Ein Apfelbaum ist wie ein Kind - Bioland
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Ein Apfelbaum ist wie ein Kind - Bioland
Ein Apfelbaum ist wie ein Kind Ein Apfel ist ein Apfel ist ein Apfel? Nein. Der eine Apfel sieht vollendet schön aus, schmeckt aber nach nichts. Der andere ist vielleicht ein bisschen knubbelig, dafür aber aromatisch und fest im Fleisch, dass es kracht, wenn wir hineinbeißen. Erfahrungen, die wohl jeder schon einmal gemacht hat. Doch wer sich ein bisschen informiert, findet Schönheit und Geschmack vereint... Heinrich Niggemeyer erkennt noch vor dem ersten Bissen den Reifungsgrad eines Apfels, er ist Kenner aus Leidenschaft. Der gelernte Landwirt und Baumschuler hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Er will die historischen Apfelsorten zurück in die Gärten und auf die Ladentische holen. Denn nicht nur, dass Äpfel uns ernähren und ein Apfelbaum unsere Gärten schmückt – ein Apfelbaum steht für Tradition und Kultur. Und so tragen die Apfelbäume, die in Heinrich Niggemeyers Baumschule wachsen, so zauberhafte Namen wie "Schöner von Herrnhut", "Finkenwerder Herbstprinz", "Purpurroter Cousinot" oder "Königlichen Kurzstil" und gehen in ihrer Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurück. Mehr als 200 historische Apfelsorten hat Heinrich Niggemeyers Baumschule Pflanzlust im nordhessischen Nothfelden bei Wolfhagen im Angebot. Auf fünf Hektar Land stehen neben Birnen- und Zwetschgen mehr als 5000 Apfelbäumchen, zarte Gewächse, aus denen starke Apfelbäume werden sollen. Es sind Sorten, die es bisher nur selten zu kaufen gibt und die vor allem in den ersten Lebensjahren gehegt und gepflegt werden wollen. "Ein Baum ist wie ein Kind" sagt Niggemeyer, "man muss sich um sein Wachstum kümmern, muss wissen, in welche Richtung man mit ihm gehen will: soll er hochwachsen oder in die Breite gehen, robust sein oder nur schön, soll er später in der Landschaft leben oder in einem Hausgarten." Im Mittelpunkt der Arbeit von Heinrich Niggemeyer und seinen MitarbeiterInnen steht die Veredelung historischer Obstbäume, Schwerpunkt: Apfelbäume. Durch die Veredelung wird aus zwei verschiedenen Pflanzen eine neue geschaffen, indem man dem Wurzelstock eines robusten jungen Apfelbaumes das Triebstück einer historischen Sorte, die "Edelreise", "okkuliert" oder "aufveredelt", wie man im Fachjargon sagt. Dazu braucht man Routine und einige Geschicklichkeit, auch wenn es einfach aussieht. Mit einem kleinen sehr scharfen Messer wird die Rinde des Stocks einen halben Zentimeter geöffnet, das Auge aus dem Edelreis wird in diese Öffnung der Wurzel gepresst, ein kleines Pflaster darüber, das sich später von selbst auflösen wird – und das war's fürs Erste. Der Sommer ist die richtige Jahreszeit für diese Art der Veredelung, dann wenn der Baum im Saft steht. "Das Auge muss rein brennen". Ist diese Arbeit getan, hat der Baum bis zum Frühjahr Zeit zu einem "edlen" Baum, der jetzt die Anlage einer historischen Apfelsorte in sich trägt, heranzuwachsen. Nach dem Winter wird der junge Baum heruntergeschnitten und noch einmal umgesetzt. Zwei bis drei Jahre bleibt ein veredeltes Apfelbäumchen unter der Obhut seines Ziehvaters. Erst dann wird es verkauft. Denn vorher ist der Baum nicht stark genug für eine Verpflanzung, "so wie ein Kind noch nicht genügend gerüstet ist für das Leben draußen in der Welt". Der Verkaufsladen von Pflanzlust liegt am Dorfrand von Nothfelden. In gärtnerischer Atmosphäre bekommt man hier von der Bioland-Kartoffel bis zur englischen Landrose alles, was den Garten schöner macht und was gut schmeckt – ein rauer Geruch von Erde und Landleben liegt in der Luft. Hinter den Flächen für Blumen und Gehölzer beginnen die Quartiere der zum Verkauf stehenden Apfelbäume. Es sind endlose Reihen – erst die Zwei- dann die Dreijährigen, dazwischen historische Birnen, prächtige Exemplare von Zierpflaumen und Wiesen wie aus dem Bilderbuch. Gegenüber Pferdekoppeln, der Wald: Hessen von seiner schönsten Seite. Als Heinrich Niggemeyer vor knapp 20 Jahren anfing mit seiner Baumschule, wußte er selbst nicht genau, wohin es gehen sollte. Biologisch-organisch wollte er arbeiten – doch wer braucht schon eine speziell angebaute Forsythie? Niggemeyer entschied sich für den Apfel. Und so pflanzte er im ersten Jahr mehr als 2000 Bäume an. Doch die Nachfrage fehlte, viele mußte er vernichten. Heute ist das anders. Das Bewußtsein für biologisch-organischen Landbau ist groß, wie auch das Interesse an den historisch kultivierten Obstsorten langsam und sicher wächst. Längst wissen die Endverbraucher, dass nicht alles gut ist was neu ist. Denn anders als neue Züchtungen sind die alten Apfelsorten robust und reich an sogenannten Polyphenolen, die für einen intensiveren Geschmack sorgen und gerade für alte und ganz junge Menschen wie auch für Allergiker besonders gesundheitsfördernd sind. Trotz dieses Wissens und einem reichhaltigen Angebot wieder entdeckter historischer Sorten zieht der Markt nicht mit. Das Angebot in Supermärkten und selbst in Bioläden reduziert sich nach wie vor auf die gängigen Sorten wie Jonagold, Elstar oder Boskoop. "Unter geschäftlichen Gesichtspunkten würde es reichen, wenn ich neun Sorten Äpfel im Angebot hätte: drei unterschiedliche Farben, drei verschiedene Erntezeitpunkte und drei unterschiedliche Geschmacksrichtungen..." Da bieten die 200 Apfelsorten, die Pfanzlust im Angebot hat pure Vielfalt. Und ist doch nur eine kleine Auswahl der mehr als 2000 Apfelsorten, die das Bundes-Obstgarten-Verzeichnis heute aufführt. "Vielfalt" aber ist das ungebrochene Credo von Heinrich Niggemeyer. "Denn nur so entsteht Individualität." Die Pflanzlust-Kunden wissen, was sie bekommen, wenn sie nach Nothfelden fahren oder auch den Weg übers Internet wählen und einen Baum online bestellen. Da gibt es einen, der sie nicht nur berät, sondern auch Mut macht – Mut zum Beispiel, mal einen Blick zurück zu werfen und für die Zukunft einen historischen Apfelbaum zu pflanzen. Denn wissen wir nicht schon seit der Geschichte von Adam und Eva, was ein Apfel alles kann? Er kann die Welt verändern. Copyright: Christine Deggau