Heft Surrealismus - Fondation Beyeler
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Heft Surrealismus - Fondation Beyeler
SAALTEXTE FONDATION BEYELER D INHALTSVERZEICHNIS Einführung 4 Strassenschilder5 Foyer 6 Saal 1 PORTE DES LILAS 6 Saal 2 RUE VIVIENNE 7 Saal 3 RUE CERISE 8 Saal 4 RUE DE TOUS LES DIABLES 9 Saal 5 RUE D’UNE PERLE 11 Saal 6 RUE FAIBLE 12 Saal 7 30 WEST 57TH STREET 14 Saal 8 RUE DE LA GLACIÈRE 16 Saal 9 RUE NICOLAS-FLAMEL 18 Saal 10 RUE DE LA TRANSFUSION DE SANG 19 Saal 11 RUE DE LA VIEILLE-LANTERNE 20 Saal 12 RUE AUX LÈVRES 21 Saal 13 RUE ALBERT-TISon21 Saal 14 PASSAGE DES PANORAMAS 22 Katalog 23 Saalplan 24 EINFÜHRUNg STRASSENSCHILDER Dalí, Magritte, Miró – Surrealismus in Paris Wege durch das surrealistische Paris Die Fondation Beyeler widmet dem Surrealismus in Paris die erste umfassende Ausstellung in der Schweiz. Er gehört zu den entscheidenden künstlerischen und literarischen Bewegungen der Moderne. Entstanden 1924 in Paris, entfaltete er von dort aus weltweite Wirkung. Beeinflusst von Sigmund Freud und angeführt von André Breton, wollten die Surrealisten mit einer neuen Art von Kunst das Leben und die Gesellschaft verändern. Unter Einbeziehung des Traums und des Unbewussten wurde eine faszinierende neue Kreativität entwickelt. Die Ausstellung vereint über 200 Meisterwerke von Salvador Dalí, Joan Miró, René Magritte und anderen surrealistischen Künstlern. Als weiterer Höhepunkt werden die legendären surrealistischen Privatsammlungen von Peggy Guggenheim und André Bretons erster Frau, Simone Collinet, präsentiert. Neben berühmten Gemälden und Skulpturen sind Objekte, Fotografien, Zeichnungen, Manuskripte, Schmuckstücke und Filme zu entdecken. 1938 organisierten André Breton und Paul Éluard unter massgeblicher gestalterischer Beteiligung von Marcel Duchamp in der Pariser Galerie Beaux-Arts, Rue du Faubourg Saint-Honoré, eine aussergewöhnliche surrealistische Ausstellung. Sie ging mit einzigartigen Präsentationsformen einher und wurde legendär. Ein besonderer Aspekt war die Einbeziehung einer Reihe von Schaufensterpuppen, die jeweils jede von einem der ausstellenden Künstler gestaltet wurde (vgl. die Fotografie in Saal 12 [Rue aux Lèvres]). Den Puppen waren Pariser Strassenschilder zugeordnet. Einige der dabei verwendeten Strassennamen entsprachen tatsächlich existierenden Strassen (etwa »Rue de la Glacière«), andere waren erfunden. Fast alle aber nahmen Bezug auf Aspekte, die für die Surrealisten von Bedeutung waren. Dies gilt auch für die real existierende »Rue Nicolas-Flamel«: Sie bezieht sich auf den mittelalterlichen Alchemisten, den André Breton schon im ersten seiner beiden surrealistischen Manifeste gefeiert hatte. Unter dem Titel »La Ville surréaliste« finden sich diese Strassennamen (insgesamt 13) auch im Dictionnaire abrégé du Surréalisme, einem kleinen Wörterbuch des Surrealismus, das Breton und Éluard anlässlich der Ausstellung herausgegeben hatten (siehe die Vitrine in Saal 2). Auch die Besucher der Ausstellung in der Fondation Beyeler werden den genannten Strassenschildern begegnen. Sie sind hier – dem Ausstellungsdesign angepasst – den einzelnen Künstlern und Räumen zugeordnet. Auf diese Weise wird auch der Besuch dieser Ausstellung zu einem Spaziergang durch die »surrealistische Stadt«. Siehe dazu auch den Text von Annabelle Görgen-Lammers im Ausstellungskatalog. Kurator: Philippe Büttner Vorsicht: Kunstwerke bitte nicht berühren! In dieser Ausstellung werden äusserst fragile Bilder und Skulpturen gezeigt. Wir bitten Sie, die Kunstwerke auf keinen Fall zu berühren. Dieses Zeichen weist in der Ausstellung auf Werke hin, die im Folgenden kommentiert sind. Bitte achten Sie jeweils auf Zahl und Zeichen auf den Beschriftungen der Exponate sowie auf die entsprechende Nummer im Text. 4 5 FOYER SAAL 2 1 • Max Ernst Capricorne, 1948/1978 Steinbock Mit Capricorne (Steinbock) hat Max Ernst ein vieldeutiges Werk geschaffen – eine Art »Familiensitz« oder ein »Gruppenbild« mit thronendem Stier- oder Ziegenvater, Nixenmutter und Kind. Die Mischwesen scheinen gemeinsam das babylonische Tierkreiszeichen Capricornus (Ziegenfisch) neu zu inszenieren, und gleichzeitig blicken sie uns aus unmittelbarer Nähe mit einer irritierenden Selbstverständlichkeit an. Ihre Überlegenheit und Fremdheit wird durch die Grösse der Skulptur unterstrichen. 1948 im amerikanischen Exil entstanden, markiert das Werk in Max Ernsts plastischem Schaffen einen Höhepunkt. Zunächst thronte es als monumentale Zementskulptur im Garten seines Hauses in Sedona, Arizona. Erst nach seiner Rückkehr nach Europa wurde es in Gips nachgeformt und in Bronze gegossen. Jetzt steht die Bronzefassung im Foyer der Fondation Beyeler und empfängt die Besucherinnen und Besucher zu einem abenteuerlichen Rundgang durch surreale Bildwelten. 3 • André Breton Manifeste du surréalisme. Poisson soluble, Paris 1924 Second manifeste du surréalisme, Paris 1929 André Breton, der Theoretiker und Anführer des Surrealismus, hat im Laufe der Jahre zahlreiche Schriften verfasst, darunter 1924 und 1929 zwei surrealistische Manifeste – Texte, die die Grundlage der Poetik, der Kunsttheorie sowie der Lebensphilosophie des Surrealismus bilden und zum Handeln aufrufen. Ihr Inhalt war verbindlich, abweichende Meinungen führten zum Ausschluss aus der Gruppe. Die Manifeste wurden zwar von Breton geschrieben, von den jeweiligen Anhängern jedoch mitunterzeichnet. So hält das erste Manifest die Namen all derjenigen fest, die sich zum »Absoluten Surrealismus« bekannten. Die Unterzeichnenden verpflichteten sich zum »absoluten Non-Konformismus« und erklärten die »Einbildungskraft« zum höchsten Wert. Ziel war es, das Individuum aus seinen persönlichen und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Das erste Manifest war zunächst als Vorwort von Texten gedacht, die nach dem Prinzip des »automatischen Schreibens« (»écriture automatique«) verfasst wurden. Im Manifest von 1929 stand dann die Frage nach der politischen Revolution im Zentrum. SAAL 1 PORTE DES LILAS 2 • Giorgio de Chirico Les plaisirs du poète, 1912 Die Freuden des Dichters Noch vor dem Ersten Weltkrieg entwarf der italienische Maler Giorgio de Chirico in seinen Werken gewissermassen die Kulisse für die kurz darauf die Szene betretenden Künstler des Surrealismus und deren Traumwelten. Er selbst nannte seine Malerei metaphysisch, da die Kompositionen an Formen aus der Wirklichkeit angelehnt sind, aber zugleich einer eigenen, über die Realität und Logik hinausreichenden Symbolik gehorchen. In den antik anmutenden Bauten und Figuren wird aber kein Mythos erzählt: De Chirico bedient sich der antiken Versatzstücke im Sinne eines poetischen Rätsels. In neuzeitlicher Tradition vereinigen de Chiricos Stadtperspektiven Tempel, Paläste, Arkaden, Türme, Fabriken und Ateliers zu einer geheimnisvollen tragischen Bühne für einsame Figuren. Auch seine Interieurs aus der Zeit um 1914/15 bergen Rätsel und suggerieren eine Entdeckungsreise durch unwirkliche Räume, die die Surrealisten stark inspiriert haben. 6 RUE VIVIENNE In den Vitrinen werden kostbare Handschriften, Briefe und Erstausgaben von André Breton, Paul Éluard, Marcel Duchamp, René Char, Benjamin Péret und René Magritte vorgestellt. Hier sind auch verschiedene Ausgaben surrealistischer Zeitschriften zu sehen: Littérature, La révolution surréaliste, Le surréalisme au service de la révolution und Minotaure. Der Surrealismus ist aus einer stark literarisch geprägten Bewegung hervorgegangen. 7 SAAL 3 SAAL 4 RUE CERISE 4 • Joan Miró Peinture (Le cheval de cirque), 1927 Malerei (Zirkuspferd) Peinture (Personnages: Les frères Fratellini), 1927 Malerei (Personen: Die Brüder Fratellini) Der Katalane Joan Miró, der sich Mitte der 1920er-Jahre dem Kreis der Surrealisten angeschlossen hatte, schuf 1927 in Paris eine Serie hochformatiger Kompositionen mit strahlend blauem Hintergrund, darunter Peinture (Personnages: Les frères Fratellini) aus der Sammlung Beyeler und Peinture (Le cheval de cirque). Beides sind Vexierbilder zwischen humorvollem Porträt und delikatem Balanceakt der Bildelemente. Bei Peinture (Les frères Fratellini) sind die blecherne Nase und ein rotierendes Auge an der feinen Konturlinie des Gesichts befestigt, die aus einem weissen Büstenkegel emporwächst. Das zentrale Motiv von Peinture (Le cheval de cirque) ist eine zuckende Peitsche, die die Versatzstücke eines abstrakten Gesichtes mit dem titelgebenden Zirkuspferd verbindet. 5 • Joan Miró Peinture, 1930 Malerei Das programmatische Gemälde Peinture stammt aus einer Reihe von sechs grossformatigen Leinwänden, mit denen Joan Miró 1930 nach seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Collage zur Malerei zurückkehrte. Bei genauer Betrachtung fügen sich die Kohlelinien auf der weissen Leinwand zu zwei menschlichen Gestalten, die unterhalb zweier ovaler Wolkenformen dicht beieinanderstehen. Mit diesem Motiv führt Miró das illusionistische ABC der Malerei vor Augen, um die Illusion sogleich zu brechen: Räumliche Staffelung, Volumen, Strukturen, Farbbedeutungen – alles löst sich sofort wieder in flächiges Form- und Farbenspiel auf. Als Sahnehäubchen tritt uns die Struktur der Wolke nicht gemalt, sondern höchst real aus Gips entgegen. 8 RUE DE TOUS LES DIABLES 6 • Max Ernst La femme chancelante (La femme penchée), 1923 Die schwankende Frau Max Ernst ist eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Der deutsche Maler kam 1922 nach Frankreich und schloss sich kurz darauf der Pariser Surrealistengruppe an. Seine Experimentierfreudigkeit, insbesondere sein Arbeiten mit unterschiedlichsten Materialien und Maltechniken, führte zu aufregenden Entdeckungen. In seinem Werk La femme chancelante hat Ernst das Prinzip der Collagetechnik auf ein grossformatiges Ölgemälde übertragen. Aus vorgefundenen Versatzstücken kreiert er dabei eine neue Realität, die sich nicht auf eine einzelne Aussage beschränkt, sondern sich durch irritierende Unbestimmtheit auszeichnet. Eingezwängt in eine merkwürdige Apparatur, blind und mit zögerlich ausgestreckten Armen, balanciert die »schwankende Frau« auf einem dünnen, kaum sichtbaren Seil über einen dunklen Abgrund. Die Haare stehen ihr zu Berge, und ihr Mund ist in stummem Erstaunen geöffnet. Die Bedrohlichkeit und die Rätselhaftigkeit der Szenerie werden durch die prekäre Schräglage der Figur zwischen den Stangen und Rohren und die beiden vertikal in den Himmel ragenden Säulen betont. 7 • Max Ernst La grande forêt, 1927 Der grosse Wald Max Ernst setzte alle maltechnischen und künstlerischen Mittel ein, um völlig Unbekanntes, noch nie Gesehenes zu entdecken, wie zum Beispiel einen undurchdringlichen Wald, der wie versteinert vor einem kalten ringförmigen Gestirn steht. Für sein Landschaftsbild La grande forêt benutzte er unter anderem die Grattage-Technik, die er analog zur Frottage für die Malerei entwickelte. Er unterlegte die mit verschiedenen Farbschichten überzogene Leinwand mit Objekten, etwa Holzbrettern, deren Strukturen sich beim Abschaben und Abkratzen der zuvor aufgetragenen Farbe auf der Leinwand abbildeten. Bei diesem Verfahren gibt der Künstler die Kontrolle über sein Werk ein Stück weit ab: Auf der Bildfläche ereignen sich Dinge, die er nicht geplant hat. Er muss darauf reagieren, den Zufall rückgängig machen, korrigieren oder ihn als Inspirationsquelle nutzen und daraus neue Ideen entwickeln. 9 SAAL 4 RUE DE TOUS LES DIABLES SAAL IV R U E DE TOUS LES DIABLES 8 • Max Ernst The King Playing with the Queen, 1944 Der König spielt mit seiner Königin Die Gipsskulptur The King Playing with the Queen schafft für uns Betrachter eine interessante Situation, denn wir werden augenblicklich als »Mitspieler« ins Geschehen einbezogen. Der gehörnte, diabolische König ist unser Spielpartner. Er ragt aus einem zweistufigen Block heraus, und vor ihm – oder zwischen ihm und uns – liegt, leicht erhöht, eine schmale Platte mit sieben Spielfiguren. Sie können aufgrund ihrer Aufstellung leicht als Schachfiguren identifiziert werden. Zwischen Läufer und Königin klafft eine grosse Lücke – da müsste normalerweise der König stehen. Max Ernst hat ihn vom Spielbrett genommen und nach hinten versetzt. Die Schachfigur wird damit selber zum Schachspieler. Ihm sind lange dünne Arme gewachsen, die eigenmächtig ins Spiel eingreifen! Schon hat er eine Figur, einen Bauern, geschnappt und hinter dem Rücken versteckt ... Wir sehen gebannt zu, wie das Spiel sich selbst spielt. Das Haupt des Königs mit den hoch aufschwingenden Hörnern ist dabei die strategische Schaltzentrale, und seine abgewinkelten Arme geben wie Blitzableiter die von oben empfangenen Impulse weiter. Der König erscheint uns als übermächtiger Feldherr, der nicht nur mit seiner Königin schaltet und waltet, wie er will. 10 SAAL 5 RUE D’UNE PERLE 9 • Yves Tanguy L’orage (Paysage noir), 1926 Das Gewitter (Schwarze Landschaft) In Yves Tanguys Werken präsentiert sich oft ein grenzenloser Landschaftsraum als Schauplatz der Imagination, so auch in seinem frühen Gemälde L’orage. Kein Himmel und kein Horizont sind zu erkennen, nur die schwarze Unendlichkeit, in der amorphe Gestalten ihren Platz suchen und finden. Auf ein Fleckchen Erde inmitten kleiner Wesen und zarter Pflänzchen wirft allein ein grosser Stein seinen Schatten. Ein kreisrundes Auge lässt vermuten, dass er lebendig ist. Darüber schweben klar umrissene weisse Wölkchen und hell gezeichnete Fratzen wie Gespinste aus einem Traum. Bahnt sich ein Gewitter an? In der allumfassenden Schwärze durchkreuzt Lichtgefunkel den Raum. Diese heftigen Bewegungen erreicht der Maler einzig durch die Farbe. Sie bestimmt die Bildtiefe sowie die Formen und Richtungen. 10 • Meret Oppenheim Bracelet en fourrure, 1935/36 Pelzarmband Die Schmuckstücke aus der Sammlung von Clo Fleiss, Paris, zeugen als Werke der angewandten Kunst von der Neugierde der grossen Künstler des Surrealismus – u. a. Dalí, Ernst, Giacometti und Man Ray –, das Potenzial neuer Kunstformen auszuschöpfen. Nicht nur der aussergewöhnliche Massstab und die Kombination vielfältiger Materialien – Edel- und Schmucksteine, edle und unedle Metalle, Keramik, Muscheln, Pelz und vieles mehr – beschäftigten die Surrealisten, sondern auch der eigentliche Bereich des Designs. Dabei wurden sie zum einen mit der Frage nach der Inszenierung von Identität mithilfe von Symbolen, zum anderen mit einem spielerischen und inspirierenden Umgang mit freien Assoziationen und Formen konfrontiert. So verhält es sich auch bei Meret Oppenheims Bracelet en fourrure, das sie 1935 im Café de Flore im Beisein von Dora Maar und Picasso trug. Dieser merkte begeistert an, dass man in ähnlicher Weise wohl alles mit Pelz bedecken könne. Das gelte auch für die Tasse und Untertasse auf dem Tisch, habe Meret daraufhin erwidert. Und so sei die berühmte Pelztasse, das meistzitierte Fetischobjekt des Surrealismus, entstanden. 11 SAAL 6 SAAL 6 RUE FAIBLE 11 • Meret Oppenheim Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen, 1936/1967 Was wird da serviert? Ein paar weisse Damenschuhe auf einem Silbertablett oder zwei Hühnerbeine mit weissen Papiermanschetten – das Ganze fein verschnürt? Das neben der legendären Pelztasse von 1936 wohl wichtigste Objekt von Meret Oppenheim ist im selben Jahr in Basel entstanden. Ein assoziativ-intensives Paradestück, ein Objekt des Begehrens. Die erste Fassung dieses Werks wurde während einer Ausstellung in Paris von einer aufgebrachten Besucherin zerstört. Oppenheims Idee geht wohl auf ein kleines, 1933 aquarelliertes Tagebuch-Traumbild zurück, das die blutjunge Künstlerin als gefesselte Vogelfrau zeigt. Des Weiteren erzählt das Objekt von ihrer unauslöschlichen Bilderinnerung an die Gouvernante des elterlichen Haushalts, die unter anderem auch für die Kindererziehung zuständig war. Die drapierten Damenstilettos gemahnen aber nicht nur an Tafelfreuden, sondern auch an Fleischeslust bis hin zum Kannibalismus. Die Schnüre als Fesseln dienen zumindest als Metapher für jegliche Verstrickungen. 12 • Hans Bellmer La poupée, 1935/36 Die Puppe Hans Bellmer ist der grosse Obsessive des Surrealismus. Seit 1932 beschäftigte er sich intensiv mit der Erzeugung einer »künstlichen Tochter« – der Puppe. Auslöser hierzu war nicht zuletzt der Besuch von Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen mit der Geschichte von der mechanischen Puppe Olympia und ihrem Verehrer. Bellmer war von mehreren (surrealistischen) Themen zugleich fasziniert: von den Motiven des Doppelgängers, der Täuschung, der Leidenschaft und des Untergangs. In diesem vielleicht bedeutendsten surrealistischen Objekt wird auf der einen Seite der Körper zum Gegenstand, auf der anderen Seite wird die Möglichkeit einer ständigen Verwandlung des Körpers ins Spiel gebracht. La poupée rief bei den Surrealisten sowohl Schaudern als auch Verzückung hervor, da sie die Metamorphose des Körpers als Etappe im Zyklus von Leben und Tod verstanden. 12 RUE FAIBLE 13 • Victor Brauner Ohne Titel, 1932 Während seines Paris-Aufenthalts zwischen 1925 und 1927 kam der Rumäne Victor Brauner erstmals mit den Surrealisten in Kontakt, denen er sich ab 1930 anschloss. 1932 schuf er dieses faszinierende »Storyboard« mit erotischen und antimilitaristischen Themen, die ihn besonders beschäftigten – ein Repertoire an Formen und Ideen, das er später in seiner bedeutenden Zeichnungsserie Anatomie du désir (1935/36) weiter vertiefen sollte. Die Personengruppen sind dabei wie Einzelbilder eines Films aneinandergereiht: Von links nach rechts sind ein Hampelmann mit Zylinder, Monokel und mächtigem Schnurrbart, eine nackte Frau mit überdimensionierter Maske, die Büste eines Ungeheuers und ein Mann zu sehen, der mit einem Gewehr einen Akrobaten verletzt. Die Bildrolle endet mit einer grossen weiblichen Figur, die eine bis zum Bauch reichende Maske trägt. Über ihrem Haupt schwebt ein Kopf, der das Motiv nochmals aufgreift und ins Dreidimensionale überführt. 14 • Kurt Seligmann Carnival, 1950 Fasnacht Neben den grossen Namen der klassischen Moderne, die dem Surrealismus angehörten, wie etwa Max Ernst, Joan Miró oder Salvador Dalí, werden ihm auch andere Künstler zugerechnet, die nicht so berühmt geworden sind, aber unverwechselbare surrealistische Bildwelten von eindringlicher Dichte geschaffen haben. Zu ihnen zählen der Deutsche Richard Oelze und der Österreicher Wolfgang Paalen sowie der Schweizer Kurt Seligmann. Seligmann war Basler und ist neben Meret Oppenheim der wichtigste Schweizer Künstler, der im Ausland als Surrealist Anerkennung fand. Von 1929 bis 1939 in Paris tätig, gehörte er 1934 bis 1943 der surrealistischen Gruppe an. 1939 zog er in die USA und setzte sich in späteren Phasen seines Werks auch mit dem Abstrakten Expressionismus auseinander. Sein Werk Carnival stammt zwar nicht aus der Zeit seiner unmittelbaren Zugehörigkeit zur »Bande à Breton«. Mit seiner traumartigen Atmosphäre, durch die – grau in grau – ein merkwürdiger Zug von Figuren schreitet, beschwört es aber einen zauberhaften surrealen Geist herauf. Der Titel schliesslich verweist auf ein ihm als Basler wohlbekanntes Ereignis zwischen Traum und Wirklichkeit. 13 SAAL 7 30 WEST 57TH STREET 15 • André Kertész Peggy Guggenheim, 1945 Peggy Guggenheim war eine wichtige Sammlerin und Förderin des Surrealismus und der abstrakten Kunst. Bereits früh kam sie in Kontakt mit Künstlern der Avantgarde und unterstützte diese engagiert in der Zeit ihres Exils in den USA. 1942 eröffnete sie in New York, in der 30 West 57th Street, ihre legendäre Galerie Art of This Century. Dort zeigte sie in zwei verschiedenen Raumensembles ihre Bestände an surrealistischen und abstrakten Werken. Später machte sie ihre Sammlung in Venedig der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Ausstellung in der Fondation Beyeler hat die Peggy Guggenheim Collection, Venedig, eine bedeutende Gruppe ihrer surrealistischen Werke als Leihgaben zur Verfügung gestellt. Sie werden hier in einem Ambiente präsentiert, das an die historische, von Friedrich Kiesler entworfene Ausstellungsarchitektur in New York erinnert. Der ungarische Fotograf André Kertész hat Peggy Guggenheim neben einer surrealen Schattenfigur aufgenommen, hinter ihr ist Paul Delvaux’ Meisterwerk L’aurore aus ihrer Sammlung zu sehen. 16 • Paul Delvaux L’aurore, 1937 Der anbrechende Tag Das Bild L’aurore ist kennzeichnend für Paul Delvaux’ ganz eigene Interpretation des Surrealismus, indem sich darin Mythologie, klassische Kultur und kuriose Alltagssituationen miteinander verbinden. An einem ruinenhaften, rätselhaften Ort versammeln sich vier Frauen mit blanker Brust und erstarrten Unterleibern in der Gestalt von Baumstämmen. Sie gruppieren sich um einen klassischen Sockel, auf dem ein Spiegel, mit einer Schlaufe geschmückt, ein Heiligtum suggeriert. In dem Spiegel ist eine weitere Brust zu erkennen, die auf eine fünfte Frau hinweist, die sich ausserhalb des Bildes an der Position des Betrachters befinden müsste. So wird er Teil der Runde. In der Vervielfachung der Figuren und der Verwandlung des Körpers werden surrealistische Kernthemen aufgerollt. Die Metamorphose faszinierte insbesondere als Mythos des Übergangs von einem Lebensstadium ins nächste und als Vehikel der Überraschung. 14 SAAL 7 30 WEST 57TH STREET 17 • Max Ernst Swampangel, 1940 Sumpfengel Das düstere Sumpf- und Waldstück entstand 1940, in einer für Max Ernst sehr beunruhigenden und gefährlichen Zeit zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und seiner Flucht ins amerikanische Exil im Juli 1941. Es wirkt im ersten Moment unzugänglich und in seiner Überfülle wie ein Vexierbild. Erst nach und nach nimmt man die zerklüftete Landschaft, den Sumpfengel und die anderen Gestalten wahr, die das Bild bevölkern. Das Werk wurde im Abklatsch- beziehungsweise Abziehverfahren geschaffen, der sogenannten Decalcomanie. Max Ernst hat seine Leinwand auf dünnflüssige Farbe gepresst. Beim Abziehen und Abheben der Leinwand treten überraschende Farbspuren zutage: fein verästelte Rinnsale, wolkige Schlieren, moosartige Lavafelder, poröse, tuffsteinartige Strukturen, Tropfen, kurz: fantastische, skurrile »Naturlandschaften«. Den hellblauen Himmel hat er erst nachträglich über die Sumpflandschaft gezogen. Erst dieser Himmel erzeugt ein Oben und Unten und lässt nicht nur die Alphütten, die Felsformationen und Bäume, sondern auch – auf der linken Seite des Hügels – das entrückte Profil eines sphinxartigen Wesens hervortreten. Direkt vor der glatten Wasserfläche am unteren Bildrand tauchen vier Krallenfüsse auf. Die äusseren beiden scheinen einem riesigen Raubvogel zu gehören, die inneren einem Vogel mit gelbem gekrümmtem Schnabel und zottigem Gefieder. Eine unheimliche Begegnung an einem verwunschenen Ort. 15 SAAL 8 RUE DE LA GLACIÈRE 18 • Francis Picabia Judith, 1929 Dieses Hauptwerk Picabias zählt zu den wichtigsten Arbeiten in der Sammlung von Simone Collinet, die in dieser Ausstellung erstmals fast vollständig präsentiert wird. Simone Collinet, geborene Kahn (1897–1980), war von 1921 bis 1931 mit André Breton verheiratet und gehörte bis 1929 als eine der wenigen Frauen zum inneren Kreis der Surrealisten. Zusammen mit Breton baute sie eine bedeutende Sammlung surrealistischer Kunst und Texte auf, die nach der Trennung aufgeteilt wurde. Simones Teil – den sie nach der Trennung noch ergänzte – blieb im Wesentlichen bis heute in Privatbesitz zusammen und enthält neben Gemälden vor allem Zeichnungen, Collagen und Texte, aber auch Werke der aussereuropäischen Kunst. Hier wird in einmaliger Weise das Sammeln surrealistischer Kunst durch die Surrealisten selber anschaulich. Francis Picabia erweist sich dabei als einer der Lieblingskünstler Collinets. In seinem vorliegenden Gemälde evoziert er die biblische Erzählung der Israelitin Judith, die ihr Volk rettete, indem sie den assyrischen Feldherrn Holofernes verführte und ihm dann den Kopf abschlug. Im Sinne von Picabias Bildreihe der Transparences sind die Körper durchsichtig gestaltet. Sie wirken noch ineinander verschlungen und vereint, während Judith bereits das abgeschlagene Haupt in der Hand hält. 19 • Totempfahl, Haida, Britisch-Kolumbien Die Sammlung von André Breton und seiner ersten Frau Simone (später Collinet) enthielt eindrucksvolle Werke der aussereuropäischen Kunst, darunter dieses bemalte Totem aus BritischKolumbien. Das Werk ist auch auf einer Fotografie (in der Vitrine) zu sehen, die Simone auf dem Bett sitzend im gemeinsamen Wohnatelier zeigt. Kunst aus Afrika, Ozeanien und Amerika war für die Surrealisten »magische Kunst«. An diese primäre, ursprüngliche Funktion versuchten sie anzuknüpfen. Gerade die Präsentation der Sammlung von Simone Collinet gibt innerhalb der Ausstellung die Gelegenheit, auf die grosse Bedeutung der aussereuropäischen Kunst für den Surrealismus hinzuweisen. Diese wird auch angesichts des Konvoluts von Werken aus der Wohnung Bretons offenkundig, das als »Mur Breton« im Centre Pompidou in Paris zu besichtigen ist. 16 SAAL 8 RUE DE LA GLACIÈRE 20 • André Masson Métamorphose des amants, 1924/25 Metamorphose der Liebenden La naissance des oiseaux, um 1925 Die Geburt der Vögel André Masson gehört ebenfalls zu den grossen Malern und Zeichnern des Pariser Surrealismus. Unter anderem war er auch in André Bretons bedeutender Zeitschrift La révolution surréaliste, die zwischen 1924 und 1929 erschien, des Öfteren mit Werken vertreten. In der Vitrine ist eine geöffnete Nummer der Zeitschrift zu sehen, wo der einzige Textbeitrag von Simone Collinet (damals noch Simone Breton, daher »S. B.«) mit einer Zeichnung von Masson kombiniert wurde. Des Weiteren sind in diesem Raum zwei wichtige originale Zeichnungen Massons aus der ehemaligen Sammlung Collinet zu sehen. Masson gelang es, das für den Surrealismus zentrale Konzept der »écriture automatique«, des automatischen Schreibens, in seine Zeichnungen zu übernehmen. Diese präsentieren sich als dichte, nervöse Protokolle von Formeingebungen. Wie Massons frühe surrealistische Gemälde in Saal 2 belegen, vermochte er dieses Konzept gerade in der Mitte der 1920er-Jahre auch in die an sich weniger spontane Gattung des Gemäldes zu übertragen. Beispiele seines späteren Schaffens finden sich dann wieder in der Sammlung Collinet. Zwei eindrucksvolle Gemälde, die Simone Collinet ihrer Sammlung nach der Trennung von Breton hinzufügte, zeigen Masson als dramatischen Meister der Farbe. 17 SAAL 9 RUE NICOLAS-FLAMEL 21 • Pablo Picasso L’atelier du peintre (La fenêtre ouverte), 1929 Das Atelier des Künsters (Das offene Fenster) Picasso stand dem Surrealismus von 1924 bis 1934 nahe. Bretons Grundforderung, dass der Gestaltungsprozess vom Unbewussten gesteuert werden solle, lehnte er jedoch ab. Er wollte, wie er sagte, »die Natur nicht aus den Augen verlieren«. Das vorliegende Hauptwerk bezeugt seine eigene surreale Vorgehensweise. Ganz im Sinne des Surrealismus funktioniert das Bild als offenes Fenster. Aber etwa anders als bei Dalí öffnet sich das Fenster nicht auf eine traumartige Szenerie. Surreal ist hier vor allem die Innenseite, das Atelier. Dieses aus Maler, Modell und Objekten bestehende Universum komprimiert Picasso zu zeichenhaften Formen. Aber auch diese dienen dem Ausdruck seines ganz eigenen Blicks auf die Welt und deren Präsenz im Kunstwerk. Der Surrealismus ist bei Picasso – so könnte man sagen – weniger eine eigene Sprache als einer von mehreren Dialekten, die der Künstler beherrscht. 22 • Pablo Picasso Le sauvetage, 1932 Die Rettung einer Ertrinkenden Dieses Gemälde erwarb Ernst Beyeler 1966 direkt bei Picasso. In für den Künstler typischer Weise beruht es auf einer konkreten Begebenheit. Picassos Geliebte Marie-Thérèse Walter war eine begeisterte Schwimmerin, begab sich dabei aber auch oft in Gefahr. Picasso stellt sie hier dreimal dar: als stehenden Akt, als halb ertrunkene Schwimmerin, die er aus dem Wasser rettet, und als dritte Frau im Wasser, die bei der Bergung hilft. Die beinahe Ertrunkene stösst weissen Atem aus, der sich unten links mit einem Blumenstiel zu einer Narzisse verbindet. Picasso variiert hier in persönlicher Weise den antiken Mythos der Metamorphose des Narziss, ein Thema, das auch Salvador Dalí aufgreifen wird (vgl. Métamorphose de Narcisse, 1937, in Saal 14 [Passage des Panoramas]). 18 SAAL 10 RUE DE LA TRANSFUSION DE SANG 23 • Jean Arp Configuration, 1932 Konfiguration Der Maler, Bildhauer und Lyriker Jean Arp – 1886 in Strassburg geboren und 1966 in Basel gestorben – zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dadaismus und des Surrealismus. Seit 1914 war er mit Max Ernst befreundet, mit dem er 1919, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, die Kölner DadaGruppe mitbegründete. In den 1920er-Jahren zog Arp nach Paris, nahm 1925 an der ersten Gruppenausstellung der Surrealisten teil und wurde später prominentes Mitglied der Künstlerbewegung »Abstraction-Création«. Gerade diese beiden Begriffe, »Abstraktion« und »Kreation«, mögen das Werk des Poeten unter den Surrealisten treffend bezeichnen. In seinem Holzrelief Configuration arbeitete er unter anderem mit der Stille und dem Leerraum unter Verzicht auf alles Beschreibende, wobei das Bild mit seinen unspektakulären, schwebenden Elementen als ruhige Form in den Raum vorstösst. 24 • Alberto Giacometti Dessin de mon atelier, 1932 Zeichnung meines Ateliers L’atelier, 1932 Das Atelier Seit 1928 mit den Surrealisten bekannt, nahm Giacometti ab 1930 im Leben der Gruppe eine wichtige Stellung ein. 1935 erfolgte bereits sein Ausschluss, wobei Giacomettis wiedererwachendes Interesse am Naturstudium eine wichtige Rolle spielte. Das Arbeiten »nach der Natur« erachteten die Surrealisten als reaktionär. Die beiden vorliegenden Zeichnungen gehören zu den Schlüsselwerken aus Giacomettis surrealistischer Phase. Sie zeigen in zwei Ansichten sein Atelier, das sich zugleich als Ausstellungsraum präsentiert, wobei die Inszenierung surrealistischer Kunst Teil des surrealistischen Werks ist. »Das Atelier« – so kommentiert die Kunsthistorikerin Anita Haldemann – »ist nicht die Werkstatt des Bildhauers, sondern der Lebensraum von Giacomettis Geist.« 19 SAAL 11 RUE DE LA VIEILLE-LANTERNE SAAL 12 RUE AUX LÈVRES 25 • René Magritte L’esprit comique, 1928 Der Geist des Komischen Fast gespensterhaft wirkt dieses Bild des belgischen Künstlers René Magritte, der den Pariser Surrealisten vor allem in den Jahren zwischen 1927 und 1930 nahestand. Es ist bühnenartig aufgebaut: Man blickt in eine kahle hügelige Landschaft, darüber erstreckt sich der weite blaue Himmel. Mittendrin ragt eine riesige weisse, schemenhaft umrissene und scherenschnittartig durchlöcherte Figur empor, die dem Betrachter entgegenschreitet. Das Gemälde zählt zu einer Gruppe von Werken, in denen Magritte mit illusionistischen Scherenschnitten experimentierte. Das Spiel mit den verschiedenen Bildebenen erweist sich als äusserst reizvoll. Faszinierend ist dabei vor allem, dass wir als Betrachter augenblicklich ergänzen, was gar nicht da ist. Wir vervollständigen das grosse, löchrige Papierstück in unserer Vorstellung zu einem voll ausgebildeten Riesen mit Händen und Füssen. Die erzählerische und die formale Ebene sind auf kunstvolle Weise ineinander verschränkt. Interessant ist auch, dass die Scherenschnittmuster – wie wir es von Faltscherenschnitten her kennen – symmetrisch erscheinen, sie bei näherer Betrachtung aber keinem bestimmten Ordnungsmuster folgen, sondern sich völlig willkürlich über die Figur verteilen. 27 • Raoul Ubac Le combat de Penthésilée, 1938 Der Kampf der Penthesilea Raoul Ubacs Wahl des mythologischen Motivs der Amazonenkönigin Penthesilea gründet in der Faszination der Surrealisten für den antiken Mythos und insbesondere für die Tragödie. In dieser Gattung verbinden sich die Themen von Leidenschaft und Untergang. Die Heroen sind trotz ihrer Tatkraft ohnmächtig gegenüber den übergeordneten Mächten und können ihr Schicksal nicht mitbestimmen. Ubacs Figuren treten nur halb aus dem Dunkel hervor. Sie winden sich in kriegerisch-erotischen Zuckungen und scheinen zugleich wie in Flammen zu verglühen. Der Eindruck von Tiefe und Bewegung, den Ubac hier erzielt, ist auf die von ihm verwendeten Verfahren zurückzuführen. Ende der 1930er-Jahre experimentierte er in seinen fotografischen Werken mit verschiedenen ästhetischen Mitteln wie Montage und Solarisation (Überbelichtung) und erzeugte dadurch verfremdende, reliefartige Effekte. Die PenthesileaSerie erinnert an eine Übertragung eines klassischen Frieses auf die Zweidimensionalität des Fotopapiers. 26 • René Magritte Le brise-lumière, 1927 Der Lichtbrecher Von 1927 bis 1930 lebte Magritte mit seiner Frau Georgette in Paris und debattierte mit André Breton über die Prinzipien des Surrealismus. Dabei befand er sich stets auf der Seite seiner belgischen Mitstreiter. Sie begegneten dem psychischen und künstlerischen Automatismus, den Breton forderte, mit Skepsis. Kennzeichnend für Magrittes Werk ist das Gegenspiel zwischen dem Bild der Realität und der Realität selbst. In dem Gemälde Le brise-lumière stehen in einem nicht genau definierten Raum auf Holzdielen zwei hintereinander gestaffelte unregelmässige Formen, die an Einfassungen von Brillengläsern erinnern. Durch die linke Form blickt man in den sie umgebenden Raum, während in der rechten – wie durch ein Fenster – ein wolkiger Schönwetterhimmel zu erkennen ist. Damit wird gleichzeitig ein Innen- und ein Aussenraum angedeutet – und der Betrachter subtil in die Irre geführt. 20 28 • Man Ray Kiki et »Le palais à quatre heures du matin«, 1932 Kiki und »Der Palast um vier Uhr früh« Um 1932 entwarf Alberto Giacometti die Skulptur Le palais à quatre heures du matin. Nach Aussage des Künstlers steht sie für die Beziehung zu seiner Geliebten. In einem Artikel in der Zeitschrift Minotaure (1933) ordnet er die kleine Wirbelsäule der geliebten Frau und das gebogene Brett, dessen Kehlung eine Kugel auffängt, sich selbst zu. Der Skelettvogel kündigt den Tod oder das Ende der Beziehung an. – In diesem fotografischen Werk verbinden sich die fragile Architektur Giacomettis und Man Rays Inszenierung. Kiki de Montparnasse und ihre Freundin Thérèse Treize schauen mit melancholischem Blick durch den Gitterkäfig. Der Palast ist Abbild der seelischen Innenwelt Giacomettis, aber darüber hinaus finden auch die ausdrucksstarken Gesichter der Frauen ihr Zuhause darin. SAAL 13 RUE albert-Tison Filme des Surrealismus: Luis Buñuel, Man Ray, René Clair 21 SAAL 14 PASSAGE DES PANORAMAS 29 • Salvador Dalí L’homme invisible, 1929–1932 Der unsichtbare Mann Dieses Gemälde stammt aus dem ersten Jahr von Dalís surrealistischer Phase. Darin präsentierte er erstmals die für ihn charakteristische doppelbödige Bildsprache, wie sie bereits von Giuseppe Arcimboldo im 16. Jahrhundert entwickelt worden war. Arcimboldo malte Köpfe, die aus lauter Früchten zusammengefügt sind. Auch Dalí baut die grosse, bildbestimmende Gestalt des sitzenden Mannes aus verschiedenen Versatzstücken auf. Nur in der Gesamtschau verbinden sie sich zu einer Figur. Die menschliche Figur – früher stabile Grundeinheit von Plastik und Malerei – erscheint als zerbrechliches Truggebilde, das die Leichtigkeit eines Traumes hat. Malerei bedeutet virtuose Täuschung. Ihr Ziel: die Offenlegung der Wahrnehmungsmechanismen – und die Erschaffung einer neuen Wirklichkeit des Bildes. 30 • Salvador Dalí Métamorphose de Narcisse, 1937 Metamorphose des Narziss Der antike Mythos berichtet von Narziss, der in einem Teich sein Spiegelbild erblickt und sich darin verliebt. Weil seine Liebe unerfüllbar bleibt, stirbt er und wird in eine Narzisse verwandelt. Dalí inszeniert den Mythos in einer dramatisch beleuchteten Landschaft. Links kauert Narziss im Wasser, seine Figur verwandelt sich rechts in eine aus dem Boden aufragende Hand. Diese hält ein Ei, dem eine Narzisse entspringt. Dalís Surrealismus beruht darauf, traumartige Bildwelten sichtbar zu machen, die aufgrund einer virtuosen, altmeisterlich wirkenden Technik Plausibilität gewinnen. Zusätzlich liegt ein Gedicht Dalís zu dem Thema des Bildes vor, in dem er Narziss mit seiner Muse Gala gleichsetzt. Ab den späten 1920er-Jahren verlieh Dalí dem Pariser Surrealismus wesentliche Impulse. Aufgrund seiner zunehmend kommerziellen Einstellung und weil er Sympathien für Francos Faschismus hegte, schloss ihn André Breton 1939 aus der Bewegung aus. Dennoch blieb Dalí bis in sein Spätwerk einer der einflussreichsten Gestalter surrealer Bildwelten. Katalog Surrealismus in Paris Ausstellungskatalog Fondation Beyeler, Riehen/Basel (02.10.2011.–29.01.2012), Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. 290 Seiten, 304 Abbildungen, CHF 68.– ANSICHTEN Für Unterrichtende und Kunstinteressierte ANSICHTEN 13 Joan Miró Fondation Beyeler Riehen/Basel 2011 ANSICHTEN 14 Max Ernst Fondation Beyeler Riehen/Basel 2011 Saaltexte: Stefanie Bringezu, Philippe Büttner, Ioana Jimborean, Daniel Kramer, Janine Schmutz Redaktion: Stefanie Bringezu, Daniel Kramer, Janine Schmutz Lektorat: Holger Steinemann Wir freuen uns auf Ihr Feedback an [email protected] FONDATION BEYELER Baselstrasse 101, CH-4125 Riehen / Basel www.fondationbeyeler.ch 22 23 VORSICHT: Kunstwerke bitte nicht berühren! In dieser Ausstellung werden äusserst fragile Bilder und Skulpturen gezeigt. Wir bitten Sie, die Kunstwerke auf keinen Fall zu berühren. Film 2 5 Wintergarten 8 7 1 Foyer Eingang Sammlung 9 DALÍ, MAGRITTE, MIRÓ – SURREALISMUS IN PARIS SAMMLUNG BEYELER und LOUISE BOURGEOIS 6 4 3 Eingang Museum Art Shop Lift 30 WEST 57TH STREET 7 Lift 9 20 RUE NICOLASFLAMEL 14 PASSAGE DES PANORAMAS 10 RUE VIVIENNE 2 RUE DE LA GLACIÈRE 8 11 PORTE DES LILAS 1 RUE DE LA TRANSFUSION DE SANG RUE AUX LÈVRES 12 RUE DE LA VIEILLELANTERNE 13 RUE ALBERTTISON SURREALISMUS IN PARIS Souterrain 22 RUE D’UNE PERLE 5 RUE DE TOUS LES DIABLES 4 6 RUE CERISE 3 RUE FAIBLE Treppe ins Souterrain 21 Matisse Acanthes