Psychiatrie – Religion und Spiritualität Bipolare

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Psychiatrie – Religion und Spiritualität Bipolare
Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental
Health und Sozialpsychiatrie
Postvertriebsstück – Entgelt bezahlt – B 20695 F – Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle – Bajuwarenring 4 – D-82041 Deisenhofen – Oberhaching
Wissenschaftliches Organ der
pro mente austria, ÖAG, ÖGBE, ÖGKJP, ÖSG
This journal is indexed in Current Contents / Science Citation Index /
MEDLINE / Clinical Practice and EMBASE/Excerpta Medical
Abstract Journals and PSYNDEX
Psychiatrie – Religion und Spiritualität
Bipolare Depression – Antidepressiva
Schizophrenie – kardiovaskuläres Risiko
Schizophrenie – minderjährige Angehörige
Schizophrenie – Komplexitätsforschung
Freud-Meringer-Mayer –
Versprechen & Verlesen
Werther-Effekt
ISSN 0948-6259
21/4
Band 21
Nummer 4 – 2007
Übersicht
Volume 21
Number 4 – 2007
Die „Gretchenfrage“ für die Psych­
iatrie – Der Stellenwert von Religion
und Spiritualität in der Behandlung
psychisch Kranker
M. Seyringer, F. Friedrich, Th.
Stompe, P. Frottier, B. Schrank,
St. Frühwald
239
Sind Antidepressiva in der Be­
hand­lung der bipolaren De­pres­
sion obsolet? Teil III: Gibt es Alter­
nativen?
A. Hausmann, M. Fuchs, M.
Walpoth, Ch. Hörtnagl,
P. Adami, A. Conca
248
Review
The “Gretchen question” for psy­
chiatry – the importance of religion
and spirituality in psychiatric treat­
ment
M. Seyringer, F. Friedrich, Th.
Stompe, P. Frottier, B. Schrank,
St. Frühwald
Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental
Health und Sozialpsychiatrie
Are there substantial reasons for
contraindicating antidepressants
in bipolar disorder? Part III. The
alternatives!
A. Hausmann, M. Fuchs, M.
Walpoth, Ch. Hörtnagl,
P. Adami, A. Conca
Zeitungsgründer
Originalarbeit
Das kardiovaskuläre Risiko schizo­
phrener Patienten
A. Birkhofer, P. Alger, G. Schmid,
H. Förstl
261
Original
The cardiovascular risk of schizo­
phrenic patients
A. Birkhofer, P. Alger, G. Schmid,
H. Förstl
4
07
Franz Gestenbrand, Innsbruck
Hartmann Hinterhuber, Innsbruck
Kornelius Kryspin-Exner †
Redaktion
Minderjährige Angehörige von
Schizo­phrenie-Kranken: Belastun­
gen und Unterstützungsbedarf
M. Krautgartner, A. Unger, R.
Gössler, H. Rittmannsberger,
Ch. Simhandl, W. Grill, R. StelzigSchöler, D. Doby, J. Wancata
267
Psychose aus Sicht der Komplexi­
tätsforschung – Ein Modell zur Un­
tersuchung der Selbstorganisation
eines dysfunktionalen Selbst
K. Toifl, B. Kimmel, Ph. Mayring,
H. Mörth
275
Kritischer Essay
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder
Realität?
Th. Niederkrotenthaler, A.
Herberth, G. Sonneck
284
Sigmund Freud, Rudolf Meringer
und Carl Mayer: Versprechen und
Verlesen. Von der Geschichte einer
Kontroverse zu den Erkenntnissen
der modernen Linguistik
H. Hinterhuber
291
Vorankündigung
5. Psychoedukationkongress vom
15. – 16. Februar 2008 in Wien
302
Minor relatives of schizophrenia
pa­tients: burden and needs
M. Krautgartner, A. Unger, R.
Gös­sler, H. Rittmannsberger,
Ch. Simhandl, W. Grill, R. StelzigSchöler, D. Doby, J. Wancata
Psychosis sight from the complexity
research – a model for the exa­mi­
nation of the self organisation of a
dysfunctional self
K. Toifl, B. Kimmel, Ph. Mayring,
H. Mörth
Hartmann Hinterhuber, Innsbruck
Ullrich Meise, Innsbruck
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• Österreichische Gesellschaft
für Bipolare Erkrankungen
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Schizophrenie­gesellschaft
Critical Essay
The “Werther-effect”: Legend or
reality?
Th. Niederkrotenthaler, A.
Herberth, G. Sonneck
Sigmund Freud, Rudolf Meringer
and Carl Mayer: Slips of the tongue
and mis-readings. The history of a
controversy
H. Hinterhuber
Vorankündigung
5. Psychoedukationkongress vom
15. – 16. Februar 2008 in Wien
Dustri-Verlag Dr.
Dustri-Verlag
Dr. Karl
Karl Feistle
Feistle
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Ulrich Hegerl, Leipzig
Isabella Heuser, Berlin
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Heinz Katschnig, Wien
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Alois Saria, Innsbruck
Norman Sartorius, Genf
Heinrich Sauer, Jena
Gerhard Schüssler, Innsbruck
Gernot Sonneck, Wien
Marianne Springer-Kremser, Wien
Gabriela Stoppe, Basel
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Email: [email protected]
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Tel. +49 (0) 89 61 38 61-0, Telefax +49 (0) 89 6 13 54 12
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III
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­gesandt werden. Die Zahl der Abbildungen und Tabellen sollte sich auf maximal 5 beschränken.
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- Übersichtsarbeiten: bis ca. 50.000 Zeichen inkl. Leerzeichen
- Originalarbeiten: bis ca. 35.000 Zeichen inkl. Leerzeichen
- Kasuistiken, Berichte, Editorials: bis ca. 12.000 Zeichen inkl. Leerzeichen
• Titelseite: (erste Manuskriptseite)
- Titel der Arbeit:
- Namen der Autoren (vollständiger Vorname vorangestellt)
- Klinik(en) oder Institution(en), an denen die Autoren tätig sind
- Anschrift des federführenden Autors (inkl. Email-Adresse)
• Zusammenfassung: (zweite Manuskriptseite)
- Sollte 15 Schreibmaschinenzeilen nicht übersteigen
- Gliederung nach: Anliegen; Methode; Ergebnisse; Schlussfolgerungen;
- Schlüsselwörter (mindestens 3) gesondert angeben
• Titel und Abstract in englischer Sprache (3. Manuskriptseite)
- Kann ausführlicher als die deutsche Zusammenfassung sein
- Gliederung nach: Objective; Methods; Results; Conclusions
- Keywords: (mindestens 3) gesondert angeben
• Text: (ab 4. Manuskriptseite)
Für wissenschaftliche Texte Gliederung wenn möglich in Einleitung, Material und Methode, Er­
gebnisse, Diskussion, evtl. Schlussfolgerungen, evtl. Danksagung, evtl. Interessenskonflikt
• Literaturverzeichnis: (mit eigener Manuskriptseite beginnen)
- Literaturangaben sollen auf etwas 20 grundlegende Werke und Übersichtsarbeiten be­
schränkt werden. Das Literaturverzeichnis soll nach Autoren alphabetisch geordnet werden
und fortlaufend mit arabischen Zahlen, die in [eckige Klammern] gestellt sind, nummeriert
sein.
- Im Text die Verweiszahlen in [eckiger Klammer] an der entsprechenden Stelle einfügen.
Beispiele:
Arbeiten, die in Zeitschriften erschienen sind:
[1] Rittmannsberger H., Sonnleitner W., Kölbl J., Schöny W.: Plan und Wirklichkeit in der
­psychiatrischen Versorgung. Ergebnisse der Linzer Wohnplatzerhebung. Neuropsychiatr
15, 5-9 (2001). (Abkürzung Neuropsychiatr)
Bücher:
[2] Hinterhuber H., Fleischhacker W.: Lehrbuch der Psychiatrie. Thieme, Stuttgart 1997.
Beiträge in Büchern:
[3] Albers M.: Kosten und Nutzen der tagesklinischen Behandlung. In: Eikelmann B., Reker
T., Albers M.: Die psychiatrische Tagesklinik. Thieme, Stuttgart 1999.
• Abbildungen und Tabellen: (jeweils auf eigener Manuskriptseite
- Jede Abbildung und jede Tabelle sollte mit einer kurzen Legende versehen sein.
- Verwendete Abkürzungen und Zeichen sollten erklärt werden.
- Die Platzierung von Abbildungen und Tabellen sollte im Text durch eine Anmerkung markiert
werden („etwa hier Abbildung 1 einfügen“).
- Abbildungen und Grafiken sollten als separate Dateien gespeichert werden und nicht
in den Text eingebunden werden!
- Folgende Dateiformate können verwendet werden: Für Farb-/Graustufenabbildungen:
.tiff, .jpg, (Auflösung: 300 dpi); für Grafiken/Strichabbildungen (Auflösung: 800 dpi)
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Kornelius Kryspin-Exner †
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Ethische Aspekte:
Vergewissern Sie sich bitte, dass bei allen Untersuchungen, in die Patienten involviert sind, die
Grundsätze der zuständigen Ethikkommissionen oder der Deklarationen von Helsinki 1975 (1983)
beachtet worden sind. Besteht ein Interessenskonflikt gemäß den Richtlinien des International
Committee of Medical Journal Editors, muss dieser gesondert am Ende des Artikels ausgewiesen
werden.
Korrekturabzüge:
Nach Anfertigung des Satzes erhält der verantwortliche Autor einen Fahnenabzug des Artikels
elektronisch als pdf-Datei übermittelt. Die auf Druckfehler und sachliche Fehler durchgesehenen
Korrekturfahnen sollten auf dem Postweg an die Verlagsadresse zurückgesandt werden.
Manuskript-Einreichung:
Redaktion: Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise, Universitätsklinik für Psychiatrie,
Medizinische Universität Innsbruck, Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck,
Telefon: +43-512-504-236 68, Fax: +43-512-504-23628, Email: [email protected]
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ISSN 0948-6259
IV
Übersicht
Review
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 239–247
Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie
Der Stellenwert von Religion und Spiritualität
in der Behandlung psychisch Kranker
Michaela-Elena Seyringer1, Fabian Friedrich1, Thomas Stompe2, Patrick Frottier3,
Beate Schrank2, 4 und Stefan Frühwald5
1
Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie
2
Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie
Justizanstalt Mittersteig, Wien
Ludwig-Boltzmann-Institut für Sozialpsychiatrie, Wien
5
Psychosozialer Dienst, Caritas St. Pölten
3
4
Schlüsselwörter:
Religion
–
Spiritualität
–
Glaube
– psychische Gesundheit – religiöses
Coping
Keywords:
religion – spirituality – faith – mental health
– religious coping
Die „Gretchenfrage“ für die Psy­
chiatrie: der Stellenwert von
Reli­gion und Spiritualität in der
Behandlung psychisch Kranker
Anliegen: Ziel dieser Arbeit
ist es, einen Überblick über die
Einstellung von PatientInnen sowie
PsychiaterInnen zum Thema Religion
und Spiritualität in der Behandlung
psychischer
Erkrankungen
zu
geben sowie bestehende Konzepte
zur Integration dieser beiden
Dimensionen in die Therapie
darzustellen. Methodik: Es wurde
eine elektronische Literatursuche in
den Datenbanken Medline, PubMed,
Psyndex, Embase sowie mit den
Suchmaschinen Scopus und Google
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
Scholar durchgeführt. Ergebnisse:
Im Vergleich zu PsychiaterInnen
benennen PatientInnen bis zu doppelt
so häufig die Religion als wichtigen
Faktor. Der Fokus bezüglich
einer Integration dieser beiden
Dimensionen in den klinischen
Alltag liegt im Bereich Ausbildung,
Konsultation sowie
erweiterter
Anamneseerhebung. Weiters wurden
„religiöses Coping“, sowie die
überwiegend positiven Wirkfaktoren
von Religion/Spiritualität auf die
psychische Gesundheit aufgezeigt.
Schlussfolgerungen:
Das
als
„religiosity gap“ bezeichnete Span­
nungsfeld zwischen spirituellen
Kon­zepten von PatientInnen und
behandelnden PsychiaterInnen sollte
in Zukunft vermehrt fokussiert
werden. Die Gesamtheit einer Person
impliziert eine physische, emotionale,
soziale sowie eine spirituelle Di­
mension. Das Ignorieren einer dieser
Aspekte seitens professioneller
Helfer birgt die Gefahr, den Ge­
nesungsprozess von PatientInnen zu
verzögern.
The “Gretchen question” for psy­
chiatry – the importance of religion
and spirituality in psychiatric treat­
ment
Objective: The subject of religion
and spirituality has attracted little
attention in psychiatric research so far.
The aim of the study was to give an
overview of the attitudes of patients
as well as psychiatrists towards
regarding the importance of religion
and spirituality in the treatment of
mental illness. Furthermore we tried
to give a description of established
ideas involving both dimensions into
the treatment of psychiatric patients.
Methods: We performed a search for
relevant literature using the electronic
databases Medline, PubMed, Psyn­
dex and Embase. In addition we
used the internet search engines
Scopus and Google Scholar. Results:
Patients mention religion twice as
often as an important factor in their
lives as compared to psychiatrists.
Consecutively, particular emphasis
should be paid to the integration
of both dimensions into clinical
treatment. Additionally, the education
of mental health professionals,
consultation and the enrolment of
religious or spiritual needs of patients
when taking their medical history
are essential factors. Religious
Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald
coping and positive and negative
components in matters of mental
health are highlighted. Conclusions:
More attention should be paid
to the “religiosity gap” between
patients and their psychiatrists. The
entirety of a human being includes a
physical, emotional, social as well as
a spiritual dimension. Mental health
professionals ignoring one of these
aspects may delay recovery.
MARGARETE: Nun sag, wie hast
du's mit der Religion? Du bist ein
herzlich guter Mann, Allein ich glaub,
du hältst nicht viel davon. FAUST:
Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich
bin dir gut; Für meine Lieben ließ'
ich Leib und Blut, Will niemand sein
Gefühl und seine Kirche rauben.
MARGARETE: Das ist nicht recht,
man muß dran glauben. FAUST:
Muß man? MARGARETE: Ach!
wenn ich etwas auf dich konnte!
Du ehrst auch nicht die heil'gen
Sakramente. FAUST: Ich ehre sie.
MARGARETE: Doch ohne Verlan­
gen. Zur Messe, zur Beichte
bist du lange nicht gegangen.
Glaubst du an Gott? FAUST: Mein
Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub
an Gott? Magst Priester oder Weise
fragen, Und ihre Antwort scheint
nur Spott Über den Frager zu sein.
MARGARETE: So glaubst du nicht?
FAUST: Mißhör mich nicht, du holdes
Angesicht! Wer darf ihn nennen? Und
wer be­kennen: Ich glaub ihn! Wer
empfinden, Und sich unterwinden Zu
sagen: Ich glaub ihn nicht! [43].
Begrifflichkeiten zu Reli­
gion und Spiritualität
Einleitend soll erwähnt werden, dass
die Begriffe Religion und Spiritualität
keineswegs idente und nicht
voneinander abzugrenzende Begriffe
sind. Zu beiden Begriffen gibt es
eine Vielzahl von unterschiedlichen
Definitionen und oftmals werden
diese Termini auch austauschbar
verwendet [28].
Als Religion bezeichnet man eine Viel­
zahl ganz unterschiedlicher kul­­­tureller
Phänomene, die mensch­­­liches Verhalten,
Denk­wei­­­sen und Wertvorstellungen
nor­­ma­­tiv beeinflussen. Religiöse
Sinngebungssysteme
gehen
über
naturalistische Welterklärungen hin­
aus, indem sie diesen Erfahrungen
transzendente oder aber auch im­manente
Ursachen zuschreiben. Eine einheitliche
Definition des Be­griffes existiert nicht.
Zahlreiche Re­­ligionsbegriffe sind
jedoch ab­­­hängig von ganz bestimmten
historischen Religionen [36]. Im
angloamerikanischen Raum wird
weiters auch zwischen Religiosität
(„religiosity“) und Religiös-sein („reli­
giousness“) - als mehr intrinsisch ge­
sehene Dimension - unterschieden
[1,3].
Im Lexikon der Psychologie wird
für den Begriff „Spiritualität“
folgende Definition gegeben: „eine
vom Glauben getragene geistige
Orientierung und Lebensform, die
im Gegensatz zur vorherrschenden
materialistisch-mechanistischenWelt­
sicht steht“ [2]. Spiritualität kann
als eine sinnstiftende Einstellung
gesehen werden, welche unter
an­derem Religiosität beinhalten
kann, spirituelle Konzepte können
jedoch auch außerhalb von Religion
angetroffen werden. Spiritualität hat
transzendente Selbstreflexion als
elementaren Bestandteil und kann
somit religiöses Denken einschließen,
muss sich jedoch keineswegs auf
dieses beschränken [1]. Spiritualität
ist ein global anerkanntes Konzept und
beschreibt eine grundsätzliche Suche
nach unterschiedlichen Wegen zur
Sinnfindung. Unter Spiritualität wird
generell eine transzendente Beziehung
zwischen einem Individuum und einer
höheren Existenz beschrieben – eine
Qualität die über eine spezifische
religiöse Zugehörigkeit hinausgeht.
Es sei erwähnt, dass Personen sich als
spirituell jedoch nicht religiös und vice
versa deklarieren. Ein Beispiel sich
religiös zu verhalten ohne spirituell
zu sein ist zum Beispiel, wenn jemand
ein Gebet rein formelhaft abhandelt
oder nur aus dem Grunde an einem
240
Begräbnis teilnimmt, weil dies sozial
gerne gesehen ist. In diesem Falle
wird Religiosität nicht um ihrer
selbst Willen praktiziert, sondern um
andere Zwecke zu erreichen [55, 56].
Umgekehrt ist es möglich, sich als
spirituell zu definieren ohne spezifisch
religiös zu sein. Dies liegt dann vor,
wenn jemand meditiert, weil ihm dies
Freude bereitet und weniger anfällig
für Stresssituationen macht [56].
Beiden Begriffen gemeinsam ist
die Hinwendung zu einem über­
individuellen, sinnstiftenden System,
einer höheren Macht, auf der Suche
nach Sinn und dem Finden von
Antworten auf existentielle Fragen,
wobei Deismus als Glaube an eine
der Welt abgewandte höhere Macht,
dessen Regeln der Lebensführung
nicht veranschaulicht werden, son­
dern in der Natur angelegt sind,
definiert werden kann, und Theismus
als Glaube an die Existenz eines
der Welt zugewandten personalen
Gottes, der Sinn im Leben sowie
moralische Prinzipien offenbart,
verstanden werden kann [54].
Im Gegensatz zur Spiritualität be­
schreibt der Terminus „Religion“
eher die Zugehörigkeit zu einer
organisierten Glaubensgemeinschaft
oder religiösen Institution. Eine
Abgrenzung der beiden Termini
scheint jedoch nicht immer möglich
zu sein bzw. wurden beide Begriffe
in den für diese Übersichtsarbeit
herangezogenen Forschungsarbeiten
nicht immer in differenzierter Weise
verwendet. In der vorliegenden Arbeit
wird der Begriff Spiritualität als eine
erweiterte Definition zum Begriff der
Religiosität gesehen.
Spannungsfeld Psychiatrie
und Religion/Spiritualität
Dem Themengebiet der Religion
sowie der Spiritualität wurde bisher
im Forschungsfeld der Psychiatrie
nur wenig Aufmerksamkeit zuteil
[8, 9,10]. Im klinischen Alltag
– am Beispiel der psychiatrischen
Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie
Anamneseerhebung – spielt das
Thema der religiösen oder spirituellen
Ausrichtung des Patienten eine
nur sehr geringe bis gänzlich ver­
nachlässigte Rolle. Die spirituelle
Dimension, als ein wesentlicher
Aspekt der menschlichen Natur,
wurde bisher größtenteils von der
Psychiatrie ignoriert oder sogar
pathologisiert [5].
Das Spannungsfeld von Religion und
Psychiatrie hat unterschiedlichste
Phasen durchlaufen. Im Mittelalter
galt eine psychische Erkrankung
oft als Strafe Gottes, andererseits
nahmen sich in dieser Zeit vor
allem religiöse Gemeinschaften wie
Klöster oder Orden um psychisch
Kranke an, lange bevor staatlich
beziehungsweise ärztlich geführte
Hilfeleistungen etabliert wurden [51].
Allerdings kam es ab der Renaissance
zu grausamen Hexenverfolgungen,
denen viele psychisch erkrankte
Frauen zum Opfer fielen. Eine
weitere nicht unwesentliche Rolle bei
dieser konfliktreichen Entwicklung
spielten die Werke Freuds, welcher
postulierte, dass jeglicher religiöser
Glaube eine Form psychischer
Krankheit, einen Massenwahn oder
eine infantile Regression darstelle.
Spirituelle Erfahrungen wurden als
„universelle obsessive Neurose“,
Regression des Ego`s, eine Psychose,
pathologisches Denken oder Zeichen
emotionaler
Unausgewogenheit
in­terpretiert [6,7]. Ausführlichere
Forschungsarbeiten
beschäftigten
sich in der Folge eher mit einem
religionspsychopathologischen An­
satz wie zum Beispiel G. Hole dies
bei Depressiven tat [52].
Derzeit rückt das „Empowerment“
der PatientInnen vermehrt in den
Fokus der Aufmerksamkeit. Die
Behandlung sieht vor, sich auf
innere Stärken der PatientInnen
zu konzentrieren wobei spirituelle
Ressourcen inkludiert werden könn­
ten. So haben beispielsweise „Quality
of life-Skalen“ in aller Regel einen
eigenen Bereich „spiritual well-being/
241
satisfaction“, zum Teil wird dieser
Bereich noch genauer aufgeschlüsselt,
wodurch die Wichtigkeit der sub­
jektiven Betrachtungsweise von
Religiosität
unterstrichen
wird.
Durch das Erkennen bzw. durch
Rücksichtnahme auf die spirituelle
sowie religiöse Dimension kann
der Arzt ein holistisches Be­
handlungskonzept anbieten. Auch im
Rahmen der „Recovery“-Forschung
wurde die „Spiritualität“ als mög­
liche
bedeutsame
Komponente
im Genesungsprozess identifiziert
[11,16].
Vor der Publikation der vierten
Ausgabe des „Diagnostic and
Statistical Manual of Mental Dis­
orders“ (DSM-IV), schlugen Lukoff,
Lu und Turner vor, dieses um eine
weitere diagnostische Komponente
namens „religiöse oder spirituelle
Probleme“ zu erweitern, wobei hier
vor allem Bereiche wie zum Beispiel
Religionsverlust oder Konvertierung
berücksichtigt werden sollten. Um
der Tendenz von psychiatrischem
Personal, diese Komponenten zu
vernachlässigen, entgegenzuwirken
wurde diese diagnostische Kategorie
somit auch in die vierte Auflage
auf­genommen [47]. Im ICD-10
– Internationale statistische Klas­
sifikation der Krankheiten und
ver­wandter
Gesundheitsprobleme
der WHO – wurden die genannten
Begriffe nicht berücksichtigt.
Durch die weltweit verstärkte Mi­
gra­tionsbewegung kommt es in un­
serer Gesellschaft zu vermehrtem
Kontakt mit verschiedenen Tra­di­
tionen anderer Kulturkreise, wo­
bei die detaillierte Erfassung des
individuellen Stellenwertes von
Spiritualität und Religion wichtige
Aufschlüsse für die Behandlung
geben kann. Für den Bereich der
transkulturellen Psychiatrie ergeben
sich mit der Berücksichtigung spiri­
tueller und religiöser Konzepte
wichtige Optionen bei der Betreuung
und Behandlung von Flüchtlingen
und ImmigrantInnen [29].
Ziel dieser Arbeit ist ein Überblick
über die Einstellung von Patien­
tenInnen und PsychiaterInnen zum
Thema Religion und Spiritualität
in der Behandlung psychischer
Erkrankungen. Es wird auf den oftmals
deutlichen Unterschied bezüglich der
Wichtigkeit, die PatientInnen und
behandelnde Professionelle diesem
Thema beimessen, eingegangen.
Für die gelungene Arzt-PatientBe­­ziehung vermag dieses Thema
eine wichtige, jedoch allzu oft auch
vernachlässigte Rolle spielen. Es
soll explizit erwähnt werden, dass
„religionspsychopathologische“
Phänomene beziehungsweise Mani­
festationen „religiöser Symptome“
im Zusammenhang mit klinischen
Störungsbildern nicht Inhalt dieser
Arbeit sind.
Methode
Es wurde eine elektronische Litera­
tursuche nach publizierten Studien
in englischer und deutscher Sprache
durchgeführt. Inkludiert wurden
relevante Studien die zwischen 1985
und März 2007 publiziert wurden.
Als Suchbegriffe wurden „religion“,
„spirituality“, „faith“, „religious
coping“ in Kombination mit „mental
health“ und „psychiatry“ verwendet.
Für
deutschsprachige
Arbeiten
wur­den zusätzlich die Begriffe
„Religion“, „Glaube“, „Spiritualität“
in Kombination mit „Psychiatrie“
und
„psychische
Gesundheit“
verwendet. Für die Literaturrecherche
wurden
folgende
elektronische
Datenbanken herangezogen: Med­
line, PubMed, Psyndex, Embase,
sowie die Suchmaschinen Scopus
und Google Scholar. Zusätzlich
wurden die Literaturangaben aller
Übersichtsarbeiten
nach
nicht
in
Datenbanken
befindlichen
Publikationen durchsucht.
Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald
Ergebnisse
Nach Durchführung der Literatur­
recherche wurden 89 publizierte
Studien als relevant für diese Arbeit
erachtet und berücksichtigt.
Laut Mohr [46] und Koenig et al
[48] beschäftigten sich in etwa 350
Studien mit dem Zusammenhang von
Religion und Gesundheit. Aus diesen
Studien geht hervor, dass religiöse
Menschen
körperlich
gesünder
sind, einen gesünderen Lebensstil
pflegen und weniger oft medizinische
Dienste in Anspruch nehmen [8,10].
Weitere Studienergebnisse belegen,
dass religiöse Menschen psychisch
stabiler sind und erfolgreicher mit
Stress umgehen als nichtreligiöse
Menschen. Dies dürfte in einem
Land
Literaturquelle
242
ältere
positiven als zu negativen reli­giö­
sen Copingmechanismen ten­die­ren
[8,9,20, siehe Tabelle 1].
Zusammenhänge zwi­schen
Religio­sität und psy­chischer
Gesundheit
In der Literatur findet sich zur
Frage der positiven Aspekte an
erstgenannter Stelle der Wirkfaktor
„soziale Unterstützung“. Die Zuge­
hörigkeit zu einer Interessens
– und Wertegemeinschaft kann eine
Quelle effizienter psychosozialer
Unterstützung darstellen. Glaube und
religiöse Denkmuster können den
Umgang mit Stress und belastenden
Life-Events positiv beeinflussen.
Als Beispiel für einen negativen
Wirkfaktor sei das Einnehmen einer
passiven Haltung von PatientInnen
genannt, welche auf das Eingreifen
Gottes zur Verbesserung der Lebens­
besonderen Ausmaß
Personen gelten [49].
für
Es stellt sich die Frage, welche
Faktoren es im Speziellen sind, die
Wirkmechanismen in der Beziehung
von Religion und psychischer Stabilität
darstellen. WissenschaftlicheArbeiten
zum Thema „religiöses Coping“,
welches sowohl positive als auch
negative Auswirkungen haben kann,
eröffnen ein viel versprechendes
Forschungsfeld. Zusammenfassend
kann gesagt werden, dass religiöse
PatientInnen deutlich mehr zu
Relig./Spiritualität von
Relig./Spiritualität von
PatientInnen in
PsychiaterInnen in
%
n
%
27
n
Spirit.als pos.
Faktor
%
UK
Neeleman et al (1993) [12]
69,4
52
USA
Corrigan et al (2003) [13]
63,5
1824
k.A.
k.A.
Neuseeland
Mitchell et al (2002) [14]
78
147
k.A.
69
USA
Tepper et al (2001) [15]
80
406
k.A.
80
Australien
D´Souza et al (2002) [9]
79
79
k.A.
67
Schweiz
Mohr et al (2006) [17]
71
115
k.A.
71
Kanada
Baetz et al (2004) [18]
71
157
54
Kanada
Baetz et al (2002) [19]
59
88
k.A.
33
Wales
Kirov et al (1998) [20]
69,4
52
k.A.
61,2
Australien
Payman (2000) [37]
k.A.
USA
Kroll et al (1989) [16]
95
52
k.A.
k.A.
USA
Fitchett et al (1997) [34]
80
51
k.A.
72
USA
Bergin et al (1991) [35]
72
n.b.
29
25
231
Pat. erlebt Relig./
1204
207
n.b.
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
Tabelle 1: Zustimmung in %: Religiosität/Spiritualität spielt eine Rolle im Leben - Vergleich psychiatrische Patient­
Innen/ PsychiaterInnen; Anzahl der PatientInnen in Prozent welche Religion/Spiritualität als positiven Faktor
erleben (k.A=keine Angabe, n.b.=nicht bekannt).
Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie
243
Positive Wirkfaktoren
Negative Wirkfaktoren
(1) Positives Selbstwertgefühl, Hoffnung, Lebensfreude und
gesteigerter Selbstrespekt [30,31]
(1)
Angst vor Suizid wird durch Glaube an ein Leben nach
dem Tod vermindert [17]
(2) Sinngebung der Krankheit (zB. Krankheit
als irdische Prüfung, um spirituell zu wachsen) [33]
(2)
Verstärkte Schuld, -und Schamgefühle [30]
(3)
Verleugnen von Problemen [30]
(4)
Passives Warten auf Gott, der die Situation wieder
unter Kontrolle bringt [33]
(5)
Durch übermäßig Beschäftigung mit Religion
gesteigerte Erwartung an einen selbst und Isolation von
anderen (nichtreligiösen) Menschen [46]
(6)
Unflexible, starre Überzeugungen, die alternative
Denkweisen ausschließen [30,31]
(3) Reduktion der Positiv- und Negativsymptomatik [17]
(4) Verbesserte soziale Kontakte [30,33]
(5) Schutz vor Suizid(versuchen) [24]
(6) Schutz vor Substanzabusus [33]
(7) Religiöse Praktiken (Gebete, Meditation, etc.)
zur Reduktion von Angst, -und Stresssymptomen [17]
(8) Bibliotherapie (pos. kognitive und/oder emotionale
Veränderung durch das Lesen religiöser/spiritueller
Texte) [17,33]
(9) Verhaltensregulierung: Verhaltensweisen die zu
Vergebungsbereitschaft, Nächstenliebe etc. auffordern
[17,30,33,44]
(10) Kognitive Orientierung [30]
Tabelle 2:Positive und negative Wirkfaktoren von Religion/Spiritualität und psychischer Gesundheit
situation warten und so teils die
Ei­gen­verantwortung
untergraben.
Weitere in der Literatur beschriebene
Wirkfaktoren werden in Tabelle 2
aufgezeigt.
„Religiosity gap“ – Religion
und Spiritualität aus Sicht
der PatientInnen und Psy­
chiaterInnen
Mehreren Umfragen zufolge sind
PsychiaterInnen im Allgemeinen
weniger gläubig oder spirituell
ver­anlagt als der Rest der Allge­
meinbevölkerung [z.B.12,18]. Auch
im Vergleich zu psychiatrischen
PatientInnen wird diese in der Literatur
meist als „religiosity gap“ bezeichnete
Kluft zwischen der Religiosität der
behandelnden PsychiaterInnen und
ihrer PatientInnen deutlich [z.B. 5, 6,
9, 12, 20, 23]. Neeleman et al. [12]
haben 231 PsychiaterInnen bezüglich
ihrer religiösen Ausrichtung befragt
und nur 27% bezeichneten sich
selbst als religiöse Menschen. Trotz­
dem gaben über 90% der befragten
ÄrztInnen an, dass sie es für wichtig
erachten die Religiosität ihrer
PatientInnen bei der Anamnese so­
wie im therapeutischen Prozess zu
berücksichtigen. Dieses Ergebnis
stellt einen deutlichen Unterschied
zu den gleichzeitig befragten Pa­
tient­Innen (n=52) dar: In der
Patientengruppe beschrieb sich eine
mehr als doppelte so große Anzahl
(69,4%) der Befragten als religiös
bzw. gab an, dass Religion eine
tragende Rolle in ihrem Leben spielt.
Auch andere Autoren kommen in ihren
Studien zu ähnlichen Ergebnissen
des unterschiedlichen Stellenwertes
von Religiosität/Spiritualität im
Vergleich von PsychiaterInnen zu
PatientInnen [12,18,35] (siehe auch
Tabelle 1). Baetz et al. [18] berichten
in ihrer kanadischen Arbeit, dass
53% der befragten PatientInnen
es für wichtig erachteten, ihren
Psychiater zum Thema Religion
und Spiritualität zu informieren.
Des Weiteren berichtet Baetz, dass
für 24% beziehungsweise 27% der
PatientInnen die religiöse/spirituelle
Ausrichtung des behandelnden Arztes
eine entscheidende Rolle bei der Wahl
des Psychiaters spielte [18,41].
Bezüglich des Bedürfnisses von
PatientInnen und PsychiaterInnen,
Re­ligion und Spiritualität in Behand­
lungskonzepte zu integrieren, zei­
gen Baetz et al [18], dass dies
bei­de Gruppen zu gleichen Teilen
befürworten (weitere Daten siehe
Tabelle 3). Fitchett et al [34] be­
richten in ihrer Studie, dass 72% der
psychiatrischen PatientInnen Reli­
gion als eine wichtige Quelle der
Unterstützung ansahen, 88% dieses
Samples gaben wiederum an während
Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald
244
Land
Literaturquelle
Bedürfnis PatientInnen
Bedürfnis PsychiaterInnen
Kanada
Baetz et al (2004) [18]
47% (aus n=157)
47% (aus n=1204).
UK
Neeleman et al (1993) [12]
k.A.
92% (aus n=231)
Australien
D´Souza et al (2002) [9]
69% (aus n=79)
k.A.
USA
Fitchett et al(1997) [34]
88% (aus n=51)
k.A.
Kanada
Baetz et al (2002) [41]
k.A.
80% (aus n=42)
Tabelle 3: Überblick Bedürfnisse von PatientInnen und PsychiaterInnen, Religion und Spiritualität in Behandlungskon­
zepte zu integrieren; Zustimmung in % (k.A = keine Angabe).
ihres stationären Aufenthaltes drei
oder mehr religiöse Bedürfnisse
(Unterstützung, gemeinsames Ge­
bet, ua.) erfahren zu haben. 60%
berichteten, keine Unterstützung
durch religiöse Professionelle er­
halten zu haben. Obwohl neuerdings
nachweisbare Veränderungen der
Gehirnfunktion sowie die Be­ein­
flussung
der
Psychopathologie
durch spirituelle Erfahrungen wissen­
schaftlich belegt wurden, hatte dies
kaum Einfluss auf die Tätigkeit
der PsychiaterInnen [5]. Als die
häufigsten Gründe für das Negieren
des religiösen/spirituellen Aspektes
bei der Erhebung der psychiatrischen
Anamnese wurden folgende Faktoren
in einer Studie angegeben: es wäre
„unpassend“ und „der Patient sei
nicht daran interessiert“ [18].
Konzepte zur Integration
von Religion/Spiritualität
in das psychiatrische Ver­
sor­gungssystem
Ausbildung
Die American Psychiatric Association
erkannte eine Notwendigkeit für
PsychiaterInnen, sich ein Verständnis
über grundlegende Aspekte von
Spiritualität und Religion anzueignen.
Es folgten akkordierte Änderungen
im Bereich der Ausbildungscurricula
mit neuen Ausbildungsmodulen
[APA 1995, Larson et al 1997]. Un­
ter anderem sollte die Fähigkeit
zur Unterscheidung spiritueller
Er­fah­­rungen von pathologischen
Phänomenen verbessert werden, so­
wie auch das therapeutische Inter­
ven­tionsinstrumentarium erwei­tert
werden, aber auch ein breiteres
Ver­ständnis für Phänomene auf
individueller, spiritueller aber auch
kultureller Systemebene geschaffen
werden.
Grabovac et al [23] präsentieren
in ihrer Arbeit ein mögliches Aus­
bildungsmodul für das Thema
„Spiritualität und Religion in der
Psychiatrie“, welches spezifisch für
psychiatrische Ausbildungscurricula
in Kanada entwickelt wurde. Inhalt
dieses aus 10 Unterrichtseinheiten
bestehenden Moduls reichen von
In­formationen über die großen
Welt­religionen bis hin zu Fragen
der transpersonellen Psychologie
beziehungsweise religiösen und
spirituellen Aspekten in der Psy­
cho­therapie. Auch weitere Autoren
sehen die Notwendigkeit spezifische
Ausbildungsprogramme in diesem
Bereich zu etablieren [10, 24, 25,38].
Religion und Spiritualität in der
klinischen Praxis
ÄrztInnen beziehungsweise Psy­
chia­terInnen sollten Interesse und
Respekt gegenüber der Religion
oder dem Interesse an Spiritualität
ihrer PatientenInnen zeigen. Einige
Autoren [26,50] kommen in ihren
Arbeiten zu dem Schluss, dass die
Erfassung vorhandener spiritueller
Konzepte im Rahmen der Anamnese
und deren Berücksichtigung in
der
Krankengeschichte
einige
Vorteile birgt. So ermöglicht dies
zum Beispiel ein breiteres Er­
fassen von Wertesystemen, ein
Er­kennen des Stellenwertes von
Ge­sundheit beziehungsweise Krank­
heit, bis hin zur Identifizierung
persönlicher Erwartungen und in­
di­vidueller Ressourcen, die für
den Genesungsprozess mitbe­rück­
sichtigt werden können. Ziel einer
solchen Exploration sollte eine
ur­teilsfreie Analyse von Werten,
allgemeinen Glaubensgrundsätzen
und kulturellen Aspekten im Leben
des Patienten sein. Daraus können
eine verbesserte Kommunikation
zwischen Patient und Arzt entstehen,
und gewonnene Informationen in
das Therapiekonzept mit einfließen.
Nach D´Souza et al [8] schätzen Pa­
tientInnen die Aufmerksamkeit und
Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie
Sensibilität der Behandelnden zu
diesem Thema. Koenig [26] hält fest,
dass es nicht bei jedem Patienten von
Vorteil ist, eine Anamnese in diesem
Bereich durchzuführen, dass aber
die Erhebung selbst auch schon eine
starke Intervention darstellen kann. Es
sollte vermieden werden, Anamnesen
über Spiritualität bei nicht religiösen
Menschen durchzuführen, mit Pa­
tientInnen über Glaubensfragen
zu diskutieren, PatientInnen be­
stimmte Glaubenspraktiken näher
bringen zu wollen beziehungsweise
therapeutische Schritte zu setzen, die
nicht patienten-zentriert sind.
Klein et al [30] bringen in ihrer
Übersichtsarbeit acht Punkte, die
im Rahmen der klinischen Tätigkeit
berücksichtigt werden können. Diese
reichen von der Exploration religiöser
Wertsysteme und der Religiosität
als Ressource hin zu spezifischem
Supervisionsbedarf und etwaigen
Beschränkungen im Rahmen der
Behandlung.
In einer Stellungnahme des American
College of Physicians [27] werden
vier Fragen vorgeschlagen, die
ÄrztInnen im Rahmen der Anamnese
stellen können:
1) Spielt Glaube (Religion, Spiri­
tualität) eine wichtige Rolle für
Sie im Rahmen der Erkrankung?
2) War Glaube zu einem anderen
Zeitpunkt Ihres Lebens wichtig?
3) Haben Sie jemanden, mit dem Sie
über religiöse Angelegenheiten
sprechen können?
4) Möchten Sie mit jemandem reli­
giöse Angelegenheiten erörtern?
Das Einfließen religiöser Kompo­
nenten in die Psychotherapie mag für
religiöse PatientInnen einen positiv
verstärkenden Effekt haben [42]. Dies
wurde von Propst et al [45] durch das
Einbringen religiöser Imaginationen
in verhaltenstherapeutische Settings
bei religiösen PatientInnen im Sinne
positiver Therapieeffekte bestätigt.
Auch Bonelli [53] sieht das behutsame
und wertschätzende Einbeziehen
245
der Religiosität des Patienten in die
Psychotherapie als ratsam.
Im deutschsprachigen Raum etablieren
sich neben bereits jahrzehntelang
in gemeindepsychiatrischer Versor­
gung engagierten kirchlichen Trä­
gern (in Österreich z.B. Caritas
St. Pölten) [57] allmählich auch
medizinische Einrichtungen, die
spezifische religiöse Inhalte in das
Behandlungskonzept mit einbeziehen
[39, 40]. Anders präsentiert sich die
derzeitige Situation in den USA, wo
„pastoral psychotherapy“, „spiritual
coun­selling“ oder „religious coun­­
selling“ bereits weitgehend akzep­
tierte Behandlungsmodule darstellen
[30].
Zusammenarbeit von Psychia­
ter­Innen und religiösen Pro­fes­
sionellen
Fitchett et al [34] geben an, dass 65%
aller psychiatrischen PatientInnen
das Bedürfnis äußerten von einem
Geistlichen Besuch zu erhalten
beziehungsweise mit diesem ge­
meinsam zu beten. Nach Baetz et
al [41] sowie Neeleman et al [12]
bejahen 31% beziehungsweise 37%
der PsychiaterInnen die Frage, ob
sie den PatientInnen die zusätzliche
Unterstützung durch einen Geist­
lichen oder religiösen Berater in die
Behandlung vorschlagen. Jedoch
bei der Frage nach der konkreten
Initialisierung und Anbahnung des
genannten Kontaktes gaben nur
knapp die Hälfte (14% und 13%)
der behandelnden ÄrztInnen an, den
PatientInnen zur Realisierung des
Vorschlages auch aktive Hilfestellung
geleistet zu haben.
Geistliche stellen zunehmend einen
Teil mulidisziplinärer Teams in der
psychiatrischen Versorgung dar [42].
Als Beispiel sei die Universitätsklinik
für Psychiatrie und Psychotherapie in
Wien angeführt, wo PatientInnen die
Möglichkeit haben, bei Bedarf mit
einem Geistlichen über spirituelle
Angelegenheiten zu sprechen. Es
gibt die Möglichkeit an Messen in
der Klinik teilzunehmen, sowie auch
Einzelgespräche mit dem Geistlichen,
in diesem Fall einem ausgebildeten
Psychotherapeuten, zu führen.
Laut Dein [42] ist es für PatientInnen
oftmals hilfreich mit Geistlichen die
häufig gestellte Frage „weshalb werde
gerade ich krank?“ aus religiöser
Sicht zu erörtern, beziehungsweise
können diese bei der Sinnfrage
in Bezug auf psychisches Leid
bei­stehen und Hoffnung stärken
oder neu entfachen. Religiöse Pro­
fessionelle können in allen Stadien,
von der Diagnosestellung bis hin
zur Planung der Entlassung, als
Unterstützung hinzugezogen werden.
Dein [42] betont jedoch auch die
Notwendigkeit einer Schulung der
Geistlichen, um die Fähigkeit zu
erlangen, psychiatrische Probleme
zu erkennen und im gegebenen Fall
den PatientInnen Richtlinien zu
geben, in wieweit es sich um eine
„gesunde“ Form religiösen Glaubens
handelt. Gleichermaßen erwähnt er
die Wichtigkeit der Sensibilisierung
psychiatrischen
Personals
für
Probleme von PatientInnen, welche
spiritueller Natur sind.
Diskussion
Laut einer statistischen Umfrage
der europäischen Kommission im
Jahr 2005 [4] haben vier von fünf
EU-Bürgern einen religiösen oder
spirituellen Glauben, 52% der EUBürger und 54% der Österreicher
glauben an Gott und 27% be­zieh­
ungsweise 34% an eine höhere
spirituelle Macht/Sinn. Lediglich
18% der EU-Bürger und nur 8% der
Österreicher gaben demgegenüber
an, weder einen Gottes-, noch
andersartig spirituellen Glauben zu
haben. In einem Statement der World
Psychiatric Association (=WPA)
[10] wird festgehalten, dass 2/3 der
Weltbevölkerung Spiritualität und
Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald
Religion als essentielle Komponenten
im Bereich der psychischen Ge­
sundheit ansehen. Gefordert wird
in der Stellungnahme der WPA,
den Gesundheitsbegriff, derzeit
de­finiert als physisches, mentales
und soziales Wohlbefinden, um den
Begriff der Spiritualität zu erweitern.
Auch sollen die verschiedenen
Kon­zepte von Spiritualität und
Religion und daraus resultierende
Behandlungsansätze vermehrt in der
Ausbildung von PsychiaterInnen
berücksichtig werden. Aufgrund der
derzeit spärlichen wissenschaftlichen
Datenlage sieht die WPA auch
die Notwendigkeit weiterer For­
schungstätigkeiten. Diese Notwen­
digkeit wird auch von vielen weiteren
Autoren in ihren Arbeiten betont
[8,19,30,32].
Viele ungeklärte Fragen und
Ansatzpunkte eröffnen sich aufgrund
der derzeitigen wissenschaftlichen
Datenlage. So beziehen sich die
Vielzahl der Studien auf den
Ter­minus Religiosität ohne die
spirituelle Komponente explizit
zu berücksichtigen. Dies führt
zu der weiteren Frage, ob nicht
auch ein “spirituality gap“ zwi­
schen Behandelnden und Patient­
Innen besteht. Auch sind wenig
evidenzbasierte Daten bezüglich
der Ursachen aber auch der Aus­
wirkungen des „religiosity gap“ auf
PsychiaterInnen und PatientInnen bis
dato verfügbar. Weiters ist festzuhalten,
dass die vorhandenen Daten vor
allem im angloamerikanischen Raum
erhoben wurden, Ergebnisse aus
anderen Regionen beziehungsweise
Kulturkreisen wären notwendig, um
das Gesamtbild zu komplettieren.
Auch die Frage nach einem
Unterschied im Stellenwert von
Spiritualität und Religiosität bei
PsychiaterInnen und PatietInnen
im urbanen im Vergleich zu
ländlichen Regionen und eventuelle
geschlechtsspezifische
Merkmale
könn­ten von Interesse sein.
Trotz der angeführten Evidenz, die
religiöse beziehungsweise spirituelle
Komponente im Rahmen der
Therapie zu berücksichtigen, kann
und soll diese jedoch auf keinen
Fall die psychiatrische Behandlung
ersetzen [8]. Dem als „religiosity
gap“ bezeichneten Spannungsfeld
zwischen spirituellen Konzepten
von PatientInnen und behandelnden
PsychiaterInnen sollte in Zukunft
vermehrt Aufmerksamkeit zu Teil
werden. Das Ignorieren einer der
Aspekte der Entität eines Menschseins
seitens professioneller Helfer kann die
Gefühlswelt des Patienten lückenhaft
verstanden zurücklassen und den
Genesungsprozess verzögern [48].
„Unter all meinen Patienten jenseits
der Lebensmitte, das heißt jenseits
35, ist nicht ein einziger, dessen
endgültiges Problem nicht das der
religiösen Einstellung wäre“.
(C.G. Jung, 1930)
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Caritas St. Pölten. Neuropsychiatrie,
Band 20, Nr.4: 250-256 (2006)
Dr. Michaela-Elena Seyringer
Universitätsklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, Klinische Abteilung für
Biologische Psychiatrie, Medizinische
Universiätt Wien
[email protected]
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 248–260
Übersicht
Review
Sind Antidepressiva in der Behandlung
der bipolaren Depression obsolet?
Teil III: Gibt es Alternativen?
Armand Hausmann1, 2, Martin Fuchs1, Michaela Walpoth1, Christine Hörtnagl1,2,
Petra Adami3 und Andreas Conca3
1
Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck
2
Tagesklinik für Affektive Erkrankungen, Innsbruck
Landeskrankenhaus Rankweil, Abteilung für Psychiatrie I, Rankweil
3
Schlüsselwörter:
Bipolare Depression – Antidepressiva
– Wirksamkeit
Keywords:
bipolar
depression
–
antidepressants
– efficacy
Sind Antidepressiva in der Be­hand­
lung der bipolaren Depression ob­
solet? Teil III. Die Alternativen!
Nachdem die Autoren im ersten
und zweiten Teil auf die verschie­
denen Erscheinungsformen depres­
siver Symptome im Rahmen der
Bipolaren Erkrankung, sowie auf die
Indikation von Antidepressiva (AD)
bei den verschiedenen Subtypen und
dem Einsatz von AD entsprechend
des zeitlichen Verlaufs der Bipolaren
Erkrankung eingegangen sind, wird
im dritten Teil der Einsatz alternati­
ver Pharmaka vertieft. Hierzu wird
die neueste Literatur zum Thema
Wirksamkeit der Antidepressiva,
sowie ein Direktvergleich der Wirk­
grösse, zwischen den verschiedenen
sich anbietenden alternativen Sub­
stanzgruppen wie Antipsychotika oder
Stimmungsstabilisatoren (SST) durch­
geführt. Dass die Wirksamkeit von
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
Antidepressiva in der Akuttherapie
der bipolaren Depression nach wie
vor umstritten ist liegt daran, dass
aufgrund mangelnder oder unzu­
länglicher Daten unterschiedliche
Interpretationen dieser Datenlage
möglich sind. Obschon es hierfür
wenig wissenschaftliche Evidenz
gibt, scheint die Dringlichkeit der
Indikation von Antidepressiva posi­
tiv mit dem Schweregrad der depres­
siven Symptomatik zu korrelieren.
Bei leicht bis mittelgradig depressi­
ven Patienten gibt es Alternativen, in
Form von Stimmungsstabilisatoren
oder Antipsychotika, obschon nach
Nutzen-Risiko-Abwägung auch Anti­
depressiva verschrieben werden kön­
nen. Aus Sicherheitsgründen sollten
diese immer in Kombination mit ei­
nem Antimanikum verschrieben wer­
den. Obwohl wissenschaftlich nicht
belegbar, soll bei Patienten mit ge­
mischten Episoden oder rapid cycling
Verläufen aus Sicherheitsgründen auf
die Gabe von Antidepressiva verzich­
tet werden.
alternatives to antidepressant medi­
cation in bipolar depression. In doing
so, they review the newest literature
on efficacy of antidepressants and
compare effect size of the different
alternatives like antipsychotics and
moodstabilizers to those of antide­
pressants. Efficacy of antidepressants
in bipolar depression is still discussed
controversially, as scientific evidence,
is as far as available, weak. Severity
of depressive symptoms should de­
fine, wether or not antidepressants in
comparison to alternative agents like
antipsychotics or moodstabilizers
should be implemented. According to
a balanced analysis of pro’s and con’s
antidepressants may be used in mi­
nor to medium depressive syndroms
as well. For clinical safety reasons,
and not due to scientific evidence,
an antimanic agent should be imple­
mented in addition to an antidepres­
sant. Because of clinical wisdom, in
patients with mixed episodes or rapid
cycling antidepressants should be
avoided.
Are there substantial reasons for
contraindicating antidepressants
in bipolar disorder? Part III. The
alternatives!
After having described depressive
symptoms along the course and dif­
ferent subtypes of bipolar disorder
the authors focus on pharmacological
Einleitung
Im Gegensatz zu den weltweit
eher einheitlichen Standards- oder
Empfehlungen in der Behandlung
der bipolaren Manie werden die
Behandlungsstrategien depressiver
Epi­soden bei Patienten mit bipolarer
Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen?
Störung kontroversiell diskutiert.
Gestützt wird diese Behauptung
durch die Tatsache, dass die US
Food and Drug Administration
(FDA) neun Therapien gegen
Manie (Lithium, Chlorpromazin,
Valproat, Olanzapin, Risperidon,
Quetiapin, Aripiprazol, Ziprasidon
und Carbamazepin) und nur zwei
Therapien gegen bipolare Depression
(Quetiapin und Olanzapin-Fluoxetin)
zugelassen hat. Als Konsequenz
beruht die Therapie der bipolaren
Depression auf off-label Anwendung
von Antidepressiva (AD) oder nicht
pharmakologischen
Strategien.
Der Anerkennung von AD in der
Therapie der bipolaren Depression
stehen methodenspezifische Unzu­
länglichkeiten, wie der Mangel
an Daten, sowie unterschiedliche
Inter­pretationsmöglichkeiten unzu­
rei­chender wissenschaftlicher Evi­
denz entgegen. Genährt wird die
Empfehlungs-Abstinenz durch die
Befürchtung, dass AD den Verlauf
der Erkrankung negativ beeinflussen
könnten. Dies betrifft das Risiko
eines Umschwungs („Switch“) in eine
manische Episode sowie das Risiko
einer Akzeleration der Episoden im
Sinne eines Rapid-Cycling-Verlaufes.
Da wir wissen, dass das spontane
Switchen von der Depression in
die Manie mit einem schlechten
Langzeitergebnis verbunden ist [1] ist
dieses Problem von großer klinischer
Bedeutung. Die Befürworter der
Anwendung von AD argumentieren,
dass uns derzeit keine einzige
plazebo­kontrollierte MonotherapieStudie zur Verfügung steht, welche
statistisch signifikante Unterschiede
in den Switch-Raten zeigen kann.
Hinzu kommt das Phänomen eines
Publikationsbias, welcher dadurch
entsteht, dass Nicht-Switch-Raten
nicht gemessen werden und so ein
Übergewicht der berichteten SwitchRaten besteht. Die Konsequenz ist
ein Selektionsbias in den publizierten
Reviews
und
Metaanalysen,
mit selektierten Studien welche
Switch-Raten als unerwünschte
Nebenwirkungen berichten, wie bei­
spielsweise bei Peet et al. [2] Switches
entwickeln sich nach einer Response
oder Remission, sind also keine
eventunabhängigen Variablen. NonResponder können nicht switchen.
Der korrekte Zugang zu Switchraten
ist also nicht, wie oft beschrieben der
prozentuelle Anteil am gesamten in
die Studie aufgenommenen Sample,
sondern der Anteil an Switches bei
den Respondern oder Remittern dieser
Studie.
Insgesamt scheint keine
Differenz zwischen Plazebo und AD
zu bestehen, obschon es einen Trend
zu höheren Raten unter AD zu geben
scheint.
Im Gegensatz dazu behaupten man­
che Autoren, dass ein Switch unab­
hängig von einer AD-Gabe bei circa
einem Drittel bipolarer Patienten zum
krankheits-immanentem Verlauf ge­
hört und besonders bei Vorhandensein
gewisser patientenspezifischer Fak­
toren mit prädiktivem Charakter
auftritt. Es sind dies Komorbiditäten
wie Substanzabhängigkeit, eine Ge­
schichte von AD-induzierter Manie
oder Hypomanie, früher Beginn
der
Erkrankung,
psychotische
Symptome in der Anamnese, aber
auch genetische Faktoren. [3] Im
ersten und zweiten Teil [4,5] sind
die Autoren auf die verschiedenen
Erscheinungsformen
depressiver
Symptome im Rahmen der Bipolaren
Erkrankung, sowie auf die Indikation
und Verschreibungsdauer von AD
bei den verschiedenen Subtypen bei
Bipolaren Erkrankung eingegangen.
In diesem 3. und letzten Teil soll
die antidepressive Wirksamkeit von
AD in der Therapie der bipolaren im
Vergleich zur unipolaren Depression
und die Möglichkeit alternativer me­
dikamentöser Therapien differenziert
beschrieben werden.
249
Die antidepressive Wirk­
samkeit von AD in der
Therapie der Bipolaren De­
pression
Gijsman und Kollegen [6] veröf­
fentlichten eine Metaanalayse mit
12 randomisierten Studien aus der
Cochrane Data Base, Medline,
Mbase, und Psyindex (n=1088).
Als Outcome Kriterien galten die
Ansprechrate der Patienten sowie die
switch-Rate in die Manie. Fünf dieser
Studien verglichen AD mit Plazebo.
75% der Patientengesamtzahl er­
hielten zusätzlich einen Stim­
mungsstabilisator (STT) oder ein
atypisches Antipsychotikum. Die
Ergebnisse weisen auf eine überlege­
ne Wirksamkeit der AD (TZA, SSRI,
MAOI, SDaNARI, NARI) gegenüber
Plazebo hin. Das Problem bei dieser
Metaanalyse besteht, aufgrund un­
terschiedlicher Studiendesigns, in
einer Nicht-Vergleichbarkeit der ein­
geschlossenen Studien. Da die Frage
der Wirksamkeit auch durch diese
Metaanalyse nicht vollständig geklärt
werden konnte wurde kürzlich eine
Studie zu diesem Thema vorgestellt.
Dabei wurde erstmalig im Rahmen des
STEP-BD-Programms (Systematic
Treatment Enhancement Program
for Bipolar Disorder) eine doppel­
blinde Multizenter-Studie (zwischen
1999-2005) mit depressiven BP I
(circa 70%) + BP II (circa 30%)Patienten (n=230) über 26 Wochen
durchgeführt. [7] Die Patienten wur­
den in zwei Gruppen randomisiert.
Die 1. Gruppe (N = 179) wurde mit
einem Antidepressivum (Paroxetin
bis max. 40 mg oder Bupropion
bis max. 375 mg) plus einem SST
(Lithium oder Carbamazepin oder
Valproat) behandelt. Die 2. Gruppe
(N=187) hingegen mit einem SST
plus Plazebo. Es erfolgte eine stra­
tefizierte Aufnahme der Patienten
je nach Präferenz des AD. Das
Primäre Outcome-Kriterium war eine
Euthymie, über 8 Wochen, gemessen
mittels SUM-D, eine im Rahmen des
Programms bereits implementierte
Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca
Depressions Rating Skala. Der se­
kundäre Outcome-Parameter war ein
ev. Switch in die Manie. Das Resultat
dieser Studie überraschte, da nach 26
Wochen kein Gruppenunterschied
bezüglich antidepressiver Effektivität
feststellbar war. Scheinbar sind AD
bei diesen Patienten in der Therapie
der Depression durch mangeln­
de Wirksamkeit bedingt, obso­
let gewesen. Schaut man sich das
Studiendesign allerdings näher an,
so gibt es diesbezüglich doch einige
Kritikpunkte. Nicht besonders depres­
sive ambulante Patienten, mit einem
Effektivitäts-Scores ~1/3 der maxi­
mal möglichen Summe (Sum-D ran­
giert von 0- max 22 Punkte) wurden
nach Entscheidung der Behandler in
diese Studie aufgenommen. Bei die­
ser Studie handelt es sich auch nicht
um eine Studie mit Effektnachweis
(efficacy),
sondern
um
eine
Effektivitäts-Studie (effectiveness)
in welcher komorbide Patienten ein­
geschlossen wurden (60% life- time
Angst und Substanz-Missbrauch/
Abhängigkeit). Diese komorbiden
Patienten könnten beispielsweise von
einer SST-Monotherapie profitiert
haben. Zusätzlich ist das Fehlen ei­
ner “reinen” Plazebo-Gruppe anzu­
merken. So konnte die antidepressive
Wirksamkeit einer SST Monotherapie
nicht etabliert werden. Der primäre
Outcome-Parameter ist ein unübli­
cher (nicht-etablierter), da es sich
um den Prozentsatz der Patienten in
beiden Gruppen welche 8 konseku­
tive Wochen eine Euthymie zeigten,
handelt. Nicht berichtet wurde der
Zeitpunkt des Wirkungbeginns. Dies
konnte irgendwann zwischen 1. und
16. Woche passiert sein. Damit wurde
der Wahrscheinlichkeit einer sponta­
nen Remission breiteren Raum einge­
räumt. Während der Studie wurde ein
Protokoll-Wechsel durchgeführt. Ab
2004 waren SST mit potentieller anti­
depressiver Wirksamkeit (Quetiapin)
ebenso wie adjunktive Psychotherapie
erlaubt. Zusammenfassend kann man
sagen, dass diese Studie aufgrund
verschiedendtser
Einflußvariablen
nicht den Beweis erbracht hat, dass
250
Diagramm 1: Effektivität einer adjunktiven AD-Gabe
(Sachs et al. N E J Medicine 2007) [7]
Doppelblind randomisierte Studie mit 2 Armen über 24 Wochen
SST + AD (n=179) vs. SST + Plazebo (n=187). Outcome
Kriterium: Anhaltende Genesung = Euthymie über 8 Wochen
Legende: SST = Stimmungsstabilisator; AD = Antidepressivum
AD in der Therapie der Bipolaren
Depression wirklich obsolet sind.
Insofern sind die eher europäisch
dominierten Guidelines [8] und
die amerikanischen Richtlinien
[9] gleich. Sie unterscheiden sich
bezüglich der Indikation von AD bei
leichten und mittelgradig schweren
depressiven Episoden. [5] Sowohl die
klinische Praxis als auch die wenigen
verfügbaren Daten wie beispielsweise
die Metaanalyse von Gjisman et al.
[6] lassen vermuten, dass AD bei
der unipolaren und auch bei der so
genannten bipolaren Depression
wirksam sind.
Welche Alternativen zur Ga­
be von AD in der Therapie
der bipolaren Depression
gibt es?
Antidepressiva sind zumindest als
Monotherapie in ihrem Einsatz
li­mitiert; aber gäbe es denn Alter­
nativen?
Anti­depressive Ef­fek­te
wurden auch mit einigen Anti­
konvulsiva [10], sowie mit einigen
Antipsychotika der zweiten Gene­
ration [11] nachgewiesen.
Stimmungsstabilisatoren
als Therapie der akuten
Depression
Lithium
Bis vor kurzem waren insgesamt neun
doppelblinde Studien von Lithium
versus Plazebo publiziert. Es han­
delt sich um eine kleine Zahl frühe­
Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen?
rer Studien, als Lithium in den späten
40igern des letzten Jahrhunderts in die
Therapie der bipolaren Erkrankung
implementiert wurde. [12,13] So
sind diese Arbeiten methodologisch
angreifbar, da acht von diesen neun
Studien auf einem cross-over Design
beruhen. Lithium wurde, wie es ein
cross-over Design verlangt, rasch
abgesetzt und könnte so für einen
früheren Rückfall in die Manie oder
Depression verantwortlich sein.
Diese Rückfälle wären dann auch
als Lithiumabsetzphänomene und
nicht nur als Wirkungslosigkeit der
Folge-Substanzen zu interpretieren.
So hätte Lithium eine viel schwäche­
re akute antidepressive Wirksamkeit
als Monotherapie in der bipola­
ren Depressein (BPD), als frühere
Studien suggerierten. [14] Auch
neuere Studien zeigen keine gute
akute antidepressive Wirksamkeit als
Monotherapie. [15]
Nur eine Metaanalyse hat genügend
Patienten, um die Wirksamkeit von
Lithium in der Akuttherapie depressi­
ver Zustände zu belegen. [16] Diese
Daten beziehen sich auch auf bipo­
lar depressive Patienten. Hier war
Lithium dem Plazebo in der akuten
antidepressiven Wirksamkeit über­
legen. Lithium hat allerdings eine
Wirklatenz von 6 – 8 Wochen [17],
so dass einem akuten therapeutischen
Einsatz Grenzen gesetzt sind.
In der BP-Erkrankung scheint es
aber ein Subgruppen-spezifisches
Ansprechen zu geben. Nur die klas­
sischen BP-I Patienten sollen auf
Lithium gut anzusprechen. Nach
Kukopulos et al. [18] und Maj et
al. [19] sind BP-II-Patienten so­
gar therapieresistent auf Lithium.
Patienten mit gemischten Episoden,
rapid cycler-Patienten (RC) oder
Patienten mit Drogenabusus profitie­
ren wahrscheinlich weniger von einer
Lithiumtherapie. [20,21]
Wenn Lithium als Monotherapie
nur eine moderate antidepressive
Wirkung zeigt, so ist dies bei addon Modalitäten völlig anders. [22]
Unbestritten ist die Wirksamkeit von
Lithium in der Augmentationstherapie
mit Antidepressiva. Hierfür be­steht
eine robuste Evidenz bei Patien­
ten mit unipolarer als auch mit
bipolarer therapie- [23] und nicht
therapieresistenter
Depression.
[24] Nach dem ersten Schritt der
Optimierung der bestehenden SSTTherapie (oft Lithium) propagieren
auch amerikanische Guidelines die
Kombination eines Antidepressivums
mit dem SST. [25,11,26] Derzeit gibt
es unseres Wissens keine publizierten
kontrollierten Daten, welche die
antidepressive Wirkung des Lithiums
mit der Wirkung von Antidepressiva
der neueren Generation direkt
vergleichen. [27,28]
Während Lithium diese nachgewie­
sene antidepressiv augmentieren­
de Wirkung hat, [29] unterdrücken
CBZ, VPS vorwiegend nur die KippPhänomene und tragen zur RezidivProphylaxe bei. [10]
Valproat (VPS)
Im Jahr 1995 wurde Valproat in der
Therapie der Manie in den U.S.A.
zugelassen. Seitdem hat es Lithium als
Stimmungsstabilisator in der Mono(bei ca. einem Drittel der Patienten),
und in der Kombinationstherapie mit
anderen SST, abgelöst. Sämtliche
Studien wurden streng randomisiert,
prospektiv,
Plazebokontrolliert
durch­geführt, so dass diese weniger
heterogen sind als Lithiumstudien. Die
Literatur der akuten antidepressiven
Wirkung des VPS ist spärlicher.
Im
Vergleich
zu
manischen
Syndromen sprechen unipolare wie
bipolare depressive Syndrome auf
eine VPS-Therapie weniger gut an.
[30,31,32,33] Wenn Valproat und
Lithium die gleich guten Responsraten
bei manischen Patienten ohne jegliche
Symptome einer Depression zeigen,
so scheinen Patienten mit gemischter
Manie, besser auf Valproat als auf
Lithium zu reagieren. [34,35,36]
Bisher wurden zwei Plazebo­kon­
trollierte,
doppelblinde
Unter­
suchungen zu VPS bei BPD
durchgeführt.
251
In einer dieser Studien wurden 43
Patienten dabei über 8 Wochen
behandelt. In der Analyse zeigten
dabei 43% in der mit VPS
behandelten Patienten im Vergleich
zu 27% mit Plazebo behandelten
Patienten eine Remission. Für eine
statistisch relevante Aussage war
jedoch die Anzahl der Patienten in
dieser explorativen Studie zu gering.
[37] In ihrer Metaanalyse berichteten
McElroy und Keck [38] dass nur
30% der Patienten mit BPD eine
signifikante antidepressive Response
auf Valproat erlangten. Allerdings
hatte die Mehrzahl dieser Patienten
auch andere Therapeutika ohne
Erfolg erhalten.
Eine rezente randomisierte acht
Wochen Studie mit ambulanten
depressiven BP-I Patienten (n=25)
fand eine signifikant größere
Verbesserung in der Gruppe der
Patienten mit Valproat im Vergleich zu
Plazebo, obwohl die Remissionsraten
(HAM-D ≤ 8) in beiden Gruppen sehr
niedrig waren 31 versus 8%. [39]
Eine offene Studie über zwölf
Wochen mit medikationsnaiven
deutlich
depressiven
BP
IIPatienten (n=19) [40] zeigte eine
hohe antidepressive Wirksamkeit
der
Valproat-Monotherapie
als
Einmaldosis (mittlere Dosis: 882
mg). Zwölf (63%) der Patienten
waren Responder in der HAMD. Die mittlere Krankheitsdauer
der Patienten war mit 15,4 Jahren
sehr lang, und die mittlere Dauer
der aktuellen depressiven Episode
betrug 11,8 Wochen. Dies wiederum
würde eine gute antidepressive
Wirksamkeit von Valproat belegen.
Die wissenschaftliche Aussagekraft
dieser Studie ist aufgrund der kleinen
Patientenanzahl allerdings deutlich
limitiert.
Lamotrigin (LTG)
Der grösste derzeit zur Verfügung
stehende Teil der LTG-Literatur be­
Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca
zieht sich auf die Untersuchung von
LTG in der Erhaltungstherapie. Für
Lamotrigin in der Therapie der aku­
ten BPD gibt es eine randomisierte
kontrollierte Studie.
Calabrese et al. [41] untersuchten die
antidepressive Wirksamkeit von LTG
bei BP-I-Patienten in einer doppelblind, plazebo-kontrollierten Studie
über sieben Wochen. Es wurden
195 Patienten, die an einer bipola­
ren Major Depression (HAMD-17
≥ 18) litten, zu zwei verschiedenen
Dosierungsarmen 50 mg (n=64) vs 200
mg (n=63) LTG sowie dem PlazeboArm (n=65) randomisiert. Die mitt­
lere Veränderung über die Zeit des
HAMD-17 war in dieser Studie pri­
märes Outcome-Kriterium. Mehrere
sekundäre Outcome-Kriterien, wie
der mittlere Rückgang der MADRS
Gesamtscores, der mittlere Rückgang
HAMD-17 item 1 (= depressive
Stimmung), sowie des CGI wur­
den untersucht. Die intent-to-treat
Analyse zeigte, dass Patienten welche
Lamotrigin erhielten einen größeren
mittleren Rückgang der HAMD-17
Gesamtscores zeigten als jene, wel­
che Plazebo erhielten. Allerdings
war der Gruppenunterschied, au­
ßer einem vorhandenen Trend in
Richtung Signifikanz, welcher die
Gabe des Lamotrigin mit 200 mg/
d bevorzugte, nicht signifikant.
Allerdings erreichten einige sekun­
däre Outcome-Kriterien Signifikanz.
So war der mittlere Rückgang des
MADRS
Gesamtscores
(-13,3
vs. -7,8 / p<0,05) für die 200 mg
Lamotrigingruppe signifikant größer
im Vergleich zur Plazebogruppe. Die
mittlere Reduktion des HAMD-1Items erreichte Signifikanz in beiden
Lamotrigin-Gruppen im Vergleich
zu Plazebo. Die HAMD-17 Analyse
förderte keinen Gruppenunterschied
zu Tage (p<0,1). Auch die mittlere
Reduktion des HAMD-31 erbrachte
keinen Gruppenunterschied der LTG
200mg/d-Gruppe (p =0,86) sowie
der 50 mg/d-Gruppe (p=0,72) versus
Plazebo. Diese Resultate, obschon
streng genommen, als negativ zu in­
terpretieren, wurden als Beweis der
antidepressiven Wirksamkeit des LTG
in der BPD angesehen. Da aufgrund
der Gefahr eines Rash Lamotrigin re­
lativ langsam aufdosiert werden muss
[42] ist der Wirkungseintritt nicht ein
besonders rascher und der Einsatz
dieser Substanz in der Behandlung
der akuten Depression eingeschränkt.
[43] Ein weiterer methodologischer
Mangel besteht darin, dass nur BPI Patienten mit meistens milder bis
moderater depressiver Symptomatik
in die Studie eingeschlossen wurden.
Ein kontrollierter direkter Vergleich
von Lamotrigin und Antidepressiva ist
in der Literatur zu finden. Patienten
mit „care as usual“ aus dem STEPBD Programm mit BPD erhielten ein
Antidepressivum (n=152), Lamotrigin
(n=57), oder ein Antidepressivum
plus Lamotrigin (n=41), oder Plazebo
(n=103) in Kombination mit ei­
nem Stimmungsstabilisator. Leider
wurde die Dignität der depressi­
ven Symptomatik bei Aufnahme
nicht berichtet. Die Responseraten
in der Depressionssubskala der
Clinical Monitoring Form (CMF)
erbrachte keinen Unterschied bei
denjenigen Patienten, die nur ei­
nen Stimmungsstabilisator einnah­
men, im Vergleich zu jenen mit
SST plus AD, oder jenen mit SST
plus Lamotrigin oder jenen mit
SST plus AD und Lamotrigin. Die
Zeit bis zur Genesung war bei allen
Patientengruppen gleich. [44]
Die Texas Implementation of Medical
Algoritms
(TIMA)-Guidelines
[28] raten davon ab, Lamotrigin
in Kombination mit einem AD als
Switch-Prophylaxe einzusetzen, da
LTG eine sehr limitierte antimani­
sche Wirksamkeit zeigt. Ob nicht
Lamotrigin, da affektiv wirksam,
nicht selber Hypomanien induziert,
ist derzeit fraglich. Allerdings gibt
es Fallberichte von durch LTG indu­
zierte Hypomanien. [45] Dennoch ist
LTG ein Antikonvulsivum (nicht der
einzige SST) welches zumindest be­
stimmte antidepressive Eigenschaften
sowohl akut [41] als auch in der
252
Erhaltung [46] in Plazebo kontrol­
lierten Studien zeigte. [12]
Carbamazepin (CBZ)
Akute antidepressive Effekte der
CBZ-Behandlung sind weniger gut
dokumentiert als die antimanische
Wirksamkeit. In einer kontrollierten
doppel-blinden Studie mit kleiner
Fallzahl (N=35) beobachteten Post
et al. [46] eine mäßige antidepres­
sive Wirksamkeit bei etwa einem
Drittel der behandelten depressiven
Patienten. Die zweite kontrollierte
Studie [47] evaluierte die antide­
pressive Wirkung von Carbamazepin
als Monotherapie bei 13 bipolar-de­
pressiven Patienten. Fünf der 13
Patienten zeigten eine signifikante
Besserung in den Depressionsratings.
Insgesamt wurden allerdings we­
niger als 100 Patienten in kontrol­
lierten Studien untersucht und der
antidepressive Effekt ist eher mode­
rat. [48,49] Eine offene Studie [50]
fand eine Remission bei 17 von 27
Patienten. Es gibt aber Evidenz,
dass die Kombination mit Lithium
potenter ist als die Carbamazepin
Monotherapie (n=15) für die akute
BPD. [48] Carbamazepin kann eine
Alternative für Patienten sein, welche
Gewichtsprobleme haben, oder wel­
che nicht auf andere Medikamente
ansprechen. [51] Zusammenfassend
kann auch nicht von CBZ als ausrei­
chend gut wirksame Substanz in der
akuten Therapie der BPD gesprochen
werden.
Neuere Antiepileptika
Für die neueren Antiepileptika Ga­
ba­­pentin, Pregabalin, Topiramat,
konnten keine antidepressiven Effekte
nachgewiesen werden. [52]
Zusammenfassend ist somit die Da­
ten­lage zur monotherapeutischen
De­pressionsbehandlung mit VPS
ähnlich wie für CBZ zu dürftig, um
hierfür eine klinische Empfehlung
Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen?
aussprechen zu können. LTG und
in einem geringeren Ausmaße
auch Lithium können bei leicht bis
mittelgradigen depressiven Episoden
klinisch von Bedeutung sein.
Antimanika wie Lithium, VPS oder
CBZ, nicht aber LTG können zum
Antidepressivum
hinzutherapiert
werden, um Kipp-Phänomene zu
verhindern und um die Stabilisierung
der Erkrankung zu begünstigen.
Die akute antidepressive
Wirk­samkeit von Kombi­
nationstherapien (SST+AD
oder SST+SST)
Wenn ein SST als Monotherapie nicht
die gleiche antidepressive Potenz als
ein Antidepressivum aufweist, stellt
sich die Frage nach Steigerung der
antidepressiven Wirksamkeit durch
Zugabe eines zweiten SST. Oder
kann die antidepressive Wirksamkeit
durch eine AD/SST Kombination
verbessert werden?
Die Metaanalyse von Gjisman et al.
[6] leistet keinen Beitrag zu diesen
brennenden
Fragen. Allerdings
sprechen sich die meisten Studien
für eine additive Wirksamkeit von
SST+SST oder SST + AD aus.
[53,54,55] Nur eine findet negative
Resultate. [44]
Schon 1997 wurde eine offene Studie
mit nur wenigen Patienten (n=22) zur
Behandlung der therapierefraktären
BPD veröffentlicht.[53] Patienten,
welche nicht auf die Gabe von
Valproat plus einem zweiten SST
oder auf die Gabe von Valproat + AD
ansprachen wurden mittels Valproat
in der Kombination mit LTG über
6 Wochen therapiert. Schon nach 4
Wochen verbesserten sich 72% der
Patienten deutlich.
Young und Mitarbeiter [54] rando­
misierten 27 Patienten zu entwe­
der einer sechs wöchigen Kom­
binationstherapie eines SST (Lithium
oder Valproat) mit Paroxetin (n=11),
oder zu einer Lithium Valproat
Kombinationstherapie (n=16). Depres­
sive Patienten (HAM-D ≥ 16 über
zwei Wochen) welche stabil auf einen
der beiden Stimmungsstabilisatoren
waren, konnten in die Studie auf­
genommen werden.
Sämtliche
Pa­tien­ten welche Paroxetin erhiel­
ten beendigten die Studie, wobei 6
der 16 Patienten, welche die SST
Kombinationstherapie
erhielten,
vorzeitig aussschieden. Die HAMD-Gesamtscores zeigten eine signi­
fikante mittlere Reduktion für beide
Gruppen über die Zeit, wobei es keine
signifikanten Gruppenunterschiede
gab. Die Autoren schlossen, dass bei­
de Therapien gleich gute Wirksamkeit
mit leichtem Überwiegen der
Paroxetin-Gruppe zeigten, dass aber
die Paroxetin add-on-Therapie in
der Praxis auch besser sein könn­
te, da es weniger drop-outs gab.
Allerdings ist aufgrund der kleinen
Fallzahl und des add-on Designs die
Wahrscheinlichkeit einen GruppenUnterschied zu sehen, sehr gering.
Die Datenlage klinischer Studien
lässt keine evidenzbasierte Aussage
zur Kombination zweier oder sogar
mehrerer STT zu. [56].
In einer doppel-blind, randomisierten,
Plazebokontrollierten, MultizenterStudie (n=117 / HAMD-21 ≥ 15)
[55] wurde die Wirksamkeit sowie
die Sicherheit von Paroxetin versus
Imipramin als eine add-on Therapie
zu einer bestehenden Lithiumgabe in
der akuten BPD untersucht. Nach ei­
ner zehnwöchigen Behandlungsphase
wurden die beiden Medikamente ab­
gesetzt, wobei die Lithiumtherapie
bestehen blieb. In der Intent-to-treat
Analyse waren der mittlere Rückgang
der HAMD-21-Gesamtscores über
die Zeit zwischen der Paroxetin und
der Imipamingruppe nicht signifi­
kant unterschiedlich im Vergleich
zur Plazebogruppe, welche Lithium
als Monotherapie erhielt. Erst in
einer sekundären Analyse konn­
te ein Vorteil für die antidepressive
Augmentationstherapie festgestellt
werden, allerdings nur bei jenen
Patienten welche subtherapeutische
Dosen von Lithium erhielten (≤0,8
mEq/L). Die Autoren bemerkten
253
dass ihre Studie nur eine 70% ige
Aussagekraft hat, um eine 5 Punkte
Differenz in der HAM-D zu unter­
scheiden.
Zu beachten sind neben der
Wirksamkeit weiterhin auch die
spezifischen Nebenwirkungs- und
Sicherheitsprofile der einzelnen
STT und ihre Auswirkung auf die
Compliance. [57,58]
In Teil 2 dieses Artikels [5] gingen
die Autoren auf die Anwendung von
AD bei verschiedenen Subtypen
der Erkrankung, wie gemischte Epi­
soden und Rapid cycling Verläufe,
ein. Obschon es keine schlüssige
wissen­schaftliche Evidenz hierfür
gibt, wurde von der Verabreichung
bei diesen Verläufen abgeraten.
Nun liegt erstmals eine kontrollierte
randomisierte Studie aus dem
STEP-BD-Programm vor, welche
die Gabe von AD plus SST bei
gemischten Symptomen und dys­
phorischer Manie untersuchte. [59]
Die Autoren verglichen klinische
Resultate bei depressiven Patienten
mit ≥ 2 simultanen manischen
Symptomen (=335) welche einen
SST plus ein AD, mit jenen welche
nur eine SST Monotherapie erhielten.
Die adjunktive Gabe von AD war
assoziiert mit erhöhten ManieScores nach 3 Monaten. Allerdings
verzögerte noch verlängerte eine
AD-Gabe die Zeit zur Genesung,
definiert als das Vorhandensein von
≤ als 2 affektiven Symptomen auf
der Clinical Monitoring Form über 8
Wochen. [60]
Zusammenfassend gibt es keine wis­
senschaftliche Evidenz, über eine
verbesserte aber auch keine über
eine verschlechterte Wirksamkeit
der Kombination eines AD mit ei­
nem SST im Vergleich zu einer SSTMonotherapie. Es gehört zu den
psychiatrischen Mythen, dass die
Antiepileptika-Augmentation zu AD
zu einem schnelleren Wirkungseintritt
führt. [61]
Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca
Antipsychotika als Thera­
pie der akuten BPD
Nachdem hauptsächlich Studien in
der Behandlung der akuten Manie
publiziert wurden, werden neuere
Antipsychotika seit kurzem, in der
Behandlung der akuten Depression
untersucht.
Dass Antipsychotika
gute antimanische Akut-Effekte zei­
gen ist bekannt. [62] Klassische
Neuroleptika standen im Ruf depres­
sive Symptome zu induzieren. Neuere
Antipsychotika scheinen hingegen
in der Akuttherapie antidepressiv zu
wirken. Dies wissen wir aus Studien
bei Patienten mit Schizophrenie. [63]
Viele bisher publizierte Studien zur
antidepressiven Wirksamkeit der AP
sind allerdings mit methodischen
Mängeln behaftet. Die antidepressi­
ve Wirksamkeit von AP wurde meist
in Studien welche zur Erfassung an­
timanischer Effekte designt wurden,
als sekundäres aber nicht als pri­
märes outcome-Kriterien erhoben.
[64,65,66] Ergebnisse, die auf sekun­
dären Out­come-Kriterien beruhen,
beinhalten eine hohe Zufallswahrsc
heinlichkeit und können statistisch
nicht ident wie Ergebnisse aus pri­
mären Outcome-Kriterien bewertet
werden. Auch wurde die antidepres­
sive Wirksamkeit der Antipsychotika
kaum im direkten Vergleich zu einem
AD untersucht. Bei Olanzapin wur­
de der direkte Vergleich „gescheut“.
[67] So ist eine Aussage über die
antidepressive Potenz der AP an
den Referenzsubstanzen AD oft nur
indirekt möglich. Überdies ist die
antidepressive Wirksamkeit der AP
kein Klasseneffekt, die Daten zeigen
nämlich, dass gute, klinisch relevan­
te, antidepressive Effekte auf wenige
Produkte beschränkt sind. Eine weite­
re methodenkritische Anmerkung be­
steht darin, dass mit zwei Ausnahmen
[11,68] meistens nur klassische BPI-Patienten eingeschlossen wurden,
so dass man kaum eine Aussage zur
antidepressiven Wirksamkeit von AP
in der Therapie der BP-II-Depression
treffen kann.
Es gibt aber mittlerweile auch dop­
pel-blind randomisierte Studien wel­
che den akuten antidepressiven Effekt
als primäres Outcome-Kriterium für
mindestens zwei Atypika (Olanzapin
und Quetiapin) und den prophylak­
tischen Effekt für mindestens eine
Substanz (Olanzapin) unterstützen.
Olanzapin
Eine Industrie gesponserte Studie einer
Olanzapin-Fluoxetin-Kombination
(OFC) (n=38) und Olanzapin Mono­
therapie (n=351) versus Plazebo
bei depressiven BP-I-Patienten er­
brachte eine signifikant größere
mittlere Reduktion der MADRS bei
OFC und Olanzapin Monotherapie
im Vergleich zu Plazebo.[67]
Allerdings war die Effektstärke bei
der Olanzapin Monotherapie mit
0,32 vs. OFC mit 0,68 relativ gering.
Überdies waren die Effekte in den
Items Schlaf und Appetit grösser als
in den Core Kriterien für Stimmung.
Somit besteht die Mög­lichkeit, dass
die Nebenwirkung und nicht die an­
tidepressive Wirkung des Olanzapin,
für die gemessene Verbesserung ver­
antwortlich ist. Aus dieser Arbeit
folgert, dass Olanzapin akut antide­
pressiv wirkt, dass die antidepressi­
ve Potenz von OFC vs. Olanzapin
Monotherapie ab der vierten Woche
eine signifikante Verbesserung der
MADRS
im
Gruppenvergleich
zeigte (p<0,02). Da es keinen ADMonotherapie-Arm gab kann ein di­
rekter Vergleich nicht gezogen wer­
den. In einer weiteren Analyse die­
ser Daten, konnte ebenfalls gezeigt
werden, dass die OFC-Kombination
im Vergleich zu OLZ-Monothearapie
und Plazebo kein grösseres Risiko be­
züglich eines switchens in die Manie
darstellt. [69]
Olanzapin wurde auch gegen die anti­
depressive Wirksamkeit von Stim­
mungsstabilisatoren wie Valproat und
Lithium untersucht.
Die Wirksamkeit des Olanzapin
wurde akut über 3 Wochen als
Monotherapie gegen Valproat bei
254
bipolar manischen und gemischten
Episoden verglichen. So wurde in der
randomisierten, Dop­pelblindstudie (n
= 248) bei akut bipolar manischen
oder gemischt bipolaren Patienten,
welche die HAMD-D als sekundäres
outcome-Kriterium
eva­luierte
kein Gruppenunterschied in der
mittleren HAM-D-Reduktion in der
Olanzapingruppe (5-20 mg/d n= 125
) im Vergleich zu Valproat (500-2500
mg/d; n= 123) gefunden (-4,92±7,22
für OL vs. -3,46±6,40 für VLP /
p=0,31). [65]
Patienten mit einer gemischten
oder manischen Episode, welche
inadäquat auf Lithium oder Valproat
respondierten wurden über 6 Wochen
zu Olanzapin + SST (Valproat
oder Lithium) oder Plazebo +
SST-Monotherapie
ran­do­misiert.
Die Olanzapin add-on-Thera­pie
reduzierte die HAMD-21 signifikant
mehr als die Plazebo-add-onTherapie (4,98 vs. 0,89 / p<0,001).
Zur Metho­dologie ist zu sagen, dass
nicht zu er­warten war, dass Patienten,
welche nur partiell auf Lithium oder
Valproat reagiert hatten, während
des Verlaufs eine Verbesserung ihrer
Symptomatik erfahren würden. Von
einer add-on Therapie mit Olanzapin
war daher von vornherein eine
bessere Wirkung zu erwarten als bei
denjenigen Patienten, welche bisher
nicht respondiert hatten. [70]
Zwei Studien unterstützen die Auf­
fassung, dass Olanzapin in der Be­
handlung von gemischt bipolaren
Störungen effektiv ist. [71,72]
Olan­­zapin (5-20 mg/d) wurde in
Kombination mit Lithium oder
Valproat vs. Plazebo in dieser
Indikation ge­testet. Es handelt sich
um eine doppel-blind randomisierte
Studie über sechs Wochen. Die
Patienten (n=85) hatten eine
signifikante bessere mittlere HAMD-Reduktion über die Zeit, wenn sie
Olanzapin als add-on-Therapie (zu
Lithium oder Valproat) erhielten im
Vergleich zu Plazebo (zu Lithium
oder Valproat) (p<0,001). [71]
Gepoolte Daten von zwei ver­
gleichbaren doppel-blind rando­mi­
Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen?
sierten Studien (n=246) (Olanzapin
5-20 mg/d) vs. Plazebo über drei
Wochen in der akuten dysphorischen
Manie (BPI) wurden post-hoc
analysiert und es konnten 28% der
Patienten als an einer gemischten
Episode leidend identifiziert werden
(Olanzapin n=33 / Plazebo=35). Die
mit Olanzapin behandelten Patienten
hatten innerhalb einer Woche eine
signifikante Verbesserung in der
YMRS (p≤0,011) und der HAMD
(p≤0,025).[72]
Eine weitere post-hoc Analyse von
BP-I-RC-Patienten (hauptsächlich
manisch und nur leichte depressive
Symptome) aus einem Sample von
insgesamt 139 Patienten [73] wel­
che im Rahmen einer doppel-blind
randomisierten dreiwöchigen Studie
mit Olanzapin (5-20 mg/d n=19
vs. Plazebo n=26) untersucht wur­
den, zeigte, wie signifikant weniger
Patienten in der Plazebo-Gruppe im
Vergleich zur Olanzapin-Gruppe
diese 3-wöchige Studie (73,7% vs.
34.6% p=0,016) beendeten. In der
HAMD-21 ergab sich kein signifi­
kanter Gruppenunterschied. [74]
Schlussfolgernd kann man sagen,
dass die antidepressive Wirksamkeit
des Olanzapin zwar vorhanden aber
nicht besonders ausgeprägt ist. Ein
direkter Vergleich zur antidepressiven
Wirksamkeit eines AD fehlt.
Olanzapin wurde auch kaum in BP
II-Patienten untersucht, bei denen
die depressive Symptomatik deutlich
im Vordergrund steht. Allerdings
scheinen gemischte Episoden sowie
RC- Verläufe gut auf Olanzapin
anzusprechen.
Quetiapin
Eine Industrie-gesponserte Studie
von Quetiapin als Monotherapie ver­
sus Plazebo (sog. BOLDER I-Studie)
wurde 2005 publiziert. [11] Es handelt
sich um eine doppelblind, randomi­
sierte, Plazebo-kontrollierte Fixdosis
Monotherapiestudie mit Quetiapin
über 8 Wochen. 542 Patienten mit
einer depressiven Episode und einer
Dauer von über 4 Wochen (HAM-D
17 ≥ 20) wurden im Rahmen einer
BP-I oder -II Störung mit / oder ohne
RC randomisiert aufgenommen. Das
Studiendesign bestand in einer washout Phase von 7-28 Tagen. Nach
dieser Zeit wurden die Patienten in
eine Gruppe von Quetiapin 600mg/
d (n=180), eine zweite Gruppe von
Quetiapin 300mg/d (n=181) und in
eine dritte Plazebogruppe (n=181)
eingeschlossen. Geratet wurden die
HAM-D, CGI sowie die MADRS
über die Zeit. Es zeigte sich eine si­
gnifikante Wirkung der beiden aktiven
Gruppen (300/600 mg/d Quetiapin)
im Vergleich zur Plazebogruppe im
HAM-D-17, sowie in der MADRS.
Diese Studie zeigte eine für biolo­
gische Interventionsformen hohe
Effektstärke (Verbesserung durch
Quetiapin über Plazebo/gepool­
te Standard Deviation) bei BP-IPatienten von 0,91 für Quetiapin 300
mg/d und von 1,09 für Quetiapin
600 mg/d. Wenn man die BP II
Patienten hinzurechnet reduziert
sich die Effektstärke auf 0,75 in der
Quetiapingruppe 600mg/d, sowie auf
0,64 in der Quetiapingruppe 300mg/
d. Die Möglichkeit, dass zu einem
gewissen Maß diese Wirksamkeit
zurückzuführen ist auf eine globa­
le Verbesserung der Stimmung bei
Patienten bei denen die Depression mit
subklinischen manischen Symptomen
kombiniert war, welche wegen der
hochschelligen DSM IV Kriterien für
eine gemischte Episode, nicht erfaßt
wurden, kann nicht ausgeschlossen
werde. Diese guten Daten konnten in
der sog. BOLDER II-Studie repliziert
werden. [68] In dieser Studie nah­
men die Autoren allerdings Abstand
davon exakte Daten zur Effektstärke
von BP-II Patienten zu geben. Es
blieb der enigmatische Satz dass
auch BP-II Patienten vs. Plazebo si­
gnifikante Besserung der depressiven
Symptomatik über die Zeit erreicht
hätten.
Auch sind Daten zu einer über 8
Wochen
hinausgehenden,
offe­
nen Studie, zu finden. Diese kleine
Studie [75] beschreibt eine Quetiapin
255
add-on Therapie bei 10 Patienten
mit bipolarer Störung und 10 mit
schizoaffektiver Störung, welche
nicht von einem SST profitiert hat­
ten. Konventionelle Antipsychotika
welche diesen Patienten über sechs
Monate gegeben wurden, wurden
über vier Wochen graduell und über­
lappend mit einer sukzessiv gestei­
gerten Quetiapindosierung behandelt.
Quetiapin wurde über 12 Wochen als
Monotherapie oder in Kombination
mit einem SST verabreicht. Nach
12 Wochen konnte eine signifikante
Verbesserung im BPRS (p<0,001),
sowie im HAM-D (p=0,002) beob­
achtet werden. Aufgrund des offe­
nen Studiendesigns, der minimalen
Patientenanzahl ist eine wissenschaft­
liche Aussage unmöglich, zudem
könnte durch das alleinige Absetzen
der Typika eine solche Wirkung er­
klärt werden.
Risperidon
Schon relativ früh gab es Berichte
über die antidepressive Wirksamkeit
von Risperidon. Diese kamen
aber haupsächlich aus dem Schizo­
phreniebereich. [76]
Die meisten publizierten Studien,
haben ein offenes nicht kontrolliertes
Design, in denen Skalen zur
Beurteilung depressive Symptome
als sekundäres outcome Kriterium
eingesetzt wurden .[77,78,79.80] Nur
wenige Studien wurden kontrolliert
randomisiert durchgeführt. [79,80]
Nur eine Arbeit eruierte die Reduktion
depressiver Symptome als primäres
Outcome-Kriterium. [81]
In einer offenen Multizenter-Studie
Studie über sechs Monate [77]
erhielten 541 Patienten mit bipolarer
Erkrankung, welche zu Beginn eine
manische, hypomanische, depressive
oder gemischte Episode durchlitten,
eine Kombinationstherapie von
Risperidon (mittlere Dosis 3,9 mg/d)
mit entweder Lithium, Antiepileptika
oder Antidepressiva über sechs
Monate. Bei den 430 Patienten
welche die Studie beendeten, war die
Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca
Risperidon-Kombinationstherapie
mit einer signifikanten Reduktion der
Symptome in der YMRS, der HAMD17, CGI und PANSS (p<0,001 für
alle) verbunden. Das Patientensample
beinhaltete auch 33 Patienten mit
Depression und 31 mit gemischter
Symptomatik. Nach sechs Monaten
konnte eine 50%ige Reduktion im
HAMD-17 bei 69% der Patienten mit
initialer depressiver Symptomatik
registriert werden. Bei der Subgruppe
der gemischt Patienten war schon
eine signifikante Verbesserung in der
ersten Woche zu verzeichnen. Diese
Verbesserung hielt sich über sechs
Monate.
Die meisten Rückfälle
waren allerdings durch das Auftreten
von depressiven Episoden bedingt.
Eine weitere offene sechsmonatige
Studie von Vieta et al. [78] untersuchte
Risperidon (mittlere Dosis 2,8 mg/d)
(Monotherapie oder Kombination mit
SST) in der BP-II Störung in einem
Sample von 44 Patienten, wobei 34
Patienten die sechsmonatige Studie
komplettierten.
Eingeschlossen
wurden Patienten mit einem YMRS
Score > 7. Die Last observation
carried forward (LOCF)-Analyse
zeigte eine signifikante Reduktion der
YMRS Gesamtscores ab der ersten
Woche, welche bis zum Ende anhielt
(p<0,0001). Nach sechs Monaten
waren 60% laut CGI asymptomatisch,
wobei die 32%, welche Risperidon
Monotherapie erhielten, gleich gut
abschnitten. Risperidon schien gleich
wirksam gegen einen hypomanen
als auch einen depressiven Rückfall
gewesen zu sein. Neun Patienten
(12%) hatten einen depressiven
Rückfall, ein Patient (2%) hatte einen
Rückfall in die Hypomanie und ein
anderer Patient (2%) hatte beides.
Eine weitere Untersuchung von
Risperidon in der akuten Manie [79]
begleitete 174 manische Patienten in
einer offenen Multizenter Studie über
42 Tage, welche Risperidon (4,9 ± 2,9
mg/d) in Kombination mit einem SST
erhielten. Die Einschlusskriterien
waren eine aktuelle manische,
hypomanische
oder
gemischte
Episode und ein YMRS Score > 7.
Über die Zeit war eine signifikante
Reduktion der YMRS, sowie der
HAMD Scores (p<0,0001) zu
vermerken.
Yatham und Kollegen [80] führten
eine offene, prospektive 12 Wochen
Studie durch, in der Risperidon
zu einem Moodstabilizer (n=108)
hinzuverschrieben wurde. Es wurden
Patienten mit einer manischen, oder
gemischten Episode aufgenommen.
Alle Patienten bekamen mindestens
einen SST (Lithium, Valproat,
Carbamazepin) zum Zeitpunkt der
Augmentation mit Risperidon. Am
Ende der Studie betrug die mittlere
tägliche Risperidon-Dosis 2 mg.
Signifikante Reduktionen in der
YMRS setzten sehr schnell in der
ersten Woche ein (p<0.0001) und
waren bis zur Woche zwölf zu sehen
(p<0,0001). Ebenfalls zeigten sich
signifikante Reduktionen im HAMD
Score von Baseline bis zur dritten
Woche (p<0,0001) als auch bis zur
zwölften Woche.
Die Arbeit von Hirschfeld et al. [66]
untersuchte den antimanischen Effekt
von Risperidon als Monotherapie in
einer drei Wochen dauernden dop­
pel-blind,
Plazebokontrollierten
Studie. Es wurden BP-I-Patienten
(n=259) mit einer akuten manischen
Episode (YMRS ≥ 20) entweder in
den Risperidon-Arm (n=134) (1-6
mg/d) oder Plazebo-Arm (n=125)
der Studie randomisiert. Eines der
sekundären Outcome Kriterien war
die Reduktion der MADRS über
die Zeit. Die MADRS zeigte im
Gruppenunterschied nur an den
Tagen 3 und 7 einen signifikanten
Unterschied und keinen signifikanten
Unterschied ab Tag 7 bis 21.
Shelton und Stahl [81] untersuchten
Risperidon versus Paroxetin, versus
die Kombination beider Medikamente
in der BPD. Hierzu wurden 30 de­
pressive Patienten mit einer BP- I
oder BP- II Störung, die eine stabi­
le Dosis eines SST erhielten in eine
12 Wochen dauernde doppel-blind
Studie mit drei Armen (Risperidon
+ Plazebo / Paroxetin + Plazebo /
Risperidon + Paroxetin) randomi­
256
siert. Alle drei Gruppen zeigten eine
signifikante aber moderate Reduktion
in der primären Outcome-Variablen
HAMD-17, wobei keine signifikan­
ten Gruppenunterschiede zu sehen
waren.
In der Übersicht der publizierten
Daten, sind die methodischen Mängel
(offenes Design, Erfassung der
Reduktion depressiver Symptome als
sekundäres Outcome) offensichtlich.
Die einzige kontrollierte Studie, wel­
che die antidepressive Potenz als pri­
märes Outcome untersuchte hatte um
eine statistisch valide Aussage treffen
zu können, hatte zu wenig Patienten.
Unter Berücksichtugung dieser Ein­
schränkungen scheint die antidepres­
sive Wirksamkeit des Risperidon in
der Akuttherapie nicht besonders
ausgeprägt zu sein.
Ziprasidon
Weisler und Kollegen [82] führten
eine, Plazebokontrollierte Studie mit
205 Patienten durch, die entweder
zu Lithium plus Plazebo (n=103),
oder Lithium plus Ziprasidon (80160mg/d) (n=102) randomisiert
wurden. Die Studie dauerte 21
Tage. Die Verbesserung (Baseline
bis Tag 4) in der Mania Rating Scale
(MRS) (p<0,05), und im HAM-D
(p<0,05) war signifikant besser in
der Ziprasidon Gruppe als in der
Vegleichsgruppe. Nach 14 Tagen
waren die beiden Gruppen in den
primären und sekundären outcome
Kriterien gleich.
In einer Plazebo-kontrollierten Studie
[83] über 21 Tage wurden Patienten
mit einer BP-I-Erkrankung (ma­
nisch oder gemischt) zu entweder
Ziprasidon (n= 137 / 40 bis 80 mg)
oder Plazebo (n=65) randomisiert.
Als sekundäre Outcome-Kriterien
wurden sowohl der HAM-D als auch
die MADRS evaluiert. Am Ende der
3ten Woche hatte sich der HAMD Gesamtscore im Vergleich nicht
signifikant reduziert (-2,43±4,00
in der Ziprasidon-Gruppe vs
1,37±3,13 in der Plazebogruppe).
Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen?
Diagramm 2: Gibt es adäquate Alternativen in der Behandlung der bipolaren
Depression (Cookson et al. Int Clin Psychopharmacol 2007)
[90]
CAVE:
QUET+ LTG: HDRS Baseline circa 24
OFC: MADRS Baseline circa 32/60
LEGENDE: NNT = Anzahl jener Patienten, welche behandelt werden müssen, um einen
zusätzlichen Behandlungserfolg zu verzeichnen.
OLZ = Olanzapin (Tohen et al. Arch Gen Psychiatry 2003)
OFC = Olanzapin Fluoxetin Kombination
(Tohen et al. Arch Gen Psychiatry 2003)
LTG = Lamotrigin (Calabrese et al. J Clin Psychiatry 1999)
QUET = Quetiapin (Calabrese et al. Am J Psychiatry 2005)
AD
= Antidepressiva (Gijsman et al. Am J Psychiatry 2004)
Der Gruppenvergleich der MADR-S
bot ein ähnliches Bild. Signifikant im
Gruppenvergleich war allerdings die
Reduktion der MRS (Mania Rating
Scale) über die Zeit (p≤0,01).
In der zuvor publizierten Studie von
Keck et al. [84] wurde leider keine
Skalen zur Erfassung depressiver
Symptome auch nicht als sekundäres
outcome-Kriterium evaluiert.
Auch hier gelten die oben bereits
formulierten
Methodenmängel
zur Erfassung der antidepressiven
Wirksamkeit. Ziprasidon hat trotz
der eingebauten WiederaufnahmeHemmung von Serotonin und
Noradrenalin, zumindest in den ein­
gesetzten Dosen, die in die Substanz
gesetzten Erwartungen bezüglich
antidepressiver Wirksamkeit nicht
erfüllt.
unterscheidet die Substanz von den
anderen neueren Antipsychotika
und hat somit den Begriff der
neueren Antipsychotika der dritten
Generation geprägt. [85] Der Vorteil
von Amisulprid gegenüber anderen
Antipsychotika ist, dass es wirksamer
gegen affektive Symptome eingesetzt
werden kann als andere AP, wie dies
in verschiedenen Vergleichsstudien
gegen Haloperidol und Risperidon
gezeigt werden konnte. [86] Bisher
ist Amisulprid das einzige neuere AP,
welches auch in der unipolaren Major
Depression sowie in der Dysthymie
in verum-kontrollierten Studien bei
Dosierungen von 50 mg Wirksamkeit
gezeigt hat. [87,88,89] Kontrollierte
Daten in der bipolaren Störung liegen
nicht vor. Nur eine offene Studie in
der Manie wurde berichtet.
Amisulprid
Zusammenfassend kann man sa­
gen, dass der antidepressive Ef­fekt
von Antipsychotika kein Klassen­
phänomen sondern ein substanz­
spezifisches Phänomen darstellt.
Die Tatsache, dass Amisulprid keine
Affinität für serotoninerge oder
adrenerge Rezeptorsysteme zeigt,
257
Olanzapin respektiv OFC sowie
Quetiapin scheinen eine höhere anti­
depressive Wirksamkeit zu besitzen
wie andere Substanzen.
Es bleibt abzuwarten in welchem
Ausmass sich Antipsychotika in der
Akut-Therapie der BPD etablieren.
Cookson et al. [90] haben als
Evaluationsgrösse der antidepressiven
Wirksamkeit die NNT (numbers
needed to treat) eingeführt. Für LTG
200 mg [41] für Quetiapin 300 und
600mg/d [11] als auch für OFC [65]
fanden die Autoren ein NNT von
4. Im Fall von Quetiapin 300 mg
[13] soll die Berechnung der NNT
dargestellt werden. NNT wird als 1/
RD (= Remitterdifferenz) definiert. ,9
% Remitter auf Quetiapin 300 mg/d
(96/181). 28,4 % Plazebo-Remitter
(51/181). Die Remitterdifferenz wird
folgendermassen definiert. RD = (a/b)
– (c/d) . Wenn man die Daten einsetzt
sieht die Formel folgendermassen
aus. 1 / (96/181) - (51/181) = 1 / (0,53)
– (0,28) = 1 / (0,25) = 4. Interessant
ist die Dignität der Wirksamkeit
der psychiatrischen Medikation im
Vergleich zu einer internistischen, wie
beispielsweise einem Lipidsenker bei
dem ein NNT von 40 ausgerechnet
wurde.
Ein NNT von 5 wurde in der
Metaanalyse Gjisman et al. [6] für
AD errechnet. Aber auch hier gilt
dass die rekrutierten Patienten nur an
mittelgradigen Depressionen litten;
(QUET und LTG: HDRS Baseline
circa 24 OFC: MADRS Baseline
circa 32/60). Die antidepressiven
Eigenschaften der SSTen, zumindest
gibt es keine wissenschaftliche
Evidenz dafür, reichen für die
Akutbehandlung einer schweren
depressiven Symptomatik nicht aus.
So gibt es keine Evidenz dafür, dass
es Alternativen zu AD in der Therapie
der schweren bipolaren Depression
gibt. AD in Kombination mit einem
Antimanikum, als Schutz vor einem
Switch, sind in der Therapie der
schwergradigen bipolaren Depression
immer noch die erste Wahl.
Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca
Zusammenfassung
Um den provokant gehaltenen Titel
gleich zu beantworten: AD in der
Therapie der bipolaren Depression
sind weder obsolet noch modern. Die
Indikation hängt vom Typus sowie der
Schwere der bipolaren Depression ab.
Dabei beziehen sich die potentiellen
affektiven Nebenwirkungen auf den
Verlaufstypus respektiv patientenspe­
zifische Faktoren und die Fragen der
Wirksamkeit auf den Schweregrad
der depressiven Episode.
Keine
Antidepressiva sollen bei rapid-cy­
cling-Verläufen, sowie gemischten
Episoden wegen potentiell destabi­
lisierender Wirkung der AD verab­
reicht werden. Bei den gemischten
Episoden sollen AD vermieden wer­
den, da diese manische Symptome
nach 3 Monaten negativ beeinflussen
können.
Bei leicht bis mittelgradig depressi­
ven Patienten scheint es alternative
pharmakologische Interventionen in
Form von Stimmungsstabilisatoren
oder Antipsychotika zu den AD zu ge­
ben. Nach Nutzen-Risiko-Abwägung
können in diesen Fällen aber auch
Antidepressiva verschrieben wer­
den. Trotz des Vorhandenseins von
nur indirekten klinischen Hinweisen
gibt, sollen schwergradige depres­
sive Episoden mittels AD therapiert
werden. Aus Sicherheitsgründen
und um der Zyklizität der bipola­
ren Erkrankung gerecht zu werden,
sollten diese immer in Kombination
mit einem Antimanikum verschrie­
ben werden. Bei den angespro­
chenen Alternativen zeigen we­
der die Antipsychotika noch die
Stimmungsstabilisatoren
einen
Klasseneffekt. Bei den Antipsychotika
scheinen Olanzapin und Quetiapin
die einzigen derzeit gut belegten
Alternativen mit antidepressiver
Wirksamkeit zu sein. Bei den SST ist
es Lamotrigin und bis zu einem ge­
wissen Grad auch Lithium, wobei bei
Lithium eine Dosisabhängigkeit (>
o,8 mmol/l) gegeben zu sein scheint.
Beide Substanzen scheinen aber ge­
ringgradige akute antidepressive
Wirksamkeit zu besitzen. Bei LTG
ist dessen lange Wirklatenz einem zu­
frieden stellenden Einsatz hinderlich.
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Medizinische Universität Innsbruck
Univ.-Klinik für Psychiatrie
[email protected]
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 261–266
Originalarbeit
Original
Das kardiovaskuläre Risiko
schizophrener Patienten
Andreas Birkhofer1, Patricia Alger1, Georg Schmid2 und Hans Förstl1
1
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München
2
I. Medizinische Klinik und Zentrum für Nichtlineare Dynamik der TU München
Schlüsselwörter:
Schizophrenie
– kar­dio­vaskuläres
–
Antipsychotika
Mortalitätsrisiko –
Herzfrequenzvariabilität
Key words:
schizophrenia – mortality risk – heart rate
variability
Das kardiovaskuläre Risiko schizo­
phrener Patienten
Anliegen: Schizophrenien gehen mit
einem erhöhten kardiovaskulären
Mortalitätsrisiko einher, wobei das
Mortalitätsrisiko mit einer erniedrig­
ten Herzfrequenzvariabilität (HRV)
korreliert. Ziel der Untersuchung
war die Bestimmung der HRV
bei schizophrenen Patienten unter
Antipsychotika. Methode: Die HRV
wurde bei 28 medikamentös behan­
delten schizophrenen Patienten so­
wie bei 28 gesunden Probanden be­
stimmt. Ergebnisse: Schizophrene
Pa­tien­­ten unter Behandlung mit
Antipsychotika wiesen eine ausge­
prägte Verminderung der HRV auf.
Schlussfolgerung: Die HRV kann
zur Identifizierung von schizophre­
nen Patienten mit einem erhöhten
kardiovaskulären Mortalitätsrisiko
bei­tragen.
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
The cardiovascular risk of schizo­
phrenic patients
Objective: Schizophrenia is asso­cia­
ted with increased cardio­vascular
mortality. The deceleration capacity
of heart rate is discussed to be a
predictor of mortality, more powerful
than conventional measures of heart
rate variability (HRV) or the left
ventricular ejection fraction. The
aim of this study was to determine
whether patients with schizophrenia,
receiving antipsychotic medication
have a reduced HRV indicating an
elevated mortality risk.
Methods: We quantified HRV and
the deceleration capacity in 24-hour
electrocardiogram recordings from 28
medicated patients with schizophrenia
and 28 matched controls. In addi­
tion to the evaluation of the 24hour recording, 4-hour periods of
"sleep" and "wake" recordings were
evaluated separately, as activity has a
major influence on HRV. Actigraphy
was used to identify coherent sleep
and wake phases and to ensure
comparable levels of activity in
patients and controls.
Results: Medicated patients showed
a significant reduction of the HRV.
The HRV was reduced significantly
according to the time domain and
frequency domain measures. The
deceleration capacity of medicated
patients was 5.36 compared with
8.26 for the controls (p < .05).
Conclusions: Heart rate deceleration
capacity is significantly reduced in
schizophrenic patients treated with
antipsychotics and may serve as an
indicator of increased cardiovascular
mortality risk.
Einleitung
An Schizophrenie erkrankte Patienten
haben durchschnittlich eine um zirka
20 Prozent verminderte Lebens­er­
wartung [1-3]. Mehr als zwei Drittel
aller schizophrenen Patienten sterben
an kardiovaskulären Erkrankungen,
die die häufigste natürliche Todes­
ursache schizophrener Patien­ten
darstellen. [4-6]. Diese erhöh­te,
kardiovaskulär
bedingte
Mor­
ta­lität kann zum Teil durch die
ungünstige Lebensführung schi­
zophrener Patienten erklärt wer­
den, insbesondere in Hinblick auf
Übergewicht, Nikotinabusus und
fehlende
körperliche
Aktivität
[7;8]. Davon unabhängig wird
ein ungünstiger Einfluss der anti­
psychotischen Medikation auf das
autonome Nervensystem diskutiert
[9-15]. Bei psychisch Kranken hat
der Arzt bezüglich unerwünschter
Arzneimittelwirkungen eine be­son­­
dere Verantwortung, da diese Patien­
ten einerseits nicht rechtzeitig auf
frühe Symptome, auch somatischer
Erkrankungen reagieren [16]. An­
dererseits erhalten sie auch weniger
präventive Leistungen, wie die regel­
mäßige Überwachung von Blutzucker
und Blutfetten [17].
Schon lange bekannt ist, dass Anti­
psychotika Auswirkungen auf das
Birkhofer, Alger, Schmid, Förstl
kardiovaskuläre System haben,
so können sie zu unspezifischen
elektrokardiografischen Verände­run­
gen, zu AV-Überleitungsstörungen
[18] bis hin zu ventrikulären Rhyth­
musstörungen mit der Gefahr des
plötzlichen Herztodes führen [1921].
Seit der Einführung von Anti­
psychotika der zweiten Generation
werden
deren
kardiovaskuläre
Risiken diskutiert. Nachdem es zu
mehreren Fällen von plötzlichem
Herztod unter Sertindol kam, wurde
die Aussagekraft einer verlängerten
QTc-Zeit (im Elektrokardiogramm
nachgewiesenes und um die Herz­
frequenz
korrigiertes
QT-Inter­
vall) eingehend geprüft, deren
klinische Relevanz in Hinblick auf
die Prädiktion kardiovaskulärer
Ereignisse unter Antipsychotika je­
doch umstritten ist [22-24]. Derzeit
werden die unterschiedlichen meta­
bolischen Wirkungen von Anti­
psychotika
intensiv
untersucht,
die ebenfalls zur Erhöhung des
kardiovaskulären Mortalitätsrisikos
beitragen.
Entsprechend
einer
retro­s­pektiven Auswertung steigt
das Risiko für einen plötzlichen
Herztod unter Antipsychotika auf das
Dreifache und ist unabhängig von der
Grunderkrankung [25].
Während die Bestimmung der QTcZeit unter Antipsychotikatherapie
Eingang in die klinische Routine
gefunden hat, bleibt die Analyse der
HRV in der Regel Forschungslabors
vorbehalten. In der Kardiologie
hingegen ist die Bestimmung der HRV
zur Risikoprädiktion kardiovaskulärer
Ereignisse, sowohl bei kardial
er­krankten [26;27] als auch bei
initial asymptomatischen Patienten
[28] etabliert. Schwankungen des
Sinusrhythmus um den Mittelwert
der Herzfrequenz werden als HRV
bezeichnet, wobei die HRV durch
Sympathikus und Parasympathikus
moduliert wird. Der Parasympathikus
führt zu einer Erhöhung der HRV
und wirkt myokardprotektiv so­
wie antiarrhythmogen [29], die
262
sympathikotone Modulation der
Herzfrequenz führt zur Verminderung
der HRV und zu einer vermehrten
Arrhythmieanfälligkeit.
Darüber
hin­aus erhöht ein gesteigerter
Sympathikotonus das Risiko für die
Entwicklung einer atherosklerotischen
Koronarerkrankung [30] (Übersicht:
[31]).
Der klinische Nutzen der HRV
war bislang aufgrund der lediglich
moderaten Korrelation der klas­si­
schen HRV-Kennwerte mit dem
Mortalitätsrisiko eingeschränkt [32].
Unsere Arbeitsgruppe konnte einen
signifikanten Zusammenhang zwi­
schen einem neu etablierten Kennwert
der HRV, der Dezelerationskapazität
der Herzfrequenz (Deceleration
Capacity, DC) und der Mortalität
bei Patienten nach Myokardinfarkt
nachweisen [33]. Die Korrelation
der DC mit dem Mortalitätsrisiko
war im Vergleich zu konventionellen
Kennwerten der HRV höher, und
sogar höher als die Korrelation der
linksventrikulären Auswurffraktion
mit dem Mortalitätsrisiko. Die
Risikostratifizierung
durch
die
DC erwies sich als besonders prä­
zise bei Patienten mit erhaltener
linksventrikulärer Auswurffraktion
und bietet sich so bei schizophrenen
Patienten an, die in der Regel kardial
asymptomatisch sind.
In der vorliegenden Arbeit wur­
de die DC erstmals bei schi­zo­­
phrenen Patienten unter Anti­psy­
chotikatherapie untersucht.
Abgesehen vom Lebensalter [34], wird
die HRV deutlich von körperlicher
Aktivität beeinflusst [35;36]. Während
psychomotorische Erregungszustände
und Akathisie durch die damit
verbundene vermehrte körperliche
Aktivität zur Zunahme der HRV
führen können, geht möglicherweise
eine krankheitsbedingte Antriebs­min­
derung, als auch eine medikamentös
induzierte Sedierung mit einer
Verminderung der HRV einher. Dieser
mögliche Einfluss der körperlichen
Aktivität auf die HRV wurde bislang
nicht untersucht.
In der vorliegenden Pilotstudie
wur­de die DC bei medikamentös
behandelten schizophrenen Patienten
unter naturalistischen Bedingungen
untersucht, um zu prüfen, ob die
DC, als Hinweis auf ein erhöhtes
Mortalitätsrisiko, erhöht ist.
Methodik
Patienten
Die 28 untersuchten einwilligungs­
fähigen Patienten litten an einer
paranoiden oder hebephrenen Schi­
zophrenie, wobei die Diagnose
gemäß den Kriterien der ICD-10
von Psychiatern gestellt wurde. 24
Patienten erhielten eine Monotherapie,
vier eine Kombinationstherapie zweier
Antipsychotika. Alle Teilnehmer
waren physisch gesund, entsprechend
der körperlichen Untersuchung,
dem 12-Kanal EKG sowie den im
Rahmen der klinischen Routine
erhoben Laborwerten einschließlich
Thyreotropin.
Ausgeschlossen
wur­­­den Patienten mit klinisch
mani­festen
Erkrankungen
des
Herzkreislaufsystems, des autonomen
Nervensystems, oder zusätzlichen
psychischen Erkrankungen.
Unabhängig von der klinischen
Diagnose wurde die Symptomatik
durch
Selbstbeurteilungsskalen
(Eppen­dorfer Schizophrenie Inventar,
ESI; Beck Depression Inventory,
BDI
[37];
State-Trait-AnxietyInventory, STAI [38]) und durch
Fremdbeurteilungsskalen
durch
den jeweils behandelnden Kliniker
(BPRS, Brief Psychiatric Rating
Scale [39]) erfasst.
Alle Teilnehmer erteilten nach aus­
führlicher Aufklärung über die Studie
ihr schriftliches Einverständnis.
Die Medikation der Teilnehmer war
das Ergebnis partizipierender Ent­
scheidungsfindung zwischen Pa­tient
und behandelndem Arzt, die einzelnen
verordneten Substanzen können
Tabelle 1 entnommen werden.
Das kardiovaskuläre Risiko schizophrener Patienten
263
Aktometrie
Antipsychotikum
Mittlere
Intervall
Anzahl der
Dosis*
(mg)
Patienten
Olanzapin
20
10 – 25
11
Risperidon
4,5
2 – 12
9
Clozapin
270
12,5 – 600
4
Quetiapin
225
400 – 600
4
Amisulprid
400
–
2
Chlorprothixen
115
80 – 150
2
Tabelle 1: Medikation (einige Patienten erhielten zwei Antipsychotika).
* Mittlere Dosis: gemittelte Dosis aller Patienten, die das betreffenden
Medikament am Tag der EKG-Aufzeichnung erhielten.
Die Teilnehmer trugen Aktometer
(Gefatec, Berlin) am Handgelenk
ihrer nicht dominanten Hand.
Während der EKG-Aufzeichnung
konnte so ein 4-stündiger „Wach“und ein 4-stündiger „Schlaf“Abschnitt
identifiziert
werden.
“Schlaf“-EKG wurde definiert als
vier Stunden Inaktivität, die durch
nicht mehr als 1 Minute detektierbare
Aktivität
unterbrochen
wurde,
während umgekehrt im „Wach“-EKG
nicht mehr als eine Minute Inaktivität
zugelassen wurde.
Statistik
Gesunde Kontrollgruppe
Die 28 untersuchten gesunden Pro­
banden waren frei von psychischen
und körperlichen Erkrankungen,
was durch ein klinisches Interview
inklusive Familienanamnese, sowie
durch die bereits erwähnten Skalen
(ESI, BDI, STAI) überprüft wurde.
EKG-Aufzeichnung
Die Teilnehmer trugen digitale
Langzeit-EKG-Rekorder (Reynolds
Medical, Hertford) und wurden
instruiert, ihren regulären (Alltags-)
Tätigkeiten nachzugehen.
Die Signalqualität wurde beimAnlegen
des EKG-Gerätes über einen Monitor
geprüft. Die Aufzeichnung erfolgte
digital mit einer Samplingfrequenz
von 128Hz über ein Pathfinder 700
System (Reynolds Medical, Hertford,
UK).
(„Schlaf-EKG“). Ausgehend von
diesem visuell überprüften Artefaktfreien EKG-Signal wurde die DC der
HRV generiert. Die DC basiert auf
einem mathematischen Algorithmus
(„phase rectified signal averaging“,
PRSA), mit dessen Hilfe sich
Periodizitäten in nicht stationären
Signalen mit hoher Genauigkeit
erkennen und quantifizieren lassen.
Die DC stellt ein integrales Maß
sämtlicher Schwingungen dar, die an
der Verlangsamung der Herzfrequenz
beteiligt sind [40].
Kontrollgruppe
Die soziodemographischen Charak­
teristika der Teilnehmer wurden
auf Gleichheit zwischen den beiden
Gruppen getestet (Chi-QuadratTest für diskrete Variablen, MannWhitney-Test für stetige Variablen).
Bei den Gruppenvergleichen der
HRV-Kennwerte
unverbundener
Stichproben wurde die „ONEWAY
ANOVA“ herangezogen. Die hierfür
notwendige Normalverteilung wurde
durch Log-Transformation der HRVKennwerte sichergestellt.
Medizierte
Patienten
p-Wert
N=28
N=28
Alter [J]
36 (13.44)
34 (8.39)
n.s.
Männlich [%]
13 (64.42)
14 (50.00)
n.s.
BMI [SD]
23 (3.11)
27 (4.90)
<0.05
Raucher [%]
13 (64.42)
14 (50.00)
n.s.
HRV-Analyse
Ausgewertet wurden das gesamte
24-Stunden-EKG, sowie zusätzlich
jeweils ein 4-Stunden-Abschnitt
am Tag („Wach-EKG“) und ein 4Stunden-Abschnitt in der Nacht
Tabelle 2: Soziodemographische Daten der Teilnehmer (Unterschiede wurden
mit dem Chi-Quadrat-Test für diskrete und mit dem Mann-WhitneyTest für stetige Variablen geprüft).
Birkhofer, Alger, Schmid, Förstl
Alle Berechnungen erfolgten mit
SPSS (Statistical Product and Service
Solutions, Version 15.0).
264
Probanden nicht unterschieden, fin­
den sich in der Patientengruppe unter
Neuroleptikatherapie sowohl mehr
Raucher als auch ein höherer BMI.
Ergebnisse
Patienten
Die demografischen und klinischen
Charakteristika der Teilnehmer sind
in Tabelle 2 beschrieben. Während
sich Alter und Geschlecht zwi­
schen Patienten und gesunden
Antipsychotika-behandelte Patienten
wiesen im Vergleich zu gesunden
Kontrollen
eine
signifikante
Verminderung der DC auf. Die DC
war sowohl für den 24-Stunden
DC
Gesunde
Kontrollen
Medizierte
Patienten
p
24 Stunden
8.26
5.36
<0.5
4h Tag
8.21
5.14
<0.001
4h Nacht
9.97
6.61
0.037
Tabelle 3: Mittelwerte der DC gesunder Probanden im Vergleich zu medizierten
schizophrenen Patienten (Unterschiede wurden mit dem MannWhitney Test geprüft).
Abbildung 1: Vergleich der DC-Werte von gesunden Kontrollen und Patienten.
Die DC-Werte sind jeweils für 24 Stunden, für 4 Stunden am Tag
und für 4 Stunden in der Nacht dargestellt.
Abschnitt, als auch für die „Tag”und „Nacht”- Abschnitte reduziert
(Tabelle 3 und Abb. 1).
Der Bewegungsumfang unterschied
sich gemäß den Aktometrie-Daten
während der EKG-Aufzeichnung
zwischen gesunden Kontrollen und
den behandelten Patienten nicht.
Diskussion
Ziel der Studie war es, zu klären,
inwiefern die HRV bei schizophre­
nen Patienten unter AntipsychotikaTherapie vermindert ist.
Schizophrene
Patienten
unter
Neuroleptikatherapie wiesen in un­
serer Studie eine deutlich vermin­
derte HRV im Vergleich zu gesunden
Kontrollen auf. In der vorliegenden
Untersuchung wurde erstmals die DC
bei schizophrenen Patienten unter­
sucht.
Obwohl es bereits eine große
Anzahl an Kennwerten der HRV
zur Risikoprädiktion hinsichtlich
kardiovaskulärer Ereignisse gibt,
konnte bisher nicht die prädiktive
Präzision der DC erreicht werden.
Dies könnte die geringe Verbreitung
der Bestimmung von herkömmlichen
HRV-Kennwerten erklären [41].
Neben
zirkadianen
Einflüssen
wird die HRV wesentlich durch
körperliche Aktivität beeinflusst.
[42]. Aus diesem Grund erfolgte
die Auswahl der EKG-Abschnitte
primär nach Aktivitätsniveau und
Aufzeichnungsqualität, nicht aber
nach der Tageszeit. Inaktivität führt
zu einer Verminderung der HRV [43].
In unserer Untersuchung zur HRV bei
schizophrenen Patienten wurde dieser
Umstand durch Aktometrie erstmals
berücksichtigt. Bezogen auf den
gesamten Auswertungszeitraum über
24 Stunden, als auch auf die 4-StundenAbschnitte, waren keine statistisch
bedeutsamen Aktivitätsunterschiede
zwischen gesunden Probanden und
Das kardiovaskuläre Risiko schizophrener Patienten
therapierten Patienten nachweisbar.
Die drastischen Unterschiede der
HRV zwischen Probanden und Pa­
tien­ten lassen sich somit nicht auf
Aktivitätsunterschiede zurückführen.
Die DC ist der linksventriku­lären
Auswurffraktion, dem bisherigen
„Gold Standard“ zur Risiko­stra­
tifizierung hinsichtlich kardialer
Ereignisse deutlich über­legen [44].
Die „DC-Werte unserer Patien­
tengruppe waren gegenüber den ge­
sunden Probanden deutlich reduziert.
Das Ausmaß der Verminderung ist
dabei vergleichbar mit (psychisch
gesunden) Patienten nach einem
Myokardinfarkt [40].
Neben der Frage, inwieweit die schi­
zophrene Erkrankung per se oder die
antipsychotische Therapie für die
Verminderung der HRV verantwort­
lich sind – bisherige Untersuchungen
legen mindestens eine Mitbeteiligung
der Antipsychotika nahe [10;4550] – halten wir jetzt die sequenti­
elle Untersuchung eines größeren
Kollektivs an zunächst unbehan­
delten Patienten für vordringlich,
um Klarheit über die Auswirkung
einzelner Antipsychotika auf die
DC und damit auf die kardialen
Risiken dieser Substanzen zu er­
halten.
Möglicherweise
führen
Anti­psychotika mit fehlender anti­
cholinerger aber intrinsischer sero­
tonerger Aktivität auch zu einer
Verminderung des kardiovaskulä­
ren Risikos, wie dies bereits für
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
bei depressiven Patienten nach einem
Myokardinfarkt gezeigt wurde [51].
Inzwischen gibt es eine Reihe an
Antipsychotika, die in ihrer Wirk­
samkeit auf Positiv- und Nega­tiv­
symptomatik vergleichbar sind.
Deshalb gewinnt nun das differente
Nebenwirkungsprofil die­ser Substan­
zen zunehmend an Bedeutung.
Bei der Auswahl der geeigneten
Antipsychotika könnte dieAuswirkung
der jeweiligen antipsychotischen
(Kom­binations-)Therapie auf das
kardiale Mortalitätsrisiko, insbeson­
dere bei Patienten mit bereits er­
höhtem kardiovaskulärem Risiko
hilfreich sein.
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Cohen H, Loewenthal U, Matar M,
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patients after myocardial infarction.
Arch.Gen.Psychiatry 2005;62(7):792-8.
OA Dr. Andreas Birkhofer
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
TU München
[email protected]
Originalarbeit
Original
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 267–274
Minderjährige Angehörige von
Schizophrenie-Kranken: Belastungen
und Unterstützungsbedarf
Monika Krautgartner1, Anne Unger1, Ralf Gössler2, Hans Rittmannsberger3,
Christian Simhandl4, Wolfgang Grill5, Renate Stelzig-Schöler6, Dagmar Doby7
und Johannes Wancata1
In Zusammenarbeit mit:
N. Voglmayr, P. Stöckl, Th. Klug, M. Hanl-Andorfer, W. Brandmayr, B. Luef, J. Bacher,
E. Werner, M. Reisner, E. Haubenstock, Ch. Egger, J. Anwar, H. Rothuber
1
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für
Sozialpsychiatrie, Wien
Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien
Landesnervenklinik Wagner Jauregg, Linz
4
Krankenhaus Neunkirchen, Sozialpsychiatrische Abteilung, Neunkirchen
5
Psychosoziale Zentren GmbH, PSD Leitung, Stockerau
6
Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Univ.-Klinik für Psychiatrie 1, Salzburg
7
Firma Eli Lilly Österreich, Medizinische Abteilung, Wien
2
3
Schlüsselwörter:
Schizophrenie – minderjährige Angehörige
– Belastungen – Bedarf
Keywords:
schizophrenia – minor relatives – burden
– needs
Minderjährige Angehörige von
Schi­zophrenie-Kran­ken: Belas­tun­
gen und Unterstütz­ungsbedarf
Ziele: Anliegen der vorliegenden
Studie war die Untersuchung der
Belastungen minderjähriger Ange­
höriger von Schizophrenie-Kranken
und der daraus resultierenden
Erfordernisse für die Unterstützung der
Angehörigen. Methodik: Insgesamt
wurden 135 Angehörige von Kranken
mit der Diagnose Schizophrenie
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
oder schizoaffektive Störung mittels
des „Involvement Evaluation Ques­
tionnaire“ und des „Carers’ Needs
Assessment for Schizophrenia“
untersucht. Ergebnisse: 24,4% der
Gesamtstichprobe (N=33) hatten
entweder minderjährige (d.h. unter
18 Jahren) Geschwister (N=18) oder
Kinder (N=15). Wenn der Kranke
minderjährige Geschwister hatte,
berichteten nahezu die Hälfte der
erwachsenen Angehörigen über
mittelschwere oder ausgeprägte
Probleme. Bei jenen Kranken, die
minderjährige Kinder zu versorgen
hatten, waren dies hingegen nur ein
Fünftel. Bei den unter 16-jährigen
Kindern der Kranken kam es häufig zu
Problemen wie auffälligem Verhalten,
Appetitlosigkeit und anderen Folgen
der Krankheit. Diskussion: Die
Ergebnisse weisen darauf hin, dass
im nahen familiären Umfeld der
Kranken häufig auch minderjährige
Angehörige zu finden sind, die unter
ausgeprägten Belastungen leiden.
Minor relatives of schizophrenia
patients: burden and needs
Objectives: The aim of the present
study was to investigate the burden
of minor relatives of schizophrenia
patients and of the needs for support for
the relatives. Methods: 135 relatives
of patients with schizophrenia or
schizoaffective
disorders
were
assessed by using the “Involvement
Evaluation Questionnaire” and the
“Carers’ Needs Assessment for
Schizo­phrenia”. Results: 24.4% of
the total sample (N=33) had minor
(i.e. below 18 years) siblings (N=18)
or children (N=15). If the patient had
minor siblings, almost the half of
the adult relatives reported moderate
or severe problems. However,
among those patients who had to
take care for minor children, only
a fifth reported moderate or severe
pro­blems. Among the patients’
offsprings being under the age of 16
behavioural disturbances, reduced
appetite and other consequences of
the disease were reported frequently.
Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata
Conclusions: These results indicate
that patients with schizophrenia
or schizoaffective disorders often
have minor relatives in their family
frequently suffering from marked
burden.
Einleitung
Angehörige von SchizophrenieKranken leiden unter verschiedensten
Belastungen, die beispielsweise
Stress, zeitlichen Aufwand für
die Betreuung des Kranken und
Symptome
einer
Depression
einschließen [8, 12, 14, 15, 22, 23, 25].
Da zahlreiche Studien gezeigt haben,
dass Interventionen zur Unterstützung
der Angehörigen und zur Ver­
besserung ihrer Kommunikation
mit dem Patienten wirksam sind
[13, 18, 20], sind Interventionen für
Angehörige zum Standard in der
Schizophreniebehandlung geworden
[11].
Während sich die wissenschaftliche
Literatur schon seit längerem mit den
erwachsenen Angehörigen psychisch
Kranker mit unterschiedlichsten
Dia­gnosen (z.B. neben der Schi­
zo­phrenie auch Demenz oder Ess­
störungen) beschäftigte [4, 9], sind
die minderjährigen Angehörigen
bislang in relativ geringem Ausmaß
Gegenstand wissenschaftlicher Unter­
suchungen gewesen [3]. Häufig be­
schränkte sich die wissenschaftliche
Auseinandersetzung auf Fallbe­
schreibungen [3, 29]. Im klinischen
Alltag beschränken sich spezialisierte
Angebote für Minderjährige in
Österreich auf drei Einzelinitiativen
in Vorarlberg, Salzburg und Nieder­
österreich. Ob und in welchem Aus­
maß Ärzte und Psychologen in der
klinischen Routine dieses Thema
aufgreifen (auch wenn es kaum
spezialisierte Angebote gibt), ist
bislang nicht bekannt.
Da in Österreich – so wie in vielen
anderen
europäischen
Ländern
– keine Daten zur Häufigkeit der
Belastungen von Minderjährigen
und des Bedarfs an Hilfe vorliegen,
wurden die Daten einer kürzlich
in
Österreich
durchgeführten
Studie ausgewertet. Diese Studie
beschäftigt sich einerseits mit den
Belastungen und andererseits mit
dem Bedarf und den Bedürfnissen der
Angehörigen von Personen, die unter
Schizophrenie oder schizoaffektiven
Störungen leiden. Da diese Studie
nicht primär auf die Untersuchung
von minderjährigen Angehörigen
ausgerichtet war, sondern alle
Patienten und deren Angehörige, die
mit den jeweiligen Einrichtungen
in Kontakt standen, einschloss,
können aus den vorliegenden Daten
auch vorläufige Hinweise auf die
Größenordnung
des
Problems
gefunden werden.
Die hier vorgelegten Auswertungen
konzentrieren sich auf die Ergebnisse,
die zu den minderjährigen (unter 18
Jahre) Kindern und Geschwistern
von Patienten mit schizophrenen
oder schizoaffektiven Psychosen
aus unterschiedlichen Diensten
und Einrichtungen verschiedener
Regionen Österreichs gewonnen
wurden.
Material und Methodik
Stichprobe
Insgesamt wurden 135 erwachsene
Angehörige von Patienten mit
der Diagnose Schizophrenie oder
schizoaffektive Psychose (ICD-10:
F20.0-9, F25.0-9) eingeschlossen. Die
Patienten waren in den Bundesländern
Niederösterreich,
Oberösterreich,
Salzburg und Wien in psychiatrischer
Behandlung. Jeweils ein Drittel
der Patienten wurden aus dem
ambulanten Bereich, Tageskliniken
und Stationen eingeschlossen. Die
Patienten und ihre Angehörigen
wurden in der Reihenfolge des
268
Kontaktes mit der jeweiligen Ein­
richtung untersucht. Vor Beginn der
Datenerhebung wurde von allen
Patienten und ihren Angehörigen eine
schriftliche Einverständniserklärung
unterzeichnet. Die Interviews mit
den Kranken und ihren Angehörigen
wurden von erfahrenen Psychologen,
von Fachärzten für Psychiatrie
bzw. von Ärzten in psychiatrischer
Facharztausbildung durchgeführt.
Für die hier dargestellten Aus­
wertungen wurden die Patienten und
deren Angehörige in drei Subgruppen
unterteilt: (1) jene, wo der Patient
minderjährige (d.h. unter 18-jährige)
Kinder hatte; (2) jene, wo der Patient
minderjährige (d.h. unter 18-jährige)
Geschwister hatte; (3) jene, wo der
Patient keine minderjährigen Kinder
oder Geschwister hatte.
Untersuchungsinstrumente
Das „Carers’ Needs Assessment for
Schizophrenia“ (CNA-S [28]) ist ein
semi-strukturiertes Interview und
umfasst 18 Problembereiche, das
für jeden dieser Problembereiche
mehrere mögliche Interventionen
bietet (zwischen zwei bis sechs
Interventionen pro Problembereich).
Alle Problembereiche und Inter­
ventionen beziehen sich auf die
letzten drei Monate, wobei für die
vorliegenden Auswertungen aus­
schließlich die subjektive Sicht der
Angehörigen berücksichtigt wurde.
Die Ergebnisse für die Validität
und Reliabilität des CNA-S waren
zufriedenstellend [28]. Für die hier
dargestellten Auswertungen wurde
ausschließlich Problembereich 17
(„Belastung der Minderjährigen
durch die Krankheit“) verwendet,
der nur dann erhoben wird, wenn der
Kranke minderjährige Kinder oder
Geschwister (d.h. unter 18 Jahren)
hat.
Jene Bereiche, in denen die Ange­
hörigen in die Betreuung des
Kranken involviert sind, wurden
Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf
mittels des „Involvement Evaluation
Questionnaire“ (IEQ) erfasst, wobei
die für international vergleichende
Studien adaptierte Version verwendet
worden war [2, 27]. Der Kernbereich
des IEQ besteht aus vier Sub-Skalen:
(1) Spannung zwischen Patient und
Angehörigem, (2) Beaufsichtigen
des Patienten, (3) sich wegen des
Patienten Sorgen machen, (4) den
Patienten zu etwas motivieren. Der
Zeitrahmen für die Erfassung bezog
sich auf die letzten 4 Wochen. Für die
folgenden Auswertungen war jener
Bereich des IEQ verwendet worden,
der die Belastungen von Kindern der
Kranken im Alter unter 16 Jahren
erfasst. In diesem Bereich wird er­
fasst, ob es während der letzten vier
Wochen vorkam, dass das Kind oder
die Kinder der psychisch kranken
Person eines der angeführten neun
Probleme hatte.
Außerdem wurden von den Kranken
die folgenden Daten erhoben:
Krankheitsdauer, Zahl der stationären
Behandlungen,
Diagnose
nach
ICD-10, soziodemographische und
anamnestische Daten. Von den
Angehörigen wurden die folgenden
Daten erfasst: soziodemographische
Daten, Ausmaß der Betreuung und
des Kontaktes mit dem Kranken.
Ergebnisse
Zusammensetzung der Gesamt­
stichprobe
Weniger als die Hälfte der Patienten
(41,8%) war weiblich. Das Alter
betrug 32,9 Jahre (Mittelwert). Die
mittlere Krankheitsdauer betrug 8,8
Jahre. Bei nur 8,1% der Patienten
handelte es sich um den ersten
Kontakt mit einer psychiatrischen
Einrichtung. Eine ausführlichere
Be­schreibung der Stichprobe der
Patienten findet sich bei Unger et al.
[26] und bei Krautgartner et al. [12].
Bei den Angehörigen handelte es
sich in 68,9% um die Eltern der
Patienten. Zwei Drittel der befrag­
ten Angehörigen waren weiblich
(68,9%) und ihr Alter betrug 52,7
Jahre (Mittelwert). Eine ausführli­
chere Beschreibung der Angehörigen
erfolgte bereits an anderer Stelle [12,
26].
24,4% der Gesamtstichprobe (N=33)
hatten entweder minderjährige (d.h.
unter 18 Jahren) Geschwister oder
Kinder. Von jenen 18 Patienten, die
minderjährige Kinder hatten, für die
sie sorgen mussten, hatten 61% ein
einziges Kind und 39% zwei oder
mehr Kinder. Weitere 15 Patienten
hatten minderjährige Geschwister.
Statistische Auswertungen
Alle statistischen Auswertungen
erfolgten mittels SPSS. Die Be­
schreibung der Ergebnisse erfolgt
mittels
deskriptiv-statistischer
Auswertungen. Um Unterschiede
zwischen Subgruppen der Ange­
hörigen und Patienten zu untersuchen
wurden je nach Datenqualität ChiQuadrat-Tests und U-Tests (wegen
fehlender Normalverteilung bei den
kontinuierlichen Daten) verwendet.
Unterschiede in den Patienten­
stichproben
Diejenigen Patienten, die minder­
jäh­rige versorgungspflichtige Kin­
der hatten, hatten ein höheres Alt­
er, eine längere Krankheitsdauer
und
mehr
Spitalsaufnahmen
als jene, die minderjährige Ge­
schwister hatten (Tabelle 1).
Patienten mit minderjährigen ver­
sorgungspflichtigen Kindern litten
häufiger
unter
schizoaffektiven
Psychosen und seltener unter
Schizophrenie. Signifikante Unter­
schie­de fanden sich außerdem
bezüglich des Zivilstandes, während
269
bezüglich Geschlecht, Berufstätigkeit
und Einkommen keine Unterschiede
festzustellen waren.
Unterschiede in den Angehörigen­
stichproben
Bei jenen Angehörigen von Patienten,
die minderjährige Geschwister hatten,
handelte es sich signifikant häufiger
um die Eltern des Patienten als bei
den Angehörigen von Patienten, die
minderjährige Kinder zu versorgen
hatten (Tabelle 2). Bezüglich der
anderen
soziodemographischen
Va­riablen und der Aspekte der Be­
treuung des Kranken fanden sich
keine signifikanten Unterschiede.
Häufigkeit von Problemen und
des Bedarfs an Interventionen aus
Sicht der Angehörigen (CNA-S)
Wenn der Kranke minderjährige
Geschwister hatte, berichteten nahe­
zu die Hälfte der Angehörigen über
mittelschwere oder ausgeprägte Pro­
bleme (46,7%; Tabelle 3). Bei jenen
Kranken, die minderjährige Kinder
zu versorgen hatten, waren dies
hingegen nur 22,2%.
Rund ein Viertel der Angehörigen
von Kranken mit minderjährigen
Geschwistern wünschte sich pro­
fes­sionelle Hilfe bei der Erziehung
und Beratung darüber, wie man
Minderjährigen das Verhalten des
Kranken erklärt (Tabelle 3). Ein Fünftel
sah eine finanzielle Unterstützung der
Angehörigen, die die minderjährigen
Geschwister des Kranken betreuen,
als nötig an. Nur 13,3% hielten spe­
zielle Angehörigenrunden für die
Minderjährigen für erforderlich.
Die Angehörigen jener Kranken, die
minderjährige Kinder zu versorgen
hatten, berichteten deutlich seltener,
dass ein Bedarf an Interventionen
bestünde (jeweils ca. 5%). Bei beiden
Gruppen von Angehörigen zeigte
sich, dass in nahezu allen Fällen der
Bedarf ungedeckt war.
Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata
Minderjährige Angehörige
N
270
Vergleich Kinder /
Geschwister
Keine
Kinder *
Geschwister
Wert **
p
102
18
15
Wert
p
Geschlecht
Männlich
%
59,8
44,4
60,0
Weiblich
%
41,2
55,6
40,0
Ledig
%
88,0
22,2
100,0
Verheiratet
%
4,0
50,0
0,0
Geschieden
%
8,0
27,8
0,0
Keine
%
72,4
55,6
50,0
Voll berufstätig
%
11,2
22,2
21,4
Teilweise berufstätig
%
8,2
16,7
14,3
Studium
%
5,1
Hausfrau/Hausmann
%
3,1
5,6
keines
%
9,9
5,6
21,4
Beruf
%
15,8
33,3
28,6
Pension
%
38,6
33,3
14,3
Krankengeld
%
12,9
16,7
7,1
Sozialhilfe
%
12,9
5,6
7,1
Sonstiges
%
9,9
5,6
21,4
Nein
%
93,9
82,4
86,7
Ja
%
6,1
17,6
13,3
Schizophrenie
%
97,1
72,2
100,0
Schizoaffektiv
%
2,9
27,8
0,0
Alter
m
(SD)
33,5
39,4
21,6
(12,5)
(6,9)
(3,7)
Krankheitsdauer (Jahre)
m
(SD)
9,2
11,5
2,9
(8,3)
(9,1)
(4,4)
Zahl stationärer Aufnahmen
m
(SD)
5,5
5,2
2,8
(6,2)
(4,1)
(3,3)
Zahl tagesklinischer Aufnahmen
m
(SD)
1,1
1,4
0,5
(1,6)
(1,9)
(0,5)
n.s.
Zivilstand
20,263
0,000
Berufstätigkeit
n.s.
14,3
Einkommen
n.s.
Erster Kontakt mit psychiatrischer
Einrichtung
n.s.
Diagnose
*
Kinder, für die der Kranke sorgen muss
4,911
0,027
4,815
0,000
3,595
0,000
2,232
0,026
n.s.
** Wert: bei kategorialen Daten Chi-Quadrat, bei kontinuierlichen Daten Z-Wert (U-Test)
Tabelle 1:Stichproben-Zusammensetzung der Patienten und Vergleich der Patienten, die minderjährige Kinder hatten,
mit jenen, die minderjährige Geschwister hatten (m – Mittelwert, SD – Standardabweichung)
Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf
Minderjährige Angehörige
N
Keine
Kinder *
Geschwister
102
18
15
271
Vergleich Kinder / Geschwister
Wert **
p
Geschlecht
Männlich
%
29,4
50,0
20,0
Weiblich
%
70,6
50,0
80,0
ledig
%
13,7
5,6
0,0
verheiratet
%
67,6
61,1
80,0
geschieden
%
8,8
27,8
13,3
verwitwet
%
9,8
5,6
6,7
Mutter / Vater
%
72,6
33,3
86,7
Schwester / Bruder
%
4,9
11,1
6,7
Partner
%
11,8
50,0
0,0
Tochter / Sohn
%
4,9
0,0
6,7
Sonstige
%
5,9
5,6
0,0
Nein
%
51,0
44,4
33,3
Ja
%
49,0
55,6
66,7
nein
%
50,0
62,5
60,0
teilweise
%
48,1
37,5
40,0
ganz
%
1,9
0,0
0,0
überhaupt nicht
%
35,6
44,4
13,3
fallweise
%
22,8
5,6
20,0
das gesamte letzte Monat
%
41,6
50,0
66,7
weniger als 3 Stunden
%
8,1
0,0
0,0
3-10 Stunden
%
24,2
22,2
13,3
mehr als 10 Stunden
%
67,7
77,8
86,7
53,8
(12,9)
50,1
(15,1)
48,3
(6,8)
n.s.
Zivilstand
n.s.
Angehöriger
17,875
0,007
Lebt im gemeinsamen Haushalt
n.s.
Falls nicht im gemeinsamen Haushalt:
betreut Haushalt des Kranken
n.s.
Wie viele Tage im letzten Monat mit
Krankem im gleichen Haushalt gelebt
n.s.
durchschnittliche Dauer des
wöchentlichen Kontaktes
Alter
*
Kinder, für die der Kranke sorgen muss
m
(SD)
n.s.
n.s.
** Wert: bei kategorialen Daten Chi-Quadrat, bei kontinuierlichen Daten Z-Wert (U-Test)
Tabelle 2:Stichproben-Zusammensetzung der befragten Angehörigen und Vergleich der Angehörigen von Patienten, die
minderjährige Kinder hatten, mit jenen von Patienten, die minderjährige Geschwister hatten (m – Mittelwert,
SD – Standardabweichung)
Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata
272
Wenn Pat. minderjährige
Kinder hat, für die Pat.
sorgen muss
Wenn Pat. minderjährige
Geschwister hat
%
%
Kein oder geringfügiges Problem
77,8
53,3
Mittelschweres Problem
16,7
20,0
Ausgeprägtes Problem
5,6
26,7
Professionelle Hilfe bei der Erziehung und Betreuung der
Minderjährigen
5,6
26,7
Beratung durch einen Mitarbeiter des Behandlungsteams,
wie man Minderjährigen das Verhalten des Kranken erklärt
11,1
26,7
Finanzielle Unterstützung für den Angehörigen, der die
Minderjährigen betreut
5,6
20,0
Spezielle Angehörigen-Runde für Minderjährige
0,0
13,3
Professionelle Hilfe bei der Erziehung und Betreuung der
Minderjährigen
5,6
26,7
Beratung durch einen Mitarbeiter des Behandlungsteams,
wie man Minderjährigen das Verhalten des Kranken erklärt
5,6
26,7
Finanzielle Unterstützung für den Angehörigen, der die
Minderjährigen betreut
5,6
20,0
Belastung stellt Problem dar
Gesamter Bedarf an Hilfe
Ungedeckter Bedarf an Hilfe
Tabelle 3:Belastung der Minderjährigen durch die Krankheit und Bedarf an Hilfen aus Sicht der interviewten
Angehörigen (nur falls der Kranke minderjährige Kinder oder Geschwister, d.h. jünger als 18 Jahre, hat).
Kam es während der letzten vier Wochen vor, dass das Kind oder
die Kinder des/der Kranken ....
Ja
(%)
keinen Appetit hatten
21,4
nachts nicht schlafen konnten
28,6
in der Schule nachließen
7,1
vor Vater/Mutter Angst hatten
28,6
den Schulunterricht versäumten
0,0
auffälliges Verhalten zeigten
42,9
seltener mit Freunden spielten
35,7
sich ihres Vaters/ihrer Mutter schämten
28,6
bei Nachbarn, Verwandten oder Bekannten bleiben mussten
42,8
Tabelle 4:Belastungen der Kinder unter 16 Jahren (N=14) aus Sicht der interviewten Angehörigen erfasst mittels des
„Involvement Evaluation Questionnaire“ (IEQ).
Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf
Belastungen von Kindern der
Kranken (IEQ)
Insgesamt hatten 14 Kranke (10,4%)
Kinder im Alter unter 16 Jahren.
Die von den Angehörigen am
häufigsten berichteten Probleme der
Kinder waren auffälliges Verhalten,
bei anderen Personen (Nachbarn,
Verwandten, Bekannten) bleiben
müssen und selteneres Spielen mit
Freunden (Tabelle 4).
Diskussion
Die hier dargestellten Ergebnisse
zeigen,
dass
Patienten
mit
Schizophrenie oder schizoaffektiven
Psychosen häufig minderjährige
Kinder oder Geschwister haben.
Unseres Wissens liegt bislang keine
ähnliche Studie vor, aus der Hinweise
auf die Größenordnung des Problems
möglich
sind.
Einschränkend
muss aber berücksichtigt werden,
dass diese Fragestellung nicht die
Hauptaufgabe dieser Studie war und
daher gezielte methodische Ansätze
genauere Ergebnisse bringen könnten.
Zahlreiche
andere
potenzielle
Belastungen [3] wie etwaige Defizite
in der Erziehung, wenn ein Elternteil
langdauernd erkrankt ist, oder das
traumatisierende Erlebnis, dass ein
Elternteil vielleicht gegen seinen
Willen ins Spital aufgenommen
wurde, wurden hier nicht erfasst.
Bei der Interpretation dieser Stu­
die müssen zwei methodische
Ein­schränkungen
berücksichtigt
wer­den. Insgesamt handelt es sich
um eine eher kleine Stichprobe
und die Auswertungen über die
Minderjährigen basieren auf nur
33 Personen. Außerdem wurden
mehrfach
bivariate
Vergleiche
durchgeführt, was das Problem des
Alpha-Fehlers aufwirft. Da es sich
um die erste derartige Studie handelt
und die Stichprobe relativ klein
ist, haben wir aber auf Methoden
zur Korrektur des Alpha-Fehlers
verzichtet. Nichtsdestotrotz dürfen
diese methodischen Limitationen
nicht übersehen werden.
Die Tatsache, dass minderjährige
Geschwister eher bei jüngeren
Patienten mit einer kürzeren Krank­
heitsdauer zu finden sind, während
minderjährige Kinder eher bei älte­
ren Patienten mit (naturgemäß)
längerer Krankheitsdauer anzu­
tref­fen sind, scheint plausibel.
Insofern scheint es auch plausibel,
dass im Falle der Patienten mit
minderjährigen Geschwistern die
befragten erwachsenen Angehörigen
ausschließlich die Eltern der Kranken
waren.
Die
befragten
erwachsenen
Angehörigen berichteten bei etwa
der Hälfte jener Patienten, die
minderjährige Geschwister hatten,
und bei etwa einem Viertel der
Patienten, die minderjährige Kinder
hatten, dass es Probleme in diesem
Zusammenhang gäbe. Da es sich im
Falle minderjähriger Geschwister der
Kranken um deren Eltern handelte,
die hier befragt wurden, ist es nicht
verwunderlich, dass auch häufig ein
Bedarf an Hilfen berichtet wurde.
Allerdings ist es besorgniserregend,
dass dieser Bedarf weitgehend
ungedeckt blieb.
Bei den unter 16-jährigen Kindern
der Kranken (IEQ) kam es häufig
zu Problemen wie beispielsweise
Appetitlosigkeit, Schlafproblemen
und Verhaltensauffälligkeiten. Die
Häufigkeit der angeführten Probleme
gibt Anlass zur Sorge.
Die Tatsache, dass bei rund einem
Viertel der Kranken minderjährige
Angehörige vorhanden sind, weist
darauf hin, dass es sich um ein
Problem handelt, das durchaus
versorgungspolitisch relevant ist. So
wie bei Erwachsenen wird es nötig
sein, die subjektiven Sichtweisen
[6], die möglichen Folgen von
Stigma [1] und die möglichen
273
Einflüsse auf die Lebensqualität
[17, 21, 24] der Minderjährigen
zu berücksichtigen. Überdies wird
es nötig sein, die minderjährigen
Angehörigen psychisch Kranker in
der Versorgungsplanung ebenso zu
berücksichtigen wie dies bereits bei
den Erwachsenen diskutiert wird [16,
19, 28]. In ähnlicher Weise wie bei
den Erwachsenen sind im Kontext mit
der Versorgungsplanung Fragen nach
dem Bedarf [7], der Inanspruchnahme
[5], aber auch nach den Kosten [10]
zu stellen.
Die in der vorliegenden Studie
gefundenen Ergebnisse weisen darauf
hin, dass minderjährige Angehörige
häufig im nahen familiären Umfeld
der Kranken zu finden sind und
unter
ausgeprägten
negativen
Kon­se­quenzen zu leiden haben.
Da­raus ergeben sich zahlreiche
klinische und wissenschaftliche
Im­plikationen wie beispielsweise
stärkere
Berücksichtigung
im
kli­nischen Alltag,
Entwicklung
spezialisierter Modelle, genauere
Untersuchung der Belastung und
des Versorgungsbedarfs. Sowohl
im klinischen Alltag als auch in
der Forschung sind hier also neue
Ansätze gefragt.
Danksagung
Die vorliegende Studie wurde
dankenswerter Weise durch einen
„Unrestricted Grant“ der Firma
Eli Lilly unterstützt. Wir danken
außerdem N. Voglmayr, P. Stöckl,
Th. Klug, M. Hanl-Andorfer, W.
Brandmayr, B. Luef, J. Bacher, E.
Werner, M. Reisner, E. Haubenstock,
Ch. Egger, J. Anwar und H. Rothuber
für ihre engagierte Mitarbeit bei
dieser Studie.
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Dr. Monika Krautgartner
Universitätsklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, Klinische Abteilung
für Sozialpsychiatrie, Medizinische
Universität Wien
[email protected]
Originalarbeit
Original
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 275–283
Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung
– Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation eines dysfunktionalen Selbst
Karl Toifl1, Barbara Kimmel1, Philipp Mayring2 und Hans Marlies Mörth1
1
Univ.-Klinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters,
Medizinische Universität Wien
2
Psychologisches Institut, Universität Klagenfurt
Schlüsselwörter:
Psychose – Selbst – Komplexitätsforschung
– Chaostheorie – Selbstorganisation
Keywords:
psychosis – self – complexity research
– chaos theory – self organisation
Psychose aus Sicht der Kom­­ple­
xi­­tätsforschung – Ein Mo­dell
zur Untersuchung der Selbst­or­
ganisation eines dysfunktionalen
Selbst
Die multifaktorielle Genese psy­
chotischer Erkrankungen ist heut­
zutage unbestritten. Offen ist die
Fragestellung der Integration der
vielschichtigen Befunde aus dem bio­
logischen, psychischen und sozialen
Bereich. Auf Basis der Ergebnisse
der Komplexitätsforschung (Chaos­
theorie,Theorie der Selbstorganisation)
wurde für die Entstehung psychoti­
scher Erkrankungen die Hypothese
formuliert, dass diese als Ausdruck
eines dysfunktionalen Selbst ver­
standen werden. Ein solches dys­
funktionales Selbst entsteht in einem
sich selbst organisierenden Prozess.
Material und Methode: Die Defini­
tion des Selbst wurde neu formuliert.
Dies geschah auf Basis eines bio­
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
psychosozialen Krankheitsmodells
und den Erkenntnissen der Kom­
plexitätsforschung. Es wurden zehn
Hauptkategorien definiert, die wesent­
lich erscheinen für die Entwicklung
eines gesunden, das heißt flexiblen
und autonomen Selbst. In weiterer
Folge wurde, abgeleitet von die­
sen Kategorien ein semistrukturier­
ter Interviewleitfaden entwickelt.
Damit erfolgte die Sammlung von
Information über den sich selbst orga­
nisierenden Prozess der Entwicklung
des Selbst bei psychotischen
Patienten. Dieser Leitfaden wurde im
Rahmen einer Diplomarbeit in einem
mehrdimensionalen Interview mit
einem Patienten und seiner Familie
erprobt. Dieses Interview wurde auf
Tonband aufgenommen, transkri­
biert und mit Hilfe einer qualitativen
Inhaltsanalyse nach zwei Aspekten
hin qualitativ untersucht. Der erste
Aspekt betraf die Entscheidung der
Zuordnung zu einer oder mehreren der
zehn Kategorien. In einem 2. Schritt
wurde bewertet, ob die untersuch­
te Information als förderlich für die
Entwicklung eines gesunden Selbst
einzustufen ist oder als hemmend.
Ergebnis: Das entwickelte und ver­
wendete Untersuchungsmodell ist ge­
eignet, die qualitative Untersuchung
eines sich selbst organisierenden
Selbst zu ermöglichen. Bei der
Einzelfallanalyse eines psychotischen
Patienten mit schizophrener Psychose
überwogen bei einem Großteil der 10
Kategorien, die als hemmend interpre­
tierten Einflüsse für die Entwicklung
eines gesunden Selbst. Dies ent­
sprach der aufgestellten Hypothese.
Schlussfolgerungen: Das verwen­
dete Untersuchungsmodell erscheint
geeignet, um die Entwicklung des
Selbst bei psychotischen Menschen
qualitativ zu untersuchen. Bei einer
umfassenderen Studie ist es notwen­
dig, die Dauer des Interviews zu kür­
zen und die Auswertung direkt von
Video oder CD-Rom durchzufüh­
ren.. Das Ergebnis der qualitativen
Inhaltsanalyse zeigte eindeutig auf,
in welchen Kategorien die hemmende
Wirkung auf die Entwicklung eines
gesunden Selbst überwog. Daraus
könnten sich Konsequenzen bezüg­
lich einer individuellen, mehrdimen­
sionalen Therapie ergeben, welche die
Entwicklung eines gesunden Selbst
fördert.
Psychosis sight from the complexity
research – a model for the exami­
nation of the self organisation of a
dysfunctional self
Nowadays the multifactorial genesis
of psychotic illnesses is undisputed.
The question of the integration of the
multilayered results is open from the
biological, emotional and social area.
Based on the results of the complexity
research (chaos theory, theory of the
self organisation) the hypothesis was
formulated for the emergence of psy­
chotic illnesses that these are under­
Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth
stood themselves as an expression of
a dysfunctional self. Such a dysfunc­
tional self arises in a self organizing
process. Material and method: The
definition of the self was newly for­
mulated. This happened on the know­
ledge of the complexity research and
a bio- psycho-social model of illness
and health. Ten main categories were
defined, which seem essential for the
development of a healthy, this means
a flexible and autonomous self. In
further consequence, based on these
categories, a semistructured inter­
view guide was developed. With this
interview guide the information about
the quality of the self organising pro­
cess of the development of the self
was collected. This guide was tested
in the context of a master thesis in a
multidimensional interview with a
schizophrenic patient and his family.
This interview was taken on video
tap. The information on video beca­
me transcribed. Than the information
was examined qualitatively to two
aspects. This happened with the help
of a qualitative contents analysis. The
first aspect concerned the decision of
the assignment to one or several of
the ten categories. In a 2nd step it was
judged, whether the examined infor­
mation has to be classified as benefi­
cial for the development of a healthy
self or as impeding. Results: The de­
veloped and used examination model
is suitable to make the investigation
of a self organizing self possible. At
the individual case analysis of a pati­
ent with a schizophrenic psychosis the
inhibiting influences for the develop­
ment of a healthy self predominated
at a large part of the 10 categories.
This corresponded to the hypothesis.
Conclusions: The used examination
model seems suitable, to examine
qualitatively the development of the
self in psychotic people. At a more
comprehensive study it is necessary to
shorten the duration of the interview
and to carry out the evaluation direct­
ly of video or CD-ROM The result
of the qualitative contents analysis
showed obviously, in which catego­
ries the impeding effect on the deve­
276
lopment of a healthy self outweighed.
This result supports the idea of an
individualized multidimensional the­
rapeutic concept, which supports the
development of a healthy self. Out of
this could surrender to consequences
regarding an individual, multidimen­
sional therapy which promotes the
development of a healthy itself.
Einleitung
Schizophren psychotische Erkran­
kungen (ICD !0 F20) werden
heut­zutage aufgrund zahlreicher
Befunde sowohl aus dem biolo­
gischen, wie auch dem individu­
ell psychischen und dem sozialen
Bereich ätiologisch als multifakto­
rielle Krankheitsbilder gesehen..(1)
Aufgrund der Eindimensionalitäten
wissenschaftlicher Fragestellungen
und Untersuchungen war es bisher
nicht befriedigend möglich, eine in­
tegrierende
Krankheitshypothese
­zu etablieren, mit der es möglich
ist, sowohl die bio-psycho-so­
ziale Kom­plexität wie auch die
Dynamik der Krankheitsentstehung
zu integrieren und nachvollziehbar
werden­ zu lassen. Die Ergebnisse
der Komplexitätsforschung (Chaos­­
theorie, Theorie der Selbst­or­ga­ni­
sation) könnten dazu einen Beitrag
leisten. (13, 14) Ciompi (2) definier­
te auf dieser Basis die Affektlogik.
Auf Basis von Ergebnissen der
Komplexitätsforschung wurde auch
eine Definition von Gesund und
Krank entwickelt, wobei sowohl die
Mehrdimensionalität menschlicher
Existenz wie auch der selbstorgani­
satorisch ablaufende Prozess einer
individuellen Entwicklung integriert
wurde. Es wurde auch ein prakti­
kables Modell mehrdimensionaler
Diagnostik und Therapie entwickelt
und mit positivem Ergebnis ange­
wandt. (15, 16)
Um die Komplexität und Dynamik
psychotischer Krankheitsentstehung
fassbar zu machen, wurde auf Ba­
sis der Ergebnisse der Kom­ple­
xi­tätsforschung
die
Hypothese
for­muliert, dass psychotische Er­
krankungen als sich selbst organisie­
rende Entwicklungen eines dysfunk­
tionalen Selbst verstanden werden
können. Um ein entsprechendes wis­
senschaftliches Untersuchungsmodell
zu entwickeln, wurde in einem ersten
Schritt das menschliche Selbst unter
dem Blickwinkel dieser Ergebnisse
definiert. In einem zweiten Schritt
wurden, ausgehend von Masterson
(7) 10 Hauptkategorien formuliert,
welche die gesamte biopsychosozi­
ale Komplexität berücksichtigen. Sie
werden als wesentlich angesehen für
die Entwicklung eines gesunden, das
heißt autonomen und flexiblen Selbst.
Eine psychotische Erkrankung wird in
diesem Zusammenhang als Ergebnis
einer dysfunktionalen Entwicklung
des Selbst definiert. Dieser Krank­
heitszustand ist durch nicht linear
aufeinander wirkende, sich selbst
organisierende Einflüsse entstan­
den, welche einen stark hemmenden
Einfluss auf die Entwicklung eines
gesunden Selbst ausüben. Um diese
Hypothese wissenschaftlich untersu­
chen zu können, wurde ein spezielles
qualitatives Untersuchungskonzept
entwickelt und im Rahmen einer
Diplomarbeit auf seine wissenschaft­
liche Anwendbarkeit hin erprobt.
Material und Methode
Die Hypothese, dass eine psycho­
tische Erkrankung als das Ergebnis
eines, sich selbst organisierenden
dysfunktionalen Selbst anzusehen
ist, beruht einerseits auf der wissen­
schaftlichen Gegebenheit, dass zahl­
reiche Befunde aus dem biologischen,
psychischen und sozialen Bereich die
Mehrdimensionalität psychotischer
Krankheitsentstehung belegen und
andererseits auf Erkenntnissen der
Komplexitätsforschung, welche das
menschliche System als komplex und
dynamisch, in einem sich selbst orga­
nisierenden Prozess darstellen.
Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ...
Grundprinzipien der Komplexi­täts­
forschung (Chaostheorie, Theo­rie
der Selbstorganisation):
Die Komplexitätsforschung geht von
der grundsätzlichen Annahme aus,
dass alle lebenden Systeme den glei­
chen Grundprinzipien unterliegen.
Dies gilt sowohl für den Aufbau und
Erhalt von Struktur und Funktion
als auch für die unterschiedlichen
Zustände von Ordnung, die inner­
halb eines Systems in einem Prozess
der Selbstorganisation entstehen,
bestehen und sich gleichzeitig lau­
fend verändern. Chaos im Sinne der
Chaostheorie meint einen hochkom­
plexen Ordnungszustand, der durch
Selbstorganisation
entsteht
und
sich gleichzeitig selbst organisiert.
Dieser Prozess folgt einerseits ei­
ner festgelegten „deterministischen“
Regel, andererseits ist aber keine
Vorhersagbarkeit der Entwicklung im
Detail möglich.
Jedes komplexe System, auch
das menschliche, benötigt für
Entstehen und Existenz Energie und
Information von adäquater Quantität
und Qualität aus seiner Umgebung.
Ein zentrales Charakteristikum der
Selbstorganisation ist eine extre­
me Empfindlichkeit gegenüber den
Anfangsbedingungen. Das heißt,
bereits minimale Änderungen der
Anfangsbedingungen führen trotz
gleicher Regel des Ablaufs durch ex­
ponetielle Verstärkung der Fluktuation
zu einem völlig unvorhersagbaren
Ergebnis. (Schmetterlingseffekt) (6)
In komplexen Systemen bestehen
nicht lineare Bedingungen. Das heißt,
Systemparameter – beim Menschen
der organische, psychische und sozi­
ale Bereich – wirken nicht linear auf­
einander und erzeugen dadurch einen
bestimmten Systemzustand. Kommt
es im Bereich eines Parameters – zum
Beispiel im sozialen Bereich – zu
einer Änderung, dann kommt es au­
tomatisch, im Detail nicht vorher­
sagbar, zu einer Änderung im psy­
chischen und organischen Bereich.
Das Ergebnis dieser Wechselwirkung
ist die Basis für die nächste nicht li­
neare Wechselwirkung. Gleichzeitig
besteht ein Rückkopplungsphänomen
auf das, was vorher war, sodass
die Vergangenheit Gegenwart und
Zukunft mitbestimmt, auch bei der
Entwicklung einer psychotischen
Erkrankung. Dadurch kann es kei­
ne eindimensionale Ursache für eine
psychotische Erkrankung geben, son­
dern eine sich selbst organisierende
Entwicklung, in der Einflüsse aus
dem biologischen, psychischen und
sozialen Bereich nicht linear aufein­
ander wirken und über die Zeit einen
psychotischen
Krankheitszustand
entstehen lassen. Diagnostisch ist
ein so komplexes und dynamisches
Geschehen nur durch einen mehr­
dimensionalen Ansatz erfassbar.
Deshalb wurde ein Modell entwic­
kelt, dass diese Gegebenheiten in ei­
ner neuen Definition von Gesund und
Krank definiert und es mit Hilfe der
parallelen und gleichzeitig integrie­
renden Verwendung einer biologi­
schen Sichtweise für den organischen
Bereich, eine tiefenpsychologisch
orientierte für den psychischen und
einer, an der Systemtheorie ausge­
richteten Sichtweise für den sozialen
Bereich möglich macht Komplexität
und Dynamik in einem diagnosti­
schen Mosaikbild nachvollziehbar
abzubilden. (13, 14, 16, 17)
Um
die
Mehrdimensionalität,
Kom­plexität und Dynamik der Ent­
stehung schizophren psychotischer
Erkrankungen auch in Bezug auf
bis­herige theoretische Konzepte
formulieren zu können, wurde der
Weg einer Neuformulierung eines
Selbstkonzeptes auf Basis der Kom­
plexitätsforschung bestritten.
Definition des Selbst:
1. Das Selbst eines Menschen ent­
wickelt sich aus einem energeti­
schen Kern – Selbst heraus.
2. Das Kern – Selbst ist die Basis
und gleichzeitig die energetische
Triebkraft für die Entwicklung
des Selbst. Der individuelle
Wille bestimmt bei entspre­
277
chender Unterstützung der
Umgebung über die Richtung
der Entwicklung sowie über de­
ren Verlauf
3. Es ist implizite Aufgabe des Kern
– Selbst, sich durch die gesamte
Lebensspanne hinweg intentio­
nal zu entwickeln, zu entfalten
und zu reifen.
4. Ziel der Entwicklung ist der mög­
lichst befriedigende Umgang mit
den Anforderungen des indivi­
duellen Lebensprozesses.
5. Die Entwicklung des Selbst er­
folgt in einem nicht linearen
, sich selbst organisierenden
Prozess, in dem Veränderungen
im biologischen, psychischen
und sozialen Bereich nicht vor­
hersagbar aufeinander wirken.
6. Die Entwicklung des Selbst ist ein
energetisches Geschehen, wobei
auch Materie als Energieform
anzusehen ist.
7. Materie und Energie sind Träger
von Information. Durch den
Prozess der Selbstorganisation
entsteht aus dieser Information
das Informationsgefüge eines
menschlichen Systems.
8. Der Prozess der Selbst –
Entwicklung ist ein integrales
geschehen, welches sowohl den
biologischen, psychischen und
sozialen Anteil zusammenführt,
wie auch alle bewusste und un­
bewusste Information.
9. Die Qualität von Angebot,
Aufnahme und Verarbeitung
von Information bestimmt in
entscheidendem Ausmaß die
Qualität der Entwicklung des
Selbst.
10. Die Qualität der Information und
deren Verwendung bestimmt, ob
die Entwicklung eines autono­
men und flexiblen – das heißt
gesunden – Selbst gefördert oder
gehemmt wird.
Bei der Entwicklung eines gesunden
Selbst erfolgt der sich selbst organi­
sierende Entwicklungsprozess in der
Weise, dass die Qualität des Angebotes,
der Aufnahme und Verarbeitung von
Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth
Information das Entstehen eines au­
tonomen, beziehungsfähigen und fle­
xiblen Selbst fördert.
Bei der Entwicklung eines dysfunk­
tionalen psychotischen Selbst er­
folgt der sich selbst organisierende
Prozess hingegen in der Weise, dass
die Qualität von Angebot, Aufnahme
und Verarbeitung von Information,
die Entwicklung eines gesunden
Selbst beeinträchtigt und hemmt. Zu
diesem Geschehen tragen sowohl
der organische, der psychische wie
der soziale Bereich individuell un­
terschiedlich, aber in gleichwertiger
Weise bei. Die Wechselwirkung zwi­
schen den drei Bereichen unterliegt
nicht linearen Gesetzmäßigkeiten.
Der Entwicklungsprozess folgt den
Regeln der Selbstorganisation.
Die Definition der wesentlichen
Hauptkategorien für die Entwicklung
eines gesunden Selbst erfolgten in
Anlehnung an die, von Masterson
(7) definierten 10 Fähigkeiten des
wahren Selbst. Nach weiterem
Literaturstudium und ausführlicher
Diskussion wurden Kategorien zum
Teil zusammengelegt oder weggelas­
sen. Es wurden neue Kategorien, die
als essentiell erschienen, hinzugefügt.
Bei den beibehaltenen Fähigkeiten
wurden die Definitionen erweitert, da
sie bei Masterson nicht sehr ausführ­
lich sind. Die Anzahl der Kategorien
blieb mit 10 gleich.
10 definierten Hauptkategorien:
1. Fähigkeit, den weiten Fächer der
Gefühle zu erleben und sich da­
mit auseinanderzusetzen.
2. Fähigkeit, Anrechtsdenken zu
entwickeln
3. Fähigkeit zur Selbstaktivierung,
Selbstbehauptung
und
Zielorientierung
4. Fähigkeit zur Selbstachtung
5. Fähigkeit, Belastungen und Kri­
sen konstruktiv zu bewältigen
6. Fähigkeit zur Beziehungsechtheit
und Intimität
7. Fähigkeit zur kreativen Ent­wick­
lung eines Strate­gierepertoires
278
8. Fähigkeit zu befriedigender
sozialer Interaktion und Kom­
munikation
9. Organische Entwicklung und
Funktion des Gehirns
10. Sprachentwicklung und Sinnes­
wahrnehmung
Um die Entwicklung des Selbst bei
psychotischen Patienten untersuchen
zu können, war es erforderlich die
entsprechende Information durch
Interviews zu erheben.
Interviewleitfaden:
Basierend auf den 10 Hauptkategorien
wurde ein Fragenkatalog erstellt,
der es ermöglichen sollte, die, für
eine Überprüfung der Hypothese
notwendigen Informationen von
Patient und dessen Familie zu erhal­
ten. Dieser Fragenkatalog wurde in 6
Themenkreise gegliedert. Diese sind
„allgemeine Krankheitsanamnese“,
„biographische Entwicklungsdaten“,
Familiengeschichte“,
„Interaktion
– Kommunikation – Beziehungen“,
„Umgang mit Konflikten und
Emotionen“ sowie „Vorstellungen
und Phantasien“.
Information würde bei Auswertung auf
Basis eines anderen Vorverständnisses
völlig anders interpretiert werden.
Die Regelgeleitetheit der Auswertung
der gesammelten Information wur­
de im Laufe der ersten Hälfte des
Pilotprojektes bei Probeauswertungen
entwickelt und bis zur Untersuchung
der vorgestellten Einzelfallanalyse
laufend verbessert. Ein Problem ergab
sich dabei bei der Abgrenzung und
Definition der Hauptkategorien.
Die Nähe zum Gegenstand ist in
diesem Projekt zweifellos gegeben.
Die Fragestellung betrifft konkrete
Probleme der untersuchten Personen.
Auch das Ziel der Studie ist im
Interesse der Betroffenen, da sich
durch die Ergebnisse auch therapeuti­
sche Konsequenzen ergeben können.
Eine unmittelbare kommunikative
Validierung der Ergebnisse, indem
man sie den Beforschten vorlegt,
ist in dieser Studie aus offensicht­
lichen Gründen nicht möglich. Die
Interpretation von vielfach unbewus­
ster Information kann nicht einfach
den Interviewten zur Überprüfung
vorgelegt werden, da dies höchstens
in einem therapeutischen Prozess vor­
sichtig eingebracht und dadurch über­
prüft werden könnte.
Qualitative Forschungsmethodik:
Mayring (8, 9) nennt sechs all­ge­
meine Gütekriterien für qua­li­ta­
tive Forschung: die Ver­fah­rens­
dokumentation, die argumentative
Interpretationsabsicherung, die Regel­
geleitetheit im Vorgehen, die Nähe
zum Gegenstand, die kommunikative
Validierung und die Triangulation.
Die
Verfahrensdokumentation
wur­­­­de bei diesem Projekt durch
­die Explikation unseres Vor­ver­
ständ­­nisses, durch die exakte Dar­
stellung der Zusammenstellung ­ des
Analyseinstrumentariums, der Durch­
führung der Datenerhebung, -bearbei­
tung und -auswertung nachvollzieh­
bar.
Die argumentative Interpretation
sabsicherung ergibt sich aus dem
adäquaten und in sich schlüssigen
Vorverständnis. Dieselbe gesammelte
Eine Triangulation fand insofern
statt, als direkt nach den Interviews
von mehreren Interpreten erste
Einschätzungen und Hypothesen
entwickelt wurden. Wenn man deren
Ergebnis mit denen der systemati­
schen qualitativen Inhaltsanalyse ver­
gleicht, so zeigen sich weitgehende
Übereinstimmungen vor allem in den
großen Problembereichen.
Die Reliabilität wurde bei der
Pilotstudie durch das Faktum er­
höht, dass bei der Auswertung im­
mer mindestens zwei (meistens so­
gar drei) AuswerterInnen anwesend
waren. Es fand eine kommunikative
Reliabilitätsprüfung statt, indem die
Kodierurteile immer zwischen min­
destens zwei Personen abgestimmt
wurden.
Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ...
Die Validität ergibt sich aus der
Nähe zum Gegenstand und der
Einschätzung der Güte des Materials.
Das Material ist äußerst umfangreich
und umfasst sehr breit gefächerte
Themen. Durch das Interview wird
das Leben des Patienten nachgezeich­
net und man erfährt auch viel über
die Lebensgeschichte der Eltern. Es
steckt aber auch viel Information dar­
in, was nicht mitgeteilt wird, wo man
widersprüchliche oder nicht eindeuti­
ge Informationen erhält und auch in
den nonverbalen Vorgängen und im
Interaktionsgeschehen. Deshalb ist es
wichtig, die Gesprächsführung sehr
achtend und respektvoll zu gestal­
ten, damit eine möglichst offene und
vertrauensvolle
Interviewsituation
entstehen kann. Durch eine solche
Haltung gelang es, das Vertrauen der
Betroffenen zu gewinnen. Die erhal­
tene Information war dadurch ehrli­
cher und tiefgehender.
Qualitative Inhaltsanalyse:
Nach Studium unterschiedlicher
qualitativer Auswertungstechniken
erschien die Auswertung der Daten
mittels „Qualitativen Inhaltsanalyse“
am besten geeignet zu sein. (8) Die
Möglichkeit, deduktiv und induktiv
erstellte Kategorienbildung mitein­
ander kombinieren zu können war
für dieses Projekt von Vorteil. Diese
Technik ermöglicht, sprachliches
Material systematisch zu analysie­
ren, indem das Material zergliedert
und schrittweise bearbeitet wird. Die
Analyseaspekte werden vorher im
theoriegeleitet am Material entwic­
kelten Kategoriensystem festgelegt.
Es wird eine strukturierende quali­
tative Inhaltsanalyse angewandt, bei
der das Material aufgrund bestimm­
ter Kriterien eingeschätzt wird. Die
Kriterien sind in diesem Projekt jene
Faktoren, die auf die Entwicklung
des Selbst fördernd oder hemmend
wirken. Nach diesen Faktoren wur­
de der Kodierleitfaden erstellt. Die
Hauptkategorien des Kodierleitfadens
sind aufgrund unserer theoretischen
Grundannahmen, also deduktiv er­
stellt worden. Zusätzlich wurden erst
im Zuge der Auswertung induktiv am
Material Subkategorien entwickelt,
um zu genaueren Aussagen zu kom­
men. Diese, im ersten Analysevorgang,
sehr konkreten Subkategorien wurden
in einem weiteren Arbeitsschritt zu
Gruppen zusammengefasst und zu ge­
nerellen fördernden oder hemmenden
Faktoren abstrahiert.
Ergebnisse
Die hier dargestellte Einzelfallanalyse
diente als Pilotuntersuchung für
eine
umfassendere
qualitative
Untersuchung der selbstorganisato­
rischen Entwicklung des Selbst bei
schizophren erkrankten Menschen.
An Hand dieser Einzelfallanalyse
sollte mit Hilfe der Methodik der
„qualitativen Inhaltsanalyse“ un­
tersucht werden, ob der erstellte
Interviewleitfaden praktikabel ist und
ob der Kodierleitfaden, der aufgrund
der theoretischen Konzeption erstellt
wurde, greift.
Durchführung und Transkription
der Interviews:
Nach Probeinterviews wurde be­
schlossen, die Interviewsituation
semistrukturiert zu gestalten, weil
diese Vorgangsweise ein wesent­
lich befriedigenderes diagnostisches
Untersuchungsergebnis
erbrachte.
Dieses Interview wurde im Rahmen
einer Diplomarbeit (5) hinsichtlich
seiner Anwendbarkeit überprüft.
Es wurden stationär aufgenommene
Patienten und deren Angehörige ge­
fragt, ob sie an einer solchen mehr­
dimensional ausgerichteten diagno­
stischen Interviewsituation Interesse
haben. Gleichzeitig wurde auch das
Angebot einer anschließenden the­
rapeutischen Nachbetreuung ge­
macht. Die Interviewgespräche wur­
den an Hand des semistrukturierten
Interviewleitfadens von einem erfah­
279
renen Kinder- und Jugendpsychiater
durchgeführt.
Im Rahmen der Diplomarbeit wurde
ein 15-jähriger Patient und dessen
Eltern interviewt. Bei dem Patient war
mittels SKID-Interview die Diagnose
einer schizophrenen Psychose (ICD10: F 20.3) gestellt worden. Zum
Zeitpunkt des Interviews war die erst­
mals aufgetretene akut psychotische
Phase unter Neuroleptikatherapie
abgeklungen Der Patient und seine
Eltern waren über das spezielle Setting
informiert und damit einverstanden.
Die Fallgeschichte des Patienten und
bestimmte Angaben zur familiären
Situation waren bereits erhoben.
Fallgeschichte:
Die Geburt des Patienten dauerte nach
Angaben der Eltern lange und war für
die Mutter extrem anstrengend. und für
den Vater traumatisch. Der Vater war
bei der Geburt anwesend. Nachdem
das Baby nicht sofort schrie, glaub­
te er, dass es eine Totgeburt sei. Das
Baby war bis auf eine Hüftluxation
körperlich gesund. Nach Aussagen der
Mutter war er ein Schreibaby. In den
ersten zweieinhalb Monaten schrie er
sehr viel, was die Mutter auf seinen
Hunger zurückführte. Sie hatte nie­
mand, der sie unterstützte. Sie fühlte
sich extrem gestresst. Die Mutter
bedauert noch heute, dass ihr Stillen
nicht möglich war, da sie zuwenig
Milch hatte und ihr Sohn „so ungedul­
dig“ und „so hungrig“ gewesen sei.
Die Erzählung der Eltern über diese
Zeit vermittelt den Eindruck, dass sie
mit der Betreuung des Säuglings stark
überfordert und ständig im Stress wa­
ren. Im Alter von 8 Monaten habe der
Säugling vom Kinderarzt eine Spritze
erhalten, die ihn sehr irritiert hätte.
Ab diesem Zeitpunkt habe die Mutter
das Kind über Monate jeden Abend
beim Einschlafen halten müssen.
Ansonsten sei die körperliche und gei­
stige Entwicklung im Kleinkindalter
normal verlaufen. Mit einem Jahr
habe er zu Laufen begonnen und mit
drei Jahren verspätet zu sprechen.
Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth
Dabei habe er nie so bebrabbelt wie
es andere Kinder tun, sondern er habe
gleich begonnen, in ganzen Sätzen
zu reden. Die Eltern betonen die au­
ßergewöhnliche Merkfähigkeit, die
ihr Sohn in diesem Alter bereits ge­
zeigt hätte. Im Kontakt mit anderen
Kindern beschreiben ihn die Eltern
als sehr vorsichtig und ängstlich. Am
Spielplatz habe er eher von abseits zu­
geschaut als selbst mitgespielt. Er sei
nicht auf andere Kinder zugegangen,
obwohl er sehr interessiert war. Der
Vater erklärte dies mit der besonderen
Ängstlichkeit, die er seinem Sohn von
klein auf zuschreibt.
Ab dem Alter von 3 Jahren be­
suchte der Patient vormittags den
Kindergarten, wo er sich nach anfäng­
lichen Trennungsängsten wohl fühlte.
Er war traurig, als er mit 6 Jahren in
die Schule wechseln musste. Der Vater
meint, dass sein Sohn in Gesellschaft
einer Person gut zurecht komme, in
einer Gruppe aber immer Probleme
gehabt habe.
In der ersten Klasse Volksschule lern­
te er als Letzter lesen. Nachdem die
Lehrerin mit der Mutter gesprochen
hatte, übte diese aber so viel mit ihm,
dass er innerhalb eines Semesters zum
besten Leser in der Klasse wurde.
Eines seiner schlimmsten Erlebnisse
hatte er auf einem Schulschikurs in
der 3. Klasse AHS. Dort wurde er, der
immer sehr ruhig und zurückhaltend
wirkte, von einigen Schulkollegen,
darunter auch zwei, die er als sei­
ne Freunde betrachtete, gezwun­
gen niederzuknien, um jemand die
Schuhe zu küssen. Er tat es ohne
sich zu wehren und wurde deshalb
in den nächsten Jahren immer wieder
als Feigling verspottet und vor der
ganzen Klasse lächerlich gemacht.
Ab diesem Zeitpunkt begannen die
Erschöpfungszustände des Patienten.
Bis zu diesem Zeitpunkt war er im­
mer Vorzugsschüler, doch nun be­
gann ein massiver Leistungsabfall.
Seine Gedanken kreisten immer mehr
um die Demütigungen und er konnte
sich auch in den Sommerferien nicht
mehr erholen. Ende der 4. Klasse
schickten die Eltern ihren Sohn auf
280
ein Sommercamp, damit er andere
Jugendliche kennen lernen könne.
Dort wurde er aber auch innerhalb
kürzester Zeit zum Außenseiter und
Prügelknaben. Er wurde mit einem
Gurt gewürgt, an einem Heizkörper
gefesselt und angespuckt und im
Schwimmbad fuhr ihm jemand mit
dem Finger in den Anus. Seinen
Eltern erzählte der Patient nicht oder
nur widerstrebend von seinen schlim­
men Erlebnissen, weil er sich für sein
Versagen schämte und von seinen
Eltern auch nicht wirklich Hilfe er­
wartete.
Ungefähr ein Jahr vor der stationären
Aufnahme bestand bereits ein deutli­
cher Leistungsabfall sowie eine extre­
me Müdigkeit und Antriebslosigkeit.
In dieser Zeit kam es auch zu nächt­
lichen Angstträumen, die ihn auch
tagsüber beschäftigten. Er wirkte
zunehmend geistesabwesend, wie­
derholte Fragen und Sätze, wenn mit
ihm gesprochen wurde. Die Mutter
meldete ihn gegen seinem Willen in
der Schule krank, da sie meinte, er
brauche Erholung. Eine angefragte
Psychologin überwies den Patienten
an einen Psychiater, welcher eine
beginnende Psychose diagnostizierte
und ein Neuroleptikum verordnete.
Nach einem Monat zu Hause, wo er
sehr viel schlief, ging der Patient wie­
der zur Schule. Er war von seinem
Semesterzeugnis, in dem einige Fünfer
standen, sehr enttäuscht. Er wurde zu­
nehmend depressiv. Die Mutter brach­
te ihn wieder zu einem Psychiater, der
eine depressive Episode diagnosti­
zierte und ein Antidepressivum ver­
ordnete. Nach einem, von der Mutter,
gegen den Willen des Patienten durch­
gesetzten Schulwechsel, kam es zu
einer neuerlichen Verschlechterung
des Zustandes. Er konnte sich nicht
mehr konzentrieren, weder lernen
noch lesen. Er wurde psychomoto­
risch sehr unruhig. Es kam immer
häufiger zu panikartigen Attacken mit
Herzrasen, erhöhtem Blutdruck und
Schweißausbrüchen. Er litt auch an
Ein- und Durchschlafstörungen. Er
schien wiederum Fragen nicht zu ver­
stehen und es bestand eine sehr lan­
ge Antwortlatenz. Diesmal kam die
Mutter mit dem Sohn an die Klinik
wo eine stationäre Aufnahme wegen
des Verdachts einer schizophrenen
Psychose veranlasst wurde.
Die Mutter des Patienten hatte einen
jüngeren Bruder und eine jüngere
Schwester. Die Familie lebte in ei­
nem kleinen Ort auf dem Land. Ihr
Vater arbeitete in einer Fabrik. Er war
sehr wortkarg und sprach nie über
seine Gefühle. Er verstarb vor eini­
gen Jahren. Ihre Mutter leidet unter
einer Altersdemenz und lebt jetzt in
ihrer Nähe in Wien. Die Mutter des
Patienten hat zu ihrer Mutter eine
sehr enge, symbiotische Beziehung.
Sie litt immer mit ihrer Mutter mit,
da diese sehr häufig von ihrer trau­
rigen Lebensgeschichte als wegge­
gebenes Kind erzählte. Die Mutter
des Patienten schildert sich als sehr
braves, angepasstes Kind, das stän­
dig bemüht war, den Eltern keine
Probleme zu machen. Sie war meist in
der Nähe ihrer Mutter, las und lernte
gern und hatte wenig Kontakt zu an­
deren Kindern. Sie beschreibt sich als
Einzelgängerin, die nie wirklich das
Bedürfnis nach Freundschaften hatte
Sie besuchte die Volksschule in dem
Ort, in dem sie lebte. Danach eine
Hauptschule im Nachbarort, wo sie
zwei Jahre lang täglich 9 km mit dem
Rad hinfuhr. Im Alter von 12 Jahren
zog sie mit ihrer Familie in die Nähe
des Schulortes. Nach eigener Aussage
hätte sie statt einer Lehre gerne ihre
schulische Ausbildung fortgesetzt und
eventuell sogar studiert, da sie immer
eine sehr gute Schülerin war und ihr
das Lernen Spaß machte. Im Alter von
14 Jahren begann sie eine Lehre und
arbeitete dann 3 Jahre in der gleichen
Fabrik wie ihr Vater. Mit 21 wurde ihr
langweilig und sie ging nach Wien,
wo sie die nächsten 15 Jahre arbei­
tete. Ziemlich bald lernte sie ihren
zukünftigen Mann kennen und zog 3
Jahre später mit ihm zusammen. Nach
9 Jahren des Zusammenlebens heira­
teten sie, zwei Jahre später bekamen
sie den einzigen Sohn. Sie konnte sich
Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ...
eigentlich nie vorstellen, Hausfrau zu
sein und ihre Unabhängigkeit aufzu­
geben. Sie blieb aber dann doch zu
Hause, da sie den Eindruck hatte, dass
ihr Sohn sie brauche und es besser für
seine Entwicklung sei, wenn sie sich
voll und ganz auf ihn konzentriere.
Der Vater des Patienten wurde als
zweites von insgesamt 8 Kindern in
Ägypten geboren. Sein Vater war
Kaufmann, die Mutter Hausfrau. Er
beschreibt seine Beziehung zu seinen
Eltern als distanziert. Die Mutter sei
eher für die Versorgung der Familie
zuständig gewesen, der Vater habe sich
nur gelegentlich über die Schulnoten
der Kinder informiert. Ansonsten sei­
en die Kinder eher sich selbst über­
lassen worden und selbstständig ge­
wesen. In der Familie traf der Vater
die Entscheidungen. Der Vater des
Patienten durfte als einziger studie­
ren, weil seine Noten sehr gut waren.
Er wurde zum Medizinstudium nach
Europa geschickt. Er machte dann aber
ein Doktorat in Politikwissenschaften.
Er sollte nach Hause zurückkehren,
blieb aber in Österreich, weil er seine
jetzige Frau heiraten wollte. Er mus­
ste sie dazu überreden. Er arbeitet als
Übersetzer bei einer diplomatischen
Vertretung.
Das semistrukturierte Interview wurde
in 9 Sitzungen mit Video aufgenom­
men. Die auswertenden­ Studenten
verfolgten die Interviewsituaion
hinter einem Spiegel im Video­
aufnahmeraum. Dadurch konnte im
Anschluss an die einzelnen Sitzungen
eine Nachbereitung insofern erfol­
gen, als gemeinsam eine allgemeine
Beschreibung der Gesprächssituation
(Atmosphäre,Ab­lauf, Besonderheiten)
und eine Beschreibung der verbalen
und nonverbalen Interaktion und des
Verhaltens der Interviewten sowie
eine erste Einschätzung vorgenom­
men wurde.
Auswertung des transkribierten
Interviews:
Die Auswertung der transkribierten
Interviews erfolgte mit Hilfe des wis­
senschaftlichen Software Programms
ATLAS ti, Version 4.1 (www.atla­
sti.com), welches für die Grounded
Theory (12) entwickelt wurde, aber
auch bei Qualitativer Inhaltsanalyse
angewendet werden kann.
Das Interview wurde anschließend
nach vorher festgelegten Regeln
in eine schriftliche Form transkri­
biert, damit eine wissenschaftliche
Auswertung erfolgen konnte
Ergebnis der qualitativen Inhalts­
analyse:
Die, für die Analyse des Interviews
zentral wichtigen 10 Hauptkategorien
waren deduktiv erstellt worden. Im
Zuge der Auswertung wurden die
Subkategorien induktiv gebildet. Jede
Subkategorie wurde mindestens einer
der 10 Hauptkategorien zugeordnet.
Die Auswertung aller Interviews ergab
1270 kodierte Textstellen, die unter
1139 unterschiedliche Subkategorien
kodiert wurden. Die große Zahl an
Subkategorien – es stellt fast jede
als fordernd oder hemmend ein­
geschätzte Textstelle eine eigene
Subkategorie dar – ergab sich aus
dem konkreten Abstraktionsniveau,
das für die Pilotstudie gewählt wurde.
Dies war notwendig, da keine ent­
sprechende Voruntersuchung vorlag.
Die Subkategorien wurden in einem
weiteren Schritt auf einem höheren
Abstraktionsniveau
zusammenge­
fasst. Durch diese Abstraktion ent­
stand für jede der 10 deduktiv erstell­
ten Hauptkategorien eine Liste der
fördernden und hemmenden Faktoren,
die in der sich selbst organisierenden
Entwicklung des Patienten zu finden
waren.
Global beurteilt zeigte sich im
Ergebnis der Auswertung, dass bei
den ersten 8 Fähigkeiten sehr vie­
le und schwerwiegende hemmende
Faktoren zu finden waren und nur
wenig Förderndes. Aus Platzgründen
kann nur ansatzweise auf konkrete
Auswertungsergebnisse eingegangen
werden.
281
1. Die Fähigkeit, den weiten Fächer
der Gefühle zu erleben und sich damit
auseinanderzusetzen: Diese Fähigkeit
– vor allem die Auseinandersetzung
mit den Gefühlen – ist beim Patienten
schlecht ausgeprägt. Es wurden eini­
ge Hinweise darauf gefunden, dass er
zwar „positive“ (Freude, etwas ange­
nehm und schön empfinden) und „ne­
gative“ (Wut, Zorn, Trauer, Kränkung)
Gefühle kennt und empfindet, sich
aber kaum damit auseinandersetzt.
Hemmend auf die Entwicklung eines
gesunden Selbst war der Umgang mit
Kränkung. Er erfolgte so, dass er zum
Beispiel seinen Eltern davon erzählt,
allerdings nicht, wenn die Kränkung
von diesen selbst verursacht wurde. In
der Beziehung zu seinen Eltern kann
er Wut und Zorn nicht zulassen. Die
vielen Kränkungen durch Mitschüler
hat er überhaupt nicht verarbei­
tet. Sie stellen für ihn eine zentrale
Belastung dar. Der Vater berichtete,
dass sein Sohn schon als Kind keine
Freude zeigen konnte, wenn er ein
Geschenk bekam. Bei den hemmen­
den Faktoren wurden neun verschie­
dene Kategorien gefunden. Eine zen­
tral wichtige Rolle spielte dabei die
schon früh gemachte Erfahrung, von
seinen Eltern nicht verstanden zu wer­
den. Die Aussagen der Eltern mach­
ten deutlich, dass sie sich besonders
schlecht in die Gefühlswelt eines klei­
nen Kindes einfühlen konnten. Dieses
mangelnde Einfühlungsvermögen und
Verständnis für die Gefühle des ande­
ren betraf den Patienten durch seine
gesamte Entwicklung, aber auch die
Eltern in ihrer Beziehung. Hemmend
war auch, dass in der Familie kaum
über Gefühle geredet wird. Liebe,
Freude oder Zuneigung wird kaum
gezeigt, ebenso wie Zorn, Wut und
Ärger. In der Familie wurden und
werden Gefühle wie Freude, Glück,
Zärtlichkeit kaum erlebt und sind
allen eigentlich fremd. „Negative“
Gefühle und Erlebnisse des Patienten
wurden und werden überbewertet,
stehen in der Erinnerung aller stark im
Vordergrund. Besonders die Mutter
hat große Probleme, Gefühle bei sich
zuzulassen. Sie kann Mitgefühl kaum
Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth
annehmen. Sie kann sich ihre eigenen
Ängsten, ihrer Trauer, Einsamkeit,
Belastung und Enttäuschung nicht
zugestehen. Sie kann auch Stolz oder
Freude über eigene Leistungen nicht
zulassen. Hemmend wirkt auch, dass
die Mutter die schulischen Leistungen
ihres Sohnes so wichtig hält, dass sein
emotionales Wohlbefinden zweitran­
gig erscheint. Die Mutter spricht so­
wohl dem Patienten als auch ihrem
Ehemann die Kompetenz für eigene
Gefühle ab.
Als fördernde Faktoren für die
Entwicklung eines gesunden Selbst
fanden sich nur vereinzelte Hinweise
darauf, dass der Patient Mitgefühl von
seiner Mutter erlebt, bei sich und an­
deren Gefühle richtig wahrnimmt und
dass auch die Eltern die Fähigkeit be­
sitzen, Gefühle wahrzunehmen.
9. Organische Entwicklung und
Funktion des Gehirns: Bei dieser und
der 10. Kategorie ist es nicht notwen­
dig die Kodierungen zu abstrahie­
ren. Unter den fördernden Faktoren
zeigte sich seine gute und weit zu­
rückreichende Erinnerungsfähigkeit.
Schon als Kind hatte er eine außer­
ordentliche Merkfähigkeit. Seine
Konzentrationsfähigkeit war bis zum
Ausbruch der Krankheit sehr gut.
Schwangerschaft und Geburtsverlauf
waren komplikationslos. Die körper­
liche und geistige Entwicklung im
Sauglings- und Kleinkindalter verlief
normal.
An hemmenden Einflüssen wurde be­
richtet, dass die Eltern mit dem Baby
sehr wenig gesprochen haben und
dass der Patient schon als Säugling
sehr vorsichtig und ängstlich war.
10. Sprachentwicklung und Sinnes­
wahrnehmung: Fördernd war, dass so­
wohl Entwicklung als auch Funktion
der Sinnesorgane ohne Probleme
verlief. Als hemmender Faktor gilt
die verzögerte Sprachentwicklung. Er
sprach zwar bereits mit einem Jahr die
ersten Worte. Richtig zu sprechen be­
gann er erst mit 3 Jahren, als er in den
Kindergarten kam.
282
Zusammenfassend kann man sagen,
dass bei dieser Einzelfallanalyse bei
den ersten 8 Hauptkategorien die
hemmenden Faktoren deutlich ge­
genüber den fördernden überwogen.
Auf eine quantitative Gewichtung
des Verhältnisses wurde bei diesem
Pilotprojekt bewusst verzichtet. Bei
dieser Eintelfallanalyse erschienen
folgende Problembereich als beson­
ders hemmend für die Entwicklung
eines gesunden Selbst:
1. Das mangelnde Einfühlungs­ver­
mögen der Eltern in die emotio­
nalen Bedürfnisse ihres Sohnes.
2. Die unklare und starke reduzierte
Kommunikation
3. Die immer extremer werdenden
Erfahrungen von Ab­leh­nung
und missachtender Grenz­
überschreitungen
4. Das Nicht – Zulassen von
Selbstständigkeit des Patienten, vor
allem durch seine Mutter und die
Förderung seiner Abhängigkeit.
5. Die fehlende Ermutigung des
Patienten durch seine Eltern, sich
durchzusetzen, seine Rechte und
Bedürfnisse zu verteidigen und
sich gegen Angriffe zu wehren.
6. Die beinahe fehlende Fähigkeit
zur Selbstbehauptung
7. Die beinahe fehlende Fähigkeit
der Familienmitglieder, Probleme
zu erkennen, Situationen rich­
tig einzuschätzen und schwieri­
ge Situationen, aus denen sich
Probleme entwickeln könnten, zu
antizipieren.
8. Die fehlende Zielsetzung und
Gestaltung des Lebens nach eige­
nen Zielsetzungen
Diskussion
Die traditionelle naturwissenschaftli­
che Forschung beruht auf dem Prinzip
einer linearen Kette von Ursache und
Wirkung. Dieser naturwissenschaft­
liche Ansatz konzentriert sein theo­
riegeleitetes Interesse auf lineare
und reduzierte Fragestellungen. Er
analysiert anhand eines Experiments
oder einer klinischen Untersuchung.
Er misst seine Ergebnisse und will
Vorherdsagen treffen. (3) Ein redu­
zierender wissenschaftlicher Ansatz
hat den unbestreitbaren Vorteil, dass
Untersuchungen aufgrund der gerin­
geren Datenmengen einfacher durch­
führbar sind, er beinhaltet aber auch
den gravierenden Nachteil, dass er al­
les ausschließt, was ungeachtet der re­
alen Komplexität und Dynamik nicht
in den, von ihm gewählten Bereich der
Aufmerksamkeit fällt. Im Bereich der
Ursachenforschung für psychotische
Erkrankungen haben unterschiedlich­
ste Studien, die auf biologischen, psy­
chischen sowie sozialen Ansätzen be­
ruhen, Erkenntnisse hervorgebracht,
die eindeutig auf eine mehrdimensio­
nale, multifaktorielle und dynamische
Pathogenese verweisen. (1, 11) Diese
Ergebnisse legen einen mehrdimen­
sionalen pathogenetischen Ansatz
nahe, der biologische, individuell psy­
chische und soziale Einflussfaktoren
bei der Entstehung psychotischer
Krankheitsbilder integriert. (1) Die
Erkenntnisse der Chaostheorie und
der damit eng verbundenen Theorie
der Selbstorganisation bieten eine
Möglichkeit, sich wissenschaftlich
auch mit nicht linearen Fragen aus­
einanderzusetzen. Ciompi (2) tat
dies mit der, von ihm formulierten
Affektlogik für den Bereich psy­
chotischer Erkrankungen. Es wur­
de auf dieser wissenschaftlichen
Basis auch eine neue Definition von
Gesund und Krank formuliert sowie
ein praktikables Modell für mehrdi­
mensional ausgerichtete Diagnostik
und Therapie entwickelt, welches
den biologischen, psychischen und
sozialen Bereich gleichwertig be­
rücksichtigt.(13, 14, 15, 16,17) Um
die hochkomplexe Dynamik der
Entstehung und des Verlaufs psycho­
tischer Erkrankungen wissenschaft­
lich untersuchen zu können, wurde
die Hypothese formuliert, das es sich
bei psychotischen Erkrankungen um
das Ergebnis einer dysfunktionalen
Entwicklung des Selbst handelt. Um
dies zu ermöglichen, wurde auf Basis
der vorliegenden Erkenntnisse aus
Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ...
der Komplexitätsforschung und auf­
grund eigener klinischer Erfahrung
mit mehrdimensionaler Diagnose und
Therapie bei psychotischen Patienten
eine neue Definition des Selbst erstellt.
Dabei wurden auch andere integrie­
rende Vorstellungen berücksichtigt.
(1, 2, 4, 10) Um die Ursachenkette
zwischen biologischen, psychischen
und sozialen Faktoren zu untersu­
chen und zu verstehen bedarf es
wahrscheinlich – und der hier vorge­
stellte Ansatz geht in diese Richtung
– die Bedeutung einer funktionellen
Beeinträchtigung von Aufnahme,
Integration und Verarbeitung von
Information zu untersuchen. In
dem vorgestellte Pilotprojekt wird
die Entwicklung eines gesunden
Selbst als ein sich selbst organisie­
render Prozess verstanden, in dem
Information aus dem biologischen,
psychischen und sozialen Bereich
durch nicht lineare Wechselwirkung
ein Informationsgefüge entstehen
lässt, welches imstande ist, in autono­
mer und flexibler Weise möglichst be­
friedigend mit den Anforderungen der
individuellen Lebensanforderung zu­
recht zukommen, weil das Er­reichen
dieses Zieles gefördert wurde. Wird
die Erreichung dieses Ziel massiv ge­
hemmt, dann entsteht dem­nach ein biopsycho-soziales Informationsgefüge,
welches nicht in befriedigender Weise
imstande ist mit den Anforderungen
des individuellen Lebens zurecht zu
kommen, so dass ein dysfunktionales
Selbst entsteht, welches bei überfor­
dernder Belastung dekompensie­
ren und psychotisch werden kann.
Aufgrund extremer Empfindlichkeit
der Anfangsbedingungen und der
Gegebenheit von Nichtlinearität und
Rückkopplung entstehen individuell
unterschiedliche
Krankheitsbilder,
da die Beiträge der Information aus
den bio-psycho-sozialen Bereichen
unterschiedlich gewichtet sind. Auf
einer solchen erscheinen individu­
ell abgestimmte, mehrdimensionale
Therapiekonzepte erforderlich, die
das Ziel verfolgen, die Entwicklung
eines möglichst gesunden Selbst zu
fördern.
Schlussfolgerung
Das erarbeitete Untersuchungs­
kon­zept erscheint uns eine befrie­
digende Ausgangsbasis zu sein,
um die aufgestellte Hypothese
zu überprüfen. Es ist geplant den
Untersuchungsaufwand zu reduzie­
ren, einerseits durch Überarbeitung
des Interviewleitfadens, andererseits
weil in Zukunft die Transkription des
Interviews entfällt, da die Auswertung
auf CD-ROM erfolgen kann.
Literatur
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Erscheinungsformen und die bedürfni­
sangepasste Behandlung. Klett-Cotta,
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tive Sozialforschung – Eine Anleitung
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(12) Strauss A., J.Corbin: Grounded Theory –
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Maudrich, Wien, 1995
(14) Toifl K.: Chaostheorie und Medizin.
Selbstorganisation im komplexen System
Mensch. Maudrich, Wien,1999
(15) Toifl K.: Selbstorganisation von Ge­
sundheit und Krankheit im komplexen
System Mensch. In: Toifl K.: Chaostheorie
und Medizin. Selbstorganisation im kom­
plexen System Mensch. Maudrich, Wien,
109-132, 1999
(16) Toifl K., R.Gössler: Lehrbeispiel für die
Selbstorganisation eines mehrdimensio­
nalen diagnostischen und therapeutischen
Prozesses. In: Toifl K.: Chaostheorie und
Medizin. Selbstorganisation im komple­
xen System Mensch. Maudrich, Wien,
133-151, 1999
(17) Toifl K.: Lebensfluss zwischen gesund
und krank. Facultas, Wien, 2004
Univ.-Prof. Dr. Karl Toifl
Univ. Klinik für Neuropsychiatrie
des Kindes und Jugendalters
Medizinische Universität Wien
[email protected]
Kritisches
Essay
Critical
Essay
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 284–290
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität?
Thomas Niederkrotenthaler1, Arno Herberth2 und Gernot Sonneck1
1
Institut für Medizinische Psychologie, Zentrum für Public Health,
Medizinische Universität Wien
2
Institut für Germanistik, Universität Wien
entstanden im Rahmen des interdis­
ziplinären Forschungsprojekts “Me­
diale Repräsentationen des Suizids
und ihre Wirkungen”, gefördert
durch die Österreichische Akademie
der Wissenschaften aus Mitteln des
Bundesministeriums für Bildung,
Wissen­schaft und Forschung.
­
Schlüsselwörter
Werther-Effekt – Imitation – Sui­zid­prä­
vention – U-Bahn-Suizide
Keywords
Werther-effect – imitation – suicide pre­
vention – subway
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder
Realität?
Betrachtet man Goethes Roman
„Die Leiden des jungen Werthers“
und sein historisches Umfeld, lässt
sich ein breites Spektrum an Iden­
tifikationsmöglichkeiten für den
damaligen Rezipienten beschreiben.
Eine davon bildet die ausführlich
dargestellte Befindlichkeit des Prota­
gonisten, aus der sich ableiten lässt,
dass dessen Suizidalität bereits lange
vor dem Suizid am Romanende
eine Rolle spielt. Wie stark der
Imitationseffekt im Bezug auf den
Suizid in Folge von Goethes Werk
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
war, konnte nie geklärt werden.
Auch die aktuelle Forschung zum
Imitationsverhalten nach massen­
me­dialen Suiziddarstellungen ist
noch zu keiner abschließenden Ein­
schätzung des Phänomens ge­langt.
Zahlreiche Studien deuten aller­
dings auf einen Zusammenhang
zwischen Berichtsqualität und kurz­
fristigen Anstiegen von Suiziden in
einzelnen Bevölkerungsgruppen hin.
In Österreich ist bereits seit 1987
ein Experiment im Gange, das von
der Imitationshypothese aus­gehend
eine Senkung der U-Bahn-Suizide
in Wien, aber auch eine Senkung der
Gesamtsuizide durch Beeinflussung
printmedialer
Berichterstattung
zum Ziel hat. Die Zahl der Suizide
plus Suizidversuche in der UBahn konnte nach Einführung
von
Medienempfehlungen
zur
Suizidberichterstattung zunächst um
mehr als 80% gesenkt werden und
steigt seit 1991 langsam signifikant an,
ohne das Niveau vor der Intervention
zu erreichen. Bei einer alleinigen
Betrachtung der Suizide zeigt sich
hingegen eine dauerhaft relativ
konstante Senkung. Die Beobachtung,
dass sich im Zeitraum seit 1987 die
Passagierzahlen nahezu verdoppelt
haben und dass die Gesamtsuizide
in Wien und in Österreich seit
Einführung der Medienrichtlinien
kontinuierlich
rückläufig
sind,
stützen die Hypothese, dass die
Zusammenarbeit mit Massenmedien
eine effiziente Möglichkeit der
Suizidprävention ist.
The “Werther-effect”: Legend or
reality?
In social sciences and in medicine,
the term “Werther-effect” is used as a
synonym for media induced imitation
effects of suicidal behaviour. In
Goethe´s novel, the contemporary
recipient could find a lot of details to
identify with. One of these aspects is
the detailed description of Werther´s
mental state, which suggests that
suicidality plays a role in the novel
a long time before the suicidal act at
the end. Even though we find several
reports on imitation effects connected
to Goethe´s Werther in literary
works, the epidemiological extent
of this phenomenon could never
be determined. Also current social
scientific research on the impact of
suicide stories on suicidal behaviour
could not completely remove the
remaining lack of evidence of the
phenomenon. Nevertheless, many
studies support the hypothesis, that
some aspects of quality of reporting
could trigger short-term increases
of suicides in certain population
subgroups.
In Austria, “Media Guidelines for
Reporting on Suicides”, have been
issued to the media since 1987 as a
suicide-preventive experiment. Since
then, the aims of the experiment
have been to reduce the numbers of
suicides and suicide attempts in the
Viennese subway and to reduce the
overall suicide numbers. After the
introduction of the media guidelines,
the number of subway suicides and
suicide attempts dropped more than
80% within 6 months. Since 1991,
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 285
suicides plus suicide attempts – but not
the number of suicides alone – have
slowly and significantly increased.
The increase of passenger numbers
of the Viennese subway, which have
nearly doubled, and the decrease of
the overall suicide numbers in Vienna
(-40%) and Austria (-33%) since mid
1987 increase the plausibility of the
hypothesis, that the Austrian media
guidelines have had an impact on
suicidal behavior.
Der Mythos „Werther“ aus litera­
tur­wissenschaftlicher Sicht
Das Erscheinen von Goethes „Die
Leiden des jungen Werther“ 1774
bildete eines jener literarischen
Ereignisse der Zeit, die eine breite
Debatte nicht nur in schöngeistigen
Zirkeln nach sich zogen [1, S. 266f.].
Als „anstößig“ galt dabei nicht bloß ­
der Inhalt: ein bürgerlicher Intel­lek­
tueller im Zentrum der Geschichte,
der die bereits versprochene Lotte
liebt und begehrt und am Schluss des
Romans Suizid begeht. Gerade die
Möglichkeit von Imitationssuiziden
bildete damals einen Knotenpunkt
der Debatte. Dabei müssen jedoch
auch die strategischen Interessen
der
sich
äußernden
Par­teien
unbedingt in Rechnung gestellt
werden. Die Feststellung des
Dekans der Theologischen Fakultät
der Universität Leipzig, dass „itzo
die Exemplare des Selbstmordes
frequenter werden“, um so ein Verbot
des Romans zu erwirken, können
keineswegs als Beweis für einen
ausgedehnten Imitationseffekt in der
Folge des „Werther“ gezählt werden,
der auch nicht epidemiologisch
feststellbar ist [2, S. 40; 1, S. 269
(Anm. 420)].
Für die Kirche muss der Text des
„Werther“ einen besonderen Affront
dargestellt haben, und das nicht nur
aufgrund des vollzogenen Suizids am
Schluss [3, S. 74]. In Werther finden
wir ein bürgerliches Subjekt vor, das
religiöse Attribute und Äußerungen
mitunter auch dazu heranzieht, um
seine eigene Person in Szene zu
setzen [4, S. 593]. Glaube wird von
Werther zur Privatangelegenheit he­
runter gebrochen, und stört damit den
Machtanspruch des Klerus der Zeit
[5, S. 173f.].
Im Anschluss an das Erscheinen des
Romans setzte Textzeugnissen zu­
folge ein so genanntes „Wertherfie­
ber“ ein. [1, S. 268f.]. Es soll zu
einer umfassenden Nachahmung
des Ro­man­protagonisten gekommen
sein, „[die] sich an der im Roman
gestalteten Problematik bürgerlichen
Selbstverständnisses im feudalen
Staat entzündete“ [5, S. 173]. Die
Darstellung des „Typus des unzu­
frie­denen Intellektuellen, dessen
Integrationsversuche in die ständisch
gegliederte Gesellschaft an der starken
Hierarchie wie auch an der eigenen
hohen Selbsteinschätzung scheitern“
[5, S. 173f.] muss ein besonders
starkes
Identifikationspotential
frei­ge­macht haben. Man imitierte
Werthers Kleidung, las Homer, ging
einsam im Wald spazieren, imitierte
seine Redeweise, machte Aussprüche
Werthers zu bon mots im alltäglichen
Umgang [6, S. 471]. Ja sogar eine
Werther-Tasse soll es gegeben haben
[1, S. 267].
Identifikation und Imitation der
Roman­figur mögen demzufolge
nicht bloß in Verbindung mit dem
Ereignis des dargestellten Suizids
zu sehen sein. Vereinzelte Fälle von
Suiziden, die mit der Romanlektüre
als Auslöser in unmittelbarem Zu­
sam­menhang stehen könnten, sind
allerdings überliefert [2, S. 41]. In
einer anonymen Rezension von 1775
kommt sowohl dieses umfassende
Identifikationsangebot des Romans
an seine Leserschaft, als auch die
Möglichkeit von Folgesuiziden zur
Sprache:
„Der Hauptvorzug dieses Romans, besteht
in der vollkommenen Be­ar­beitung des
Charakters der Haupt­person, der so ein
Ganzes ausmacht …, daß man sich kein
wahreres und nach der Natur getreuer
gezeichnetes Bild eines menschlichen
Charakters vorstellen kann. […]
Ein Buch sei deswegen gefährlich, weil
es zum Selbstmord ermuntere…O, man
braucht nicht zu besorgen, daß diese Sünde
jemals unter den Menschen Mode werde,
dafür hat die Natur wohl gesorgt. In der
Tat, es gehören besondre Umstände, eine
ganz besondre, einem Krank­heits­zustande
sehr ähnliche Gemüts­beschaffenheit dazu
… Und so eine Gemütsbeschaffenheit
bringt kein Buch hervor … Zudem lobt
und verteidigt der Verfasser nirgend
seines Helden Tat.“ [4, S. 532]
Hier wird deutlich, dass es sich bei
Goethes Werk auch um eine minutiöse
Schilderung von Umständen und
charakterlichen Merkmalen, die in der
Folge den Suizid des Protagonisten
bedingen [4, S. 532], handelt.
Das Suizidthema wird im Roman
bereits vor der Bekanntschaft Wer­
thers mit Lotte angeschlagen. Im
Brief vom 22. Mai beklagt Werther
die prinzipielle Einschränkung des
Menschen [7, S. 13] und schließt
seine Betrachtungen wie folgt ab:
„Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er
doch immer im Herzen das süße Gefühl
der Freiheit, und daß er diesen Kerker
verlassen kann, wann er will“ [7, S. 14].
Werthers Einschätzung des Suizids
als Freiheitsbekundung des Menschen
wird jedoch durch an­dere Äußerungen
der Figur in ein ambivalentes Licht
gestellt. Sehr oft spricht Werther vom
„Schicksal“ in Bezug auf seine Person
und spricht vom „Getrieben-Sein“ im
Hinblick auf sein Verhältnis zu Lotte.
Im folgenden Textbeispiel wird dies
deutlich; sobald sich Werther dem
Zuhause Lottens nähert, kommt er
nicht umhin, sie zu besuchen:
„Ich bin zu nah in der Atmosphäre –
Zuck! so bin ich dort. Meine Großmutter
hatte ein Märchen vom Magnetenberg:
die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden
auf einmal alles Eisenwerks beraubt,
die Nägel flogen dem Berge zu, und die
armen Elenden scheiterten zwischen den
übereinanderstürzenden Brettern.“ [7, S.
41]
Niederkrotenthaler, Herberth, Sonneck
Assoziiert wird das Moment der
Anziehung mit einem Märchen aus
1001 Nacht, durch das der nicht zu
verhindernde „Untergang“ schon
vorweggenommen wird.
Dieses Spannungsfeld zwischen
Fremd­bestimmung und Selbstbe­stim­
mung in Bezug auf den Suizid zieht
sich durch den gesamten Text und wird
gerade auch in der Beschreibung von
Symptomen, die einer depressiven
Störung zugeordnet werden können,
zugespitzt. So äußert sich Werther
zum Beispiel in einem Brief an Lotte
folgendermaßen:
„Des Abends nehme ich mir vor, den
Sonnenaufgang zu genießen, und komme
nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich,
mich des Mondscheins zu erfreuen, und
bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht
recht, warum ich aufstehe, warum ich
schlafen gehe. Der Sauerteig, der mein
Leben in Bewegung setzte, fehlt“ [7, S.
65];
Ebenso lassen sich Textstellen finden,
die das Moment der Aggression
aufgreifen:
„Wenn ich mich so in Träumen verliere,
kann ich mich des Gedankens nicht
erwehren: wie, wenn Albert stürbe?
Du würdest! ja, sie würde – und dann
laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es
mich an Abgründe führet, vor denen ich
zurückbebe“ [7, S. 76].
Diese Textbeispiele unterstreichen,
dass der „Werther“ auch als „Quel­
lentext“
medizingeschichtlicher
wie literaturwissenschaftlicher For­
schungen für eine historische Dar­
stellung unseres Verständnisses von
Suizidalität interessant sein könnte.
Der „Werther-Effekt“ als
Anliegen einer evi­denz­
basierten Suizidprävention
In den Sozialwissenschaften und in
der Suizidologie wird der „WertherEffekt“ als Begriff für medial indu­
zier­te Imitationssuizide seit geraumer
Zeit kontroversiell diskutiert. Obwohl
286
die WHO seit 1993 die Beeinflussung
medialer Berichterstattung zu den
6 wichtigsten Basiszugängen der
Suizidprävention rechnet [8], konnte
die empirische Grundlagenforschung
bis heute zu keiner Einschätzung
des tatsächlichen Ausmaßes des
Phänomens der Imitationssuizide
finden.
Historie der empirischen Be­
forschung des „Werther-Effekts“
Der Anfang der empirischen For­
schung zu medial induzierten Imi­
tationseffekten geht in die Jah­re
1967 und 1970 zurück, als J. Motto
seine Hypothese untersuchte, wo­
nach Suizidraten in Zeiten von
Zeitungsstreiks und dadurch feh­
lender Suizidberichterstattung zu­
rückgehen könnten [9, 10]. Bereits
diese Untersuchungen waren von
widersprüchlichen Ergebnissen ge­
kennzeichnet.
D. Phillips prägte schließlich 1974
eine Methodik, die für lange Zeit
der methodische „State of the Art“
in der soziologischen Beforschung
des Phänomens bleiben sollte
[11]: Er untersuchte, wie sich die
Suizidraten nach Suizidberichten
auf der Titelseite der „New York
Times“ veränderten, und fand, dass
diese nach entsprechenden Berichten
signifikant anstiegen. In weiteren
Untersuchungen stellte er fest, dass
dieser Anstieg umso deutlicher
ausfiel, je stärker das Medium ver­
breitet war und je intensiver über den
Suizid berichtet wurde. D. Phillips
führte den historisch zweifelhaften,
aber einprägsamen Begriff „WertherEffekt“ in den wissenschaftlichen
Diskurs ein. Mit dem von ihm
konstruierten Studiendesign wur­­
den auch signifikante Korre­la­
tionen zwischen medialer Sui­zid­
berichterstattung und tödlichen
Mo­tor­radunfällen, für die eine
suizidale Komponente angenommen
wurde [12], und so­gar mit nichtkommerziellen Flugzeugabstürzen
[13], gefunden. Trotz dieses „Werther-
Fiebers der Scientific Community“
konn­ten Zweifel bezüglich der
Evidenzbasiertheit der Ergebnisse nie
vollständig ausgeräumt werden. Dies
spiegelte sich in wissenschaftlichen
Schlagabtäuschen wie jenem mit
Baron und Reiss (1985) wider [14,
15], die Phillip´s Ergebnisse unter
anderem auf natürliche Schwan­kun­
gen der Suizidzahlen zurückführten,
mit dieser Argumentation jedoch nur
teilweise überzeugen konnten [16].
Die Auswirkungen der TV-Serie
„Der Tod eines Schülers“ im ZDF,
1981 und 1982
Neben der printmedialen Bericht­
erstattung wurden auch Auswirkungen
von Fernsehdarstellungen des Suizids
in den Fokus genommen. Eine nicht
nur im deutschsprachigen Raum
höchst einflussreiche Untersuchung
stammt in diesem Zusammenhang
von A. Schmidtke und H. Häfner, die
die Auswirkungen der 6-teiligen TVSerie „Tod eines Schülers“ über den
fiktiven Eisenbahnsuizid eines 19jährigen Jugendlichen untersuchten
[17]. Die wöchentlich ausgestrahlten
Folgen, in denen jeweils zu Beginn
der Sendung der Suizidakt indirekt
gezeigt wird, führten zu einem Anstieg
der Eisenbahnsuizide um 174% in
der modellgleichen Altersgruppe
männlicher
Jugendlicher. Auch
eineinhalb Jahre später, als die Serie
trotz Warnungen von psychiatrischer
Seite wiederholt wurde [18], kam
es wiederum zu einem ähnlichen
Effekt. Daraus lässt sich ableiten,
dass
Ähnlichkeiten
zwischen
Modell und Rezipient(inn)en für
Imitation – speziell bei Jugendlichen
– eine nicht zu unterschätzende Rolle
spielen – eine Hypothese, die auch
durch die Theorie der differentiellen
Identifikation gestützt wird [19]. Wie
Schmidtke und Häfners Studie weiters
nahe legt, ist Identifikation prinzipiell
nicht nur mit authentischen Modellen
vorstellbar, sondern kann vielmehr
durchaus auch fiktive Medieninhalte
betreffen [19].
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 287
Abbildung 1: U-Bahn-Suizide und -Suizidversuche 1980-2005 in Wien
In den bisher genannten Studien
wurden erhöhte Suizidzahlen zum
Anlass genommen, um retrospektiv
nach Medienberichten zu suchen, die
diesen Anstieg (mit)verursacht haben
könnten.
Die Wiener U-Bahn Suizide
Möglicherweise das erste prospektive
Feldexperiment zum Thema medial
induzierter Imitationseffekte wurde
1987 nach einem exponentiellen
Anstieg
der
U-Bahn-Suizide
und -Suizidversuche in Wien
gestartet [20, 21]. Dieser Anstieg
nährte die Befürchtungen, dass
diese
öffentlichkeitswirksame
Suizidmethode begünstigt durch
die damals sehr ausführliche und
sensationsträchtige Berichterstattung
bald zu den am weitest verbreiteten
Suizid- und Suizidversuchsmethoden
in Wien gehören könnte. Ein
Arbeitskreis der Österreichischen
Ge­sellschaft für Suizidprävention
(ÖGS) verfasste „Medienrichtlinien
zur Berichterstattung über Sui­
zid“. In diesem Leitfaden waren
zahl­reiche Hypothesen über imi­
tationsbeeinflussende Fak­to­ren me­
dialer Darstellungen als Hilfe­stellung
für Journalist(inn)en enthalten. Ziel
dieses Experimentes war
1.) eine Reduktion der U-BahnSuizide und -Suizidversuche zu
erreichen und
2.) die Gesamtsuizidzahlen in Wien
und in Österreich zu reduzieren.
die Gesamtsuizide gingen 1987
erstmals seit 20 Jahren um 8% in
Wien und um 3,5% in Österreich
zurück.
Die Verbreitung der Richtlinien
wurde von der Österreichischen
Gesellschaft für Suizidprävention
organisiert und in Wien zusätzlich
durch die Wiener Linien mit
Hinweis auf die stark gestiegenen
U-Bahn-Suizidzahlen gestützt. Die
Medienkampagne zur Ersteinführung
der Richtlinien Mitte 1987 hatte eine
prompte quantitative Verringerung
und eine weniger sensationsträchtige
Darstellungsweise der Suizid­be­
richt­erstattung zur Folge [21]. Inner­
halb eines halben Jahres nach der
Einführung sank die Zahl der im UBahn-Bereich vollzogenen Suizide
und Suizidversuche um 80%. Auch ­
Nach ihrer erstmaligen Einführung
wurden die Medienrichtlinien immer
wieder anlassbezogen nach dem
Erscheinen von Printmedienberichten
über Suizide an Journalist(inn)en und
Chefredakteure / Chefredakteurinnen
der wichtigsten österreichischen
Tageszeitungen, die insgesamt 90%
der nationalen Zeitungsreichweite
umfassen, ausgesandt.
Während die Zahl der Suizide und
Suizidversuche im U-Bahn-Bereich
seit 1991 leicht und signifikant
anstieg (p<0,05), ohne dabei die Zahl
vor Interventionsbeginn zu erreichen,
zeigt eine alleinige Betrachtung der
Suizide keinen signifikanten Anstieg
Die Entwicklung seither: U-BahnSuizide plus Suizidversuche nur
leicht ansteigend, Passagierzahlen
ver­doppelt, Gesamtsuizide sinken
weiter
Niederkrotenthaler, Herberth, Sonneck
288
Abbildung 2: Jährliche Zahl der Suizide in Wien und die Regressionsgeraden bis 1986 und ab 1987. Die strichlierten
Geraden entsprechen den 95% Vorhersageintervalle der Regressionsgeraden.
Die relative Konstanz der Suizid­
zahlen ist bemerkenswert, da sich
die Zahl der Passagiere im gleichen
Zeitraum von 222 Mio. auf 424 Mio.
fast verdoppelt hat. Wie in anderen
Studien beschrieben wurde, spielt
die Verfügbarkeit der U-Bahn eine
wesentliche Rolle für die Häufigkeit
von U-Bahn-Suiziden [22].
Auf der Ebene der Gesamtsuizide hat
sich der Rückgang weiter fortgesetzt.
Seit Mitte 1987 sind die Suizidzahlen
in Wien bereits um 40% und in
Österreich um 33% zurückgegangen.
Die international wahrscheinlich
erste Analyse der Auswirkungen
von Medienempfehlungen auf Sui­
zidzahlen [23,24] zeigte einen sig­
nifikanten Zusammenhang zwischen
der Reduktion der Gesamtsuizide
und der Einführung der Medien­
empfehlungen in Österreich. Die
Intervention wurde als ein sui­
zidpräventiver Effekt von jährlich 81
Suiziden österreichweit berechnet.
Dieser Effekt war ins­besondere in
Regionen mit hoher Auflagezahl der
kollaborierenden Medien feststellbar.
Eine sogenann­te Dosis-WirkungsBeziehung zwi­schen­ Medieninput
und Suiziden ist da­mit nicht nur für
die Induktion, sondern auch für die
Prävention von Imitationssuiziden
wahrscheinlich [23]. Auch ande­
re Aspekte des Phänomens der
Imitationseffekte wurden in Öster­
reich untersucht.
So konnte eine weitere österreichische
Untersuchung nachweisen, dass selbst
nach einem Fernsehbericht über die
Auswirkungen von Überführungen
auf die betroffenen Lokführer , in dem
kein konkretes Modell zur Imitation
mitgeliefert wurde, Imitationseffekte
feststellbar waren [25]. Auch die
Hypothese, dass Medienrichtlinien
bei engagierter Zusammenarbeit
mit Medienvertreter(inne)n einen
signifikanten Einfluss auf die
Berichterstattung haben können,
konnte bereits in mehreren Studien
nachgewiesen werden [23]. Das
österreichische Experiment ist dabei
das bisher einzige Projekt, das auch
einen unmittelbaren suizidpräventiven
Effekt postuliert.
Bisher abgesicherte For­schungs­
ergebnisse und Anknüpfungs­mög­
lichkeiten
Wie S. Stack (2005) in seiner
qualitativen
Review
analysiert
[19], gibt es trotz der häufig wider­
sprüchlichen Ergebnisse bezüglich des
“Werther-Effekts“ einige Ergebnisse,
die von einer Mehrheit der Studien
zur The­matik mitgetragen werden: So
deuten viele Untersuchungen darauf
hin, dass nach medialen Darstellungen
von Suiziden Prominenter häufiger
Imitationseffekte nachweisbar wer­
den als bei Suiziden von nicht in der
Öffentlichkeit stehenden Personen.
Dies könnte einerseits auf die Vor­
bildwirkung
Prominenter
[19],
Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 289
sowie auf die häufig ausführlichere
Berichterstattung im Fall eines
Prominentensuizids zurückzuführen
sein.
Weiters wurden nach Berichten in
Zeitungsmedien bisher wesentlich
häufiger Imita­tionssuizide gefunden
als nach Fern­seh­berichten. Eine
mögliche Ursache dafür ist, dass
Zeitungsberichte aufbewahrt und
immer wieder gelesen werden
können, was ihre Wirkung eventuell
verstärkt [19].
Generell wird für authentische
Suizidberichte ein größeres Imita­
tionspotential angenommen als
für fiktive Darstellungen [19],
obwohl fiktive Suizid­darstellungen
darüberhinaus weniger beforscht
wurden und darüberhinaus unter
ge­wissen Umständen ebenfalls Imi­
tation hervorrufen können [17].
Dass qualitative Aspekte des
Medienberichts eine wesentliche
Rolle für Imitation spielen, kann unter
anderem da­raus abgeleitet werden,
dass nach Berichten mit moralischen
Ver­ur­teilungen des Suizids und
sol­chen mit detailreichen Beschrei­
bungen von Verstümmelungen nach
Sui­zid­versuchen so gut wie nie
Imitationseffekte nachweisbar wur­
den [19]. Dass derartige Berichte
aufgrund der mit ihnen ein­hergehenden
Stigmatisierung allerdings keines­
wegs als allgemein suizidpräventiv
be­zeichnet werden können, versteht
sich von selbst. Ein Verweis auf
Hilfsmöglichkeiten für Menschen
in Notsituationen könnte hingegen
dazu beitragen, Medienberichte
auch präventiv zu nutzen [28].
Welche Darstellungsmerkmale jene
sind, die am stärksten Imitation
fördern oder präventive Anliegen
stützen, ist allerdings nach wie
vor nicht gänzlich geklärt [20].
Insbesondere heroifizierende und
romantisierende Darstellungen des
Suizids sind zu meiden, um Imi­
tationshandlungen zu verhindern, so
lautet eine der Kernhypothesen der
Medienrichtlinien [28].
Auch die Nennung von Details zum
Suizidort und zur Suizidmethode
ist zu vermeiden, wie die Häufung
der Wiener U-Bahn-Suizide vor der
Einführung der Medienrichtlinien
sowie Untersuchungen aus Deutsch­
land, Japan und den USA zeigten [20,
29]. Durch mediale Propagierung
entstehende örtliche Suizidhäufungen
können ihrerseits wiederum einen
Anlass zu verstärkter und sensa­tions­
trächtiger Berichterstattung ge­ben,
wenn dieser Kreislauf nicht frühzeitig
unterbrochen wird.
Aber nicht nur der Quantität und
Qualität der Medienberichte, sondern
auch Merkmalen der Rezipient(inn)en
dürfte ein wesentlicher ursächlicher
Faktor für das Auftreten von Imi­ta­
tionseffekten zuzuschreiben sein: Es ist
davon auszugehen, ­dass verschiedene
demographische Subgruppen wie z.
B. Jugendliche oder ältere Menschen
tendenziell stärker zur Imitation
neigen als mittlere Altersgruppen
[19]. Identitätssuche im jugendlichen
Lebensalter und mögliche Verein­
samung im Al­ter könnten Ursachen
für diese Be­obachtung sein. Be­
züglich des Geschlechts wurden Imi­
tationseffekte in der Vergangenheit
insgesamt häufiger bei Frauen erfasst
als bei Männern [19], was im Hinblick
auf die geschlechtsspezifischen Suizid­
raten, die für Männer 2-3 mal höher
liegen, besonders auffällt. Unsere
Analysen der U-Bahn-Suizide, die
ein ungefähr gleich bleibendes Ge­
schlechtsverhältnis männlicher zu
weiblicher U-Bahn-Suizide von
etwa 2:1 vor und nach Beginn der
Medienintervention sowie einen überraschend großen Männeranteil
auch bei Suizidversuchen zeigen,
unterstützen diese Hypothese nicht.
Unabhängig von demographischen
Merkmalen ist es von großer Be­
deutung, ob der Rezipient / die
Re­­zipientin zum Zeitpunkt der
Rezeption suizidal ist oder nicht: Es
­ist davon auszugehen, dass Me­dien­
berichterstattung nicht als Ur­sache
für einen Suizid, sondern vielmehr als
Suizidauslöser bei bereits suizidalen
Menschen fun­gieren kann [28]. Die
Untersuchung von Medienwirkungen
auf suizi­dale Menschen ist eines der
am wenigsten beforschten Gebiete
im Forschungsfeld medial induzierter
Imitationseffekte [19].
In diesem Sinne wäre auch ver­
mehrt Forschung auf rezipient(inn)
enorientierten Ebenen notwendig,
um besser abschätzen zu können,
welche personenbezogenen Variab­
len für Identifikation mit dem
Suizidmodell und weiterführend
für Imitationsverhalten relevant
sind. Bei primär medienorientierten
Untersuchungen wäre es anderer­
seits zielführend, vorweg zu ana­
ly­sieren, wie die Darstellungen,
die
das
Untersuchungsmaterial
bil­den, qualitativ und quantitativ
tatsächlich beschaffen sind und für
welche Bevölkerungsgruppen die
Auswirkungen dieser Darstellungen
getestet werden sollen.
In der jüngeren Vergangenheit
wurde die Evidenzbasiertheit von
suizidpräventiven Anliegen,
zu
denen die Zusammenarbeit mit
Massenmedien gehört, in meh­reren
Publikationen generell angezweifelt
[30]. Mit Hilfe inno­vativer und
differenzierter methodischer Zugänge
könnte es durchaus möglich werden,
die Bedeutung des „Werther-Effekts“
für die Suizidprävention in der
Zukunft auch international besser
einzuschätze. Wie R. Goldney (2005)
in seiner Review ausführt, sind viele
methodische Mög­lichkeiten bisher
noch nicht vollständig genutzt [30].
Literatur
[1] Schreiner, J.: Jenseits von Glück. Suizid,
Melancholie, und Hypochondrie in ­
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Dr.med. Thomas Niederkrotenthaler
Medizinische Universität Wien
Zentrum für Public Health
Institut für Medizinische Psychologie
thomas.niederkrotenthaler@meduni wien.ac.at
Mag.phil. Arno Herberth
Universität Wien
Institut für Germanistik
[email protected]
Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 291–301
Kritisches
Essay
Critical
Essay
Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer:
Versprechen und Verlesen.
Von der Geschichte einer Kontroverse zu den
Erkenntnissen der modernen Linguistik
Hartmann Hinterhuber
Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck
Schlüsselwörter:
Sigmund
Freud
–
Rudolf
Meringer
– Carl Mayer – Versprechen – Verlesen,
Psycholinguistik
Key words:
Sigmund Freud – Rudolf Meringer, Carl
Mayer – slip of the tongue – speech error
– mis-reading – psycholinguistics
Sigmund Freud, Rudolf Meringer
und Carl Mayer: Versprechen und
Verlesen. Von der Geschichte einer
Kontroverse zu den Erkenntnissen
der modernen Lingustik
Um zu den Begriffen des Unbe­
wussten, des Vorbewussten und
des Bewussten zu kommen, ging
Sigmund Freud sowohl in seiner
„Psychopathologie des Alltaglebens“
als auch in seinen „Vorlesungen“ von
den Fehlleistungen, insbesondere vom
Versprechen, vom Verlesen und vom
Vergessen aus. In den Fehlleistungen
erkannte Freud Parallelen zu den
Träumen. Diese analysierte er in den
genannten Arbeiten unter dem Aspekt
der psychischen Mo­tivation. In jenen
Schriften erwähnt Sigmund Freud die
Studie von Rudolf Meringer und Carl
Mayer, die diese 1895 herausgegeben
haben. Meringer und Mayer machen ­
© 2007
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
ISSN 0948-6259
für das Versprechen aber Phäno­mene,
wie Vertauschungen und Umstellungen
von ganzen Wörtern, von Silben oder
von Lauten, ferner auch Vorwirkungen
/ Vorklänge oder Antizipationen so­wie
Nachwirkungen / Nachklänge, WortKontaminationen und Wort-Substi­tu­
tionen, verantwortlich.
Die vorliegende Arbeit zeigt auf,
mit welcher Leidenschaft die drei
Wissen­schaftler ihre Schwerpunkte
vertreten haben. Für die moderne
Psycholinguistik und für die Sprach­
psychologie sind Versprecher im­mer
Ausdruck einer momentanen Funk­
tionsstörung des menschlichen Sprach­
produktionssystems: Für den kog­
nitiven Prozess der Sprachproduktion
gewähren die Versprecher Einblick
in Sprachrepräsentations- und -ver­ar­
bei­tungsaspekte. Vorwirkungen und
Nachwirkungen als Seriali­sie­rungs­
fehler stellen – wie bereits Meringer
und Mayer erkannt haben – die große
Mehrheit aller Versprecher dar:
Sie enthüllen keinen verborgenen
Sinn. Bei lexikalisch-semantischen
Versprechern ist aber die Frage der
psychischen Motivierung zulässig.
Welche Auffassung der Einzelne
von den psychischen Vorgängen
und der „Topologie des psychischen
Apparates“ hat, entscheidet darüber,
welche Determinierungskraft dem
Unbewussten beigemessen wird.
Diese kurze Abhandlung ist ein
Zei­chen der Wertschätzung und
der Dankbarkeit: zum ersten eine
be­­scheidene Geburtstagsgabe für­
Sig­mund Freud, zum zweiten
eine Hommage für Carl Mayer,
der während seiner 40-jährigen
Vorstandschaft der PsychiatrischNeurologischen Klinik Innsbruck
Generationen von Nervenärzten
geprägt hat, sodass sein Nachfolger
Hans Ganner zu Recht von einer
„Carl-Mayer-Schule“ gesprochen hat.
Letztlich ist diese kleine Studie aber
auch – und besonders – eine späte
Würdigung Rudolf Meringers, des
großen österreichischen Linguisten.
Sigmund Freud, Rudolf Meringer
and Carl Mayer: Slips of the tongue
and mis-readings. The history of a
controversy
In both his The Psychopathology
of Everyday Life and his Lectures
Sigmund Freud derived the terms
unconscious,
preconscious
and
conscious, particularly from slips
in speech, slips in reading and
forgetfulness. In these slips, Freud
recognised parallels to dreams. In the
work mentioned, he analysed these in
depth as part of mental motivation.
In the papers referred to, Sigmund
Freud paid tribute to Rudolf Meringer
and Carl Mayer’s study which
was published in 1895. Meringer
and Mayer showed as phenomena
reversals and rearrangement of whole
words, syllables or sounds, along with
pre-tones or anticipations and echoes,
word contaminations and word
Hinterhuber
substitutions as responsible for slips
of the tongue.
The present work demonstrates how
passionately these three scientists
have contributed to the controversy of
their standpoints. For modern psycholinguistics and the psychology of
language, speech errors are always
an expression of a momentary
malfunction of the human speech
production system: for the cognitive
process of speech production slips of
the tongue offer an insight into speech
processing. Pre-tones and echoes,
serialization errors, as Meringer and
Mayer recognised, represent the
vast majority of slips of the tongue.
They do not reveal any hidden point.
But with lexical-semantic slips of
the tongue the question of mental
motivation is admissible.
This short paper is a sign of
appreciation and gratitude: firstly,
a modest birthday gift for Sigmund
Freud, secondly homage to Carl
Mayer, who influenced generations
of neurologists in his 40 years of
chairing the Psychiatric-Neurological
Clinic in Innsbruck, so that Hans
Ganner rightly spoke of a “Carl
Mayer School”. But lastly, this short
study is also—and especially—a late
recognition of Rudolf Meringer, the
great Austrian linguist. The view an
individual has concerning mental
processes and the “topology of the
psychic apparatus” is decisive as to
the power of determination attached
to the unconscious.
292
des Unbewussten“. Fehlleistungen
sind unbeabsichtigte Handlungen,
durch welche die handelnde Person
ein Ziel, das sie bewusst anstrebt,
unwillkürlich durch ein anderes
ersetzt. Sigmund Freud rückte diese
bedeutungsvollen Phänome des
alltäglichen Lebens in die Nähe
des Symptoms, da es sich auch bei
ihnen um eine Kompromissbildung
zwischen der bewussten Absicht und
dem verborgenen Wunsch handle:
Beim Versprechen trete somit oft die
eigentliche Meinung des Sprechers
unfreiwillig zutage. Anstelle des
intendierten Wortes werde ein ähnlich
klingendes gesprochen, das aber dem
Gedachten besser entspreche. Diese
Fehlleistungen hat Sigmund Freud
im Rahmen der „Psychopathologie
des Alltagslebens“ (1901 bzw. 1904)
unter dem Aspekt der psychischen
Motivation analysiert. In dieser Schrift
veröffentlichte er in humorvoller
Form eine Menge treffender Beispiele
für Fehlleistungen. Jacques Lacan
kommentierte dies 1953 sehr gekonnt,
indem er schrieb:
In der Psychopathologie des
Alltagslebens (…) wird deutlich,
dass jede Fehlleistung ein geglückter,
ja sogar ein ziemlich hübsch
gedrechselter Diskurs ist (…).
Freud’sche Versprecher sind solche,
bei denen eine psychische Motivation,
ein „Sinn“ vermutet werden kann.
Fehlleistungen
offenbaren
also
nach Freud ein Streben, das mit
der vorgegebenen Intention im
Widerspruch steht und sich im
Kompromiss durchsetzt.
für vergleichende Sprachforschung
an der Universität Wien, und Carl
Mayer, Professor für Psychiatrie und
Nervenpathologie an der Universität
Innsbruck und durch 40 Jahre Vorstand
der
Innsbrucker
PsychiatrischNeurologischen Universitätsklinik,
beschäftigt: 1895 erschien ihre 204
Seiten umfassende Monographie
„Versprechen und Verlesen. Eine
psychologisch-linguistische Studie“
(s. Abb. 1) in der renommierten
Göschen’schen
Verlagshandlung.
Sigmund Freud kannte das Buch
– er hat auch fleißig daraus zitiert
(ohne jedoch die Quelle anzugeben).
„Versprechen und Verlesen“ ist 1978
in Amsterdam bei John Benjamins
B.V. neu gedruckt und verlegt worden
(s. Abb. 2).
Meringer und Mayers „Ver­
sprechen und Ver­lesen“
Ausgangspunkt dazu war eine
Beobachtung von Salomon Stricker
– ebenfalls einer der Professoren
Sigmund Freuds –, der bei „stillem
Sprechen“
eine
r-Dissimilation
konstatiert hatte. Der Physiologe
Stricker selbst hatte 1880 „Studien
Einleitung*
Freud’sche Versprecher kennt jeder:
In einer ad-hoc-Umfrage assoziierten
spontan angesprochene Menschen mit
dem Namen „Sigmund Freud“ sofort
sprachliche Fehlleistungen, erst dann
kamen Antworten wie „Begründer
der Psychoanalyse“ oder „Erforscher
*
1
Mit Fehlleistungen haben sich aus
„psychologisch-linguistischer“ Sicht1
bereits mehr als 6 Jahre vor Sigmund
Freud Rudolf Meringer, Professor
Meringers und Mayers „Versprechen
und Verlesen“ berücksichtigt die
damals aktuelle neurophysiologische
Sprachforschung; es wird auf die
Bedeutung der Arbeiten von Männern
wie Broca, Wernicke, Kußmaul,
Lichtheim (...) genauso hingewiesen
wie auf Ernst Malachowskis Buch
„Versuch einer Darstellung unserer
heutigen Kenntnisse in der Lehre
von der Aphasie“. Erwähnt wird dort
schon auf Seite 2: Eine Kritik der
herrschenden Ansichten bringt Dr.
Sigmund Freud: Zur Auffassung der
Aphasien, Wien 1891.
Rudolf Meringer und Carl Mayer
publizierten in ihrem Buch die
seinerzeit größte Sammlung von
Versprechern.
Insgesamt
hat
Meringer ca. 4.400 Lapsus Linguae
zusammengetragen!
Die vorliegende Studie stellt eine Überarbeitung des Vortrages dar, der am 23.6.2006 im Rahmen des Symposiums "Die Univ.-Klinik für Psych­
iatrie Innsbruck gedenkt des 150sten Geburtstages von Sigmund Freud" gehalten worden ist.
Der Begriff "Psycholinguistik" existiert erst seit etwa 1950.
Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen.
Abbildung 1
Abbildung 2
über
die
Sprachvorstellungen“
publiziert.
Der Linguist Meringer versuchte im
genannten Buch, die Zusammenhänge
der einzelnen Erscheinungen bei den
gewöhnlichen Arten der Sprechfehler
als regelhaft nachzuweisen. Die
Subjektivität des Versprechens wurde
somit aufgehoben.
Wörtern und Silben sowie von
Lauten
- Nachklänge, Postpositionen von
Wörtern und Silben sowie von
Lauten
- Kontaminationen von Sätzen,
Redensarten, Konstruktionen so­
wie von Wörtern
- Substitutionen von Wörtern
Das Buch basiert auf Meringers
Überzeugung, dass man sich nicht
regellos verspricht, sondern dass die
häufigeren Arten sich zu versprechen
auf gewisse Formeln gebracht werden
können. Mit der Regelmäßigkeit der
Sprechfehler (wie ich zum Unterschied von den organisch be­dingten
Sprachfehlern sagen will) gewinnen
dieselben an Bedeutung, sie müssen
durch konstante psychische Kräfte
bedingt sein und so werden sie zu
einem Untersuchungsgebiet für Natur­
forscher und Sprachforscher, die
von ihnen Licht für den psychischen
Sprechmechanismus erwarten dürfen.
Für Meringer und Mayer sind „psycho­
logisch-linguistisch“ folgende Fehl­
leistungen für das Versprechen ver­
antwortlich:
- Vertauschungen und Umstellungen
von ganzen Wörtern, von Silben
oder von Lauten
- Vorklänge und Antizipationen von
Auch für Meringer und Mayer kann
das Versprechen eine tiefere Be­
deutung besitzen: Sie schreiben (S.
98): Die Sprechfehler stehen nicht
ganz allein da. Sie entsprechen den
Fehlern, die bei anderen Thätigkeiten
des Menschen sich oft einstellen und
ziemlich thöricht 'Vergesslichkeiten'
genannt werden. Die Autoren betonen
aber auch: Man muss sich hüten, den
Sprechfehler als etwas Pathologisches
aufzufassen. Beim Sprechfehler ver_
sagt nur die Aufmerksamkeit, die
Maschine läuft ohne Wächter, sich
selbst überlassen.
2
293
Sigmund Freud und das
Ver­sprechen
Während seines Urlaubes im Sommer
1898 schrieb Sigmund Freud an
Wilhelm Fließ, er habe endlich eine
„Kleinigkeit“ erfasst: die Bedeutung
einer Fehlleistung und das Mittel
zur ihrer Entschlüsselung durch die
Methode der freien Assoziationen.
Die erste, von Freud auf diese
Weise analysierte Fehlleistung war
das Vergessen des Namens des
Dichters Julius Mosen.2 Der Name
„Julius“ hatte für ihn eine besondere
Bedeutung: Julius war der Name des
ersten jüngeren Bruders von Sigmund
Freud, der bei dessen Geburt eine
starke Eifersucht zeigte und ihn „mit
bösen Wünschen“ begrüßt hatte.
Julius ist knapp einjährig am 15. 4.
1858 verstorben.
Sigmund Freud beginnt in „Zur
Psychopathologie des Alltagslebens“
das 5. Kapitel „Das Versprechen“ mit
einem Bekenntnis: Ich befinde mich
hier ausnahmsweise in der Lage,
eine Vorarbeit würdigen zu können.
Im Jahre 1895 haben R. Meringer
und C. Mayer eine Studie über
'Versprechen und Verlesen' publiziert,
deren Gesichtspunkte fernab von
den meinigen liegen. Der eine der
Autoren, der im Texte das Wort führt,
ist nämlich Sprachforscher und ist
von linguistischen Interessen zur
Untersuchung veranlasst worden, den
Regeln nachzugehen, nach denen man
sich verspricht. Er hoffte, aus diesen
Julius Mosen ist unter anderem auch der Dichter der Tiroler Landeshymne „In Mantua zu Banden“.
Hinterhuber
Regeln auf das 'Vorhandensein eines
gewissen geistigen Mechanismus'
schließen zu können, 'in welchem die
Laute eines Wortes, eines Satzes und
auch die Worte untereinander in ganz
eigentümlicher Weise verbunden und
verknüpft sind' (IV. 61). [4].
Zur Klärung der beobachteten Arten
des Versprechens stellt Meringer eine
verschiedene psychische Wertigkeit
der Sprachlaute auf: Wenn wir
den ersten Laut eines Wortes, das
erste Wort eines Satzes innervieren,
wendet sich der Erregungsvorgang
bereits den späteren Lauten, den
folgenden Worten, zu, und so weit
diese Innervationen miteinander
gleichzeitig sind, können sie einander
abändernd
beeinflussen.
Die
Erregung des psychisch innervierten
Lautes klingt vor oder hallt nach
und stört so den minderwertigen
Innervationsvorgang. Es handelt sich
nun darum zu bestimmen, welche die
höchstwertigen Laute eines Wortes
sind (IV. 62)[4].
Sigmund Freud widerspricht in der
Folge der Ansicht Meringers, es
gäbe eine Hierarchie von höchstbzw. hochwertigen Lauten. Die
Ungleichwertigkeit der Laute lässt
Freud „nur für die Aufklärung
der Lautstörungen sowie der Vorund Nachklänge“ zu: (...) Wo
sich die Wortstörungen nicht auf
Laut­störungen reduzieren lassen,
z. B. bei den Substitutionen und
Kontaminationen von Worten, haben
auch sie unbedenklich die Ursache
des Versprechens a u ß e r h a l b
des intendierten Zusammenhanges
gesucht und diesen Sachverhalt durch
schöne Beispiele erwiesen. Freud
zitiert in diesem Zusammenhang das
„Vorschwein“-Versprechen:
Die Bildung von Substitutionen und
Kontaminationen beim Versprechen
ist somit immer ein Beginn jener
Verdichtungsarbeit, die wir in eif­
rigster Tätigkeit am Aufbau des
Traumes beteiligt finden (IV. 67)[4].
Nachdem Freud noch das von Merin­
ger im Jahr 1900 zitierte Versprechen
3
294
des Präsidenten des österreichischen
Abgeordnetenhauses („... ich konsta­
tiere die Anwesenheit von so und
soviel Herren und erkläre somit die
Sitzung für geschlossen!“) dargestellt
hat, fasst er zusammen:
Zeigen uns die letzten Beispiele
von Meringer und Mayer, dass
die Sprechstörung ebenso wohl
durch einen Einfluss vor- und nach­
klingender Laute und Worte des
selben Satzes entstehen kann, die zum
Ausgesprochenwerden bestimmt sind,
wie durch die Einwirkung von Worten
außerhalb des intendierten Satzes,
deren Erregung sich
sonst nicht verraten
h ä t t e, so werden wir zunächst
erfahren wollen, ob man die beiden
Klassen von Versprechen scharf
sondern und wie man ein Beispiel der
einen von einem Falle der anderen
Klasse unterscheiden kann (IV. 68)
[4].
Es ist die Annahme hintergründiger,
ja abgewiesener Intentionen, die
für Sigmund Freud erst den Weg
zum tieferen Verständnis der Fehl­
leistungen öffnet.
Auf Seite 179 würdigt Sigmund
Freud die erwähnte Arbeit von Me­
ringer und Mayer und bekennt: Ich
bin also keinesfalls der Erste, der
Sinn und Absicht hinter den kleinen
Funktionsstörungen des täglichen
Lebens Gesunder vermutet. Freud
setzt in einer Fußnote aber hinzu:
Eine zweite Publikation Meringers
hat mir später gezeigt, wie sehr ich
diesem Autor unrecht tat, als ich ihm
solches Verständnis zumutete.
Zusammenfassend kann festgehalten
werden, dass Sigmund Freud wohl die
Möglichkeit erkannt hat, dass lautliche
Worteigenheiten zu Versprechern
führen, dass er diesen aber nur eine
begünstigende Wirkung beimisst. In
seiner Schrift „Zur Psychopathologie
des Alltagslebens“ (S. 90) schreibt er:
Die Gesetze, nach denen die Laute
verändernd aufeinander einwirken,
möchte ich nicht anzweifeln: sie
scheinen mir aber nicht wirksam
genug, um für sich allein die korrekte
Ausführung der Rede zu stören. In
den Fällen, die ich genauer studiert
und durchschaut habe, stellen sie
bloß den vorgebildeten Mechanismus
dar, dessen sich ein ferner gelegenes
psychisches Motiv bequemerweise
bedient, ohne sich aber an den
Machtbereich dieser Beziehungen zu
binden.
In seiner kleinen Publikation „Das
Interesse an der Psychoanalyse“ (1913)
kommt Freud auf das Versprechen
zurück und schreibt: Fehlleistungen
sind das bequemste Material für jeden,
der sich von der Glaubwürdigkeit
der psychoanalytischen Einsichtung
überzeugen lassen will.
Die Auseinandersetzung
eskaliert
Rudolf Meringer veröffentlichte 1908
die Fortsetzung seiner Untersuchungen
in einem Buch mit dem Titel „Aus
dem Leben der Sprache: Versprechen,
Kindersprache, Nachahmungstrieb“.
Wieder kategorisierte er Versprecher
aus „psychologisch-linguistischer“
Sicht: Dadurch stellte er sich
neuerlich gegen den Versuch Sig­
mund Freuds, in den Versprechern
vor allem psychopathologische All­
tagsphänomene zu sehen. Im Kapitel
„D. Anhänge zum I. Hauptstück“
ging Meringer auf „Andere Arbeiten
zum Versprechen“ ein und griff Freud
und dessen Interpretation massiv an.
Auch beklagte er sich, dass Freud
nicht wenige seiner Beispiele zitiert
hatte, ohne die Quelle zu nennen:
Ich muss hier eine Arbeit nennen, nicht
so sehr, weil sie uns wirklich gefördert
hätte, sondern weil der Verfasser
dieser Meinung in so hohem Grade
ist, dass er das, was ich mit Mayers
Hilfe erkundet und niedergeschrieben
habe, nur als 'Vorarbeit' seiner
erschütternden Leistung gelten lassen
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. X. Bd. I. Heft; dann auch separat erschienen Berlin S. Karger 1904.
Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen.
kann. Herr Sigmund Freud hat in
seiner Schrift 'Zur Psychopathologie
des Alltagslebens'3 den Versuch
gemacht, viel tiefer in das Wesen
des Versprechens einzudringen, als
das mir geglückt war. Von einigen
bei mir gelesenen Fällen, in denen
Nebengedanken sich offenbaren
(z. B. 'dann aber sind Tatsachen
zum Vorschwein gekommen' wegen
'Schweinereien', V. u. V. = Versprechen
und Verlesen, S. 62), ausgehend, hat
er die Meinung gefasst, dass in allen
Fällen des Versprechens, auch in
den rein lautlichen und formellen
überhaupt, solche Nebengedanken die
Ursache des Versprechens sind. Dies
suchte er durch psychische Analysen
einiger Fälle, die er gesammelt hat,
darzulegen. Diese Analysen sind
öfters jenseits von gut und böse.
Die Auseinandersetzung mit Freuds
Erklärungen ist unnötig, denn sei­
ne Deutungen haben schwerlich
einen Eindruck gemacht, ausser
etwa bei den Herren, welche den
publizistischen
Weiterverschleiss
die­ser Phantasien in den Blättern
unter dem Titel: 'Unfreiwillige
Geständnisse' besorgten4. Unnötig ist
eine Polemik gegen diese Schrift, weil
sie schon durch das Material, das in
V. u. V. niedergelegt ist, widerlegt war.
Wäre Herr Freud imstande, seinen
Einfällen einige Kritik angedeihen zu
lassen und sein Luftschiff zu lenken,
so hätte er das selbst sehen müssen.
Das neue Material, das ich hiermit
vorlege, wird wohl genügen, etwaige
weitere Versuche in der Freudschen
Richtung unmöglich zu machen.
Freud hat – es ist die einzige Spur
von Selbstkritik in seiner ganzen
Arbeit – das Motto aus Goethes Faust
gewählt:
'Nun ist die Luft von solchem Spuk
so voll,
4
5
6
Dass niemand weiss, wie er ihn
meiden soll.'
Ich hoffe, dass diese Art Spuk
jedermann zu meiden verstehen
wird5.
Es wäre mir nicht eingefallen, mich
mit Herrn Freuds Ausführungen über­
haupt zu beschäftigen, wenn ich nicht
fürchtete, dass sie unter Umständen
geradezu Unheil anrichten könnten.
Nicht in der Wissenschaft – aber im
Leben. Ein Versprechen ist nur dann
zu erklären, wenn ich die Seele des
Mannes, der sich versprochen hat,
kenne. Es ist aber unmöglich, aus
einem Versprecher die Seele des
Mannes kennen zu lernen, denn hier
werden einzelnen Treffern sehr viele
Fehlschüsse gegenüberstehen. Ich
kann mir wohl vorstellen, und ich
habe es oft erlebt, dass ein Mann
im Versprechen etwas sagt, was
durchaus nicht seine Meinung ist, so
dass er selber darüber erschrickt.
Gegen diese Verwertung meiner
Ge­danken, wie sie Herr Freud be­
liebt hat, gegen diese Nacharbeit zu
meiner 'Vorarbeit', protestiere ich auf
das energischeste.
Im Briefwechsel zwischen Freud und
Jung – diesem unmittelbaren Zeugnis
der höchst fruchtbaren und letzten
Endes tragischen Begegnung zweier
außerordentlicher Männer – findet
sich ein Hinweis auf Freuds Ärger
über Meringers Äußerungen im
genannten Buch.
Schon am 8. 11. 08 schreibt Sigmund
Freud an C.G. Jung (Brief 112F):
Berggasse 19, Wien IX
Lieber Freund!
Eine Welle Arbeit, gegen die ich
mühsam nach Atem ringe, und ein
Ereignis in meinem Haus haben mich
als Korrespondenten lahmgelegt.
295
Meine Tochter (Mathilde) hat sich
mit einem jungen Manne ihrer Wahl
verlobt (…) Sie hoffe ich jetzt wieder in
voller Tätigkeit; wir wollen in diesem
Arbeitsjahr weitere Fortschritte nach
Innen und Außen machen (…) Von
den letzten Beschimpfungen will
ich nur wenig reden. Forel geht ja
wesentlich auf Sie los, wahrscheinlich
aus Ignoranz. Der Prof. Meringer
aus Graz (vom „Versprechen“)
leistet an ungewaschener Polemik
das Außerordentlichste (…)
Ich bin nun sehr begierig, von
Ihnen und Burghölzli zu hören, vor
allem aber zu erfahren, daß es Ihrer
lieben Frau gut geht, die sich zu
einem zweiten Dankbrief verpflichtet
gehalten hat.
Mit herzlichstem Gruß
Ihr Freud
Bereits am 11. 11. 08 antwortet C.G.
Jung vom Burghölzli /Zürich (Brief
113J):
Lieber Herr Professor!
Magna est vis veritatis tuae et
praevalebit!6 Die, man könnte sagen,
betrüblichen Nachrichten Ihres
letzten Briefes – Meringer (...) –
wirken recht günstig auf mich. Nichts
ist greulicher als in das Tutehorn
der allgemeinen bouillonwarmen
Anerkennung zu stoßen und sich auf
dichtbevölkerter Erde anzusiedeln;
darum freue ich mich, wenn man
tüchtig Opposition macht. Offenbar
sind noch lange nicht alle heran,
die sich blamieren können. Auch
Forel hat noch Gelegenheit dazu vor
Torschluß (…)
Außerdem habe ich noch zwei
Jünglinge im Laboratorium. Sie
sehen, die Schülerplage ist groß! Ein
guter Schüler und die Freude, die
man an ihm hat, müssen teuer erkauft
werden.
Vgl. Frankfurter Zeitung, 23. Oktober 1902.
„Für die Art der wissenschaftlichen Erklärungen dieses Herrn nur ein Beispiel [...]. Herr Freud berichtet S. 48, dass er in einem Hause einmal in
den dritten Stock statt in den zweiten gegangen sei, sich also „verstiegen“ habe. Er fährt fort: „Das andere Mal ging ich wiederum „in Gedanken
versunken“ zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, dass ich mich über eine
(phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, dass ich „immer zu weit ginge“, und in die ich nun den
wenig respektvollen Ausdruck „verstiegen“ einzusetzen hatte“. – Vor dieser Gattung Wissenschaft möge uns ein gütiges Geschick bewahren!“
„Groß ist die Gewalt Deiner Wahrheit und sie wird siegen“: So variiert Jung den Bibelvers 'Magna est veritas, et praevalet', Vulgata, 3 Esdras 4:41.
Hinterhuber
Meine Frau und ich gratulieren von
Herzen zur Verlobung.
Beste Grüße
von Ihrem Jung
Freuds „Vorlesungen zur
Einführung in die Psy­cho­
analyse“
Auch in den „Vorlesungen zu Ein­
führung in die Psychoanalyse“ (XI.
25) greift Sigmund Freud (19161917) wieder als die für unsere
Absichten geeignetste unter den
Fehlleistungen das Versprechen
heraus: (...) Gibt es nun irgendetwas,
was mir im besonderen Falle von allen
möglichen gerade die eine Weise des
Versprechens aufdrängt, oder bleibt
das Zufall, Willkür, und lässt sich
zu dieser Frage vielleicht überhaupt
nichts Vernünftiges vorbringen?
Zwei Autoren, Meringer und Mayer
(ein Philologe und ein Psychiater),
haben denn auch im Jahre 1895
den Versuch gemacht, die Frage des
Versprechens von dieser Seite her
anzugreifen. Sie haben Beispiele
ge­sammelt und zunächst nach rein
deskriptiven Gesichtspunkten be­
schrieben. Das gibt natürlich noch
keine Erklärung, kann aber den Weg
zu ihr finden lassen.
Nach einer eingehenden Erörterung
seiner Theorien stellt Freud die Frage
(XI. 75) [5]:
Wenn die Menschen sich, wie wir‘s an
vielen Beispielen gesehen haben, dem
Verständnis der Fehlleistungen sosehr
annähern und sich oft so benehmen,
als ob sie deren Sinn durchschauen
würden, wie ist es möglich, dass sie
die selben Phänomene doch ganz
allgemein als zufällig, sinn- und
bedeutungslos hinstellen und der
psychoanalytischen Aufklärung der
selben so energisch widerstreben
können?
Um zu den Begriffen des Un­
bewussten, des Vorbewussten und
des Bewussten zu kommen, ging
Freud in seinen „Vorlesungen“
296
von den Fehlleistungen, besonders
dem Versprechen, dem Verlesen
und dem Vergessen aus: In diesen
Fehlleistungen
erkannte
Freud
Parallelen zu den Träumen. Anhand
von drei Beispielen illustrierte Freud
seine Betrachtungsweise (auch in
seinen „Vorlesungen“ hat er dem
genannten Werk von Meringer und
Mayer besonders prägnante Beispiele
entnommen):
• Ein Mann erzählt von irgend­
welchen Vorgängen, die er bean­
standet, und setzt fort: Dann aber
sind Tatsachen zum Vorschwein
gekommen (... Auf Anfrage be­
stätigt er, dass er diese Vorgänge
als Schweinereien bezeichnen
wollte. 'Vorschein und Schweine­rei'
haben zu­sammen das son­derbare
'Vor­schwein' ent­stehen lassen
(XI/35) [5]. Im „Vorschwein“
offenbart sich eine Bewertung
durch den Sprecher: Die Fakten,
die zum Vorschein gekommen
sind, wären Schweinereien, oder
der Akteur selbst ein Schwein.
• Oder wie es bei einem meiner
Patienten zuging, dem ich
untersagt hatte, seine Geliebte
telephonisch anzurufen, der
aber 'irrtümlich','in Gedanken'
eine falsche Nummer aussprach,
als er mit mir telephonieren
wollte, sodass er plötzlich mit
seiner Geliebten verbunden
war (XI/74) [5]. Der genannte
Patient hat sicherlich in jenem
Moment, da er mit dem TelephonVermittlungsamt sprach, nicht
an seine Geliebte gedacht. Sein
Versprechen offenbart seinen
insgeheim vorhandenen Wunsch,
in Kontakt mit seiner Geliebten
zu treten.
• Am Ende einer Laudatio spricht
ein Festredner: „'Ich fordere
sie auf, auf das Wohl unseres
Chefs aufzustoßen.' Hier wird
eine feierliche Stimmung un­
er­warteterweise
durch
das
Eindringen eines Wortes ge­stört,
das eine unappetitliche Vor­
stellung erweckt. (...)
• Freud schließt daraus, dass
hier die störende Intention die
der Schmähung (ist). Sie ist
es, die sich dem Ausdruck der
Verehrung widersetzt (XI/42)
[5]. Ich will ihn drängen, ob er
nicht doch etwas verspürt hat,
was sich der Aufforderung zur
Verehrung des Chefs widersetzt
haben mag. Da komme ich aber
schön an. Er wird ungeduldig
und fährt plötzlich auf mich los:
„Sie, jetzt hören's einmal auf mit
Ihrer Ausfragerei, sonst werd’
ich ungemütlich. Sie verderben
mir noch die ganze Karriere
durch Ihre Verdächtigungen. Ich
hab’ einfach 'aufstoßen' anstatt
'anstoßen' gesagt, weil ich im
selben Satz schon vorher zweimal
auf ausgesprochen habe. Das
ist das, was der Meringer einen
Nachhall heißt und weiter ist
daran nichts zu deuteln. Verstehen
Sie mich? Basta. Hm.'
Darf sich vielleicht der ambitionierte
jugendliche Festredner gar keine
schlechte Meinung über seinen Chef
erlauben? Oder glauben wir ihm, dass
er echte Gefühle der Wertschätzung
und Verehrung seinem Vorgesetzten
entgegenbringt? Ist „Aufstoßen“ in
der Tat nur ein Nachhall?
Freud selbst setzt fort: Aus der
psychischen Situation, in welcher
sich die Fehlleistung ereignet, aus
unserer Kenntnis des Charakters der
Person, welche die Fehlhandlung
begeht, und der Eindrücke, welche
die Person vor der Fehlhandlung
betroffen haben, können wir als die
Anhaltspunkte für unsere Deutung
in jenem Falle entnehmen, dass die
Aussage des Analysierten den Sinn
der Fehlleistung nicht selbst aufklärt
... (XI/45) [5].
Freud
vergleicht
die
drei
exemplarischen Beispiele und stellt
Folgendes fest: Zur ersten Gruppe
gehören die Fälle, in denen die
störende Tendenz dem Redner bekannt
ist, überdies vor dem Versprechen
von ihm verspürt wurde. So gibt
beim
Versprechen
'Vorschwein'
der Sprecher nicht nur zu, dass er
Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen.
das Urteil 'Schweinerei' über die
betreffenden Vorgänge gefällt hat,
sondern auch, dass er die Absicht
hatte, von der er später zurücktrat,
ihm auch wörtlich Ausdruck zu
geben.
Eine zweite Gruppe bilden andere
Fälle, in denen die störende Tendenz
vom Sprecher gleichfalls als die
seinige anerkannt wird, aber er weiß
nichts davon, dass sie gerade vor dem
Versprechen bei ihm aktiv war. Er
akzeptiert also unsere Deutung seines
Versprechens, bleibt aber doch in
gewissem Maße verwundert über sie.
In einer dritten Gruppe wird die
Deutung der störenden Intention
vom Sprecher energisch abgelehnt;
er bestreitet nicht nur, dass sie sich
vor dem Versprechen in ihm geregt,
sondern er will behaupten, dass
sie ihm überhaupt völlig fremd ist.
Erinnern Sie sich an das Beispiel
von 'Aufstoßen' und an die geradezu
unhöfliche Abweisung, die ich mir
durch die Aufdeckung der störenden
Intention von diesem Sprecher geholt
habe (XI/59) [5].
Freud sieht in den drei aufgezeigten
Fällen die Gemeinsamkeit, dass die
Fehlleistungen durch die Interferenz
von zwei verschiedenen Intentionen
entstehen (XI/61) [5], von denen
die eine die gestörte, die andere die
störende heißen kann (XI/60) [5].
Die störenden Tendenzen werden
zurückgedrängt.
Somit gibt es nach Sigmund Freud drei
Möglichkeiten, mit Fehlleistungen
umzugehen:
• Fehlleistungen werden bemerkt
und sofort korrigiert.
• Fehlleistungen werden nicht
bemerkt, darauf angesprochen
bestreitet der Betreffende seine
Fehlleistung.
• Die Fehlleistung wird nicht be­
merkt, der Sprecher kann diese
jedoch nach den gegebenen
Informationen eingestehen und
nachvollziehen, wie sich diese
Fehlleistung erklären kann.
So formuliert, hätte gegen diese
Aussagen auch Meringer nichts
einzuwenden gehabt.
Sigmund Freud und Carl
Mayer als Schüler Theodor
Meynerts in Wien
Sigmund Freud, in Freiberg in
Mähren am 6. Mai 1856 geboren, war
im Jahr 1883 Schüler von Theodor
Meynert (1833-1892). Insgesamt
verbrachte er nur fünf Monate an
der von Meynert geleiteten Klinik.
Darüber schrieb Albert Hirschmüller:
Es besteht ein großer Unterschied in
der Art, wie Freud sich neurologischen
Fällen einerseits und psychiatrischen
Fällen andererseits näherte. Mit
den ersteren erwies er sich als ein
beharrlicher Kliniker (…..) aber mit
den im psychologischen Sinne schwer
psychotisch Kranken konnte er nicht
umgehen.
Dank der Unterstützung von Theodor
Meynert, Hermann Nothnagl und
Ernst von Brücke wurde Freud im
September 1885 zum Privatdozenten
ernannt. Obwohl Freud das hirnana­
tomische Modell Meynerts ablehnte,
übte dieser sein Lehrer auf die
Entstehung mancher Freud’scher
Begriffe einen starken Einfluss auf:
So lernte er bei Meynert besonders
die von Johann Friedrich Herbart
vertretenen Theorien der Psychologie
kennen. Herbart entwickelte, auf­
bauend auf Fichte, die Begriffe
der „Vorstellung“, des „Triebes“
und der „Verdrängung“. Herbart
gliederte die Einheit des Subjektes
in unterschiedliche Bereiche, die er
„Seelenatome“ nannte. Diese würden
unter die Bewusstseinsschwelle
ge­drängt und kämpften dort gegen­
einander, um erneut in das Bewusstsein
einzudringen. Im Rahmen dieser
Theorie beschrieb Herbart bereits
die wesentlichen Grundlagen des
dynamischen Unbewussten: Von
diesen ließ sich Sigmund Freud
inspirieren, um sein erstes topisches
Modell zu entwickeln. Es war
297
besonders Maria Dorer (1932), die
den Einfluss Theodor Meynerts auf
Freuds Denken aufzeigte.
Carl Mayer wurde am 9. Dezember
1862 in Wien geboren und
promovierte dort 1886. Nach einer
Ausbildung bei Hermann Nothnagl
wurde er 1887 Assistent bei Theodor
Meynert, bei dem er bis zu dessen
Tod 1892 verblieb. Die Habilitation
erfolgte 1893 in Wien.
An der Klinik Meynert sind sich
Freud und Mayer nicht begegnet:
Carl Mayer wurde Meynerts
Assistent 4 Jahre nachdem Sigmund
Freud dessen Klinik wieder verlassen
hatte. Nachdem Gabriel Anton, der
erste Vorstand der psychiatrischneurologischen
Universitätsklinik
Innsbruck, als Nachfolger Wagner
von Jaureggs 1894 nach Graz berufen
worden war (1905 übernahm Anton
nach Carl Wernickes den Lehrstuhl
und die Klinik in Halle an der Saale),
wurde Carl Mayer zum Professor für
Psychiatrie und Nervenpathologie
nach Innsbruck berufen. Als
Vorstand leitete er die psychiatrischneurologische Klinik in Innsbruck bis
in das Jahr 1936.
Carl Mayer entwickelte verschiedene
Ideen Theodor Meynerts weiter und
wurde zu einem Pionier auf dem
Gebiet der Neuroanatomie und der
pathologischen
Neurohistologie.
1915 erkannte er die Bedeutung des
„Mayer’schen
Grund-Gelenk-Re­
flexes“ als wertvolles, leicht prüfbares
Diagnostikum bei der neurologischen
Untersuchung: Der Mayer’sche
Grund-Gelenk-Reflex gehört auch
heute noch zu jedem neurologischen
Status.
Dem klinischen Syndrom parasagittal
wachsender Tumoren gab C. Mayer
den Namen „Mantelkantensyndrom“:
Diese Bezeichnung hat sich allgemein
stark eingebürgert, C. Mayer wird
jedoch als Erstbeschreiber selten
genannt.
Seine wichtigste psychiatrische Ar­
beit ist eine psychopathologische
Studie mit dem Titel „Über Halb­
traumzustände“. Bahnbrechend je­
Hinterhuber
doch bleibt die gemeinsam mit Rudolf
Meringer verfasste „psychologischlinguistische“ Monographie zum
„Ver­sprechen und Verlesen“.
Obwohl Sigmund Freud sehr häufig
den Urlaub in Tirol (besonders
in Oberbozen, in Klobenstein am
Ritten und in Trafoi, am Karerpass,
in Wolkenstein im Grödental, in
Waidbruck und in Lavarone) ver­
bracht hatte, ist eine Begegnung der
beiden großen Wissenschaftler nicht
belegt.
Carl Mayer verstarb in Innsbruck am
24. April 1936, Sigmund Freud in
London am 23. September 1939.
Rudolf Meringer, ein Vor­
denker der modernen Psy­
cholinguistik: eine kurze
Biographie
Rudolf Meringer wurde 1859 in
Wien geboren. An der Universität
Wien widmete er sich frühzeitig
der Indogermanistik, die er in einen
interdisziplinären Kontext stellte.
Nach seiner Habilitation verblieb
er als a.o. Univ.-Professor bis 1899
in Wien. In diesem Jahr wurde er
an die Universität Graz berufen.
Dort vertiefte er seine linguistischen
Studien und initiierte darüber hinaus
auch ethnologisch-ethnographische
Untersuchungen. In Verbindung mit
J.J. Mikkola, R. Much und M. Murko
gründete er die kulturhistorische
Zeitschrift
für
Sprachund
Sachforschung „Wörter und Sachen“:
In der Tat hat Rudolf Meringer nicht
nur mit seltener Selbständigkeit und
hoher Originalität die Linguistik,
sondern auch die Sachforschung
begründet. Rudolf Meringer fühlte
sich zeitlebens vom Verhalten
Sigmund Freuds ihm gegenüber
brüskiert. Er warf ihm nicht nur
fehlende Genauigkeit in der Zitierung
vor, sondern auch ein Unverständnis
gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der
linguistischen Forschungsarbeit. Aus
der großen Sammlung von Meringer
298
und Mayer analysierte Sigmund Freud
insgesamt 9 Versprecher. Aber gerade
bei diesen kamen unbewusste Motive
nicht vor. Den Sieg vieler seiner
Gedanken konnte er – wie Hermann
Güntert 1932 schrieb – „am Abend
seines Daseins noch erleben“. Rudolf
Meringer starb am 14. Februar 1931
in Kreusbach bei Graz.
Nach seinem Tod blieb R. Meringer
in der Sprachwissenschaft besonders
bei den Sprachhistorikern – vor allem
bei den Indogermanisten – durch
seinen Einsatz für Wörter und Sachen
präsent.
Im Nachruf von Güntert findet sich ein
Verzeichnis der wissenschaftlichen
Arbeiten Meringers.
Der Standpunkt der mo­
der­nen Psycholin­guistik
Die moderne Fehlerlinguistik sieht
im Bereich der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit Versprechern in
Rudolf Meringer und Carl Mayer
die Ahnherren und Begründer die­
ser Forschungsrichtung. Mehrere
spätere Abhandlungen über das Ver­
sprechen greifen in Würdigung von
Rudolf Meringer und Carl Mayer
auf Beispiele zurück, die in deren
Monographie aufgelistet sind.
Für die Psycholinguistik und die
Spra­ch­psychologie sind Versprecher
immer Ausdruck einer momentanen
Funktionsstörung des mensch­li­
chen
Sprach­produktionssystems.
Im Ra­h­m­en der kognitiven Pro­zes­
se der Sprachproduktion ge­wäh­ren
Versprecher Einblicke in Reprä­sen­
tations- und Verarbeitungs­aspekte.
Der Beitrag von Ulrich Schade,
Thomas Berg und Uwe Laubenstein
mit dem Titel „Versprecher und ihre
Reparaturen“ im „Internationalen
Handbuch der Psycholinguistik“,
2003 bei Walter de Gruyter erschienen,
bietet eine umfassende Übersicht
über die modernen Theorien der
Versprecher und deren Korrekturen.
Danach wird für Versprecher
folgendes
Klassifikationsschema
gebraucht: Vieles dabei wurde
bereits von Meringer und Mayer
vorweggenommen.
Von großen kognitionswissen­schaft­
lichen und linguistischen Studien
wissen wir, dass beim Versprechen
in aller Regel nicht ein besonders
heikles Wort verwendet wird, sondern
eines, das meist derselben Wortklasse
angehört und das dem beabsichtigten
vor allem in der Bedeutung, seltener
im Klang ähnlich ist. Die Möglichkeit
der psychischen Motivierung wird
weitgehend abgelehnt: Versprecher
sind für die Mehrzahl der Linguisten
wertvolle Fenster, die Einblicke in die
Mechanismen der Sprachproduktion
ermöglichen. Dies vertritt vor allem
Nora Wiedenmann.
Äußerst detailreich hat Nora
Wieden­mann die Versuche verschie­
dener Forscher zur Erklärung
von Versprechern auf den unter­
schiedlichen Stufen des Sprechens,
von der Intention eines Sprechers
über den Aufbau seines mentalen
Lexikons bis hin zu sprechgestischen
und neurophysiologischen Vorgängen
der Artikulationsorgane dargestellt.
Auf 237 Seiten arbeitete sie die
Forschungsliteratur zu Analyse und
Interpretation von Versprechern auf.
Ihr Werk ist die größte Studie zum
Versprechen und zur Erklärung dieses
Phänomens, es ist das Referenz- und
Standardwerk für diesen Fragen­
komplex – und wird es auch noch
lange bleiben!
Nora Wiedenmann schreibt zu
Recht, dass sich die Größe einer
Versprechersammlung auf deren Aus­
sagekraft auswirkt: Auf Versprecher,
die als äußerst selten gelten, weil sie
allenfalls in einer Größenordnung
von Promille auftreten, wird man
nur in großen Corpora durch
relevante Häufung aufmerksam. So
hat erst Stemberger (1989) auf der
Grundlage eines sehr großen Corpus
(von fast 8.000 Versprechern) von
vornherein die Kategorie der 'cross
position errors' eingeführt, d. h.
Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen.
Deskription
Größe der modifizierten
Einheit
Explikation
1. Dimension
2. Dimension
3. Dimension
Substitution
Addition
Elision/Deletion
Doppelsubstitution
Addition-Elision
Merkmal
Phonem
Phonemsequenz
Cluster
Morphem
Wortform
Antizipation
Perseveration
Permutation
Verschiebung
Kontamination
Interferenz
Kontraktion
Assoziation
Maskierung
Tabelle 1:Ein Klassifikationsschema für Versprecher
aus: Schade et al. 2003 [20]
von Versprechern, bei denen formal
initiale und finale Silbenpositionen in
Interaktion treten.
Für Nora Wiedenmann sind vie­
le Versuche zur Erklärung von
Versprechern nur zum Teil er­
folg­reich, sie hinterlassen offene
Fragen: Die restlose Erklärung
von Versprechern könnte auch
eine Klärung der Strukturen von
Sprachproduktionsmodellen
be­
wirken.
Durch
genaue
Untersuchungen
großer Anzahlen von Versprechern
war es der Psycholinguistik möglich
aufzuzeigen, in welcher Abfolge
unser Gehirn seine Äußerungen
zusammenbaut. Jedes Wort zum Bei­
spiel ist mit anderen, verwandten
Wörtern in einem Netzwerk von As­
soziationen verbunden: Am stärksten
sind nach Michael T. Motley die
Assoziationen zu Wörtern mit
verwandten Bedeutungen, schwächer
hingegen die zu ähnlich klingenden
Wörtern. Benutzen wir ein Wort, so
wird ein ganzes Feld von Wörtern mit
verwandtem Sinn (und ggf. Klang)
aktiviert. Parallel dazu vorhandene
Gedanken erregen ihr eigenes Netz
von Assoziationen.
In einer Versuchsanordnung hat
Motley (1980) drei Gruppen von
Versuchspersonen tachistoskopisch
Wortpaare ohne Sinn zum lautlosen
Lesen präsentiert, nur einige her­
vorgehobene sollten gesprochen
werden. Erst durch das (beim
Versprechen) unwillkürliche Aus­
wechseln der Anfangslaute ergaben
sich sinnvolle Worte bzw. Begriffe.
In der ersten Gruppe wurden – in
Anwesenheit einer sexuell aufreizend
gekleideten Versuchsleiterin – häu­
figer sexuelle Begriffe gelesen; die
Teilnehmer der zweiten Gruppe,
die scheinbar an Elektroden ange­
schlossen waren und die immer
wieder in ihrer Stärke variierbare
elektrische Schläge. (aber: „No
shocks were administered“; S.
139) hätten erhalten sollen, lasen,
sich bei Wortpaaren versprechend,
vermehrt Wörter, die sich auf den
elektrischen Strom bezogen. (In
der Kontrollgruppe fand sich keine
aufreizende Versuchsleiterin, auch
wurden keine Elektroden angelegt.)
Motley glaubte aufgrund seiner
Ergebnisse eine Bestätigung der
Fehlleistungstheorie von Sigmund
Freud zu erblicken. Obgleich an­ders
interpretierend, konnte der Kom­
mu­nikationsforscher Motley aber
gerade die Ansicht Meringers und
Mayers bestätigen, die bereits 1895
festgestellt hatten, dass ein Wort
aus einem Parallelgedanken so sehr
299
aktiviert werden kann, dass es sich in
die konkrete Äußerung hineinschiebt.
In Motleys experimentellen Unter­
suchungen war es der innere Zu­
stand des Probanden, der das Ver­
sprechen beeinflusste. Durch seine
Versuchsanordnung konnte Motley
somit – entgegen seiner eigenen
Hypothese – die Freud’schen Theorien
in nur geringem Umfang bestätigen.
Auch Sebastiano Timpanaro und –
auf diesen aufbauend – A. Grünbaum
kritisieren diese Studie von Motley,
da in dessen Versuchsanordnung
die provozierten Versprecher auf
bewusste Vorstellungen zurückgeführt
werden müssen, nicht aber auf
ver­drängte
Inhalte.
Grünbaum
(1988) übte darüber hinaus klare
Kritik an der Fehlleistungstheorie
Sigmund Freuds, indem er – dieser
gegenüber – für den Prozess des
Versprechens der linguistischen
Er­klärung bzw. den phonetischen
Charakteristika eindeutig den Vorzug
gab. Auch Timpanaro interpretiert
die große Mehrzahl der von Freud als
„Versprecher“ geschilderten Beispiele
als Einschiebungen gleichzeitig
bewusster Nebengedanken: Fehl­
leistun­gen dieser Art gehen ge­
wiss darauf zurück, dass etwas
unterdrückt wurde, der Sprecher
ist sich des Unterdrückten jedoch
völlig bewusst. (...) Es ist nichts, was
wirklich „verdrängt“ (vergessen)
wurde und jetzt aus den Tiefen seines
Unbewussten wieder auftaucht.
In einer weiteren experimentellen
Untersuchung testete Thelma Veness
(1962) Studentinnen, indem sie ihnen
emotional stark besetzte Wörter
neben neutralen vorgab: Bei 7.200
vorgelesenen Wörtern kamen nur 41
Versprecher vor, 20 von ihnen betrafen
emotionale, 21 neutrale Wörter. Die
Emotionalität der Wortbegriffe schien
also keinen besonderen Einfluss auf
die Versprecher zu haben.
T. Köhler und P. Simon versuchten
2002, Motleys Ergebnisse zu
replizieren und fanden in ihrer
Untersuchung von 52 Psy­cho­lo­
Hinterhuber
giestudentinnen, dass Ver­sprecher
nach Texten aggressiver und ero­
tischer Natur häufiger vorkamen als
nach der Lektüre eines neutralen
Textes. Darüber hinaus ergaben sich
nach der Lektüre des erotischen
Textes signifikant mehr erotische,
nach der Lektüre des aggressiven
mehr aggressive Versprecher. Nach
Köhler und Simon zeigen diese
Ergebnisse: – in aller Zurückhaltung
formuliert –, dass nicht allein
phonetische Eigenheiten von Wörtern
dafür verantwortlich sind, wenn man
sich bei ihnen verspricht. Es hängt
auch vom psychischen Zustand des
sich Versprechenden ab, nämlich
davon, was ihn gerade beschäftigt,
und genau dies sagt in allgemeinster
Formulierung Freuds Theorie der
Fehlleistungen aus.
Köhler und Simon wiesen aber
auch darauf hin, dass man nicht aus
jeglicher Fehlleistung sofort auf die
Wirkung von verdrängt Unbewusstem
oder gar in der Kindheit Verdrängtem
schließen kann ... Vielmehr sieht man
an ihnen oft recht augenfällig, wie
Unterdrücktes, darunter bewusst
oder willentlich beiseite Gelassenes,
sich doch noch einen Ausdruck
verschafft; die Analyse scheinbar
zufälliger Versprecher oder anderer
Fehlleistungen kann sie oft auf
(bewusstseinsfähige wie unbewusste)
psychische Inhalte zurückführen
und belegt so jenen von Freud als
Grundvoraussetzung seiner Theorie
angenommenen strengen psychischen
Determinismus.
300
kraft des Unbewussten wird im
konkreten Fall jedoch immer davon
abhängig sein, welche Auffassung
der Einzelne von den psychischen
Vorgängen und der „Topologie des
psychischen Apparates“ hat.
Danksagung
Wie so häufig hat mir mein lang­
jähriger Freund Hans Moser,
Professor für Germanistische Lin­
guistik am Institut für deutsche
Sprache, Literatur und Literaturkritik
an der Leopold-Franzens-Universität
Innsbruck, wichtige Hinweise ge­
geben. Ihm danke ich dafür sehr.
Frau Dr. Nora Wiedenmann hat meine
bescheidenen psycholinguistischen
Kenntnisse vervollständigt und mich
zunehmend für ihr Fach begeistert.
Sie hat das gesamte Manuskript
gegengelesen und mit wertvollen
Ergänzungen
bereichert.
Dafür
gebührt ihr mein aufrichtiger Dank.
Literatur
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
Resümee
Vorklänge und Nachklänge (also
Serialisierungsfehler)
stellen
– wie Meringer und Mayer bereits
erkannt hatten – immer die große
Mehrheit aller Versprecher dar,
sie enthüllen keinen verborgenen
Sinn. Bei lexikalisch-semantischen
Versprechern jedoch ist die Frage der
psychischen Motivierung zulässig.
Die Beurteilung der Determinierungs­
[6]
[7]
[8]
[9]
Bally G.: Einführung in die Psychoanalyse
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301
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[41] Zimmer D.E.: Freud’sche Fehlleistungen.
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November 1985, leicht gekürzter
Nachdruck in ZEIT, Geschichte, Nr. 1,
2006, 28-34.
o. Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber
Univ.-Klinik für Psychiatrie,
Medizinische Universität Innsbruck
[email protected]