Peter Bichsel: San Salvador Von Rolf Jucker »Ausschließlich der
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Peter Bichsel: San Salvador Von Rolf Jucker »Ausschließlich der
Peter Bichsel: San Salvador Von Rolf Jucker »Ausschließlich der Normalfall steht zur Diskussion« 1: So könnte ein vorschnelles Urteil über Peter Bichsels Kurzprosa ausfallen. Bei genauerer Betrachtung haben wir es aber eher mit der »Doppelbödigkeit des scheinbar Harmlosen« zu tun. 2 Doch werfen wir zuerst einen Blick auf die Entstehungsgeschichte von Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen. San Salvador war dann als fünfzehnte von »21 Geschichten«, wie der Untertitel hieß, abgedruckt. Im Sommer 1962 schickte der damals unbekannte Bichsel das Manuskript an Otto F. Walter, einen der wichtigsten literarischen Verleger der frühen 60er-Jahre. Dieser reagierte umgehend und signalisierte, »von der Lektüre heftig bewegt«, seine Zustimmung. 3 Als die Milchmann-Geschichten dann 1964 als Band 2 der bald berühmten, von Walter und Helmut Heißenbüttel herausgegebenen Reihe Walter-Drucke erschienen, war der Erfolg so unerwartet wie spektakulär. Warum nur? Die eine Hälfte der Antwort überrascht kaum jemanden, der das deutsche Feuilleton kennt. Der Mann, der Bichsel zu Berühmtheit verhalf, war Marcel Reich-Ranicki. Er veröffentlichte in Die Zeit jene Kritik — sie war ein Jubelruf —, die dem Band und seinem Autor im deutschsprachigen Raum größte Aufmerksamkeit der literarischen Kritik sicherte«. 4 Die auf 1220 Exemplare beschränkte Erstausgabe war innerhalb von vier Tagen ausverkauft.5 Als Bichsel im darauf folgenden Jahr den Preis der Gruppe 47 erhielt, wurde nachgedruckt, und bis 1984 hatte der Walter-Verlag mehr als 64000 Exemplare verkauft (zusammen mit Übersetzungen und Lizenzausgaben müssen es wohl mehr als 200000 Exemplare gewesen sein).6 Weder Reich-Ranicki noch der Preis der Gruppe 47 können aber den anhaltenden Erfolg der Milchmann-Geschichten erklären. Was den Reiz und die Besonderheit dieser »innovatorischen und sprachkritischen Kurzprosa«, die sich normalerweise nur schwer verkaufen lasst, 7 ausmacht, soll anhand von San Salvador erkundet werden. Was sofort ins Auge sticht, ist die Kürze und die ungewöhnliche sprachliche Form. Keine der 21 Geschichten ist länger als vier Seiten, die kürzeste gerade zehn Zeilen. Die meisten, wie auch San Salvador, beanspruchen zwei bis drei Seiten. Formal besticht die außerordentliche »Reduktion«, »die Kunst des Weglassens«8, die in einem vollständigen »Verzicht auf sprachliche Ornamente«' besteht. Bichsels an der Konkreten Poesie geschultes »sensibilisiertes Sprachbewußtsein«10 führt zu einer Verdichtung und rhythmischen Struktur, die eher an Lyrik erinnert. So werden etwa trotz der Kürze von San Salvador verschiedene Sätze zwei- bis dreimal wiederholt, mal identisch, mal verkürzt, mal im Indikativ statt im Konjunktiv. Bichsel bezeichnet sich selbst als »einen Lyriker, der seine Gedichte abtarnt, hinter Prosa versteckt.«11 Wortschatz wie Themen sind ausschließlich der Banalität des Alltags entnommen. Das Außergewöhnliche, so oft Antrieb für Literatur, hat hier keinen Platz. In der Geschichte sitzt ein Mann abends zu Hause, probiert seine neue Füllfeder aus und wartet darauf, dass seine Frau aus der Probe des Kirchenchors zurückkommt; dargestellt wird mithin etwas, was sich in Tausenden von Haushalten so oder ähnlich abspielen könnte. Von Interpreten ist sehr richtig beobachtet worden, dass diese ganz spezielle sprachliche Form, die in ihrer Verknappung lediglich andeutet und mehr verschweigt als ausspricht, gerade dadurch die Leser zu intensiverer Mitarbeit bei der Lektüre ermutigt.12 Die wenigen Anhaltspunkte müssen zu einem Ganzen vervollständigt werden. Während dies einerseits den »Möglichkeitssinn« der Leser schärft, besteht andererseits natürlich die Gefahr der Überinterpretation. Der alltägliche Wortschatz sowie die Banalität der Themen hat die meisten Interpreten dazu verführt, die Milchmann-Geschichten im Allgemeinen und San Salvador im Besonderen negativ zu lesen. Seil etwa schreibt, dass Bichsel Menschen darstelle, »deren Leben stagniert. Ausbrüche aus der Routine werden geplant, finden aber nicht statt.« Er spricht weiter von »verpaßten Möglichkeiten« und davon, dass die Figuren in »Sprachklischees« sprächen.13 Zobel konstatiert, dieser verheiratete Mann leide »an der Kälte des Alleinseins, denn eine innere, vertrauensvolle Bindung besteht zwischen ihm und seiner Frau nicht oder nicht mehr«. Und weiter: »Es bleibt ihm nur noch der vage Wunsch, sich irgendwie diesem desolaten Verhältnis zu entziehen, das jeden Ansatz zur Selbstverwirklichung erstickt, und Erlösung von Lähmung, Langeweile und Vereinsamung in einem Ortswechsel zu suchen.«14 Begründet wird diese Lesart durch die Tatsache, dass der Mann auf einen Zettel schreibt: »Mir ist es hier zu kalt«, »ich gehe nach Südamerika«. Darauf folgt die Spekulation des Mannes, was passieren würde, wenn er wirklich ginge und seine Frau bei ihrer Rückkehr nur diesen Zettel vorfände. Dies und der Titel der Geschichte, der im Text nie auftaucht und der zu Deutsch >der Erlöser< heißt, führen Zobel dazu, den Mann als einen höchst unzufriedenen, unglücklichen und in der bürgerlichen Normalität gefangenen Mann zu sehen. In der Geschichte selbst steht dies aber nicht. Ihr ist nämlich eine eigentümliche Wärme und Sympathie für die Figuren eingeschrieben. Vielleicht sollte man sie in ihrer Banalität und Einfachheit ernst nehmen. Der erste Satz ist folgender: »Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.« Und dann machte »er«, was wohl alle mit einer Neuanschaffung machen würden, abends, zu Hause: er probiert die Feder aus, kritzelt aufs Papier. Ohne ersichtlichen Grund, aber wiederum verständlich, wenn man bedenkt, wie sprunghaft unser Denken in solchen Situationen funktioniert, schreibt er dann die Sätze vom Kaltsein und Abreisen hin. Man könnte natürlich sofort anfangen zu psychologisieren, aber man muss nicht: der Text sagt nichts in der Richtung. Genauso gut könnte es sein, dass dem Mann das kalte Wetter tatsächlich auf den Geist geht. Der Mann bleibt dann aber sitzen, handelt in keiner Weise so, dass man die obigen Sätze ernst nehmen sollte. Im Gegenteil widmet er sich danach ganz anderen, häuslichen Dingen. Offensichtlich ist er gelangweilt. In Bichsels Welt wird Langeweile aber nicht negativ, sondern positiv bewertet: »Ich liebe die Langeweile - die lange Zeit. >Längi Zyt< heißt im Schweizerdeutschen >Sehnsucht<.«15 Der Text bietet mehr Indizien dafür, dass sich diese Sehnsucht auf seine Frau, Hildegard, bezieht, als auf die Flucht nach Südamerika. Denn im Folgenden heißt es: »Er wartete auf Hildegard.« Das kann Lähmung sein. Das kann man aber ebenso gut als Sehnsucht nach der Partnerin lesen. Dann folgt die oft als zentral betrachtete Textstelle, wo mit Hilfe des Konjunktivs durchgespielt wird, was wäre, wenn Hildegard nach Hause käme und nur den Zettel fände. Interessant daran ist nicht nur die Betonung des Spekulativen durch den Konjunktiv und das »vielleicht«, sondern auch die Tatsache, dass das Augenmerk auf Hildegard gerichtet ist, und nicht auf die Flucht des Mannes. Auch die angebotenen Erklärungen lassen nicht sofort auf eine Ehekrise schließen. Im Gegenteil, nur ein außergewöhnliches Ereignis wird als mögliche Erklärung erwogen: »etwas müßte ja geschehen sein«. Der Mann besteht nicht auf dieser Spekulation, sondern widmet sich der Gebrauchsanweisung des Füllers, wiederum erwartbar im Kontext der ziellosen Langeweile eines solchen Abends. Er sieht seinen Zettel wieder und »dachte an Palmen, dachte an Hildegard«: seine Gedanken enden nicht im Süden. Der Schluss wurde wiederum meist negativ gelesen: Der Mann setzt seine Fluchtgedanken nicht in die Tat um, in der Ehe kriselt es, weil die Frau sich nach den Kindern und nicht nach seinem Wohlbefinden erkundigt, die Vorhersehbarkeit der Bewegungen des Partners (»Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht«) bedeute Überdruss. Genauso gut kann man hineinlesen: Der Mann ist froh, dass Hildegard endlich zu ihm nach Hause kommt und die Sehnsucht sich erfüllt; die Frage nach den Kindern zeugt von einem innigen familiären Zusammenhalt; die Tatsache, dass der Mann genau weiß, wann Hildegard welche Bewegung macht, zeigt die intime Vertrautheit, die zwischen ihnen herrscht. Dass der Mann die Fluchtphantasie nicht auslebt, kann man zudem, statt als Resignation, als kluge Einsicht werten: dass Flucht die allfälligen Probleme nicht löst, sondern nur verschiebt. Aus genau diesem Grund ist Bichsel, trotz aller Wut, in der Schweiz geblieben, um eingreifen zu können in Verhältnisse, die ihm vertraut sind. 16 Darin liegt die produktive Qualität der Bichsel'schen Kurzprosa. Reinacher hat sehr richtig diese Frage des »was wäre, wenn?« als Schreibimpuls von Bichsel erkannt.17 Aber diese auch in San Salvador zentrale Frage will, durch die Verknappung des Texts, vor allem das Möglichkeitsdenken der Leser stärken. Man sollte also nicht nur diejenige Lesart ausreizen, die unserer derzeitigen Weltwahrnehmung am plausibelsten erscheint, sondern verschiedene Möglichkeiten durchspielen. Oder um es mit Bichsel zu sagen: »Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit.« 18 1 Heinz F. Schafroth, »Peter Bichsel«, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, 42. Nachlfg., München 1992, S. 3. 2 Klaus Pezold, »Früher Ruhm und weiterer Weg des Erzählers Peter Bichsel«, in: K. P. (Hrsg.), Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhunden, Berlin 1991, S. 191-194, hier S. 191. 3 Otto F. Walter, »Wie ich Peter Bichsel kennenlernte«, in: Herbert Hoven (Hrsg.), Peter Bichsel. Auskunft für Leser, Darmstadt/Neuwied 1984, S. 19. 4 "Walter (Anm. 3) S. 21. Reich-Ranickis Besprechung, »Vom verfehlten Leben«, ist wieder abgedruckt in: Hoven (Anm. 3) S. 12-18. 5 Iris Denneler, »Das Weiße zwischen den Wörtern. Überlegungen zu Peter , Bichsels Poetik des Verschweigens«, in: Colloquia Germanica 27 (1994) H. 4, S. 365-382, hier S. 379. 6 Walter (Anm. 3) S. 22. Die Gesamtauflage ist nicht auszumachen, da der Suhrkamp-Verlag keine Verkaufszahlen bekannt gibt. 7 Walter (Anm. 3) S. 22. 8 Otto F. Walter, »Bemerkungen zum ersten Buch von Peter Bichsel«, in: Hoven (Anm. 3) S. 54 f. Hermann Burger, »Die Geschichte soll auf dem Papier geschehen«, in: H. B., Ein Mann aus Wörtern, Frankfurt a. M. 1983, S. 206. 10 Rolf Jucker, »>Ich bin für die Unruhe<. Gespräch mit Peter Bichsel«, in: R.J., Peter Bichsel, Cardiff 1996, S. 25. 11 Schafroth (Anm. 1) S. 7. 12 Siehe etwa Denneler (Anm. 5) S. 367. 13 Rainer Seil, »Stagnation und Aufbruch in Bichsels Milchmann- und Kindergeschichten«, in: Zur Literatur der deutschsprachigen Schweiz, hrsg. von Marianne Burkhard und Gerd Labroisse, Amsterdam 1979, S. 258. 14 Klaus Zobel, »Peter Bichsel: San Salvador«, in: K. Z., Textanalysen: Eine Einführung in die Interpretation moderner Kurzprosa, Paderborn 1985, S. 194 und 197. 15 Bichsel, in: Jucker (Anm. 10) S. 28. 16 Bichsel, in: Jucker (Anm. 10) S. 32. 17 Pia Reinacher, »Denkräume für den Leser«, in: Schweizer Monatshefte 81 (2001) H. 3, S. 34-37, hier S. 35. 18 Peter Bichsel, Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Darmstadt/Neuwied 1982, S. 11. Interpretationen. Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam 17525 S. 267 – 273.