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya gewahrt wurden, ist umstritten. Als der Internationale Leichtathletikverband Semenya sperrte, reagierte man in Südafrika empört über die angekündigte Geschlechtsuntersuchung. Im vergangenen Sommer gab der Weltleichtathletikverband bekannt, dass Semenya wieder zu Wettkämpfen zugelassen ist. Ob die Läuferin eindeutig weiblich ist, erfuhr man nicht. g 49