P. Bichsel - San Salvador - heinecke

Transcription

P. Bichsel - San Salvador - heinecke
Peter Bichsel – „San Salvador“
INTERPRETATION
In der Kurzgeschichte „San Salvador“, geschrieben 1964 von Peter Bichsel, geht es um einen Mann, der,
während er auf seine Frau wartet, in Gedanken aus seinem Alltag nach Südamerika entflieht.
Der Protagonist Paul wartet abends darauf, dass seine Frau Hildegard nach Hause kommt. Während dessen
beschäftigt er sich mit belanglosen Tätigkeiten, wie z. B. dem Ausprobieren seines neuen Füllers. Im weiteren
Verlauf schreibt er einen kurzen Abschiedsbrief an seine Frau, in dem er erklärt, er gehe nach Südamerika.
Daraufhin stellt er sich vor, wie seine Frau reagieren würde, wenn sie den Brief vorfände. Schließlich kommt
seine Frau nach Hause und fragt ihn, der nicht fortgegangen ist, ob die Kinder schlafen würden.
Nach meinem ersten Textverständnis möchte Peter Bichsel in dieser Kurzprosa eine längst nicht mehr intakte
Ehe darstellen. Dieses versuche ich nun anhand des Textes zu belegen.
Wie in Kurzgeschichten üblich wird der Leser ohne Einleitung mit dem Geschehen konfrontiert. Paul, aus
dessen Sicht die Geschichte vom Er-Erzähler wiedergegeben wird, probiert seinen neu gekauften Füller aus.
Kurz darauf schreibt er eine Art Abschiedsbrief mit dem Inhalt: „Mir ist es zu kalt hier, ich gehe nach Südamerika.“ (Z. 7-8) Dieser Satz ist offenbar beim Ausprobieren des Füllers ganz in Gedanken entstanden. Deshalb
hält er erst einmal für einen Moment inne. Die schwarze Tinte, mit der er diesen Satz geschrieben hat, kann
schon ein Symbol für seine momentane Situation sein. Das Schwarz steht vermutlich für die Emotionslosigkeit,
die Tristheit, die er fühlt. Dass er sich extra schwarze Tinte gekauft hat (Z. 11-12) kann auch zeigen, dass er
einfach einmal etwas anderes machen möchte, aus seiner Routine ausbrechen. Auch wenn das nur im Form
von anders farbiger Tinte geschieht. Nachdem er weiter nachgedacht hat, unterschreibt er den Brief „großzügig“ (Z. 14) so als wolle er ihm noch Nachdruck verleihen und seine Gedanken abschließen.
Hierauf folgt ein Einschnitt in der Geschichte. Vermutlich aus Langeweile und als Ablenkung beginnt Paul mit
bedeutungslosen Tätigkeiten wie Aufräumen und dem Lesen der Kinoinserate. (Z. 16-21) Dann wird zum ersten
Mal Pauls Frau erwähnt und es wird deutlich, dass er nicht mehr vorhat, auszuwandern, denn „er wartet[] auf
Hildegard“ (Z. 24). Obwohl sein Entschluss zu bleiben festzustehen scheint, spinnt er sein anfängliches Vorhaben in Gedanken weiter. Er lässt den Abschiedsbrief „mitten auf dem Tisch“ liegen (Z. 26) und stellt sich vor,
wie seine Frau reagieren würde. Dabei wird auch nochmal deutlich, dass er nicht weggehen möchte, da die
Handlungen Hildegards im Konjunktiv II beschrieben werden. In diesem Abschnitt wird besonders deutlich, was
Paul zu seinen Gedanken verleitet hat. Er ist in der Lage im Voraus genau zu beschreiben, wie seine Frau auf
den Brief reagieren würde. Das deutet auf eine Ehe hin, in der alles längst zur Routine geworden ist und jede
Kleinigkeit monoton, nach immer gleichem Schema verläuft. Auch der im Satz „[sie] würde trotzdem die
Hemden im Kasten zählen“ (Z. 33-34) enthaltene Gedanke, dass die eigene Frau vermuten würde, dass man sie
verlassen hat, lässt auf Probleme in der Beziehung schließen und zeigt, dass Pauls Gedanken abzuhauen gar
nicht so abwegig sind, wie sie zunächst erscheinen. Dass Paul außer seiner Frau niemand einfällt, dem er einen
Abschiedsbrief schreiben könnte und dass seine Frau ihn nur „im Löwen“, vermutlich einer Kneipe, vermuten
würde, legt nahe, dass er außer seiner Familie keine Bezugspersonen hat und vereinsamt bzw. isoliert ist. Bevor
seine Frau nach Hause kommt, beschäftigt er sich noch einmal in Gedanken mit seinem Füller und schweift
wieder ab. Er denkt zunächst an Palmen doch besinnt sich dann wieder zurück auf Hildegard. So wirkt es, als ob
sie doch ein Grund ist, Deutschland nicht zu verlassen.
Schließlich kommt seine Frau nach Hause. Doch statt ihn erst einmal zu begrüßen, fragt sie nur, ob die Kinder
schon schlafen. Das verdeutlicht nochmal die schlechte Situation ihrer Beziehung. Vermutlich sind die Kinder
der einzige Punkt, der die Ehe noch aufrecht erhält, und auch eines der letzten gemeinsamen Gesprächsthemen.
Man kann am Ende der Geschichte auch klar sagen, was Paul mit „mir ist es hier zu kalt“ eigentlich meint.
Gemeint ist nämlich offensichtlich seine innere Kälte eben der Wunsch nach Veränderung, wie er sie im fernen
Amerika zu finden glaubt. Außerdem ist sicherlich auch die Kälte in seiner eingefahrenen Beziehung zu Hildegard gemeint.
Auch die Überschrift erlangt noch eine besondere Bedeutung. Denn „San Salvador“ heißt übersetzt heiliger
Retter oder Erlöser. Paul möchte seinem Alltag entfliehen und erlöst werden.
Sprachlich ist die Kurzgeschichte so gestaltet, dass man in Peters Stimmung hineinversetzt wird. Durch häufige
Wortwiederholungen und einfach Aufzählungen mit „dann“ wird das Gefühl der Langeweile und Trostlosigkeit
auf den Leser übertragen. Auch durch den recht zähen Verlauf und das lange Ausführen einzelner kurzer
Situationen wird ein Eindruck von langsam vergehender Wartzeit erzeugt. Außerdem werden durch die erlebte
Rede die Gedanken Pauls sofort deutlich.
Nach nun eingehender Analyse komme ich zu dem Schluss, dass meine anfängliche Hypothese in vollem Umfang zutrifft. Es werden sowohl die Eheprobleme als auch deren Auslöser deutlich.
Patrick Heinecke