Psychiatrie – Religion und Spiritualität Bipolare
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Psychiatrie – Religion und Spiritualität Bipolare
Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental Health und Sozialpsychiatrie Postvertriebsstück – Entgelt bezahlt – B 20695 F – Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle – Bajuwarenring 4 – D-82041 Deisenhofen – Oberhaching Wissenschaftliches Organ der pro mente austria, ÖAG, ÖGBE, ÖGKJP, ÖSG This journal is indexed in Current Contents / Science Citation Index / MEDLINE / Clinical Practice and EMBASE/Excerpta Medical Abstract Journals and PSYNDEX Psychiatrie – Religion und Spiritualität Bipolare Depression – Antidepressiva Schizophrenie – kardiovaskuläres Risiko Schizophrenie – minderjährige Angehörige Schizophrenie – Komplexitätsforschung Freud-Meringer-Mayer – Versprechen & Verlesen Werther-Effekt ISSN 0948-6259 21/4 Band 21 Nummer 4 – 2007 Übersicht Volume 21 Number 4 – 2007 Die „Gretchenfrage“ für die Psych iatrie – Der Stellenwert von Religion und Spiritualität in der Behandlung psychisch Kranker M. Seyringer, F. Friedrich, Th. Stompe, P. Frottier, B. Schrank, St. Frühwald 239 Sind Antidepressiva in der Be handlung der bipolaren Depres sion obsolet? Teil III: Gibt es Alter nativen? A. Hausmann, M. Fuchs, M. Walpoth, Ch. Hörtnagl, P. Adami, A. Conca 248 Review The “Gretchen question” for psy chiatry – the importance of religion and spirituality in psychiatric treat ment M. Seyringer, F. Friedrich, Th. Stompe, P. Frottier, B. Schrank, St. Frühwald Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental Health und Sozialpsychiatrie Are there substantial reasons for contraindicating antidepressants in bipolar disorder? Part III. The alternatives! A. Hausmann, M. Fuchs, M. Walpoth, Ch. Hörtnagl, P. Adami, A. Conca Zeitungsgründer Originalarbeit Das kardiovaskuläre Risiko schizo phrener Patienten A. Birkhofer, P. Alger, G. Schmid, H. Förstl 261 Original The cardiovascular risk of schizo phrenic patients A. Birkhofer, P. Alger, G. Schmid, H. Förstl 4 07 Franz Gestenbrand, Innsbruck Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Kornelius Kryspin-Exner † Redaktion Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastun gen und Unterstützungsbedarf M. Krautgartner, A. Unger, R. Gössler, H. Rittmannsberger, Ch. Simhandl, W. Grill, R. StelzigSchöler, D. Doby, J. Wancata 267 Psychose aus Sicht der Komplexi tätsforschung – Ein Modell zur Un tersuchung der Selbstorganisation eines dysfunktionalen Selbst K. Toifl, B. Kimmel, Ph. Mayring, H. Mörth 275 Kritischer Essay Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? Th. Niederkrotenthaler, A. Herberth, G. Sonneck 284 Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. Von der Geschichte einer Kontroverse zu den Erkenntnissen der modernen Linguistik H. Hinterhuber 291 Vorankündigung 5. Psychoedukationkongress vom 15. – 16. Februar 2008 in Wien 302 Minor relatives of schizophrenia patients: burden and needs M. Krautgartner, A. Unger, R. Gössler, H. Rittmannsberger, Ch. Simhandl, W. Grill, R. StelzigSchöler, D. Doby, J. Wancata Psychosis sight from the complexity research – a model for the exami nation of the self organisation of a dysfunctional self K. Toifl, B. Kimmel, Ph. Mayring, H. Mörth Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Ullrich Meise, Innsbruck Wissenschaftliches Organ • pro mente austria Dachverband der Sozialpsy chiatrischen Gesellschaften • Österreichische Alzheimer Gesellschaft • Österreichische Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen • Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugend psychiatrie • Österreichische Schizophreniegesellschaft Critical Essay The “Werther-effect”: Legend or reality? Th. Niederkrotenthaler, A. Herberth, G. Sonneck Sigmund Freud, Rudolf Meringer and Carl Mayer: Slips of the tongue and mis-readings. The history of a controversy H. Hinterhuber Vorankündigung 5. Psychoedukationkongress vom 15. – 16. Februar 2008 in Wien Dustri-Verlag Dr. Dustri-Verlag Dr. Karl Karl Feistle Feistle http://www.durstri.de http//:www.dustri.de ISSN 0948-6259 0948-6259 ISSN I Zeitungsgründer Franz Gerstenbrand, Innsbruck Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Kornelius Kryspin-Exner † Herausgeber Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Ullrich Meise, Innsbruck (geschäftsführend) Johannes Wancata, Wien Alex H. Bullinger, Basel Hans Förstl, München Andreas Heinz, Berlin Wulf Rössler, Zürich Christian Bancher, Horn Ernst Berger, Wien Karl Dantendorfer, Wien Max Friedrich, Wien Armand Hausmann, Innsbruck Hans Rittmannsberger, Linz Christian Simhandl, Neunkirchen Reinhold Schmidt, Graz Werner Schöny, Linz Wissenschaftlicher Beirat Josef Aldenhoff, Kiel Jules Angst, Zürich Wilfried Biebl, Innsbruck Peter Falkai, Göttingen Asmus Finzen, Basel Wolfgang Gaebel, Düsseldorf Verena Günther, Innsbruck Reinhard Haller, Frastanz Ulrich Hegerl, Leipzig Isabella Heuser, Berlin Florian Holsboer, München Christian Humpel, Innsbruck Kurt Jellinger, Wien Hans Peter Kapfhammer, Graz Siegfried Kasper, Wien Heinz Katschnig, Wien Ilse Kryspin-Exner, Wien Wolfgang Maier, Bonn Karl Mann, Mannheim Josef Marksteiner, Innsbruck Hans-Jürgen Möller, München Heidi Möller, Innsbruck Franz Müller-Spahn, Basel Thomas Penzel, Berlin Walter Pieringer, Graz Anita Riecher-Rössler, Basel Peter Riederer, Würzburg Wolfgang Rutz, Uppsala Hans-Joachim Salize, Mannheim Alois Saria, Innsbruck Norman Sartorius, Genf Heinrich Sauer, Jena Gerhard Schüssler, Innsbruck Gernot Sonneck, Wien Marianne Springer-Kremser, Wien Gabriela Stoppe, Basel Hubert Sulzenbacher, Innsbruck Hans Georg Zapotoczky, Graz Redaktionsadresse Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise, Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck, Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck, Telefon: +43-512-504-236 68, Fax: +43-512-504-23628, Email: [email protected] Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Postfach 1351, © 2007 Jörg Feistle. D-82032 München-Deisenhofen, Verlag: Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle. Tel. +49 (0) 89 61 38 61-0, Telefax +49 (0) 89 6 13 54 12 ISSN 0948-6259 Email: [email protected] Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental Health und Sozialpsychiatrie Zeitungsgründer Franz Gestenbrand, Innsbruck Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Kornelius Kryspin-Exner † Redaktion Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Ullrich Meise, Innsbruck Wissenschaftliches Organ • pro mente austria Dachverband der Sozialpsy chiatrischen Gesellschaften • Österreichische Alzheimer Gesellschaft • Österreichische Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen • Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugend psychiatrie • Österreichische Schizophreniegesellschaft Regulary indexed in Current Contents/Science Citation Index/MEDLINE/Clinical Practice and EMBASE/Excerpta Medical Abstract Journals and PSYNDEX Mit der Annahme des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung durch den Verlag geht das Verlagsrecht für alle Sprachen und Länder ein schließlich des Rechts der photomechanischen Wiedergabe oder einer sonstigen Vervielfäl tigung an den Verlag über. benutzt werden dürften. Für Angaben über Do sierungsanweisungen und Applikationsformen wird vom Verlag keine Gewähr übernommen. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Die Neuro psychiatrie erscheint vierteljährlich. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Han delsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die ser Zeitschrift berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann Bezugspreis jährlich € 76,–. Preis des Einzel heftes € 21,– zusätzlich Versandgebühr, inkl. Mehrwertsteuer. Einbanddecken sind lieferbar. Bezug durch jede Buchhandlung oder direkt beim Verlag. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um 1 Jahr, wenn nicht eine Abbestel lung bis 4 Wochen vor Jahresende erfolgt. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle http//:www.dustri.de ISSN 0948-6259 III Hinweise für AutorInnen: Sämtliche Manuskripte unterliegen der wissenschaftlichen und redaktionellen Begutachtung durch Schriftleitung und Reviewer. Allgemeines: Bitte die Texte unformatiert im Flattersatz (Ausnahme: Überschrift und Zwischenüberschriften, Hervorhebungen) und keine Trennungen verwenden! Manuskripte – verfasst im Word – sind am besten per Email an die Redaktion (Adresse siehe unten) zu übermitteln. Sie können auch elektronisch auf CD oder Diskette an die Redaktionsadresse gesandt werden. Die Zahl der Abbildungen und Tabellen sollte sich auf maximal 5 beschränken. Manuskriptgestaltung: Psychiatrie, Psychotherapie, Public Mental Health und Sozialpsychiatrie • Länge der Arbeiten: - Übersichtsarbeiten: bis ca. 50.000 Zeichen inkl. Leerzeichen - Originalarbeiten: bis ca. 35.000 Zeichen inkl. Leerzeichen - Kasuistiken, Berichte, Editorials: bis ca. 12.000 Zeichen inkl. Leerzeichen • Titelseite: (erste Manuskriptseite) - Titel der Arbeit: - Namen der Autoren (vollständiger Vorname vorangestellt) - Klinik(en) oder Institution(en), an denen die Autoren tätig sind - Anschrift des federführenden Autors (inkl. Email-Adresse) • Zusammenfassung: (zweite Manuskriptseite) - Sollte 15 Schreibmaschinenzeilen nicht übersteigen - Gliederung nach: Anliegen; Methode; Ergebnisse; Schlussfolgerungen; - Schlüsselwörter (mindestens 3) gesondert angeben • Titel und Abstract in englischer Sprache (3. Manuskriptseite) - Kann ausführlicher als die deutsche Zusammenfassung sein - Gliederung nach: Objective; Methods; Results; Conclusions - Keywords: (mindestens 3) gesondert angeben • Text: (ab 4. Manuskriptseite) Für wissenschaftliche Texte Gliederung wenn möglich in Einleitung, Material und Methode, Er gebnisse, Diskussion, evtl. Schlussfolgerungen, evtl. Danksagung, evtl. Interessenskonflikt • Literaturverzeichnis: (mit eigener Manuskriptseite beginnen) - Literaturangaben sollen auf etwas 20 grundlegende Werke und Übersichtsarbeiten be schränkt werden. Das Literaturverzeichnis soll nach Autoren alphabetisch geordnet werden und fortlaufend mit arabischen Zahlen, die in [eckige Klammern] gestellt sind, nummeriert sein. - Im Text die Verweiszahlen in [eckiger Klammer] an der entsprechenden Stelle einfügen. Beispiele: Arbeiten, die in Zeitschriften erschienen sind: [1] Rittmannsberger H., Sonnleitner W., Kölbl J., Schöny W.: Plan und Wirklichkeit in der psychiatrischen Versorgung. Ergebnisse der Linzer Wohnplatzerhebung. Neuropsychiatr 15, 5-9 (2001). (Abkürzung Neuropsychiatr) Bücher: [2] Hinterhuber H., Fleischhacker W.: Lehrbuch der Psychiatrie. Thieme, Stuttgart 1997. Beiträge in Büchern: [3] Albers M.: Kosten und Nutzen der tagesklinischen Behandlung. In: Eikelmann B., Reker T., Albers M.: Die psychiatrische Tagesklinik. Thieme, Stuttgart 1999. • Abbildungen und Tabellen: (jeweils auf eigener Manuskriptseite - Jede Abbildung und jede Tabelle sollte mit einer kurzen Legende versehen sein. - Verwendete Abkürzungen und Zeichen sollten erklärt werden. - Die Platzierung von Abbildungen und Tabellen sollte im Text durch eine Anmerkung markiert werden („etwa hier Abbildung 1 einfügen“). - Abbildungen und Grafiken sollten als separate Dateien gespeichert werden und nicht in den Text eingebunden werden! - Folgende Dateiformate können verwendet werden: Für Farb-/Graustufenabbildungen: .tiff, .jpg, (Auflösung: 300 dpi); für Grafiken/Strichabbildungen (Auflösung: 800 dpi) Zeitungsgründer Franz Gestenbrand, Innsbruck Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Kornelius Kryspin-Exner † Redaktion Hartmann Hinterhuber, Innsbruck Ullrich Meise, Innsbruck Wissenschaftliches Organ • pro mente austria Dachverband der Sozialpsy chiatrischen Gesellschaften • Österreichische Alzheimer Gesellschaft • Österreichische Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen • Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugend psychiatrie • Österreichische Schizophreniegesellschaft Ethische Aspekte: Vergewissern Sie sich bitte, dass bei allen Untersuchungen, in die Patienten involviert sind, die Grundsätze der zuständigen Ethikkommissionen oder der Deklarationen von Helsinki 1975 (1983) beachtet worden sind. Besteht ein Interessenskonflikt gemäß den Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors, muss dieser gesondert am Ende des Artikels ausgewiesen werden. Korrekturabzüge: Nach Anfertigung des Satzes erhält der verantwortliche Autor einen Fahnenabzug des Artikels elektronisch als pdf-Datei übermittelt. Die auf Druckfehler und sachliche Fehler durchgesehenen Korrekturfahnen sollten auf dem Postweg an die Verlagsadresse zurückgesandt werden. Manuskript-Einreichung: Redaktion: Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise, Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck, Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck, Telefon: +43-512-504-236 68, Fax: +43-512-504-23628, Email: [email protected] Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle http//:www.dustri.de ISSN 0948-6259 IV Übersicht Review Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 239–247 Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie Der Stellenwert von Religion und Spiritualität in der Behandlung psychisch Kranker Michaela-Elena Seyringer1, Fabian Friedrich1, Thomas Stompe2, Patrick Frottier3, Beate Schrank2, 4 und Stefan Frühwald5 1 Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie 2 Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie Justizanstalt Mittersteig, Wien Ludwig-Boltzmann-Institut für Sozialpsychiatrie, Wien 5 Psychosozialer Dienst, Caritas St. Pölten 3 4 Schlüsselwörter: Religion – Spiritualität – Glaube – psychische Gesundheit – religiöses Coping Keywords: religion – spirituality – faith – mental health – religious coping Die „Gretchenfrage“ für die Psy chiatrie: der Stellenwert von Religion und Spiritualität in der Behandlung psychisch Kranker Anliegen: Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Einstellung von PatientInnen sowie PsychiaterInnen zum Thema Religion und Spiritualität in der Behandlung psychischer Erkrankungen zu geben sowie bestehende Konzepte zur Integration dieser beiden Dimensionen in die Therapie darzustellen. Methodik: Es wurde eine elektronische Literatursuche in den Datenbanken Medline, PubMed, Psyndex, Embase sowie mit den Suchmaschinen Scopus und Google © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 Scholar durchgeführt. Ergebnisse: Im Vergleich zu PsychiaterInnen benennen PatientInnen bis zu doppelt so häufig die Religion als wichtigen Faktor. Der Fokus bezüglich einer Integration dieser beiden Dimensionen in den klinischen Alltag liegt im Bereich Ausbildung, Konsultation sowie erweiterter Anamneseerhebung. Weiters wurden „religiöses Coping“, sowie die überwiegend positiven Wirkfaktoren von Religion/Spiritualität auf die psychische Gesundheit aufgezeigt. Schlussfolgerungen: Das als „religiosity gap“ bezeichnete Span nungsfeld zwischen spirituellen Konzepten von PatientInnen und behandelnden PsychiaterInnen sollte in Zukunft vermehrt fokussiert werden. Die Gesamtheit einer Person impliziert eine physische, emotionale, soziale sowie eine spirituelle Di mension. Das Ignorieren einer dieser Aspekte seitens professioneller Helfer birgt die Gefahr, den Ge nesungsprozess von PatientInnen zu verzögern. The “Gretchen question” for psy chiatry – the importance of religion and spirituality in psychiatric treat ment Objective: The subject of religion and spirituality has attracted little attention in psychiatric research so far. The aim of the study was to give an overview of the attitudes of patients as well as psychiatrists towards regarding the importance of religion and spirituality in the treatment of mental illness. Furthermore we tried to give a description of established ideas involving both dimensions into the treatment of psychiatric patients. Methods: We performed a search for relevant literature using the electronic databases Medline, PubMed, Psyn dex and Embase. In addition we used the internet search engines Scopus and Google Scholar. Results: Patients mention religion twice as often as an important factor in their lives as compared to psychiatrists. Consecutively, particular emphasis should be paid to the integration of both dimensions into clinical treatment. Additionally, the education of mental health professionals, consultation and the enrolment of religious or spiritual needs of patients when taking their medical history are essential factors. Religious Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald coping and positive and negative components in matters of mental health are highlighted. Conclusions: More attention should be paid to the “religiosity gap” between patients and their psychiatrists. The entirety of a human being includes a physical, emotional, social as well as a spiritual dimension. Mental health professionals ignoring one of these aspects may delay recovery. MARGARETE: Nun sag, wie hast du's mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon. FAUST: Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut; Für meine Lieben ließ' ich Leib und Blut, Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. MARGARETE: Das ist nicht recht, man muß dran glauben. FAUST: Muß man? MARGARETE: Ach! wenn ich etwas auf dich konnte! Du ehrst auch nicht die heil'gen Sakramente. FAUST: Ich ehre sie. MARGARETE: Doch ohne Verlan gen. Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen. Glaubst du an Gott? FAUST: Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub an Gott? Magst Priester oder Weise fragen, Und ihre Antwort scheint nur Spott Über den Frager zu sein. MARGARETE: So glaubst du nicht? FAUST: Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht! Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub ihn! Wer empfinden, Und sich unterwinden Zu sagen: Ich glaub ihn nicht! [43]. Begrifflichkeiten zu Reli gion und Spiritualität Einleitend soll erwähnt werden, dass die Begriffe Religion und Spiritualität keineswegs idente und nicht voneinander abzugrenzende Begriffe sind. Zu beiden Begriffen gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen und oftmals werden diese Termini auch austauschbar verwendet [28]. Als Religion bezeichnet man eine Viel zahl ganz unterschiedlicher kultureller Phänomene, die menschliches Verhalten, Denkweisen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen. Religiöse Sinngebungssysteme gehen über naturalistische Welterklärungen hin aus, indem sie diesen Erfahrungen transzendente oder aber auch immanente Ursachen zuschreiben. Eine einheitliche Definition des Begriffes existiert nicht. Zahlreiche Religionsbegriffe sind jedoch abhängig von ganz bestimmten historischen Religionen [36]. Im angloamerikanischen Raum wird weiters auch zwischen Religiosität („religiosity“) und Religiös-sein („reli giousness“) - als mehr intrinsisch ge sehene Dimension - unterschieden [1,3]. Im Lexikon der Psychologie wird für den Begriff „Spiritualität“ folgende Definition gegeben: „eine vom Glauben getragene geistige Orientierung und Lebensform, die im Gegensatz zur vorherrschenden materialistisch-mechanistischenWelt sicht steht“ [2]. Spiritualität kann als eine sinnstiftende Einstellung gesehen werden, welche unter anderem Religiosität beinhalten kann, spirituelle Konzepte können jedoch auch außerhalb von Religion angetroffen werden. Spiritualität hat transzendente Selbstreflexion als elementaren Bestandteil und kann somit religiöses Denken einschließen, muss sich jedoch keineswegs auf dieses beschränken [1]. Spiritualität ist ein global anerkanntes Konzept und beschreibt eine grundsätzliche Suche nach unterschiedlichen Wegen zur Sinnfindung. Unter Spiritualität wird generell eine transzendente Beziehung zwischen einem Individuum und einer höheren Existenz beschrieben – eine Qualität die über eine spezifische religiöse Zugehörigkeit hinausgeht. Es sei erwähnt, dass Personen sich als spirituell jedoch nicht religiös und vice versa deklarieren. Ein Beispiel sich religiös zu verhalten ohne spirituell zu sein ist zum Beispiel, wenn jemand ein Gebet rein formelhaft abhandelt oder nur aus dem Grunde an einem 240 Begräbnis teilnimmt, weil dies sozial gerne gesehen ist. In diesem Falle wird Religiosität nicht um ihrer selbst Willen praktiziert, sondern um andere Zwecke zu erreichen [55, 56]. Umgekehrt ist es möglich, sich als spirituell zu definieren ohne spezifisch religiös zu sein. Dies liegt dann vor, wenn jemand meditiert, weil ihm dies Freude bereitet und weniger anfällig für Stresssituationen macht [56]. Beiden Begriffen gemeinsam ist die Hinwendung zu einem über individuellen, sinnstiftenden System, einer höheren Macht, auf der Suche nach Sinn und dem Finden von Antworten auf existentielle Fragen, wobei Deismus als Glaube an eine der Welt abgewandte höhere Macht, dessen Regeln der Lebensführung nicht veranschaulicht werden, son dern in der Natur angelegt sind, definiert werden kann, und Theismus als Glaube an die Existenz eines der Welt zugewandten personalen Gottes, der Sinn im Leben sowie moralische Prinzipien offenbart, verstanden werden kann [54]. Im Gegensatz zur Spiritualität be schreibt der Terminus „Religion“ eher die Zugehörigkeit zu einer organisierten Glaubensgemeinschaft oder religiösen Institution. Eine Abgrenzung der beiden Termini scheint jedoch nicht immer möglich zu sein bzw. wurden beide Begriffe in den für diese Übersichtsarbeit herangezogenen Forschungsarbeiten nicht immer in differenzierter Weise verwendet. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Spiritualität als eine erweiterte Definition zum Begriff der Religiosität gesehen. Spannungsfeld Psychiatrie und Religion/Spiritualität Dem Themengebiet der Religion sowie der Spiritualität wurde bisher im Forschungsfeld der Psychiatrie nur wenig Aufmerksamkeit zuteil [8, 9,10]. Im klinischen Alltag – am Beispiel der psychiatrischen Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie Anamneseerhebung – spielt das Thema der religiösen oder spirituellen Ausrichtung des Patienten eine nur sehr geringe bis gänzlich ver nachlässigte Rolle. Die spirituelle Dimension, als ein wesentlicher Aspekt der menschlichen Natur, wurde bisher größtenteils von der Psychiatrie ignoriert oder sogar pathologisiert [5]. Das Spannungsfeld von Religion und Psychiatrie hat unterschiedlichste Phasen durchlaufen. Im Mittelalter galt eine psychische Erkrankung oft als Strafe Gottes, andererseits nahmen sich in dieser Zeit vor allem religiöse Gemeinschaften wie Klöster oder Orden um psychisch Kranke an, lange bevor staatlich beziehungsweise ärztlich geführte Hilfeleistungen etabliert wurden [51]. Allerdings kam es ab der Renaissance zu grausamen Hexenverfolgungen, denen viele psychisch erkrankte Frauen zum Opfer fielen. Eine weitere nicht unwesentliche Rolle bei dieser konfliktreichen Entwicklung spielten die Werke Freuds, welcher postulierte, dass jeglicher religiöser Glaube eine Form psychischer Krankheit, einen Massenwahn oder eine infantile Regression darstelle. Spirituelle Erfahrungen wurden als „universelle obsessive Neurose“, Regression des Ego`s, eine Psychose, pathologisches Denken oder Zeichen emotionaler Unausgewogenheit interpretiert [6,7]. Ausführlichere Forschungsarbeiten beschäftigten sich in der Folge eher mit einem religionspsychopathologischen An satz wie zum Beispiel G. Hole dies bei Depressiven tat [52]. Derzeit rückt das „Empowerment“ der PatientInnen vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Behandlung sieht vor, sich auf innere Stärken der PatientInnen zu konzentrieren wobei spirituelle Ressourcen inkludiert werden könn ten. So haben beispielsweise „Quality of life-Skalen“ in aller Regel einen eigenen Bereich „spiritual well-being/ 241 satisfaction“, zum Teil wird dieser Bereich noch genauer aufgeschlüsselt, wodurch die Wichtigkeit der sub jektiven Betrachtungsweise von Religiosität unterstrichen wird. Durch das Erkennen bzw. durch Rücksichtnahme auf die spirituelle sowie religiöse Dimension kann der Arzt ein holistisches Be handlungskonzept anbieten. Auch im Rahmen der „Recovery“-Forschung wurde die „Spiritualität“ als mög liche bedeutsame Komponente im Genesungsprozess identifiziert [11,16]. Vor der Publikation der vierten Ausgabe des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Dis orders“ (DSM-IV), schlugen Lukoff, Lu und Turner vor, dieses um eine weitere diagnostische Komponente namens „religiöse oder spirituelle Probleme“ zu erweitern, wobei hier vor allem Bereiche wie zum Beispiel Religionsverlust oder Konvertierung berücksichtigt werden sollten. Um der Tendenz von psychiatrischem Personal, diese Komponenten zu vernachlässigen, entgegenzuwirken wurde diese diagnostische Kategorie somit auch in die vierte Auflage aufgenommen [47]. Im ICD-10 – Internationale statistische Klas sifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO – wurden die genannten Begriffe nicht berücksichtigt. Durch die weltweit verstärkte Mi grationsbewegung kommt es in un serer Gesellschaft zu vermehrtem Kontakt mit verschiedenen Tradi tionen anderer Kulturkreise, wo bei die detaillierte Erfassung des individuellen Stellenwertes von Spiritualität und Religion wichtige Aufschlüsse für die Behandlung geben kann. Für den Bereich der transkulturellen Psychiatrie ergeben sich mit der Berücksichtigung spiri tueller und religiöser Konzepte wichtige Optionen bei der Betreuung und Behandlung von Flüchtlingen und ImmigrantInnen [29]. Ziel dieser Arbeit ist ein Überblick über die Einstellung von Patien tenInnen und PsychiaterInnen zum Thema Religion und Spiritualität in der Behandlung psychischer Erkrankungen. Es wird auf den oftmals deutlichen Unterschied bezüglich der Wichtigkeit, die PatientInnen und behandelnde Professionelle diesem Thema beimessen, eingegangen. Für die gelungene Arzt-PatientBeziehung vermag dieses Thema eine wichtige, jedoch allzu oft auch vernachlässigte Rolle spielen. Es soll explizit erwähnt werden, dass „religionspsychopathologische“ Phänomene beziehungsweise Mani festationen „religiöser Symptome“ im Zusammenhang mit klinischen Störungsbildern nicht Inhalt dieser Arbeit sind. Methode Es wurde eine elektronische Litera tursuche nach publizierten Studien in englischer und deutscher Sprache durchgeführt. Inkludiert wurden relevante Studien die zwischen 1985 und März 2007 publiziert wurden. Als Suchbegriffe wurden „religion“, „spirituality“, „faith“, „religious coping“ in Kombination mit „mental health“ und „psychiatry“ verwendet. Für deutschsprachige Arbeiten wurden zusätzlich die Begriffe „Religion“, „Glaube“, „Spiritualität“ in Kombination mit „Psychiatrie“ und „psychische Gesundheit“ verwendet. Für die Literaturrecherche wurden folgende elektronische Datenbanken herangezogen: Med line, PubMed, Psyndex, Embase, sowie die Suchmaschinen Scopus und Google Scholar. Zusätzlich wurden die Literaturangaben aller Übersichtsarbeiten nach nicht in Datenbanken befindlichen Publikationen durchsucht. Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald Ergebnisse Nach Durchführung der Literatur recherche wurden 89 publizierte Studien als relevant für diese Arbeit erachtet und berücksichtigt. Laut Mohr [46] und Koenig et al [48] beschäftigten sich in etwa 350 Studien mit dem Zusammenhang von Religion und Gesundheit. Aus diesen Studien geht hervor, dass religiöse Menschen körperlich gesünder sind, einen gesünderen Lebensstil pflegen und weniger oft medizinische Dienste in Anspruch nehmen [8,10]. Weitere Studienergebnisse belegen, dass religiöse Menschen psychisch stabiler sind und erfolgreicher mit Stress umgehen als nichtreligiöse Menschen. Dies dürfte in einem Land Literaturquelle 242 ältere positiven als zu negativen religiö sen Copingmechanismen tendieren [8,9,20, siehe Tabelle 1]. Zusammenhänge zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit In der Literatur findet sich zur Frage der positiven Aspekte an erstgenannter Stelle der Wirkfaktor „soziale Unterstützung“. Die Zuge hörigkeit zu einer Interessens – und Wertegemeinschaft kann eine Quelle effizienter psychosozialer Unterstützung darstellen. Glaube und religiöse Denkmuster können den Umgang mit Stress und belastenden Life-Events positiv beeinflussen. Als Beispiel für einen negativen Wirkfaktor sei das Einnehmen einer passiven Haltung von PatientInnen genannt, welche auf das Eingreifen Gottes zur Verbesserung der Lebens besonderen Ausmaß Personen gelten [49]. für Es stellt sich die Frage, welche Faktoren es im Speziellen sind, die Wirkmechanismen in der Beziehung von Religion und psychischer Stabilität darstellen. WissenschaftlicheArbeiten zum Thema „religiöses Coping“, welches sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann, eröffnen ein viel versprechendes Forschungsfeld. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass religiöse PatientInnen deutlich mehr zu Relig./Spiritualität von Relig./Spiritualität von PatientInnen in PsychiaterInnen in % n % 27 n Spirit.als pos. Faktor % UK Neeleman et al (1993) [12] 69,4 52 USA Corrigan et al (2003) [13] 63,5 1824 k.A. k.A. Neuseeland Mitchell et al (2002) [14] 78 147 k.A. 69 USA Tepper et al (2001) [15] 80 406 k.A. 80 Australien D´Souza et al (2002) [9] 79 79 k.A. 67 Schweiz Mohr et al (2006) [17] 71 115 k.A. 71 Kanada Baetz et al (2004) [18] 71 157 54 Kanada Baetz et al (2002) [19] 59 88 k.A. 33 Wales Kirov et al (1998) [20] 69,4 52 k.A. 61,2 Australien Payman (2000) [37] k.A. USA Kroll et al (1989) [16] 95 52 k.A. k.A. USA Fitchett et al (1997) [34] 80 51 k.A. 72 USA Bergin et al (1991) [35] 72 n.b. 29 25 231 Pat. erlebt Relig./ 1204 207 n.b. k.A. k.A. k.A. k.A. Tabelle 1: Zustimmung in %: Religiosität/Spiritualität spielt eine Rolle im Leben - Vergleich psychiatrische Patient Innen/ PsychiaterInnen; Anzahl der PatientInnen in Prozent welche Religion/Spiritualität als positiven Faktor erleben (k.A=keine Angabe, n.b.=nicht bekannt). Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie 243 Positive Wirkfaktoren Negative Wirkfaktoren (1) Positives Selbstwertgefühl, Hoffnung, Lebensfreude und gesteigerter Selbstrespekt [30,31] (1) Angst vor Suizid wird durch Glaube an ein Leben nach dem Tod vermindert [17] (2) Sinngebung der Krankheit (zB. Krankheit als irdische Prüfung, um spirituell zu wachsen) [33] (2) Verstärkte Schuld, -und Schamgefühle [30] (3) Verleugnen von Problemen [30] (4) Passives Warten auf Gott, der die Situation wieder unter Kontrolle bringt [33] (5) Durch übermäßig Beschäftigung mit Religion gesteigerte Erwartung an einen selbst und Isolation von anderen (nichtreligiösen) Menschen [46] (6) Unflexible, starre Überzeugungen, die alternative Denkweisen ausschließen [30,31] (3) Reduktion der Positiv- und Negativsymptomatik [17] (4) Verbesserte soziale Kontakte [30,33] (5) Schutz vor Suizid(versuchen) [24] (6) Schutz vor Substanzabusus [33] (7) Religiöse Praktiken (Gebete, Meditation, etc.) zur Reduktion von Angst, -und Stresssymptomen [17] (8) Bibliotherapie (pos. kognitive und/oder emotionale Veränderung durch das Lesen religiöser/spiritueller Texte) [17,33] (9) Verhaltensregulierung: Verhaltensweisen die zu Vergebungsbereitschaft, Nächstenliebe etc. auffordern [17,30,33,44] (10) Kognitive Orientierung [30] Tabelle 2:Positive und negative Wirkfaktoren von Religion/Spiritualität und psychischer Gesundheit situation warten und so teils die Eigenverantwortung untergraben. Weitere in der Literatur beschriebene Wirkfaktoren werden in Tabelle 2 aufgezeigt. „Religiosity gap“ – Religion und Spiritualität aus Sicht der PatientInnen und Psy chiaterInnen Mehreren Umfragen zufolge sind PsychiaterInnen im Allgemeinen weniger gläubig oder spirituell veranlagt als der Rest der Allge meinbevölkerung [z.B.12,18]. Auch im Vergleich zu psychiatrischen PatientInnen wird diese in der Literatur meist als „religiosity gap“ bezeichnete Kluft zwischen der Religiosität der behandelnden PsychiaterInnen und ihrer PatientInnen deutlich [z.B. 5, 6, 9, 12, 20, 23]. Neeleman et al. [12] haben 231 PsychiaterInnen bezüglich ihrer religiösen Ausrichtung befragt und nur 27% bezeichneten sich selbst als religiöse Menschen. Trotz dem gaben über 90% der befragten ÄrztInnen an, dass sie es für wichtig erachten die Religiosität ihrer PatientInnen bei der Anamnese so wie im therapeutischen Prozess zu berücksichtigen. Dieses Ergebnis stellt einen deutlichen Unterschied zu den gleichzeitig befragten Pa tientInnen (n=52) dar: In der Patientengruppe beschrieb sich eine mehr als doppelte so große Anzahl (69,4%) der Befragten als religiös bzw. gab an, dass Religion eine tragende Rolle in ihrem Leben spielt. Auch andere Autoren kommen in ihren Studien zu ähnlichen Ergebnissen des unterschiedlichen Stellenwertes von Religiosität/Spiritualität im Vergleich von PsychiaterInnen zu PatientInnen [12,18,35] (siehe auch Tabelle 1). Baetz et al. [18] berichten in ihrer kanadischen Arbeit, dass 53% der befragten PatientInnen es für wichtig erachteten, ihren Psychiater zum Thema Religion und Spiritualität zu informieren. Des Weiteren berichtet Baetz, dass für 24% beziehungsweise 27% der PatientInnen die religiöse/spirituelle Ausrichtung des behandelnden Arztes eine entscheidende Rolle bei der Wahl des Psychiaters spielte [18,41]. Bezüglich des Bedürfnisses von PatientInnen und PsychiaterInnen, Religion und Spiritualität in Behand lungskonzepte zu integrieren, zei gen Baetz et al [18], dass dies beide Gruppen zu gleichen Teilen befürworten (weitere Daten siehe Tabelle 3). Fitchett et al [34] be richten in ihrer Studie, dass 72% der psychiatrischen PatientInnen Reli gion als eine wichtige Quelle der Unterstützung ansahen, 88% dieses Samples gaben wiederum an während Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald 244 Land Literaturquelle Bedürfnis PatientInnen Bedürfnis PsychiaterInnen Kanada Baetz et al (2004) [18] 47% (aus n=157) 47% (aus n=1204). UK Neeleman et al (1993) [12] k.A. 92% (aus n=231) Australien D´Souza et al (2002) [9] 69% (aus n=79) k.A. USA Fitchett et al(1997) [34] 88% (aus n=51) k.A. Kanada Baetz et al (2002) [41] k.A. 80% (aus n=42) Tabelle 3: Überblick Bedürfnisse von PatientInnen und PsychiaterInnen, Religion und Spiritualität in Behandlungskon zepte zu integrieren; Zustimmung in % (k.A = keine Angabe). ihres stationären Aufenthaltes drei oder mehr religiöse Bedürfnisse (Unterstützung, gemeinsames Ge bet, ua.) erfahren zu haben. 60% berichteten, keine Unterstützung durch religiöse Professionelle er halten zu haben. Obwohl neuerdings nachweisbare Veränderungen der Gehirnfunktion sowie die Beein flussung der Psychopathologie durch spirituelle Erfahrungen wissen schaftlich belegt wurden, hatte dies kaum Einfluss auf die Tätigkeit der PsychiaterInnen [5]. Als die häufigsten Gründe für das Negieren des religiösen/spirituellen Aspektes bei der Erhebung der psychiatrischen Anamnese wurden folgende Faktoren in einer Studie angegeben: es wäre „unpassend“ und „der Patient sei nicht daran interessiert“ [18]. Konzepte zur Integration von Religion/Spiritualität in das psychiatrische Ver sorgungssystem Ausbildung Die American Psychiatric Association erkannte eine Notwendigkeit für PsychiaterInnen, sich ein Verständnis über grundlegende Aspekte von Spiritualität und Religion anzueignen. Es folgten akkordierte Änderungen im Bereich der Ausbildungscurricula mit neuen Ausbildungsmodulen [APA 1995, Larson et al 1997]. Un ter anderem sollte die Fähigkeit zur Unterscheidung spiritueller Erfahrungen von pathologischen Phänomenen verbessert werden, so wie auch das therapeutische Inter ventionsinstrumentarium erweitert werden, aber auch ein breiteres Verständnis für Phänomene auf individueller, spiritueller aber auch kultureller Systemebene geschaffen werden. Grabovac et al [23] präsentieren in ihrer Arbeit ein mögliches Aus bildungsmodul für das Thema „Spiritualität und Religion in der Psychiatrie“, welches spezifisch für psychiatrische Ausbildungscurricula in Kanada entwickelt wurde. Inhalt dieses aus 10 Unterrichtseinheiten bestehenden Moduls reichen von Informationen über die großen Weltreligionen bis hin zu Fragen der transpersonellen Psychologie beziehungsweise religiösen und spirituellen Aspekten in der Psy chotherapie. Auch weitere Autoren sehen die Notwendigkeit spezifische Ausbildungsprogramme in diesem Bereich zu etablieren [10, 24, 25,38]. Religion und Spiritualität in der klinischen Praxis ÄrztInnen beziehungsweise Psy chiaterInnen sollten Interesse und Respekt gegenüber der Religion oder dem Interesse an Spiritualität ihrer PatientenInnen zeigen. Einige Autoren [26,50] kommen in ihren Arbeiten zu dem Schluss, dass die Erfassung vorhandener spiritueller Konzepte im Rahmen der Anamnese und deren Berücksichtigung in der Krankengeschichte einige Vorteile birgt. So ermöglicht dies zum Beispiel ein breiteres Er fassen von Wertesystemen, ein Erkennen des Stellenwertes von Gesundheit beziehungsweise Krank heit, bis hin zur Identifizierung persönlicher Erwartungen und in dividueller Ressourcen, die für den Genesungsprozess mitberück sichtigt werden können. Ziel einer solchen Exploration sollte eine urteilsfreie Analyse von Werten, allgemeinen Glaubensgrundsätzen und kulturellen Aspekten im Leben des Patienten sein. Daraus können eine verbesserte Kommunikation zwischen Patient und Arzt entstehen, und gewonnene Informationen in das Therapiekonzept mit einfließen. Nach D´Souza et al [8] schätzen Pa tientInnen die Aufmerksamkeit und Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie Sensibilität der Behandelnden zu diesem Thema. Koenig [26] hält fest, dass es nicht bei jedem Patienten von Vorteil ist, eine Anamnese in diesem Bereich durchzuführen, dass aber die Erhebung selbst auch schon eine starke Intervention darstellen kann. Es sollte vermieden werden, Anamnesen über Spiritualität bei nicht religiösen Menschen durchzuführen, mit Pa tientInnen über Glaubensfragen zu diskutieren, PatientInnen be stimmte Glaubenspraktiken näher bringen zu wollen beziehungsweise therapeutische Schritte zu setzen, die nicht patienten-zentriert sind. Klein et al [30] bringen in ihrer Übersichtsarbeit acht Punkte, die im Rahmen der klinischen Tätigkeit berücksichtigt werden können. Diese reichen von der Exploration religiöser Wertsysteme und der Religiosität als Ressource hin zu spezifischem Supervisionsbedarf und etwaigen Beschränkungen im Rahmen der Behandlung. In einer Stellungnahme des American College of Physicians [27] werden vier Fragen vorgeschlagen, die ÄrztInnen im Rahmen der Anamnese stellen können: 1) Spielt Glaube (Religion, Spiri tualität) eine wichtige Rolle für Sie im Rahmen der Erkrankung? 2) War Glaube zu einem anderen Zeitpunkt Ihres Lebens wichtig? 3) Haben Sie jemanden, mit dem Sie über religiöse Angelegenheiten sprechen können? 4) Möchten Sie mit jemandem reli giöse Angelegenheiten erörtern? Das Einfließen religiöser Kompo nenten in die Psychotherapie mag für religiöse PatientInnen einen positiv verstärkenden Effekt haben [42]. Dies wurde von Propst et al [45] durch das Einbringen religiöser Imaginationen in verhaltenstherapeutische Settings bei religiösen PatientInnen im Sinne positiver Therapieeffekte bestätigt. Auch Bonelli [53] sieht das behutsame und wertschätzende Einbeziehen 245 der Religiosität des Patienten in die Psychotherapie als ratsam. Im deutschsprachigen Raum etablieren sich neben bereits jahrzehntelang in gemeindepsychiatrischer Versor gung engagierten kirchlichen Trä gern (in Österreich z.B. Caritas St. Pölten) [57] allmählich auch medizinische Einrichtungen, die spezifische religiöse Inhalte in das Behandlungskonzept mit einbeziehen [39, 40]. Anders präsentiert sich die derzeitige Situation in den USA, wo „pastoral psychotherapy“, „spiritual counselling“ oder „religious coun selling“ bereits weitgehend akzep tierte Behandlungsmodule darstellen [30]. Zusammenarbeit von Psychia terInnen und religiösen Profes sionellen Fitchett et al [34] geben an, dass 65% aller psychiatrischen PatientInnen das Bedürfnis äußerten von einem Geistlichen Besuch zu erhalten beziehungsweise mit diesem ge meinsam zu beten. Nach Baetz et al [41] sowie Neeleman et al [12] bejahen 31% beziehungsweise 37% der PsychiaterInnen die Frage, ob sie den PatientInnen die zusätzliche Unterstützung durch einen Geist lichen oder religiösen Berater in die Behandlung vorschlagen. Jedoch bei der Frage nach der konkreten Initialisierung und Anbahnung des genannten Kontaktes gaben nur knapp die Hälfte (14% und 13%) der behandelnden ÄrztInnen an, den PatientInnen zur Realisierung des Vorschlages auch aktive Hilfestellung geleistet zu haben. Geistliche stellen zunehmend einen Teil mulidisziplinärer Teams in der psychiatrischen Versorgung dar [42]. Als Beispiel sei die Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien angeführt, wo PatientInnen die Möglichkeit haben, bei Bedarf mit einem Geistlichen über spirituelle Angelegenheiten zu sprechen. Es gibt die Möglichkeit an Messen in der Klinik teilzunehmen, sowie auch Einzelgespräche mit dem Geistlichen, in diesem Fall einem ausgebildeten Psychotherapeuten, zu führen. Laut Dein [42] ist es für PatientInnen oftmals hilfreich mit Geistlichen die häufig gestellte Frage „weshalb werde gerade ich krank?“ aus religiöser Sicht zu erörtern, beziehungsweise können diese bei der Sinnfrage in Bezug auf psychisches Leid beistehen und Hoffnung stärken oder neu entfachen. Religiöse Pro fessionelle können in allen Stadien, von der Diagnosestellung bis hin zur Planung der Entlassung, als Unterstützung hinzugezogen werden. Dein [42] betont jedoch auch die Notwendigkeit einer Schulung der Geistlichen, um die Fähigkeit zu erlangen, psychiatrische Probleme zu erkennen und im gegebenen Fall den PatientInnen Richtlinien zu geben, in wieweit es sich um eine „gesunde“ Form religiösen Glaubens handelt. Gleichermaßen erwähnt er die Wichtigkeit der Sensibilisierung psychiatrischen Personals für Probleme von PatientInnen, welche spiritueller Natur sind. Diskussion Laut einer statistischen Umfrage der europäischen Kommission im Jahr 2005 [4] haben vier von fünf EU-Bürgern einen religiösen oder spirituellen Glauben, 52% der EUBürger und 54% der Österreicher glauben an Gott und 27% bezieh ungsweise 34% an eine höhere spirituelle Macht/Sinn. Lediglich 18% der EU-Bürger und nur 8% der Österreicher gaben demgegenüber an, weder einen Gottes-, noch andersartig spirituellen Glauben zu haben. In einem Statement der World Psychiatric Association (=WPA) [10] wird festgehalten, dass 2/3 der Weltbevölkerung Spiritualität und Seyringer, Friedrich, Stompe, Frottier, Schrank, Frühwald Religion als essentielle Komponenten im Bereich der psychischen Ge sundheit ansehen. Gefordert wird in der Stellungnahme der WPA, den Gesundheitsbegriff, derzeit definiert als physisches, mentales und soziales Wohlbefinden, um den Begriff der Spiritualität zu erweitern. Auch sollen die verschiedenen Konzepte von Spiritualität und Religion und daraus resultierende Behandlungsansätze vermehrt in der Ausbildung von PsychiaterInnen berücksichtig werden. Aufgrund der derzeit spärlichen wissenschaftlichen Datenlage sieht die WPA auch die Notwendigkeit weiterer For schungstätigkeiten. Diese Notwen digkeit wird auch von vielen weiteren Autoren in ihren Arbeiten betont [8,19,30,32]. Viele ungeklärte Fragen und Ansatzpunkte eröffnen sich aufgrund der derzeitigen wissenschaftlichen Datenlage. So beziehen sich die Vielzahl der Studien auf den Terminus Religiosität ohne die spirituelle Komponente explizit zu berücksichtigen. Dies führt zu der weiteren Frage, ob nicht auch ein “spirituality gap“ zwi schen Behandelnden und Patient Innen besteht. Auch sind wenig evidenzbasierte Daten bezüglich der Ursachen aber auch der Aus wirkungen des „religiosity gap“ auf PsychiaterInnen und PatientInnen bis dato verfügbar. Weiters ist festzuhalten, dass die vorhandenen Daten vor allem im angloamerikanischen Raum erhoben wurden, Ergebnisse aus anderen Regionen beziehungsweise Kulturkreisen wären notwendig, um das Gesamtbild zu komplettieren. Auch die Frage nach einem Unterschied im Stellenwert von Spiritualität und Religiosität bei PsychiaterInnen und PatietInnen im urbanen im Vergleich zu ländlichen Regionen und eventuelle geschlechtsspezifische Merkmale könnten von Interesse sein. Trotz der angeführten Evidenz, die religiöse beziehungsweise spirituelle Komponente im Rahmen der Therapie zu berücksichtigen, kann und soll diese jedoch auf keinen Fall die psychiatrische Behandlung ersetzen [8]. Dem als „religiosity gap“ bezeichneten Spannungsfeld zwischen spirituellen Konzepten von PatientInnen und behandelnden PsychiaterInnen sollte in Zukunft vermehrt Aufmerksamkeit zu Teil werden. Das Ignorieren einer der Aspekte der Entität eines Menschseins seitens professioneller Helfer kann die Gefühlswelt des Patienten lückenhaft verstanden zurücklassen und den Genesungsprozess verzögern [48]. „Unter all meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre“. (C.G. Jung, 1930) 246 [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16] Literatur [1] Möller A., Reimann S.: „Spiritualität“ und Befindlichkeit – subjektive Kontingenz als medizinpsychologischer und psychia trischer Forschungsgegenstand. Fortschr Neurol Psychiat 71, 609-616 (2003). [2] Wenninger G. Lexikon der Psychologie. 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Armand Hausmann1, 2, Martin Fuchs1, Michaela Walpoth1, Christine Hörtnagl1,2, Petra Adami3 und Andreas Conca3 1 Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck 2 Tagesklinik für Affektive Erkrankungen, Innsbruck Landeskrankenhaus Rankweil, Abteilung für Psychiatrie I, Rankweil 3 Schlüsselwörter: Bipolare Depression – Antidepressiva – Wirksamkeit Keywords: bipolar depression – antidepressants – efficacy Sind Antidepressiva in der Behand lung der bipolaren Depression ob solet? Teil III. Die Alternativen! Nachdem die Autoren im ersten und zweiten Teil auf die verschie denen Erscheinungsformen depres siver Symptome im Rahmen der Bipolaren Erkrankung, sowie auf die Indikation von Antidepressiva (AD) bei den verschiedenen Subtypen und dem Einsatz von AD entsprechend des zeitlichen Verlaufs der Bipolaren Erkrankung eingegangen sind, wird im dritten Teil der Einsatz alternati ver Pharmaka vertieft. Hierzu wird die neueste Literatur zum Thema Wirksamkeit der Antidepressiva, sowie ein Direktvergleich der Wirk grösse, zwischen den verschiedenen sich anbietenden alternativen Sub stanzgruppen wie Antipsychotika oder Stimmungsstabilisatoren (SST) durch geführt. Dass die Wirksamkeit von © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 Antidepressiva in der Akuttherapie der bipolaren Depression nach wie vor umstritten ist liegt daran, dass aufgrund mangelnder oder unzu länglicher Daten unterschiedliche Interpretationen dieser Datenlage möglich sind. Obschon es hierfür wenig wissenschaftliche Evidenz gibt, scheint die Dringlichkeit der Indikation von Antidepressiva posi tiv mit dem Schweregrad der depres siven Symptomatik zu korrelieren. Bei leicht bis mittelgradig depressi ven Patienten gibt es Alternativen, in Form von Stimmungsstabilisatoren oder Antipsychotika, obschon nach Nutzen-Risiko-Abwägung auch Anti depressiva verschrieben werden kön nen. Aus Sicherheitsgründen sollten diese immer in Kombination mit ei nem Antimanikum verschrieben wer den. Obwohl wissenschaftlich nicht belegbar, soll bei Patienten mit ge mischten Episoden oder rapid cycling Verläufen aus Sicherheitsgründen auf die Gabe von Antidepressiva verzich tet werden. alternatives to antidepressant medi cation in bipolar depression. In doing so, they review the newest literature on efficacy of antidepressants and compare effect size of the different alternatives like antipsychotics and moodstabilizers to those of antide pressants. Efficacy of antidepressants in bipolar depression is still discussed controversially, as scientific evidence, is as far as available, weak. Severity of depressive symptoms should de fine, wether or not antidepressants in comparison to alternative agents like antipsychotics or moodstabilizers should be implemented. According to a balanced analysis of pro’s and con’s antidepressants may be used in mi nor to medium depressive syndroms as well. For clinical safety reasons, and not due to scientific evidence, an antimanic agent should be imple mented in addition to an antidepres sant. Because of clinical wisdom, in patients with mixed episodes or rapid cycling antidepressants should be avoided. Are there substantial reasons for contraindicating antidepressants in bipolar disorder? Part III. The alternatives! After having described depressive symptoms along the course and dif ferent subtypes of bipolar disorder the authors focus on pharmacological Einleitung Im Gegensatz zu den weltweit eher einheitlichen Standards- oder Empfehlungen in der Behandlung der bipolaren Manie werden die Behandlungsstrategien depressiver Episoden bei Patienten mit bipolarer Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen? Störung kontroversiell diskutiert. Gestützt wird diese Behauptung durch die Tatsache, dass die US Food and Drug Administration (FDA) neun Therapien gegen Manie (Lithium, Chlorpromazin, Valproat, Olanzapin, Risperidon, Quetiapin, Aripiprazol, Ziprasidon und Carbamazepin) und nur zwei Therapien gegen bipolare Depression (Quetiapin und Olanzapin-Fluoxetin) zugelassen hat. Als Konsequenz beruht die Therapie der bipolaren Depression auf off-label Anwendung von Antidepressiva (AD) oder nicht pharmakologischen Strategien. Der Anerkennung von AD in der Therapie der bipolaren Depression stehen methodenspezifische Unzu länglichkeiten, wie der Mangel an Daten, sowie unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten unzu reichender wissenschaftlicher Evi denz entgegen. Genährt wird die Empfehlungs-Abstinenz durch die Befürchtung, dass AD den Verlauf der Erkrankung negativ beeinflussen könnten. Dies betrifft das Risiko eines Umschwungs („Switch“) in eine manische Episode sowie das Risiko einer Akzeleration der Episoden im Sinne eines Rapid-Cycling-Verlaufes. Da wir wissen, dass das spontane Switchen von der Depression in die Manie mit einem schlechten Langzeitergebnis verbunden ist [1] ist dieses Problem von großer klinischer Bedeutung. Die Befürworter der Anwendung von AD argumentieren, dass uns derzeit keine einzige plazebokontrollierte MonotherapieStudie zur Verfügung steht, welche statistisch signifikante Unterschiede in den Switch-Raten zeigen kann. Hinzu kommt das Phänomen eines Publikationsbias, welcher dadurch entsteht, dass Nicht-Switch-Raten nicht gemessen werden und so ein Übergewicht der berichteten SwitchRaten besteht. Die Konsequenz ist ein Selektionsbias in den publizierten Reviews und Metaanalysen, mit selektierten Studien welche Switch-Raten als unerwünschte Nebenwirkungen berichten, wie bei spielsweise bei Peet et al. [2] Switches entwickeln sich nach einer Response oder Remission, sind also keine eventunabhängigen Variablen. NonResponder können nicht switchen. Der korrekte Zugang zu Switchraten ist also nicht, wie oft beschrieben der prozentuelle Anteil am gesamten in die Studie aufgenommenen Sample, sondern der Anteil an Switches bei den Respondern oder Remittern dieser Studie. Insgesamt scheint keine Differenz zwischen Plazebo und AD zu bestehen, obschon es einen Trend zu höheren Raten unter AD zu geben scheint. Im Gegensatz dazu behaupten man che Autoren, dass ein Switch unab hängig von einer AD-Gabe bei circa einem Drittel bipolarer Patienten zum krankheits-immanentem Verlauf ge hört und besonders bei Vorhandensein gewisser patientenspezifischer Fak toren mit prädiktivem Charakter auftritt. Es sind dies Komorbiditäten wie Substanzabhängigkeit, eine Ge schichte von AD-induzierter Manie oder Hypomanie, früher Beginn der Erkrankung, psychotische Symptome in der Anamnese, aber auch genetische Faktoren. [3] Im ersten und zweiten Teil [4,5] sind die Autoren auf die verschiedenen Erscheinungsformen depressiver Symptome im Rahmen der Bipolaren Erkrankung, sowie auf die Indikation und Verschreibungsdauer von AD bei den verschiedenen Subtypen bei Bipolaren Erkrankung eingegangen. In diesem 3. und letzten Teil soll die antidepressive Wirksamkeit von AD in der Therapie der bipolaren im Vergleich zur unipolaren Depression und die Möglichkeit alternativer me dikamentöser Therapien differenziert beschrieben werden. 249 Die antidepressive Wirk samkeit von AD in der Therapie der Bipolaren De pression Gijsman und Kollegen [6] veröf fentlichten eine Metaanalayse mit 12 randomisierten Studien aus der Cochrane Data Base, Medline, Mbase, und Psyindex (n=1088). Als Outcome Kriterien galten die Ansprechrate der Patienten sowie die switch-Rate in die Manie. Fünf dieser Studien verglichen AD mit Plazebo. 75% der Patientengesamtzahl er hielten zusätzlich einen Stim mungsstabilisator (STT) oder ein atypisches Antipsychotikum. Die Ergebnisse weisen auf eine überlege ne Wirksamkeit der AD (TZA, SSRI, MAOI, SDaNARI, NARI) gegenüber Plazebo hin. Das Problem bei dieser Metaanalyse besteht, aufgrund un terschiedlicher Studiendesigns, in einer Nicht-Vergleichbarkeit der ein geschlossenen Studien. Da die Frage der Wirksamkeit auch durch diese Metaanalyse nicht vollständig geklärt werden konnte wurde kürzlich eine Studie zu diesem Thema vorgestellt. Dabei wurde erstmalig im Rahmen des STEP-BD-Programms (Systematic Treatment Enhancement Program for Bipolar Disorder) eine doppel blinde Multizenter-Studie (zwischen 1999-2005) mit depressiven BP I (circa 70%) + BP II (circa 30%)Patienten (n=230) über 26 Wochen durchgeführt. [7] Die Patienten wur den in zwei Gruppen randomisiert. Die 1. Gruppe (N = 179) wurde mit einem Antidepressivum (Paroxetin bis max. 40 mg oder Bupropion bis max. 375 mg) plus einem SST (Lithium oder Carbamazepin oder Valproat) behandelt. Die 2. Gruppe (N=187) hingegen mit einem SST plus Plazebo. Es erfolgte eine stra tefizierte Aufnahme der Patienten je nach Präferenz des AD. Das Primäre Outcome-Kriterium war eine Euthymie, über 8 Wochen, gemessen mittels SUM-D, eine im Rahmen des Programms bereits implementierte Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca Depressions Rating Skala. Der se kundäre Outcome-Parameter war ein ev. Switch in die Manie. Das Resultat dieser Studie überraschte, da nach 26 Wochen kein Gruppenunterschied bezüglich antidepressiver Effektivität feststellbar war. Scheinbar sind AD bei diesen Patienten in der Therapie der Depression durch mangeln de Wirksamkeit bedingt, obso let gewesen. Schaut man sich das Studiendesign allerdings näher an, so gibt es diesbezüglich doch einige Kritikpunkte. Nicht besonders depres sive ambulante Patienten, mit einem Effektivitäts-Scores ~1/3 der maxi mal möglichen Summe (Sum-D ran giert von 0- max 22 Punkte) wurden nach Entscheidung der Behandler in diese Studie aufgenommen. Bei die ser Studie handelt es sich auch nicht um eine Studie mit Effektnachweis (efficacy), sondern um eine Effektivitäts-Studie (effectiveness) in welcher komorbide Patienten ein geschlossen wurden (60% life- time Angst und Substanz-Missbrauch/ Abhängigkeit). Diese komorbiden Patienten könnten beispielsweise von einer SST-Monotherapie profitiert haben. Zusätzlich ist das Fehlen ei ner “reinen” Plazebo-Gruppe anzu merken. So konnte die antidepressive Wirksamkeit einer SST Monotherapie nicht etabliert werden. Der primäre Outcome-Parameter ist ein unübli cher (nicht-etablierter), da es sich um den Prozentsatz der Patienten in beiden Gruppen welche 8 konseku tive Wochen eine Euthymie zeigten, handelt. Nicht berichtet wurde der Zeitpunkt des Wirkungbeginns. Dies konnte irgendwann zwischen 1. und 16. Woche passiert sein. Damit wurde der Wahrscheinlichkeit einer sponta nen Remission breiteren Raum einge räumt. Während der Studie wurde ein Protokoll-Wechsel durchgeführt. Ab 2004 waren SST mit potentieller anti depressiver Wirksamkeit (Quetiapin) ebenso wie adjunktive Psychotherapie erlaubt. Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Studie aufgrund verschiedendtser Einflußvariablen nicht den Beweis erbracht hat, dass 250 Diagramm 1: Effektivität einer adjunktiven AD-Gabe (Sachs et al. N E J Medicine 2007) [7] Doppelblind randomisierte Studie mit 2 Armen über 24 Wochen SST + AD (n=179) vs. SST + Plazebo (n=187). Outcome Kriterium: Anhaltende Genesung = Euthymie über 8 Wochen Legende: SST = Stimmungsstabilisator; AD = Antidepressivum AD in der Therapie der Bipolaren Depression wirklich obsolet sind. Insofern sind die eher europäisch dominierten Guidelines [8] und die amerikanischen Richtlinien [9] gleich. Sie unterscheiden sich bezüglich der Indikation von AD bei leichten und mittelgradig schweren depressiven Episoden. [5] Sowohl die klinische Praxis als auch die wenigen verfügbaren Daten wie beispielsweise die Metaanalyse von Gjisman et al. [6] lassen vermuten, dass AD bei der unipolaren und auch bei der so genannten bipolaren Depression wirksam sind. Welche Alternativen zur Ga be von AD in der Therapie der bipolaren Depression gibt es? Antidepressiva sind zumindest als Monotherapie in ihrem Einsatz limitiert; aber gäbe es denn Alter nativen? Antidepressive Effekte wurden auch mit einigen Anti konvulsiva [10], sowie mit einigen Antipsychotika der zweiten Gene ration [11] nachgewiesen. Stimmungsstabilisatoren als Therapie der akuten Depression Lithium Bis vor kurzem waren insgesamt neun doppelblinde Studien von Lithium versus Plazebo publiziert. Es han delt sich um eine kleine Zahl frühe Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen? rer Studien, als Lithium in den späten 40igern des letzten Jahrhunderts in die Therapie der bipolaren Erkrankung implementiert wurde. [12,13] So sind diese Arbeiten methodologisch angreifbar, da acht von diesen neun Studien auf einem cross-over Design beruhen. Lithium wurde, wie es ein cross-over Design verlangt, rasch abgesetzt und könnte so für einen früheren Rückfall in die Manie oder Depression verantwortlich sein. Diese Rückfälle wären dann auch als Lithiumabsetzphänomene und nicht nur als Wirkungslosigkeit der Folge-Substanzen zu interpretieren. So hätte Lithium eine viel schwäche re akute antidepressive Wirksamkeit als Monotherapie in der bipola ren Depressein (BPD), als frühere Studien suggerierten. [14] Auch neuere Studien zeigen keine gute akute antidepressive Wirksamkeit als Monotherapie. [15] Nur eine Metaanalyse hat genügend Patienten, um die Wirksamkeit von Lithium in der Akuttherapie depressi ver Zustände zu belegen. [16] Diese Daten beziehen sich auch auf bipo lar depressive Patienten. Hier war Lithium dem Plazebo in der akuten antidepressiven Wirksamkeit über legen. Lithium hat allerdings eine Wirklatenz von 6 – 8 Wochen [17], so dass einem akuten therapeutischen Einsatz Grenzen gesetzt sind. In der BP-Erkrankung scheint es aber ein Subgruppen-spezifisches Ansprechen zu geben. Nur die klas sischen BP-I Patienten sollen auf Lithium gut anzusprechen. Nach Kukopulos et al. [18] und Maj et al. [19] sind BP-II-Patienten so gar therapieresistent auf Lithium. Patienten mit gemischten Episoden, rapid cycler-Patienten (RC) oder Patienten mit Drogenabusus profitie ren wahrscheinlich weniger von einer Lithiumtherapie. [20,21] Wenn Lithium als Monotherapie nur eine moderate antidepressive Wirkung zeigt, so ist dies bei addon Modalitäten völlig anders. [22] Unbestritten ist die Wirksamkeit von Lithium in der Augmentationstherapie mit Antidepressiva. Hierfür besteht eine robuste Evidenz bei Patien ten mit unipolarer als auch mit bipolarer therapie- [23] und nicht therapieresistenter Depression. [24] Nach dem ersten Schritt der Optimierung der bestehenden SSTTherapie (oft Lithium) propagieren auch amerikanische Guidelines die Kombination eines Antidepressivums mit dem SST. [25,11,26] Derzeit gibt es unseres Wissens keine publizierten kontrollierten Daten, welche die antidepressive Wirkung des Lithiums mit der Wirkung von Antidepressiva der neueren Generation direkt vergleichen. [27,28] Während Lithium diese nachgewie sene antidepressiv augmentieren de Wirkung hat, [29] unterdrücken CBZ, VPS vorwiegend nur die KippPhänomene und tragen zur RezidivProphylaxe bei. [10] Valproat (VPS) Im Jahr 1995 wurde Valproat in der Therapie der Manie in den U.S.A. zugelassen. Seitdem hat es Lithium als Stimmungsstabilisator in der Mono(bei ca. einem Drittel der Patienten), und in der Kombinationstherapie mit anderen SST, abgelöst. Sämtliche Studien wurden streng randomisiert, prospektiv, Plazebokontrolliert durchgeführt, so dass diese weniger heterogen sind als Lithiumstudien. Die Literatur der akuten antidepressiven Wirkung des VPS ist spärlicher. Im Vergleich zu manischen Syndromen sprechen unipolare wie bipolare depressive Syndrome auf eine VPS-Therapie weniger gut an. [30,31,32,33] Wenn Valproat und Lithium die gleich guten Responsraten bei manischen Patienten ohne jegliche Symptome einer Depression zeigen, so scheinen Patienten mit gemischter Manie, besser auf Valproat als auf Lithium zu reagieren. [34,35,36] Bisher wurden zwei Plazebokon trollierte, doppelblinde Unter suchungen zu VPS bei BPD durchgeführt. 251 In einer dieser Studien wurden 43 Patienten dabei über 8 Wochen behandelt. In der Analyse zeigten dabei 43% in der mit VPS behandelten Patienten im Vergleich zu 27% mit Plazebo behandelten Patienten eine Remission. Für eine statistisch relevante Aussage war jedoch die Anzahl der Patienten in dieser explorativen Studie zu gering. [37] In ihrer Metaanalyse berichteten McElroy und Keck [38] dass nur 30% der Patienten mit BPD eine signifikante antidepressive Response auf Valproat erlangten. Allerdings hatte die Mehrzahl dieser Patienten auch andere Therapeutika ohne Erfolg erhalten. Eine rezente randomisierte acht Wochen Studie mit ambulanten depressiven BP-I Patienten (n=25) fand eine signifikant größere Verbesserung in der Gruppe der Patienten mit Valproat im Vergleich zu Plazebo, obwohl die Remissionsraten (HAM-D ≤ 8) in beiden Gruppen sehr niedrig waren 31 versus 8%. [39] Eine offene Studie über zwölf Wochen mit medikationsnaiven deutlich depressiven BP IIPatienten (n=19) [40] zeigte eine hohe antidepressive Wirksamkeit der Valproat-Monotherapie als Einmaldosis (mittlere Dosis: 882 mg). Zwölf (63%) der Patienten waren Responder in der HAMD. Die mittlere Krankheitsdauer der Patienten war mit 15,4 Jahren sehr lang, und die mittlere Dauer der aktuellen depressiven Episode betrug 11,8 Wochen. Dies wiederum würde eine gute antidepressive Wirksamkeit von Valproat belegen. Die wissenschaftliche Aussagekraft dieser Studie ist aufgrund der kleinen Patientenanzahl allerdings deutlich limitiert. Lamotrigin (LTG) Der grösste derzeit zur Verfügung stehende Teil der LTG-Literatur be Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca zieht sich auf die Untersuchung von LTG in der Erhaltungstherapie. Für Lamotrigin in der Therapie der aku ten BPD gibt es eine randomisierte kontrollierte Studie. Calabrese et al. [41] untersuchten die antidepressive Wirksamkeit von LTG bei BP-I-Patienten in einer doppelblind, plazebo-kontrollierten Studie über sieben Wochen. Es wurden 195 Patienten, die an einer bipola ren Major Depression (HAMD-17 ≥ 18) litten, zu zwei verschiedenen Dosierungsarmen 50 mg (n=64) vs 200 mg (n=63) LTG sowie dem PlazeboArm (n=65) randomisiert. Die mitt lere Veränderung über die Zeit des HAMD-17 war in dieser Studie pri märes Outcome-Kriterium. Mehrere sekundäre Outcome-Kriterien, wie der mittlere Rückgang der MADRS Gesamtscores, der mittlere Rückgang HAMD-17 item 1 (= depressive Stimmung), sowie des CGI wur den untersucht. Die intent-to-treat Analyse zeigte, dass Patienten welche Lamotrigin erhielten einen größeren mittleren Rückgang der HAMD-17 Gesamtscores zeigten als jene, wel che Plazebo erhielten. Allerdings war der Gruppenunterschied, au ßer einem vorhandenen Trend in Richtung Signifikanz, welcher die Gabe des Lamotrigin mit 200 mg/ d bevorzugte, nicht signifikant. Allerdings erreichten einige sekun däre Outcome-Kriterien Signifikanz. So war der mittlere Rückgang des MADRS Gesamtscores (-13,3 vs. -7,8 / p<0,05) für die 200 mg Lamotrigingruppe signifikant größer im Vergleich zur Plazebogruppe. Die mittlere Reduktion des HAMD-1Items erreichte Signifikanz in beiden Lamotrigin-Gruppen im Vergleich zu Plazebo. Die HAMD-17 Analyse förderte keinen Gruppenunterschied zu Tage (p<0,1). Auch die mittlere Reduktion des HAMD-31 erbrachte keinen Gruppenunterschied der LTG 200mg/d-Gruppe (p =0,86) sowie der 50 mg/d-Gruppe (p=0,72) versus Plazebo. Diese Resultate, obschon streng genommen, als negativ zu in terpretieren, wurden als Beweis der antidepressiven Wirksamkeit des LTG in der BPD angesehen. Da aufgrund der Gefahr eines Rash Lamotrigin re lativ langsam aufdosiert werden muss [42] ist der Wirkungseintritt nicht ein besonders rascher und der Einsatz dieser Substanz in der Behandlung der akuten Depression eingeschränkt. [43] Ein weiterer methodologischer Mangel besteht darin, dass nur BPI Patienten mit meistens milder bis moderater depressiver Symptomatik in die Studie eingeschlossen wurden. Ein kontrollierter direkter Vergleich von Lamotrigin und Antidepressiva ist in der Literatur zu finden. Patienten mit „care as usual“ aus dem STEPBD Programm mit BPD erhielten ein Antidepressivum (n=152), Lamotrigin (n=57), oder ein Antidepressivum plus Lamotrigin (n=41), oder Plazebo (n=103) in Kombination mit ei nem Stimmungsstabilisator. Leider wurde die Dignität der depressi ven Symptomatik bei Aufnahme nicht berichtet. Die Responseraten in der Depressionssubskala der Clinical Monitoring Form (CMF) erbrachte keinen Unterschied bei denjenigen Patienten, die nur ei nen Stimmungsstabilisator einnah men, im Vergleich zu jenen mit SST plus AD, oder jenen mit SST plus Lamotrigin oder jenen mit SST plus AD und Lamotrigin. Die Zeit bis zur Genesung war bei allen Patientengruppen gleich. [44] Die Texas Implementation of Medical Algoritms (TIMA)-Guidelines [28] raten davon ab, Lamotrigin in Kombination mit einem AD als Switch-Prophylaxe einzusetzen, da LTG eine sehr limitierte antimani sche Wirksamkeit zeigt. Ob nicht Lamotrigin, da affektiv wirksam, nicht selber Hypomanien induziert, ist derzeit fraglich. Allerdings gibt es Fallberichte von durch LTG indu zierte Hypomanien. [45] Dennoch ist LTG ein Antikonvulsivum (nicht der einzige SST) welches zumindest be stimmte antidepressive Eigenschaften sowohl akut [41] als auch in der 252 Erhaltung [46] in Plazebo kontrol lierten Studien zeigte. [12] Carbamazepin (CBZ) Akute antidepressive Effekte der CBZ-Behandlung sind weniger gut dokumentiert als die antimanische Wirksamkeit. In einer kontrollierten doppel-blinden Studie mit kleiner Fallzahl (N=35) beobachteten Post et al. [46] eine mäßige antidepres sive Wirksamkeit bei etwa einem Drittel der behandelten depressiven Patienten. Die zweite kontrollierte Studie [47] evaluierte die antide pressive Wirkung von Carbamazepin als Monotherapie bei 13 bipolar-de pressiven Patienten. Fünf der 13 Patienten zeigten eine signifikante Besserung in den Depressionsratings. Insgesamt wurden allerdings we niger als 100 Patienten in kontrol lierten Studien untersucht und der antidepressive Effekt ist eher mode rat. [48,49] Eine offene Studie [50] fand eine Remission bei 17 von 27 Patienten. Es gibt aber Evidenz, dass die Kombination mit Lithium potenter ist als die Carbamazepin Monotherapie (n=15) für die akute BPD. [48] Carbamazepin kann eine Alternative für Patienten sein, welche Gewichtsprobleme haben, oder wel che nicht auf andere Medikamente ansprechen. [51] Zusammenfassend kann auch nicht von CBZ als ausrei chend gut wirksame Substanz in der akuten Therapie der BPD gesprochen werden. Neuere Antiepileptika Für die neueren Antiepileptika Ga bapentin, Pregabalin, Topiramat, konnten keine antidepressiven Effekte nachgewiesen werden. [52] Zusammenfassend ist somit die Da tenlage zur monotherapeutischen Depressionsbehandlung mit VPS ähnlich wie für CBZ zu dürftig, um hierfür eine klinische Empfehlung Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen? aussprechen zu können. LTG und in einem geringeren Ausmaße auch Lithium können bei leicht bis mittelgradigen depressiven Episoden klinisch von Bedeutung sein. Antimanika wie Lithium, VPS oder CBZ, nicht aber LTG können zum Antidepressivum hinzutherapiert werden, um Kipp-Phänomene zu verhindern und um die Stabilisierung der Erkrankung zu begünstigen. Die akute antidepressive Wirksamkeit von Kombi nationstherapien (SST+AD oder SST+SST) Wenn ein SST als Monotherapie nicht die gleiche antidepressive Potenz als ein Antidepressivum aufweist, stellt sich die Frage nach Steigerung der antidepressiven Wirksamkeit durch Zugabe eines zweiten SST. Oder kann die antidepressive Wirksamkeit durch eine AD/SST Kombination verbessert werden? Die Metaanalyse von Gjisman et al. [6] leistet keinen Beitrag zu diesen brennenden Fragen. Allerdings sprechen sich die meisten Studien für eine additive Wirksamkeit von SST+SST oder SST + AD aus. [53,54,55] Nur eine findet negative Resultate. [44] Schon 1997 wurde eine offene Studie mit nur wenigen Patienten (n=22) zur Behandlung der therapierefraktären BPD veröffentlicht.[53] Patienten, welche nicht auf die Gabe von Valproat plus einem zweiten SST oder auf die Gabe von Valproat + AD ansprachen wurden mittels Valproat in der Kombination mit LTG über 6 Wochen therapiert. Schon nach 4 Wochen verbesserten sich 72% der Patienten deutlich. Young und Mitarbeiter [54] rando misierten 27 Patienten zu entwe der einer sechs wöchigen Kom binationstherapie eines SST (Lithium oder Valproat) mit Paroxetin (n=11), oder zu einer Lithium Valproat Kombinationstherapie (n=16). Depres sive Patienten (HAM-D ≥ 16 über zwei Wochen) welche stabil auf einen der beiden Stimmungsstabilisatoren waren, konnten in die Studie auf genommen werden. Sämtliche Patienten welche Paroxetin erhiel ten beendigten die Studie, wobei 6 der 16 Patienten, welche die SST Kombinationstherapie erhielten, vorzeitig aussschieden. Die HAMD-Gesamtscores zeigten eine signi fikante mittlere Reduktion für beide Gruppen über die Zeit, wobei es keine signifikanten Gruppenunterschiede gab. Die Autoren schlossen, dass bei de Therapien gleich gute Wirksamkeit mit leichtem Überwiegen der Paroxetin-Gruppe zeigten, dass aber die Paroxetin add-on-Therapie in der Praxis auch besser sein könn te, da es weniger drop-outs gab. Allerdings ist aufgrund der kleinen Fallzahl und des add-on Designs die Wahrscheinlichkeit einen GruppenUnterschied zu sehen, sehr gering. Die Datenlage klinischer Studien lässt keine evidenzbasierte Aussage zur Kombination zweier oder sogar mehrerer STT zu. [56]. In einer doppel-blind, randomisierten, Plazebokontrollierten, MultizenterStudie (n=117 / HAMD-21 ≥ 15) [55] wurde die Wirksamkeit sowie die Sicherheit von Paroxetin versus Imipramin als eine add-on Therapie zu einer bestehenden Lithiumgabe in der akuten BPD untersucht. Nach ei ner zehnwöchigen Behandlungsphase wurden die beiden Medikamente ab gesetzt, wobei die Lithiumtherapie bestehen blieb. In der Intent-to-treat Analyse waren der mittlere Rückgang der HAMD-21-Gesamtscores über die Zeit zwischen der Paroxetin und der Imipamingruppe nicht signifi kant unterschiedlich im Vergleich zur Plazebogruppe, welche Lithium als Monotherapie erhielt. Erst in einer sekundären Analyse konn te ein Vorteil für die antidepressive Augmentationstherapie festgestellt werden, allerdings nur bei jenen Patienten welche subtherapeutische Dosen von Lithium erhielten (≤0,8 mEq/L). Die Autoren bemerkten 253 dass ihre Studie nur eine 70% ige Aussagekraft hat, um eine 5 Punkte Differenz in der HAM-D zu unter scheiden. Zu beachten sind neben der Wirksamkeit weiterhin auch die spezifischen Nebenwirkungs- und Sicherheitsprofile der einzelnen STT und ihre Auswirkung auf die Compliance. [57,58] In Teil 2 dieses Artikels [5] gingen die Autoren auf die Anwendung von AD bei verschiedenen Subtypen der Erkrankung, wie gemischte Epi soden und Rapid cycling Verläufe, ein. Obschon es keine schlüssige wissenschaftliche Evidenz hierfür gibt, wurde von der Verabreichung bei diesen Verläufen abgeraten. Nun liegt erstmals eine kontrollierte randomisierte Studie aus dem STEP-BD-Programm vor, welche die Gabe von AD plus SST bei gemischten Symptomen und dys phorischer Manie untersuchte. [59] Die Autoren verglichen klinische Resultate bei depressiven Patienten mit ≥ 2 simultanen manischen Symptomen (=335) welche einen SST plus ein AD, mit jenen welche nur eine SST Monotherapie erhielten. Die adjunktive Gabe von AD war assoziiert mit erhöhten ManieScores nach 3 Monaten. Allerdings verzögerte noch verlängerte eine AD-Gabe die Zeit zur Genesung, definiert als das Vorhandensein von ≤ als 2 affektiven Symptomen auf der Clinical Monitoring Form über 8 Wochen. [60] Zusammenfassend gibt es keine wis senschaftliche Evidenz, über eine verbesserte aber auch keine über eine verschlechterte Wirksamkeit der Kombination eines AD mit ei nem SST im Vergleich zu einer SSTMonotherapie. Es gehört zu den psychiatrischen Mythen, dass die Antiepileptika-Augmentation zu AD zu einem schnelleren Wirkungseintritt führt. [61] Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca Antipsychotika als Thera pie der akuten BPD Nachdem hauptsächlich Studien in der Behandlung der akuten Manie publiziert wurden, werden neuere Antipsychotika seit kurzem, in der Behandlung der akuten Depression untersucht. Dass Antipsychotika gute antimanische Akut-Effekte zei gen ist bekannt. [62] Klassische Neuroleptika standen im Ruf depres sive Symptome zu induzieren. Neuere Antipsychotika scheinen hingegen in der Akuttherapie antidepressiv zu wirken. Dies wissen wir aus Studien bei Patienten mit Schizophrenie. [63] Viele bisher publizierte Studien zur antidepressiven Wirksamkeit der AP sind allerdings mit methodischen Mängeln behaftet. Die antidepressi ve Wirksamkeit von AP wurde meist in Studien welche zur Erfassung an timanischer Effekte designt wurden, als sekundäres aber nicht als pri märes outcome-Kriterien erhoben. [64,65,66] Ergebnisse, die auf sekun dären Outcome-Kriterien beruhen, beinhalten eine hohe Zufallswahrsc heinlichkeit und können statistisch nicht ident wie Ergebnisse aus pri mären Outcome-Kriterien bewertet werden. Auch wurde die antidepres sive Wirksamkeit der Antipsychotika kaum im direkten Vergleich zu einem AD untersucht. Bei Olanzapin wur de der direkte Vergleich „gescheut“. [67] So ist eine Aussage über die antidepressive Potenz der AP an den Referenzsubstanzen AD oft nur indirekt möglich. Überdies ist die antidepressive Wirksamkeit der AP kein Klasseneffekt, die Daten zeigen nämlich, dass gute, klinisch relevan te, antidepressive Effekte auf wenige Produkte beschränkt sind. Eine weite re methodenkritische Anmerkung be steht darin, dass mit zwei Ausnahmen [11,68] meistens nur klassische BPI-Patienten eingeschlossen wurden, so dass man kaum eine Aussage zur antidepressiven Wirksamkeit von AP in der Therapie der BP-II-Depression treffen kann. Es gibt aber mittlerweile auch dop pel-blind randomisierte Studien wel che den akuten antidepressiven Effekt als primäres Outcome-Kriterium für mindestens zwei Atypika (Olanzapin und Quetiapin) und den prophylak tischen Effekt für mindestens eine Substanz (Olanzapin) unterstützen. Olanzapin Eine Industrie gesponserte Studie einer Olanzapin-Fluoxetin-Kombination (OFC) (n=38) und Olanzapin Mono therapie (n=351) versus Plazebo bei depressiven BP-I-Patienten er brachte eine signifikant größere mittlere Reduktion der MADRS bei OFC und Olanzapin Monotherapie im Vergleich zu Plazebo.[67] Allerdings war die Effektstärke bei der Olanzapin Monotherapie mit 0,32 vs. OFC mit 0,68 relativ gering. Überdies waren die Effekte in den Items Schlaf und Appetit grösser als in den Core Kriterien für Stimmung. Somit besteht die Möglichkeit, dass die Nebenwirkung und nicht die an tidepressive Wirkung des Olanzapin, für die gemessene Verbesserung ver antwortlich ist. Aus dieser Arbeit folgert, dass Olanzapin akut antide pressiv wirkt, dass die antidepressi ve Potenz von OFC vs. Olanzapin Monotherapie ab der vierten Woche eine signifikante Verbesserung der MADRS im Gruppenvergleich zeigte (p<0,02). Da es keinen ADMonotherapie-Arm gab kann ein di rekter Vergleich nicht gezogen wer den. In einer weiteren Analyse die ser Daten, konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die OFC-Kombination im Vergleich zu OLZ-Monothearapie und Plazebo kein grösseres Risiko be züglich eines switchens in die Manie darstellt. [69] Olanzapin wurde auch gegen die anti depressive Wirksamkeit von Stim mungsstabilisatoren wie Valproat und Lithium untersucht. Die Wirksamkeit des Olanzapin wurde akut über 3 Wochen als Monotherapie gegen Valproat bei 254 bipolar manischen und gemischten Episoden verglichen. So wurde in der randomisierten, Doppelblindstudie (n = 248) bei akut bipolar manischen oder gemischt bipolaren Patienten, welche die HAMD-D als sekundäres outcome-Kriterium evaluierte kein Gruppenunterschied in der mittleren HAM-D-Reduktion in der Olanzapingruppe (5-20 mg/d n= 125 ) im Vergleich zu Valproat (500-2500 mg/d; n= 123) gefunden (-4,92±7,22 für OL vs. -3,46±6,40 für VLP / p=0,31). [65] Patienten mit einer gemischten oder manischen Episode, welche inadäquat auf Lithium oder Valproat respondierten wurden über 6 Wochen zu Olanzapin + SST (Valproat oder Lithium) oder Plazebo + SST-Monotherapie randomisiert. Die Olanzapin add-on-Therapie reduzierte die HAMD-21 signifikant mehr als die Plazebo-add-onTherapie (4,98 vs. 0,89 / p<0,001). Zur Methodologie ist zu sagen, dass nicht zu erwarten war, dass Patienten, welche nur partiell auf Lithium oder Valproat reagiert hatten, während des Verlaufs eine Verbesserung ihrer Symptomatik erfahren würden. Von einer add-on Therapie mit Olanzapin war daher von vornherein eine bessere Wirkung zu erwarten als bei denjenigen Patienten, welche bisher nicht respondiert hatten. [70] Zwei Studien unterstützen die Auf fassung, dass Olanzapin in der Be handlung von gemischt bipolaren Störungen effektiv ist. [71,72] Olanzapin (5-20 mg/d) wurde in Kombination mit Lithium oder Valproat vs. Plazebo in dieser Indikation getestet. Es handelt sich um eine doppel-blind randomisierte Studie über sechs Wochen. Die Patienten (n=85) hatten eine signifikante bessere mittlere HAMD-Reduktion über die Zeit, wenn sie Olanzapin als add-on-Therapie (zu Lithium oder Valproat) erhielten im Vergleich zu Plazebo (zu Lithium oder Valproat) (p<0,001). [71] Gepoolte Daten von zwei ver gleichbaren doppel-blind randomi Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen? sierten Studien (n=246) (Olanzapin 5-20 mg/d) vs. Plazebo über drei Wochen in der akuten dysphorischen Manie (BPI) wurden post-hoc analysiert und es konnten 28% der Patienten als an einer gemischten Episode leidend identifiziert werden (Olanzapin n=33 / Plazebo=35). Die mit Olanzapin behandelten Patienten hatten innerhalb einer Woche eine signifikante Verbesserung in der YMRS (p≤0,011) und der HAMD (p≤0,025).[72] Eine weitere post-hoc Analyse von BP-I-RC-Patienten (hauptsächlich manisch und nur leichte depressive Symptome) aus einem Sample von insgesamt 139 Patienten [73] wel che im Rahmen einer doppel-blind randomisierten dreiwöchigen Studie mit Olanzapin (5-20 mg/d n=19 vs. Plazebo n=26) untersucht wur den, zeigte, wie signifikant weniger Patienten in der Plazebo-Gruppe im Vergleich zur Olanzapin-Gruppe diese 3-wöchige Studie (73,7% vs. 34.6% p=0,016) beendeten. In der HAMD-21 ergab sich kein signifi kanter Gruppenunterschied. [74] Schlussfolgernd kann man sagen, dass die antidepressive Wirksamkeit des Olanzapin zwar vorhanden aber nicht besonders ausgeprägt ist. Ein direkter Vergleich zur antidepressiven Wirksamkeit eines AD fehlt. Olanzapin wurde auch kaum in BP II-Patienten untersucht, bei denen die depressive Symptomatik deutlich im Vordergrund steht. Allerdings scheinen gemischte Episoden sowie RC- Verläufe gut auf Olanzapin anzusprechen. Quetiapin Eine Industrie-gesponserte Studie von Quetiapin als Monotherapie ver sus Plazebo (sog. BOLDER I-Studie) wurde 2005 publiziert. [11] Es handelt sich um eine doppelblind, randomi sierte, Plazebo-kontrollierte Fixdosis Monotherapiestudie mit Quetiapin über 8 Wochen. 542 Patienten mit einer depressiven Episode und einer Dauer von über 4 Wochen (HAM-D 17 ≥ 20) wurden im Rahmen einer BP-I oder -II Störung mit / oder ohne RC randomisiert aufgenommen. Das Studiendesign bestand in einer washout Phase von 7-28 Tagen. Nach dieser Zeit wurden die Patienten in eine Gruppe von Quetiapin 600mg/ d (n=180), eine zweite Gruppe von Quetiapin 300mg/d (n=181) und in eine dritte Plazebogruppe (n=181) eingeschlossen. Geratet wurden die HAM-D, CGI sowie die MADRS über die Zeit. Es zeigte sich eine si gnifikante Wirkung der beiden aktiven Gruppen (300/600 mg/d Quetiapin) im Vergleich zur Plazebogruppe im HAM-D-17, sowie in der MADRS. Diese Studie zeigte eine für biolo gische Interventionsformen hohe Effektstärke (Verbesserung durch Quetiapin über Plazebo/gepool te Standard Deviation) bei BP-IPatienten von 0,91 für Quetiapin 300 mg/d und von 1,09 für Quetiapin 600 mg/d. Wenn man die BP II Patienten hinzurechnet reduziert sich die Effektstärke auf 0,75 in der Quetiapingruppe 600mg/d, sowie auf 0,64 in der Quetiapingruppe 300mg/ d. Die Möglichkeit, dass zu einem gewissen Maß diese Wirksamkeit zurückzuführen ist auf eine globa le Verbesserung der Stimmung bei Patienten bei denen die Depression mit subklinischen manischen Symptomen kombiniert war, welche wegen der hochschelligen DSM IV Kriterien für eine gemischte Episode, nicht erfaßt wurden, kann nicht ausgeschlossen werde. Diese guten Daten konnten in der sog. BOLDER II-Studie repliziert werden. [68] In dieser Studie nah men die Autoren allerdings Abstand davon exakte Daten zur Effektstärke von BP-II Patienten zu geben. Es blieb der enigmatische Satz dass auch BP-II Patienten vs. Plazebo si gnifikante Besserung der depressiven Symptomatik über die Zeit erreicht hätten. Auch sind Daten zu einer über 8 Wochen hinausgehenden, offe nen Studie, zu finden. Diese kleine Studie [75] beschreibt eine Quetiapin 255 add-on Therapie bei 10 Patienten mit bipolarer Störung und 10 mit schizoaffektiver Störung, welche nicht von einem SST profitiert hat ten. Konventionelle Antipsychotika welche diesen Patienten über sechs Monate gegeben wurden, wurden über vier Wochen graduell und über lappend mit einer sukzessiv gestei gerten Quetiapindosierung behandelt. Quetiapin wurde über 12 Wochen als Monotherapie oder in Kombination mit einem SST verabreicht. Nach 12 Wochen konnte eine signifikante Verbesserung im BPRS (p<0,001), sowie im HAM-D (p=0,002) beob achtet werden. Aufgrund des offe nen Studiendesigns, der minimalen Patientenanzahl ist eine wissenschaft liche Aussage unmöglich, zudem könnte durch das alleinige Absetzen der Typika eine solche Wirkung er klärt werden. Risperidon Schon relativ früh gab es Berichte über die antidepressive Wirksamkeit von Risperidon. Diese kamen aber haupsächlich aus dem Schizo phreniebereich. [76] Die meisten publizierten Studien, haben ein offenes nicht kontrolliertes Design, in denen Skalen zur Beurteilung depressive Symptome als sekundäres outcome Kriterium eingesetzt wurden .[77,78,79.80] Nur wenige Studien wurden kontrolliert randomisiert durchgeführt. [79,80] Nur eine Arbeit eruierte die Reduktion depressiver Symptome als primäres Outcome-Kriterium. [81] In einer offenen Multizenter-Studie Studie über sechs Monate [77] erhielten 541 Patienten mit bipolarer Erkrankung, welche zu Beginn eine manische, hypomanische, depressive oder gemischte Episode durchlitten, eine Kombinationstherapie von Risperidon (mittlere Dosis 3,9 mg/d) mit entweder Lithium, Antiepileptika oder Antidepressiva über sechs Monate. Bei den 430 Patienten welche die Studie beendeten, war die Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca Risperidon-Kombinationstherapie mit einer signifikanten Reduktion der Symptome in der YMRS, der HAMD17, CGI und PANSS (p<0,001 für alle) verbunden. Das Patientensample beinhaltete auch 33 Patienten mit Depression und 31 mit gemischter Symptomatik. Nach sechs Monaten konnte eine 50%ige Reduktion im HAMD-17 bei 69% der Patienten mit initialer depressiver Symptomatik registriert werden. Bei der Subgruppe der gemischt Patienten war schon eine signifikante Verbesserung in der ersten Woche zu verzeichnen. Diese Verbesserung hielt sich über sechs Monate. Die meisten Rückfälle waren allerdings durch das Auftreten von depressiven Episoden bedingt. Eine weitere offene sechsmonatige Studie von Vieta et al. [78] untersuchte Risperidon (mittlere Dosis 2,8 mg/d) (Monotherapie oder Kombination mit SST) in der BP-II Störung in einem Sample von 44 Patienten, wobei 34 Patienten die sechsmonatige Studie komplettierten. Eingeschlossen wurden Patienten mit einem YMRS Score > 7. Die Last observation carried forward (LOCF)-Analyse zeigte eine signifikante Reduktion der YMRS Gesamtscores ab der ersten Woche, welche bis zum Ende anhielt (p<0,0001). Nach sechs Monaten waren 60% laut CGI asymptomatisch, wobei die 32%, welche Risperidon Monotherapie erhielten, gleich gut abschnitten. Risperidon schien gleich wirksam gegen einen hypomanen als auch einen depressiven Rückfall gewesen zu sein. Neun Patienten (12%) hatten einen depressiven Rückfall, ein Patient (2%) hatte einen Rückfall in die Hypomanie und ein anderer Patient (2%) hatte beides. Eine weitere Untersuchung von Risperidon in der akuten Manie [79] begleitete 174 manische Patienten in einer offenen Multizenter Studie über 42 Tage, welche Risperidon (4,9 ± 2,9 mg/d) in Kombination mit einem SST erhielten. Die Einschlusskriterien waren eine aktuelle manische, hypomanische oder gemischte Episode und ein YMRS Score > 7. Über die Zeit war eine signifikante Reduktion der YMRS, sowie der HAMD Scores (p<0,0001) zu vermerken. Yatham und Kollegen [80] führten eine offene, prospektive 12 Wochen Studie durch, in der Risperidon zu einem Moodstabilizer (n=108) hinzuverschrieben wurde. Es wurden Patienten mit einer manischen, oder gemischten Episode aufgenommen. Alle Patienten bekamen mindestens einen SST (Lithium, Valproat, Carbamazepin) zum Zeitpunkt der Augmentation mit Risperidon. Am Ende der Studie betrug die mittlere tägliche Risperidon-Dosis 2 mg. Signifikante Reduktionen in der YMRS setzten sehr schnell in der ersten Woche ein (p<0.0001) und waren bis zur Woche zwölf zu sehen (p<0,0001). Ebenfalls zeigten sich signifikante Reduktionen im HAMD Score von Baseline bis zur dritten Woche (p<0,0001) als auch bis zur zwölften Woche. Die Arbeit von Hirschfeld et al. [66] untersuchte den antimanischen Effekt von Risperidon als Monotherapie in einer drei Wochen dauernden dop pel-blind, Plazebokontrollierten Studie. Es wurden BP-I-Patienten (n=259) mit einer akuten manischen Episode (YMRS ≥ 20) entweder in den Risperidon-Arm (n=134) (1-6 mg/d) oder Plazebo-Arm (n=125) der Studie randomisiert. Eines der sekundären Outcome Kriterien war die Reduktion der MADRS über die Zeit. Die MADRS zeigte im Gruppenunterschied nur an den Tagen 3 und 7 einen signifikanten Unterschied und keinen signifikanten Unterschied ab Tag 7 bis 21. Shelton und Stahl [81] untersuchten Risperidon versus Paroxetin, versus die Kombination beider Medikamente in der BPD. Hierzu wurden 30 de pressive Patienten mit einer BP- I oder BP- II Störung, die eine stabi le Dosis eines SST erhielten in eine 12 Wochen dauernde doppel-blind Studie mit drei Armen (Risperidon + Plazebo / Paroxetin + Plazebo / Risperidon + Paroxetin) randomi 256 siert. Alle drei Gruppen zeigten eine signifikante aber moderate Reduktion in der primären Outcome-Variablen HAMD-17, wobei keine signifikan ten Gruppenunterschiede zu sehen waren. In der Übersicht der publizierten Daten, sind die methodischen Mängel (offenes Design, Erfassung der Reduktion depressiver Symptome als sekundäres Outcome) offensichtlich. Die einzige kontrollierte Studie, wel che die antidepressive Potenz als pri märes Outcome untersuchte hatte um eine statistisch valide Aussage treffen zu können, hatte zu wenig Patienten. Unter Berücksichtugung dieser Ein schränkungen scheint die antidepres sive Wirksamkeit des Risperidon in der Akuttherapie nicht besonders ausgeprägt zu sein. Ziprasidon Weisler und Kollegen [82] führten eine, Plazebokontrollierte Studie mit 205 Patienten durch, die entweder zu Lithium plus Plazebo (n=103), oder Lithium plus Ziprasidon (80160mg/d) (n=102) randomisiert wurden. Die Studie dauerte 21 Tage. Die Verbesserung (Baseline bis Tag 4) in der Mania Rating Scale (MRS) (p<0,05), und im HAM-D (p<0,05) war signifikant besser in der Ziprasidon Gruppe als in der Vegleichsgruppe. Nach 14 Tagen waren die beiden Gruppen in den primären und sekundären outcome Kriterien gleich. In einer Plazebo-kontrollierten Studie [83] über 21 Tage wurden Patienten mit einer BP-I-Erkrankung (ma nisch oder gemischt) zu entweder Ziprasidon (n= 137 / 40 bis 80 mg) oder Plazebo (n=65) randomisiert. Als sekundäre Outcome-Kriterien wurden sowohl der HAM-D als auch die MADRS evaluiert. Am Ende der 3ten Woche hatte sich der HAMD Gesamtscore im Vergleich nicht signifikant reduziert (-2,43±4,00 in der Ziprasidon-Gruppe vs 1,37±3,13 in der Plazebogruppe). Sind Antidepressiva in der Behandlung der bipolaren Depression obsolet? Teil III: Gibt es Alternativen? Diagramm 2: Gibt es adäquate Alternativen in der Behandlung der bipolaren Depression (Cookson et al. Int Clin Psychopharmacol 2007) [90] CAVE: QUET+ LTG: HDRS Baseline circa 24 OFC: MADRS Baseline circa 32/60 LEGENDE: NNT = Anzahl jener Patienten, welche behandelt werden müssen, um einen zusätzlichen Behandlungserfolg zu verzeichnen. OLZ = Olanzapin (Tohen et al. Arch Gen Psychiatry 2003) OFC = Olanzapin Fluoxetin Kombination (Tohen et al. Arch Gen Psychiatry 2003) LTG = Lamotrigin (Calabrese et al. J Clin Psychiatry 1999) QUET = Quetiapin (Calabrese et al. Am J Psychiatry 2005) AD = Antidepressiva (Gijsman et al. Am J Psychiatry 2004) Der Gruppenvergleich der MADR-S bot ein ähnliches Bild. Signifikant im Gruppenvergleich war allerdings die Reduktion der MRS (Mania Rating Scale) über die Zeit (p≤0,01). In der zuvor publizierten Studie von Keck et al. [84] wurde leider keine Skalen zur Erfassung depressiver Symptome auch nicht als sekundäres outcome-Kriterium evaluiert. Auch hier gelten die oben bereits formulierten Methodenmängel zur Erfassung der antidepressiven Wirksamkeit. Ziprasidon hat trotz der eingebauten WiederaufnahmeHemmung von Serotonin und Noradrenalin, zumindest in den ein gesetzten Dosen, die in die Substanz gesetzten Erwartungen bezüglich antidepressiver Wirksamkeit nicht erfüllt. unterscheidet die Substanz von den anderen neueren Antipsychotika und hat somit den Begriff der neueren Antipsychotika der dritten Generation geprägt. [85] Der Vorteil von Amisulprid gegenüber anderen Antipsychotika ist, dass es wirksamer gegen affektive Symptome eingesetzt werden kann als andere AP, wie dies in verschiedenen Vergleichsstudien gegen Haloperidol und Risperidon gezeigt werden konnte. [86] Bisher ist Amisulprid das einzige neuere AP, welches auch in der unipolaren Major Depression sowie in der Dysthymie in verum-kontrollierten Studien bei Dosierungen von 50 mg Wirksamkeit gezeigt hat. [87,88,89] Kontrollierte Daten in der bipolaren Störung liegen nicht vor. Nur eine offene Studie in der Manie wurde berichtet. Amisulprid Zusammenfassend kann man sa gen, dass der antidepressive Effekt von Antipsychotika kein Klassen phänomen sondern ein substanz spezifisches Phänomen darstellt. Die Tatsache, dass Amisulprid keine Affinität für serotoninerge oder adrenerge Rezeptorsysteme zeigt, 257 Olanzapin respektiv OFC sowie Quetiapin scheinen eine höhere anti depressive Wirksamkeit zu besitzen wie andere Substanzen. Es bleibt abzuwarten in welchem Ausmass sich Antipsychotika in der Akut-Therapie der BPD etablieren. Cookson et al. [90] haben als Evaluationsgrösse der antidepressiven Wirksamkeit die NNT (numbers needed to treat) eingeführt. Für LTG 200 mg [41] für Quetiapin 300 und 600mg/d [11] als auch für OFC [65] fanden die Autoren ein NNT von 4. Im Fall von Quetiapin 300 mg [13] soll die Berechnung der NNT dargestellt werden. NNT wird als 1/ RD (= Remitterdifferenz) definiert. ,9 % Remitter auf Quetiapin 300 mg/d (96/181). 28,4 % Plazebo-Remitter (51/181). Die Remitterdifferenz wird folgendermassen definiert. RD = (a/b) – (c/d) . Wenn man die Daten einsetzt sieht die Formel folgendermassen aus. 1 / (96/181) - (51/181) = 1 / (0,53) – (0,28) = 1 / (0,25) = 4. Interessant ist die Dignität der Wirksamkeit der psychiatrischen Medikation im Vergleich zu einer internistischen, wie beispielsweise einem Lipidsenker bei dem ein NNT von 40 ausgerechnet wurde. Ein NNT von 5 wurde in der Metaanalyse Gjisman et al. [6] für AD errechnet. Aber auch hier gilt dass die rekrutierten Patienten nur an mittelgradigen Depressionen litten; (QUET und LTG: HDRS Baseline circa 24 OFC: MADRS Baseline circa 32/60). Die antidepressiven Eigenschaften der SSTen, zumindest gibt es keine wissenschaftliche Evidenz dafür, reichen für die Akutbehandlung einer schweren depressiven Symptomatik nicht aus. So gibt es keine Evidenz dafür, dass es Alternativen zu AD in der Therapie der schweren bipolaren Depression gibt. AD in Kombination mit einem Antimanikum, als Schutz vor einem Switch, sind in der Therapie der schwergradigen bipolaren Depression immer noch die erste Wahl. Hausmann, Fuchs, Walpoth, Hörtnagl, Adami, Conca Zusammenfassung Um den provokant gehaltenen Titel gleich zu beantworten: AD in der Therapie der bipolaren Depression sind weder obsolet noch modern. Die Indikation hängt vom Typus sowie der Schwere der bipolaren Depression ab. Dabei beziehen sich die potentiellen affektiven Nebenwirkungen auf den Verlaufstypus respektiv patientenspe zifische Faktoren und die Fragen der Wirksamkeit auf den Schweregrad der depressiven Episode. Keine Antidepressiva sollen bei rapid-cy cling-Verläufen, sowie gemischten Episoden wegen potentiell destabi lisierender Wirkung der AD verab reicht werden. Bei den gemischten Episoden sollen AD vermieden wer den, da diese manische Symptome nach 3 Monaten negativ beeinflussen können. Bei leicht bis mittelgradig depressi ven Patienten scheint es alternative pharmakologische Interventionen in Form von Stimmungsstabilisatoren oder Antipsychotika zu den AD zu ge ben. Nach Nutzen-Risiko-Abwägung können in diesen Fällen aber auch Antidepressiva verschrieben wer den. Trotz des Vorhandenseins von nur indirekten klinischen Hinweisen gibt, sollen schwergradige depres sive Episoden mittels AD therapiert werden. Aus Sicherheitsgründen und um der Zyklizität der bipola ren Erkrankung gerecht zu werden, sollten diese immer in Kombination mit einem Antimanikum verschrie ben werden. Bei den angespro chenen Alternativen zeigen we der die Antipsychotika noch die Stimmungsstabilisatoren einen Klasseneffekt. Bei den Antipsychotika scheinen Olanzapin und Quetiapin die einzigen derzeit gut belegten Alternativen mit antidepressiver Wirksamkeit zu sein. Bei den SST ist es Lamotrigin und bis zu einem ge wissen Grad auch Lithium, wobei bei Lithium eine Dosisabhängigkeit (> o,8 mmol/l) gegeben zu sein scheint. Beide Substanzen scheinen aber ge ringgradige akute antidepressive Wirksamkeit zu besitzen. Bei LTG ist dessen lange Wirklatenz einem zu frieden stellenden Einsatz hinderlich. 258 [11] Literatur [1] Maj M., Pirozzi R., Magliano L.R., Bartoli L.: The prognostic significance of switching in patients with bipolar dis order: a 10-year prospective follow-up study. Am J Psychiatry 159:1711-1717 (2002). 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Univ.-Prof. Dr. Armand Hausmann Medizinische Universität Innsbruck Univ.-Klinik für Psychiatrie [email protected] Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 261–266 Originalarbeit Original Das kardiovaskuläre Risiko schizophrener Patienten Andreas Birkhofer1, Patricia Alger1, Georg Schmid2 und Hans Förstl1 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München 2 I. Medizinische Klinik und Zentrum für Nichtlineare Dynamik der TU München Schlüsselwörter: Schizophrenie – kardiovaskuläres – Antipsychotika Mortalitätsrisiko – Herzfrequenzvariabilität Key words: schizophrenia – mortality risk – heart rate variability Das kardiovaskuläre Risiko schizo phrener Patienten Anliegen: Schizophrenien gehen mit einem erhöhten kardiovaskulären Mortalitätsrisiko einher, wobei das Mortalitätsrisiko mit einer erniedrig ten Herzfrequenzvariabilität (HRV) korreliert. Ziel der Untersuchung war die Bestimmung der HRV bei schizophrenen Patienten unter Antipsychotika. Methode: Die HRV wurde bei 28 medikamentös behan delten schizophrenen Patienten so wie bei 28 gesunden Probanden be stimmt. Ergebnisse: Schizophrene Patienten unter Behandlung mit Antipsychotika wiesen eine ausge prägte Verminderung der HRV auf. Schlussfolgerung: Die HRV kann zur Identifizierung von schizophre nen Patienten mit einem erhöhten kardiovaskulären Mortalitätsrisiko beitragen. © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 The cardiovascular risk of schizo phrenic patients Objective: Schizophrenia is associa ted with increased cardiovascular mortality. The deceleration capacity of heart rate is discussed to be a predictor of mortality, more powerful than conventional measures of heart rate variability (HRV) or the left ventricular ejection fraction. The aim of this study was to determine whether patients with schizophrenia, receiving antipsychotic medication have a reduced HRV indicating an elevated mortality risk. Methods: We quantified HRV and the deceleration capacity in 24-hour electrocardiogram recordings from 28 medicated patients with schizophrenia and 28 matched controls. In addi tion to the evaluation of the 24hour recording, 4-hour periods of "sleep" and "wake" recordings were evaluated separately, as activity has a major influence on HRV. Actigraphy was used to identify coherent sleep and wake phases and to ensure comparable levels of activity in patients and controls. Results: Medicated patients showed a significant reduction of the HRV. The HRV was reduced significantly according to the time domain and frequency domain measures. The deceleration capacity of medicated patients was 5.36 compared with 8.26 for the controls (p < .05). Conclusions: Heart rate deceleration capacity is significantly reduced in schizophrenic patients treated with antipsychotics and may serve as an indicator of increased cardiovascular mortality risk. Einleitung An Schizophrenie erkrankte Patienten haben durchschnittlich eine um zirka 20 Prozent verminderte Lebenser wartung [1-3]. Mehr als zwei Drittel aller schizophrenen Patienten sterben an kardiovaskulären Erkrankungen, die die häufigste natürliche Todes ursache schizophrener Patienten darstellen. [4-6]. Diese erhöhte, kardiovaskulär bedingte Mor talität kann zum Teil durch die ungünstige Lebensführung schi zophrener Patienten erklärt wer den, insbesondere in Hinblick auf Übergewicht, Nikotinabusus und fehlende körperliche Aktivität [7;8]. Davon unabhängig wird ein ungünstiger Einfluss der anti psychotischen Medikation auf das autonome Nervensystem diskutiert [9-15]. Bei psychisch Kranken hat der Arzt bezüglich unerwünschter Arzneimittelwirkungen eine beson dere Verantwortung, da diese Patien ten einerseits nicht rechtzeitig auf frühe Symptome, auch somatischer Erkrankungen reagieren [16]. An dererseits erhalten sie auch weniger präventive Leistungen, wie die regel mäßige Überwachung von Blutzucker und Blutfetten [17]. Schon lange bekannt ist, dass Anti psychotika Auswirkungen auf das Birkhofer, Alger, Schmid, Förstl kardiovaskuläre System haben, so können sie zu unspezifischen elektrokardiografischen Veränderun gen, zu AV-Überleitungsstörungen [18] bis hin zu ventrikulären Rhyth musstörungen mit der Gefahr des plötzlichen Herztodes führen [1921]. Seit der Einführung von Anti psychotika der zweiten Generation werden deren kardiovaskuläre Risiken diskutiert. Nachdem es zu mehreren Fällen von plötzlichem Herztod unter Sertindol kam, wurde die Aussagekraft einer verlängerten QTc-Zeit (im Elektrokardiogramm nachgewiesenes und um die Herz frequenz korrigiertes QT-Inter vall) eingehend geprüft, deren klinische Relevanz in Hinblick auf die Prädiktion kardiovaskulärer Ereignisse unter Antipsychotika je doch umstritten ist [22-24]. Derzeit werden die unterschiedlichen meta bolischen Wirkungen von Anti psychotika intensiv untersucht, die ebenfalls zur Erhöhung des kardiovaskulären Mortalitätsrisikos beitragen. Entsprechend einer retrospektiven Auswertung steigt das Risiko für einen plötzlichen Herztod unter Antipsychotika auf das Dreifache und ist unabhängig von der Grunderkrankung [25]. Während die Bestimmung der QTcZeit unter Antipsychotikatherapie Eingang in die klinische Routine gefunden hat, bleibt die Analyse der HRV in der Regel Forschungslabors vorbehalten. In der Kardiologie hingegen ist die Bestimmung der HRV zur Risikoprädiktion kardiovaskulärer Ereignisse, sowohl bei kardial erkrankten [26;27] als auch bei initial asymptomatischen Patienten [28] etabliert. Schwankungen des Sinusrhythmus um den Mittelwert der Herzfrequenz werden als HRV bezeichnet, wobei die HRV durch Sympathikus und Parasympathikus moduliert wird. Der Parasympathikus führt zu einer Erhöhung der HRV und wirkt myokardprotektiv so wie antiarrhythmogen [29], die 262 sympathikotone Modulation der Herzfrequenz führt zur Verminderung der HRV und zu einer vermehrten Arrhythmieanfälligkeit. Darüber hinaus erhöht ein gesteigerter Sympathikotonus das Risiko für die Entwicklung einer atherosklerotischen Koronarerkrankung [30] (Übersicht: [31]). Der klinische Nutzen der HRV war bislang aufgrund der lediglich moderaten Korrelation der klassi schen HRV-Kennwerte mit dem Mortalitätsrisiko eingeschränkt [32]. Unsere Arbeitsgruppe konnte einen signifikanten Zusammenhang zwi schen einem neu etablierten Kennwert der HRV, der Dezelerationskapazität der Herzfrequenz (Deceleration Capacity, DC) und der Mortalität bei Patienten nach Myokardinfarkt nachweisen [33]. Die Korrelation der DC mit dem Mortalitätsrisiko war im Vergleich zu konventionellen Kennwerten der HRV höher, und sogar höher als die Korrelation der linksventrikulären Auswurffraktion mit dem Mortalitätsrisiko. Die Risikostratifizierung durch die DC erwies sich als besonders prä zise bei Patienten mit erhaltener linksventrikulärer Auswurffraktion und bietet sich so bei schizophrenen Patienten an, die in der Regel kardial asymptomatisch sind. In der vorliegenden Arbeit wur de die DC erstmals bei schizo phrenen Patienten unter Antipsy chotikatherapie untersucht. Abgesehen vom Lebensalter [34], wird die HRV deutlich von körperlicher Aktivität beeinflusst [35;36]. Während psychomotorische Erregungszustände und Akathisie durch die damit verbundene vermehrte körperliche Aktivität zur Zunahme der HRV führen können, geht möglicherweise eine krankheitsbedingte Antriebsmin derung, als auch eine medikamentös induzierte Sedierung mit einer Verminderung der HRV einher. Dieser mögliche Einfluss der körperlichen Aktivität auf die HRV wurde bislang nicht untersucht. In der vorliegenden Pilotstudie wurde die DC bei medikamentös behandelten schizophrenen Patienten unter naturalistischen Bedingungen untersucht, um zu prüfen, ob die DC, als Hinweis auf ein erhöhtes Mortalitätsrisiko, erhöht ist. Methodik Patienten Die 28 untersuchten einwilligungs fähigen Patienten litten an einer paranoiden oder hebephrenen Schi zophrenie, wobei die Diagnose gemäß den Kriterien der ICD-10 von Psychiatern gestellt wurde. 24 Patienten erhielten eine Monotherapie, vier eine Kombinationstherapie zweier Antipsychotika. Alle Teilnehmer waren physisch gesund, entsprechend der körperlichen Untersuchung, dem 12-Kanal EKG sowie den im Rahmen der klinischen Routine erhoben Laborwerten einschließlich Thyreotropin. Ausgeschlossen wurden Patienten mit klinisch manifesten Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, des autonomen Nervensystems, oder zusätzlichen psychischen Erkrankungen. Unabhängig von der klinischen Diagnose wurde die Symptomatik durch Selbstbeurteilungsskalen (Eppendorfer Schizophrenie Inventar, ESI; Beck Depression Inventory, BDI [37]; State-Trait-AnxietyInventory, STAI [38]) und durch Fremdbeurteilungsskalen durch den jeweils behandelnden Kliniker (BPRS, Brief Psychiatric Rating Scale [39]) erfasst. Alle Teilnehmer erteilten nach aus führlicher Aufklärung über die Studie ihr schriftliches Einverständnis. Die Medikation der Teilnehmer war das Ergebnis partizipierender Ent scheidungsfindung zwischen Patient und behandelndem Arzt, die einzelnen verordneten Substanzen können Tabelle 1 entnommen werden. Das kardiovaskuläre Risiko schizophrener Patienten 263 Aktometrie Antipsychotikum Mittlere Intervall Anzahl der Dosis* (mg) Patienten Olanzapin 20 10 – 25 11 Risperidon 4,5 2 – 12 9 Clozapin 270 12,5 – 600 4 Quetiapin 225 400 – 600 4 Amisulprid 400 – 2 Chlorprothixen 115 80 – 150 2 Tabelle 1: Medikation (einige Patienten erhielten zwei Antipsychotika). * Mittlere Dosis: gemittelte Dosis aller Patienten, die das betreffenden Medikament am Tag der EKG-Aufzeichnung erhielten. Die Teilnehmer trugen Aktometer (Gefatec, Berlin) am Handgelenk ihrer nicht dominanten Hand. Während der EKG-Aufzeichnung konnte so ein 4-stündiger „Wach“und ein 4-stündiger „Schlaf“Abschnitt identifiziert werden. “Schlaf“-EKG wurde definiert als vier Stunden Inaktivität, die durch nicht mehr als 1 Minute detektierbare Aktivität unterbrochen wurde, während umgekehrt im „Wach“-EKG nicht mehr als eine Minute Inaktivität zugelassen wurde. Statistik Gesunde Kontrollgruppe Die 28 untersuchten gesunden Pro banden waren frei von psychischen und körperlichen Erkrankungen, was durch ein klinisches Interview inklusive Familienanamnese, sowie durch die bereits erwähnten Skalen (ESI, BDI, STAI) überprüft wurde. EKG-Aufzeichnung Die Teilnehmer trugen digitale Langzeit-EKG-Rekorder (Reynolds Medical, Hertford) und wurden instruiert, ihren regulären (Alltags-) Tätigkeiten nachzugehen. Die Signalqualität wurde beimAnlegen des EKG-Gerätes über einen Monitor geprüft. Die Aufzeichnung erfolgte digital mit einer Samplingfrequenz von 128Hz über ein Pathfinder 700 System (Reynolds Medical, Hertford, UK). („Schlaf-EKG“). Ausgehend von diesem visuell überprüften Artefaktfreien EKG-Signal wurde die DC der HRV generiert. Die DC basiert auf einem mathematischen Algorithmus („phase rectified signal averaging“, PRSA), mit dessen Hilfe sich Periodizitäten in nicht stationären Signalen mit hoher Genauigkeit erkennen und quantifizieren lassen. Die DC stellt ein integrales Maß sämtlicher Schwingungen dar, die an der Verlangsamung der Herzfrequenz beteiligt sind [40]. Kontrollgruppe Die soziodemographischen Charak teristika der Teilnehmer wurden auf Gleichheit zwischen den beiden Gruppen getestet (Chi-QuadratTest für diskrete Variablen, MannWhitney-Test für stetige Variablen). Bei den Gruppenvergleichen der HRV-Kennwerte unverbundener Stichproben wurde die „ONEWAY ANOVA“ herangezogen. Die hierfür notwendige Normalverteilung wurde durch Log-Transformation der HRVKennwerte sichergestellt. Medizierte Patienten p-Wert N=28 N=28 Alter [J] 36 (13.44) 34 (8.39) n.s. Männlich [%] 13 (64.42) 14 (50.00) n.s. BMI [SD] 23 (3.11) 27 (4.90) <0.05 Raucher [%] 13 (64.42) 14 (50.00) n.s. HRV-Analyse Ausgewertet wurden das gesamte 24-Stunden-EKG, sowie zusätzlich jeweils ein 4-Stunden-Abschnitt am Tag („Wach-EKG“) und ein 4Stunden-Abschnitt in der Nacht Tabelle 2: Soziodemographische Daten der Teilnehmer (Unterschiede wurden mit dem Chi-Quadrat-Test für diskrete und mit dem Mann-WhitneyTest für stetige Variablen geprüft). Birkhofer, Alger, Schmid, Förstl Alle Berechnungen erfolgten mit SPSS (Statistical Product and Service Solutions, Version 15.0). 264 Probanden nicht unterschieden, fin den sich in der Patientengruppe unter Neuroleptikatherapie sowohl mehr Raucher als auch ein höherer BMI. Ergebnisse Patienten Die demografischen und klinischen Charakteristika der Teilnehmer sind in Tabelle 2 beschrieben. Während sich Alter und Geschlecht zwi schen Patienten und gesunden Antipsychotika-behandelte Patienten wiesen im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine signifikante Verminderung der DC auf. Die DC war sowohl für den 24-Stunden DC Gesunde Kontrollen Medizierte Patienten p 24 Stunden 8.26 5.36 <0.5 4h Tag 8.21 5.14 <0.001 4h Nacht 9.97 6.61 0.037 Tabelle 3: Mittelwerte der DC gesunder Probanden im Vergleich zu medizierten schizophrenen Patienten (Unterschiede wurden mit dem MannWhitney Test geprüft). Abbildung 1: Vergleich der DC-Werte von gesunden Kontrollen und Patienten. Die DC-Werte sind jeweils für 24 Stunden, für 4 Stunden am Tag und für 4 Stunden in der Nacht dargestellt. Abschnitt, als auch für die „Tag”und „Nacht”- Abschnitte reduziert (Tabelle 3 und Abb. 1). Der Bewegungsumfang unterschied sich gemäß den Aktometrie-Daten während der EKG-Aufzeichnung zwischen gesunden Kontrollen und den behandelten Patienten nicht. Diskussion Ziel der Studie war es, zu klären, inwiefern die HRV bei schizophre nen Patienten unter AntipsychotikaTherapie vermindert ist. Schizophrene Patienten unter Neuroleptikatherapie wiesen in un serer Studie eine deutlich vermin derte HRV im Vergleich zu gesunden Kontrollen auf. In der vorliegenden Untersuchung wurde erstmals die DC bei schizophrenen Patienten unter sucht. Obwohl es bereits eine große Anzahl an Kennwerten der HRV zur Risikoprädiktion hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse gibt, konnte bisher nicht die prädiktive Präzision der DC erreicht werden. Dies könnte die geringe Verbreitung der Bestimmung von herkömmlichen HRV-Kennwerten erklären [41]. Neben zirkadianen Einflüssen wird die HRV wesentlich durch körperliche Aktivität beeinflusst. [42]. Aus diesem Grund erfolgte die Auswahl der EKG-Abschnitte primär nach Aktivitätsniveau und Aufzeichnungsqualität, nicht aber nach der Tageszeit. Inaktivität führt zu einer Verminderung der HRV [43]. In unserer Untersuchung zur HRV bei schizophrenen Patienten wurde dieser Umstand durch Aktometrie erstmals berücksichtigt. Bezogen auf den gesamten Auswertungszeitraum über 24 Stunden, als auch auf die 4-StundenAbschnitte, waren keine statistisch bedeutsamen Aktivitätsunterschiede zwischen gesunden Probanden und Das kardiovaskuläre Risiko schizophrener Patienten therapierten Patienten nachweisbar. Die drastischen Unterschiede der HRV zwischen Probanden und Pa tienten lassen sich somit nicht auf Aktivitätsunterschiede zurückführen. Die DC ist der linksventrikulären Auswurffraktion, dem bisherigen „Gold Standard“ zur Risikostra tifizierung hinsichtlich kardialer Ereignisse deutlich überlegen [44]. Die „DC-Werte unserer Patien tengruppe waren gegenüber den ge sunden Probanden deutlich reduziert. Das Ausmaß der Verminderung ist dabei vergleichbar mit (psychisch gesunden) Patienten nach einem Myokardinfarkt [40]. Neben der Frage, inwieweit die schi zophrene Erkrankung per se oder die antipsychotische Therapie für die Verminderung der HRV verantwort lich sind – bisherige Untersuchungen legen mindestens eine Mitbeteiligung der Antipsychotika nahe [10;4550] – halten wir jetzt die sequenti elle Untersuchung eines größeren Kollektivs an zunächst unbehan delten Patienten für vordringlich, um Klarheit über die Auswirkung einzelner Antipsychotika auf die DC und damit auf die kardialen Risiken dieser Substanzen zu er halten. Möglicherweise führen Antipsychotika mit fehlender anti cholinerger aber intrinsischer sero tonerger Aktivität auch zu einer Verminderung des kardiovaskulä ren Risikos, wie dies bereits für Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei depressiven Patienten nach einem Myokardinfarkt gezeigt wurde [51]. Inzwischen gibt es eine Reihe an Antipsychotika, die in ihrer Wirk samkeit auf Positiv- und Negativ symptomatik vergleichbar sind. Deshalb gewinnt nun das differente Nebenwirkungsprofil dieser Substan zen zunehmend an Bedeutung. Bei der Auswahl der geeigneten Antipsychotika könnte dieAuswirkung der jeweiligen antipsychotischen (Kombinations-)Therapie auf das kardiale Mortalitätsrisiko, insbeson dere bei Patienten mit bereits er höhtem kardiovaskulärem Risiko hilfreich sein. Literatur [1] Hennekens CH, Hennekens AR, Hollar D, Casey DE. Schizophrenia and increased risks of cardiovascular disease. Am.Heart J. 2005;150(6):1115-21. [2] Enger C, Weatherby L, Reynolds RF, Glasser DB, Walker AM. Serious cardiovascular events and mortality among patients with schizophrenia. J Nerv.Ment.Dis. 2004;192(1):19-27. [3] Walker AM, Lanza LL, Arellano F, Rothman KJ. Mortality in current and former users of clozapine. Epidemiology 1997;8(6):671-7. [4] Hennekens CH, Hennekens AR, Hollar D, Casey DE. Schizophrenia and increased risks of cardiovascular disease. Am.Heart J. 2005;150(6):1115-21. [5] Silke B, Campbell C, King DJ. 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Rothuber 1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Wien Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien Landesnervenklinik Wagner Jauregg, Linz 4 Krankenhaus Neunkirchen, Sozialpsychiatrische Abteilung, Neunkirchen 5 Psychosoziale Zentren GmbH, PSD Leitung, Stockerau 6 Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Univ.-Klinik für Psychiatrie 1, Salzburg 7 Firma Eli Lilly Österreich, Medizinische Abteilung, Wien 2 3 Schlüsselwörter: Schizophrenie – minderjährige Angehörige – Belastungen – Bedarf Keywords: schizophrenia – minor relatives – burden – needs Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastun gen und Unterstützungsbedarf Ziele: Anliegen der vorliegenden Studie war die Untersuchung der Belastungen minderjähriger Ange höriger von Schizophrenie-Kranken und der daraus resultierenden Erfordernisse für die Unterstützung der Angehörigen. Methodik: Insgesamt wurden 135 Angehörige von Kranken mit der Diagnose Schizophrenie © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 oder schizoaffektive Störung mittels des „Involvement Evaluation Ques tionnaire“ und des „Carers’ Needs Assessment for Schizophrenia“ untersucht. Ergebnisse: 24,4% der Gesamtstichprobe (N=33) hatten entweder minderjährige (d.h. unter 18 Jahren) Geschwister (N=18) oder Kinder (N=15). Wenn der Kranke minderjährige Geschwister hatte, berichteten nahezu die Hälfte der erwachsenen Angehörigen über mittelschwere oder ausgeprägte Probleme. Bei jenen Kranken, die minderjährige Kinder zu versorgen hatten, waren dies hingegen nur ein Fünftel. Bei den unter 16-jährigen Kindern der Kranken kam es häufig zu Problemen wie auffälligem Verhalten, Appetitlosigkeit und anderen Folgen der Krankheit. Diskussion: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass im nahen familiären Umfeld der Kranken häufig auch minderjährige Angehörige zu finden sind, die unter ausgeprägten Belastungen leiden. Minor relatives of schizophrenia patients: burden and needs Objectives: The aim of the present study was to investigate the burden of minor relatives of schizophrenia patients and of the needs for support for the relatives. Methods: 135 relatives of patients with schizophrenia or schizoaffective disorders were assessed by using the “Involvement Evaluation Questionnaire” and the “Carers’ Needs Assessment for Schizophrenia”. Results: 24.4% of the total sample (N=33) had minor (i.e. below 18 years) siblings (N=18) or children (N=15). If the patient had minor siblings, almost the half of the adult relatives reported moderate or severe problems. However, among those patients who had to take care for minor children, only a fifth reported moderate or severe problems. Among the patients’ offsprings being under the age of 16 behavioural disturbances, reduced appetite and other consequences of the disease were reported frequently. Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata Conclusions: These results indicate that patients with schizophrenia or schizoaffective disorders often have minor relatives in their family frequently suffering from marked burden. Einleitung Angehörige von SchizophrenieKranken leiden unter verschiedensten Belastungen, die beispielsweise Stress, zeitlichen Aufwand für die Betreuung des Kranken und Symptome einer Depression einschließen [8, 12, 14, 15, 22, 23, 25]. Da zahlreiche Studien gezeigt haben, dass Interventionen zur Unterstützung der Angehörigen und zur Ver besserung ihrer Kommunikation mit dem Patienten wirksam sind [13, 18, 20], sind Interventionen für Angehörige zum Standard in der Schizophreniebehandlung geworden [11]. Während sich die wissenschaftliche Literatur schon seit längerem mit den erwachsenen Angehörigen psychisch Kranker mit unterschiedlichsten Diagnosen (z.B. neben der Schi zophrenie auch Demenz oder Ess störungen) beschäftigte [4, 9], sind die minderjährigen Angehörigen bislang in relativ geringem Ausmaß Gegenstand wissenschaftlicher Unter suchungen gewesen [3]. Häufig be schränkte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf Fallbe schreibungen [3, 29]. Im klinischen Alltag beschränken sich spezialisierte Angebote für Minderjährige in Österreich auf drei Einzelinitiativen in Vorarlberg, Salzburg und Nieder österreich. Ob und in welchem Aus maß Ärzte und Psychologen in der klinischen Routine dieses Thema aufgreifen (auch wenn es kaum spezialisierte Angebote gibt), ist bislang nicht bekannt. Da in Österreich – so wie in vielen anderen europäischen Ländern – keine Daten zur Häufigkeit der Belastungen von Minderjährigen und des Bedarfs an Hilfe vorliegen, wurden die Daten einer kürzlich in Österreich durchgeführten Studie ausgewertet. Diese Studie beschäftigt sich einerseits mit den Belastungen und andererseits mit dem Bedarf und den Bedürfnissen der Angehörigen von Personen, die unter Schizophrenie oder schizoaffektiven Störungen leiden. Da diese Studie nicht primär auf die Untersuchung von minderjährigen Angehörigen ausgerichtet war, sondern alle Patienten und deren Angehörige, die mit den jeweiligen Einrichtungen in Kontakt standen, einschloss, können aus den vorliegenden Daten auch vorläufige Hinweise auf die Größenordnung des Problems gefunden werden. Die hier vorgelegten Auswertungen konzentrieren sich auf die Ergebnisse, die zu den minderjährigen (unter 18 Jahre) Kindern und Geschwistern von Patienten mit schizophrenen oder schizoaffektiven Psychosen aus unterschiedlichen Diensten und Einrichtungen verschiedener Regionen Österreichs gewonnen wurden. Material und Methodik Stichprobe Insgesamt wurden 135 erwachsene Angehörige von Patienten mit der Diagnose Schizophrenie oder schizoaffektive Psychose (ICD-10: F20.0-9, F25.0-9) eingeschlossen. Die Patienten waren in den Bundesländern Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Wien in psychiatrischer Behandlung. Jeweils ein Drittel der Patienten wurden aus dem ambulanten Bereich, Tageskliniken und Stationen eingeschlossen. Die Patienten und ihre Angehörigen wurden in der Reihenfolge des 268 Kontaktes mit der jeweiligen Ein richtung untersucht. Vor Beginn der Datenerhebung wurde von allen Patienten und ihren Angehörigen eine schriftliche Einverständniserklärung unterzeichnet. Die Interviews mit den Kranken und ihren Angehörigen wurden von erfahrenen Psychologen, von Fachärzten für Psychiatrie bzw. von Ärzten in psychiatrischer Facharztausbildung durchgeführt. Für die hier dargestellten Aus wertungen wurden die Patienten und deren Angehörige in drei Subgruppen unterteilt: (1) jene, wo der Patient minderjährige (d.h. unter 18-jährige) Kinder hatte; (2) jene, wo der Patient minderjährige (d.h. unter 18-jährige) Geschwister hatte; (3) jene, wo der Patient keine minderjährigen Kinder oder Geschwister hatte. Untersuchungsinstrumente Das „Carers’ Needs Assessment for Schizophrenia“ (CNA-S [28]) ist ein semi-strukturiertes Interview und umfasst 18 Problembereiche, das für jeden dieser Problembereiche mehrere mögliche Interventionen bietet (zwischen zwei bis sechs Interventionen pro Problembereich). Alle Problembereiche und Inter ventionen beziehen sich auf die letzten drei Monate, wobei für die vorliegenden Auswertungen aus schließlich die subjektive Sicht der Angehörigen berücksichtigt wurde. Die Ergebnisse für die Validität und Reliabilität des CNA-S waren zufriedenstellend [28]. Für die hier dargestellten Auswertungen wurde ausschließlich Problembereich 17 („Belastung der Minderjährigen durch die Krankheit“) verwendet, der nur dann erhoben wird, wenn der Kranke minderjährige Kinder oder Geschwister (d.h. unter 18 Jahren) hat. Jene Bereiche, in denen die Ange hörigen in die Betreuung des Kranken involviert sind, wurden Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf mittels des „Involvement Evaluation Questionnaire“ (IEQ) erfasst, wobei die für international vergleichende Studien adaptierte Version verwendet worden war [2, 27]. Der Kernbereich des IEQ besteht aus vier Sub-Skalen: (1) Spannung zwischen Patient und Angehörigem, (2) Beaufsichtigen des Patienten, (3) sich wegen des Patienten Sorgen machen, (4) den Patienten zu etwas motivieren. Der Zeitrahmen für die Erfassung bezog sich auf die letzten 4 Wochen. Für die folgenden Auswertungen war jener Bereich des IEQ verwendet worden, der die Belastungen von Kindern der Kranken im Alter unter 16 Jahren erfasst. In diesem Bereich wird er fasst, ob es während der letzten vier Wochen vorkam, dass das Kind oder die Kinder der psychisch kranken Person eines der angeführten neun Probleme hatte. Außerdem wurden von den Kranken die folgenden Daten erhoben: Krankheitsdauer, Zahl der stationären Behandlungen, Diagnose nach ICD-10, soziodemographische und anamnestische Daten. Von den Angehörigen wurden die folgenden Daten erfasst: soziodemographische Daten, Ausmaß der Betreuung und des Kontaktes mit dem Kranken. Ergebnisse Zusammensetzung der Gesamt stichprobe Weniger als die Hälfte der Patienten (41,8%) war weiblich. Das Alter betrug 32,9 Jahre (Mittelwert). Die mittlere Krankheitsdauer betrug 8,8 Jahre. Bei nur 8,1% der Patienten handelte es sich um den ersten Kontakt mit einer psychiatrischen Einrichtung. Eine ausführlichere Beschreibung der Stichprobe der Patienten findet sich bei Unger et al. [26] und bei Krautgartner et al. [12]. Bei den Angehörigen handelte es sich in 68,9% um die Eltern der Patienten. Zwei Drittel der befrag ten Angehörigen waren weiblich (68,9%) und ihr Alter betrug 52,7 Jahre (Mittelwert). Eine ausführli chere Beschreibung der Angehörigen erfolgte bereits an anderer Stelle [12, 26]. 24,4% der Gesamtstichprobe (N=33) hatten entweder minderjährige (d.h. unter 18 Jahren) Geschwister oder Kinder. Von jenen 18 Patienten, die minderjährige Kinder hatten, für die sie sorgen mussten, hatten 61% ein einziges Kind und 39% zwei oder mehr Kinder. Weitere 15 Patienten hatten minderjährige Geschwister. Statistische Auswertungen Alle statistischen Auswertungen erfolgten mittels SPSS. Die Be schreibung der Ergebnisse erfolgt mittels deskriptiv-statistischer Auswertungen. Um Unterschiede zwischen Subgruppen der Ange hörigen und Patienten zu untersuchen wurden je nach Datenqualität ChiQuadrat-Tests und U-Tests (wegen fehlender Normalverteilung bei den kontinuierlichen Daten) verwendet. Unterschiede in den Patienten stichproben Diejenigen Patienten, die minder jährige versorgungspflichtige Kin der hatten, hatten ein höheres Alt er, eine längere Krankheitsdauer und mehr Spitalsaufnahmen als jene, die minderjährige Ge schwister hatten (Tabelle 1). Patienten mit minderjährigen ver sorgungspflichtigen Kindern litten häufiger unter schizoaffektiven Psychosen und seltener unter Schizophrenie. Signifikante Unter schiede fanden sich außerdem bezüglich des Zivilstandes, während 269 bezüglich Geschlecht, Berufstätigkeit und Einkommen keine Unterschiede festzustellen waren. Unterschiede in den Angehörigen stichproben Bei jenen Angehörigen von Patienten, die minderjährige Geschwister hatten, handelte es sich signifikant häufiger um die Eltern des Patienten als bei den Angehörigen von Patienten, die minderjährige Kinder zu versorgen hatten (Tabelle 2). Bezüglich der anderen soziodemographischen Variablen und der Aspekte der Be treuung des Kranken fanden sich keine signifikanten Unterschiede. Häufigkeit von Problemen und des Bedarfs an Interventionen aus Sicht der Angehörigen (CNA-S) Wenn der Kranke minderjährige Geschwister hatte, berichteten nahe zu die Hälfte der Angehörigen über mittelschwere oder ausgeprägte Pro bleme (46,7%; Tabelle 3). Bei jenen Kranken, die minderjährige Kinder zu versorgen hatten, waren dies hingegen nur 22,2%. Rund ein Viertel der Angehörigen von Kranken mit minderjährigen Geschwistern wünschte sich pro fessionelle Hilfe bei der Erziehung und Beratung darüber, wie man Minderjährigen das Verhalten des Kranken erklärt (Tabelle 3). Ein Fünftel sah eine finanzielle Unterstützung der Angehörigen, die die minderjährigen Geschwister des Kranken betreuen, als nötig an. Nur 13,3% hielten spe zielle Angehörigenrunden für die Minderjährigen für erforderlich. Die Angehörigen jener Kranken, die minderjährige Kinder zu versorgen hatten, berichteten deutlich seltener, dass ein Bedarf an Interventionen bestünde (jeweils ca. 5%). Bei beiden Gruppen von Angehörigen zeigte sich, dass in nahezu allen Fällen der Bedarf ungedeckt war. Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata Minderjährige Angehörige N 270 Vergleich Kinder / Geschwister Keine Kinder * Geschwister Wert ** p 102 18 15 Wert p Geschlecht Männlich % 59,8 44,4 60,0 Weiblich % 41,2 55,6 40,0 Ledig % 88,0 22,2 100,0 Verheiratet % 4,0 50,0 0,0 Geschieden % 8,0 27,8 0,0 Keine % 72,4 55,6 50,0 Voll berufstätig % 11,2 22,2 21,4 Teilweise berufstätig % 8,2 16,7 14,3 Studium % 5,1 Hausfrau/Hausmann % 3,1 5,6 keines % 9,9 5,6 21,4 Beruf % 15,8 33,3 28,6 Pension % 38,6 33,3 14,3 Krankengeld % 12,9 16,7 7,1 Sozialhilfe % 12,9 5,6 7,1 Sonstiges % 9,9 5,6 21,4 Nein % 93,9 82,4 86,7 Ja % 6,1 17,6 13,3 Schizophrenie % 97,1 72,2 100,0 Schizoaffektiv % 2,9 27,8 0,0 Alter m (SD) 33,5 39,4 21,6 (12,5) (6,9) (3,7) Krankheitsdauer (Jahre) m (SD) 9,2 11,5 2,9 (8,3) (9,1) (4,4) Zahl stationärer Aufnahmen m (SD) 5,5 5,2 2,8 (6,2) (4,1) (3,3) Zahl tagesklinischer Aufnahmen m (SD) 1,1 1,4 0,5 (1,6) (1,9) (0,5) n.s. Zivilstand 20,263 0,000 Berufstätigkeit n.s. 14,3 Einkommen n.s. Erster Kontakt mit psychiatrischer Einrichtung n.s. Diagnose * Kinder, für die der Kranke sorgen muss 4,911 0,027 4,815 0,000 3,595 0,000 2,232 0,026 n.s. ** Wert: bei kategorialen Daten Chi-Quadrat, bei kontinuierlichen Daten Z-Wert (U-Test) Tabelle 1:Stichproben-Zusammensetzung der Patienten und Vergleich der Patienten, die minderjährige Kinder hatten, mit jenen, die minderjährige Geschwister hatten (m – Mittelwert, SD – Standardabweichung) Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf Minderjährige Angehörige N Keine Kinder * Geschwister 102 18 15 271 Vergleich Kinder / Geschwister Wert ** p Geschlecht Männlich % 29,4 50,0 20,0 Weiblich % 70,6 50,0 80,0 ledig % 13,7 5,6 0,0 verheiratet % 67,6 61,1 80,0 geschieden % 8,8 27,8 13,3 verwitwet % 9,8 5,6 6,7 Mutter / Vater % 72,6 33,3 86,7 Schwester / Bruder % 4,9 11,1 6,7 Partner % 11,8 50,0 0,0 Tochter / Sohn % 4,9 0,0 6,7 Sonstige % 5,9 5,6 0,0 Nein % 51,0 44,4 33,3 Ja % 49,0 55,6 66,7 nein % 50,0 62,5 60,0 teilweise % 48,1 37,5 40,0 ganz % 1,9 0,0 0,0 überhaupt nicht % 35,6 44,4 13,3 fallweise % 22,8 5,6 20,0 das gesamte letzte Monat % 41,6 50,0 66,7 weniger als 3 Stunden % 8,1 0,0 0,0 3-10 Stunden % 24,2 22,2 13,3 mehr als 10 Stunden % 67,7 77,8 86,7 53,8 (12,9) 50,1 (15,1) 48,3 (6,8) n.s. Zivilstand n.s. Angehöriger 17,875 0,007 Lebt im gemeinsamen Haushalt n.s. Falls nicht im gemeinsamen Haushalt: betreut Haushalt des Kranken n.s. Wie viele Tage im letzten Monat mit Krankem im gleichen Haushalt gelebt n.s. durchschnittliche Dauer des wöchentlichen Kontaktes Alter * Kinder, für die der Kranke sorgen muss m (SD) n.s. n.s. ** Wert: bei kategorialen Daten Chi-Quadrat, bei kontinuierlichen Daten Z-Wert (U-Test) Tabelle 2:Stichproben-Zusammensetzung der befragten Angehörigen und Vergleich der Angehörigen von Patienten, die minderjährige Kinder hatten, mit jenen von Patienten, die minderjährige Geschwister hatten (m – Mittelwert, SD – Standardabweichung) Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata 272 Wenn Pat. minderjährige Kinder hat, für die Pat. sorgen muss Wenn Pat. minderjährige Geschwister hat % % Kein oder geringfügiges Problem 77,8 53,3 Mittelschweres Problem 16,7 20,0 Ausgeprägtes Problem 5,6 26,7 Professionelle Hilfe bei der Erziehung und Betreuung der Minderjährigen 5,6 26,7 Beratung durch einen Mitarbeiter des Behandlungsteams, wie man Minderjährigen das Verhalten des Kranken erklärt 11,1 26,7 Finanzielle Unterstützung für den Angehörigen, der die Minderjährigen betreut 5,6 20,0 Spezielle Angehörigen-Runde für Minderjährige 0,0 13,3 Professionelle Hilfe bei der Erziehung und Betreuung der Minderjährigen 5,6 26,7 Beratung durch einen Mitarbeiter des Behandlungsteams, wie man Minderjährigen das Verhalten des Kranken erklärt 5,6 26,7 Finanzielle Unterstützung für den Angehörigen, der die Minderjährigen betreut 5,6 20,0 Belastung stellt Problem dar Gesamter Bedarf an Hilfe Ungedeckter Bedarf an Hilfe Tabelle 3:Belastung der Minderjährigen durch die Krankheit und Bedarf an Hilfen aus Sicht der interviewten Angehörigen (nur falls der Kranke minderjährige Kinder oder Geschwister, d.h. jünger als 18 Jahre, hat). Kam es während der letzten vier Wochen vor, dass das Kind oder die Kinder des/der Kranken .... Ja (%) keinen Appetit hatten 21,4 nachts nicht schlafen konnten 28,6 in der Schule nachließen 7,1 vor Vater/Mutter Angst hatten 28,6 den Schulunterricht versäumten 0,0 auffälliges Verhalten zeigten 42,9 seltener mit Freunden spielten 35,7 sich ihres Vaters/ihrer Mutter schämten 28,6 bei Nachbarn, Verwandten oder Bekannten bleiben mussten 42,8 Tabelle 4:Belastungen der Kinder unter 16 Jahren (N=14) aus Sicht der interviewten Angehörigen erfasst mittels des „Involvement Evaluation Questionnaire“ (IEQ). Minderjährige Angehörige von Schizophrenie-Kranken: Belastungen und Unterstützungsbedarf Belastungen von Kindern der Kranken (IEQ) Insgesamt hatten 14 Kranke (10,4%) Kinder im Alter unter 16 Jahren. Die von den Angehörigen am häufigsten berichteten Probleme der Kinder waren auffälliges Verhalten, bei anderen Personen (Nachbarn, Verwandten, Bekannten) bleiben müssen und selteneres Spielen mit Freunden (Tabelle 4). Diskussion Die hier dargestellten Ergebnisse zeigen, dass Patienten mit Schizophrenie oder schizoaffektiven Psychosen häufig minderjährige Kinder oder Geschwister haben. Unseres Wissens liegt bislang keine ähnliche Studie vor, aus der Hinweise auf die Größenordnung des Problems möglich sind. Einschränkend muss aber berücksichtigt werden, dass diese Fragestellung nicht die Hauptaufgabe dieser Studie war und daher gezielte methodische Ansätze genauere Ergebnisse bringen könnten. Zahlreiche andere potenzielle Belastungen [3] wie etwaige Defizite in der Erziehung, wenn ein Elternteil langdauernd erkrankt ist, oder das traumatisierende Erlebnis, dass ein Elternteil vielleicht gegen seinen Willen ins Spital aufgenommen wurde, wurden hier nicht erfasst. Bei der Interpretation dieser Stu die müssen zwei methodische Einschränkungen berücksichtigt werden. Insgesamt handelt es sich um eine eher kleine Stichprobe und die Auswertungen über die Minderjährigen basieren auf nur 33 Personen. Außerdem wurden mehrfach bivariate Vergleiche durchgeführt, was das Problem des Alpha-Fehlers aufwirft. Da es sich um die erste derartige Studie handelt und die Stichprobe relativ klein ist, haben wir aber auf Methoden zur Korrektur des Alpha-Fehlers verzichtet. Nichtsdestotrotz dürfen diese methodischen Limitationen nicht übersehen werden. Die Tatsache, dass minderjährige Geschwister eher bei jüngeren Patienten mit einer kürzeren Krank heitsdauer zu finden sind, während minderjährige Kinder eher bei älte ren Patienten mit (naturgemäß) längerer Krankheitsdauer anzu treffen sind, scheint plausibel. Insofern scheint es auch plausibel, dass im Falle der Patienten mit minderjährigen Geschwistern die befragten erwachsenen Angehörigen ausschließlich die Eltern der Kranken waren. Die befragten erwachsenen Angehörigen berichteten bei etwa der Hälfte jener Patienten, die minderjährige Geschwister hatten, und bei etwa einem Viertel der Patienten, die minderjährige Kinder hatten, dass es Probleme in diesem Zusammenhang gäbe. Da es sich im Falle minderjähriger Geschwister der Kranken um deren Eltern handelte, die hier befragt wurden, ist es nicht verwunderlich, dass auch häufig ein Bedarf an Hilfen berichtet wurde. Allerdings ist es besorgniserregend, dass dieser Bedarf weitgehend ungedeckt blieb. Bei den unter 16-jährigen Kindern der Kranken (IEQ) kam es häufig zu Problemen wie beispielsweise Appetitlosigkeit, Schlafproblemen und Verhaltensauffälligkeiten. Die Häufigkeit der angeführten Probleme gibt Anlass zur Sorge. Die Tatsache, dass bei rund einem Viertel der Kranken minderjährige Angehörige vorhanden sind, weist darauf hin, dass es sich um ein Problem handelt, das durchaus versorgungspolitisch relevant ist. So wie bei Erwachsenen wird es nötig sein, die subjektiven Sichtweisen [6], die möglichen Folgen von Stigma [1] und die möglichen 273 Einflüsse auf die Lebensqualität [17, 21, 24] der Minderjährigen zu berücksichtigen. Überdies wird es nötig sein, die minderjährigen Angehörigen psychisch Kranker in der Versorgungsplanung ebenso zu berücksichtigen wie dies bereits bei den Erwachsenen diskutiert wird [16, 19, 28]. In ähnlicher Weise wie bei den Erwachsenen sind im Kontext mit der Versorgungsplanung Fragen nach dem Bedarf [7], der Inanspruchnahme [5], aber auch nach den Kosten [10] zu stellen. Die in der vorliegenden Studie gefundenen Ergebnisse weisen darauf hin, dass minderjährige Angehörige häufig im nahen familiären Umfeld der Kranken zu finden sind und unter ausgeprägten negativen Konsequenzen zu leiden haben. Daraus ergeben sich zahlreiche klinische und wissenschaftliche Implikationen wie beispielsweise stärkere Berücksichtigung im klinischen Alltag, Entwicklung spezialisierter Modelle, genauere Untersuchung der Belastung und des Versorgungsbedarfs. Sowohl im klinischen Alltag als auch in der Forschung sind hier also neue Ansätze gefragt. Danksagung Die vorliegende Studie wurde dankenswerter Weise durch einen „Unrestricted Grant“ der Firma Eli Lilly unterstützt. Wir danken außerdem N. Voglmayr, P. Stöckl, Th. Klug, M. Hanl-Andorfer, W. Brandmayr, B. Luef, J. Bacher, E. Werner, M. Reisner, E. Haubenstock, Ch. Egger, J. Anwar und H. Rothuber für ihre engagierte Mitarbeit bei dieser Studie. Krautgartner, Unger, Gössler, Rittmannsberger, Simhandl, Grill, Stelzig-Schöler, Doby, Wancata Literatur [1] Angermeyer M.C., A. Holzinger: Erlebt die Psychiatrie zurzeit einen Boom der Stigmaforschung? Eine Analyse wissenschaftlicher Zeitschriften. Psychia trische Praxis 32, 399-407 (2005). [2] Bernert S., R. Kilian, H. Matschinger, C. Mory, C. Roick , M.C. Angermeyer: Die Erfassung der Belastung der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen: Die deutsche Version des Involvement Evaluation Questionnaires (IEQ). Psychiatrische Praxis 28 (Suppl. 2), 97-101 (2001). [3] Fischer M., S. Gerster: Vergessen und überfordert: Kinder von psychisch Erkrankten. Neuropsychiatrie19,162– 167 (2005). [4] Graap H., S. Bleich, J. Wilhelm, F. Herbst, Y. Trostmann, J. Wancata, M. de Zwaan: Die Belastungen und Bedürfnisse Angehöriger anorektischer und bulimischer Patientinnen. Neuro psychiatrie19,155-161 (2005). [5] Grabe H.J., D. Alte, C. Adam, S. Sauer, U. John, H.J. 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Dr. Monika Krautgartner Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Medizinische Universität Wien [email protected] Originalarbeit Original Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 275–283 Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung – Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation eines dysfunktionalen Selbst Karl Toifl1, Barbara Kimmel1, Philipp Mayring2 und Hans Marlies Mörth1 1 Univ.-Klinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Medizinische Universität Wien 2 Psychologisches Institut, Universität Klagenfurt Schlüsselwörter: Psychose – Selbst – Komplexitätsforschung – Chaostheorie – Selbstorganisation Keywords: psychosis – self – complexity research – chaos theory – self organisation Psychose aus Sicht der Komple xitätsforschung – Ein Modell zur Untersuchung der Selbstor ganisation eines dysfunktionalen Selbst Die multifaktorielle Genese psy chotischer Erkrankungen ist heut zutage unbestritten. Offen ist die Fragestellung der Integration der vielschichtigen Befunde aus dem bio logischen, psychischen und sozialen Bereich. Auf Basis der Ergebnisse der Komplexitätsforschung (Chaos theorie,Theorie der Selbstorganisation) wurde für die Entstehung psychoti scher Erkrankungen die Hypothese formuliert, dass diese als Ausdruck eines dysfunktionalen Selbst ver standen werden. Ein solches dys funktionales Selbst entsteht in einem sich selbst organisierenden Prozess. Material und Methode: Die Defini tion des Selbst wurde neu formuliert. Dies geschah auf Basis eines bio © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 psychosozialen Krankheitsmodells und den Erkenntnissen der Kom plexitätsforschung. Es wurden zehn Hauptkategorien definiert, die wesent lich erscheinen für die Entwicklung eines gesunden, das heißt flexiblen und autonomen Selbst. In weiterer Folge wurde, abgeleitet von die sen Kategorien ein semistrukturier ter Interviewleitfaden entwickelt. Damit erfolgte die Sammlung von Information über den sich selbst orga nisierenden Prozess der Entwicklung des Selbst bei psychotischen Patienten. Dieser Leitfaden wurde im Rahmen einer Diplomarbeit in einem mehrdimensionalen Interview mit einem Patienten und seiner Familie erprobt. Dieses Interview wurde auf Tonband aufgenommen, transkri biert und mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach zwei Aspekten hin qualitativ untersucht. Der erste Aspekt betraf die Entscheidung der Zuordnung zu einer oder mehreren der zehn Kategorien. In einem 2. Schritt wurde bewertet, ob die untersuch te Information als förderlich für die Entwicklung eines gesunden Selbst einzustufen ist oder als hemmend. Ergebnis: Das entwickelte und ver wendete Untersuchungsmodell ist ge eignet, die qualitative Untersuchung eines sich selbst organisierenden Selbst zu ermöglichen. Bei der Einzelfallanalyse eines psychotischen Patienten mit schizophrener Psychose überwogen bei einem Großteil der 10 Kategorien, die als hemmend interpre tierten Einflüsse für die Entwicklung eines gesunden Selbst. Dies ent sprach der aufgestellten Hypothese. Schlussfolgerungen: Das verwen dete Untersuchungsmodell erscheint geeignet, um die Entwicklung des Selbst bei psychotischen Menschen qualitativ zu untersuchen. Bei einer umfassenderen Studie ist es notwen dig, die Dauer des Interviews zu kür zen und die Auswertung direkt von Video oder CD-Rom durchzufüh ren.. Das Ergebnis der qualitativen Inhaltsanalyse zeigte eindeutig auf, in welchen Kategorien die hemmende Wirkung auf die Entwicklung eines gesunden Selbst überwog. Daraus könnten sich Konsequenzen bezüg lich einer individuellen, mehrdimen sionalen Therapie ergeben, welche die Entwicklung eines gesunden Selbst fördert. Psychosis sight from the complexity research – a model for the exami nation of the self organisation of a dysfunctional self Nowadays the multifactorial genesis of psychotic illnesses is undisputed. The question of the integration of the multilayered results is open from the biological, emotional and social area. Based on the results of the complexity research (chaos theory, theory of the self organisation) the hypothesis was formulated for the emergence of psy chotic illnesses that these are under Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth stood themselves as an expression of a dysfunctional self. Such a dysfunc tional self arises in a self organizing process. Material and method: The definition of the self was newly for mulated. This happened on the know ledge of the complexity research and a bio- psycho-social model of illness and health. Ten main categories were defined, which seem essential for the development of a healthy, this means a flexible and autonomous self. In further consequence, based on these categories, a semistructured inter view guide was developed. With this interview guide the information about the quality of the self organising pro cess of the development of the self was collected. This guide was tested in the context of a master thesis in a multidimensional interview with a schizophrenic patient and his family. This interview was taken on video tap. The information on video beca me transcribed. Than the information was examined qualitatively to two aspects. This happened with the help of a qualitative contents analysis. The first aspect concerned the decision of the assignment to one or several of the ten categories. In a 2nd step it was judged, whether the examined infor mation has to be classified as benefi cial for the development of a healthy self or as impeding. Results: The de veloped and used examination model is suitable to make the investigation of a self organizing self possible. At the individual case analysis of a pati ent with a schizophrenic psychosis the inhibiting influences for the develop ment of a healthy self predominated at a large part of the 10 categories. This corresponded to the hypothesis. Conclusions: The used examination model seems suitable, to examine qualitatively the development of the self in psychotic people. At a more comprehensive study it is necessary to shorten the duration of the interview and to carry out the evaluation direct ly of video or CD-ROM The result of the qualitative contents analysis showed obviously, in which catego ries the impeding effect on the deve 276 lopment of a healthy self outweighed. This result supports the idea of an individualized multidimensional the rapeutic concept, which supports the development of a healthy self. Out of this could surrender to consequences regarding an individual, multidimen sional therapy which promotes the development of a healthy itself. Einleitung Schizophren psychotische Erkran kungen (ICD !0 F20) werden heutzutage aufgrund zahlreicher Befunde sowohl aus dem biolo gischen, wie auch dem individu ell psychischen und dem sozialen Bereich ätiologisch als multifakto rielle Krankheitsbilder gesehen..(1) Aufgrund der Eindimensionalitäten wissenschaftlicher Fragestellungen und Untersuchungen war es bisher nicht befriedigend möglich, eine in tegrierende Krankheitshypothese zu etablieren, mit der es möglich ist, sowohl die bio-psycho-so ziale Komplexität wie auch die Dynamik der Krankheitsentstehung zu integrieren und nachvollziehbar werden zu lassen. Die Ergebnisse der Komplexitätsforschung (Chaos theorie, Theorie der Selbstorgani sation) könnten dazu einen Beitrag leisten. (13, 14) Ciompi (2) definier te auf dieser Basis die Affektlogik. Auf Basis von Ergebnissen der Komplexitätsforschung wurde auch eine Definition von Gesund und Krank entwickelt, wobei sowohl die Mehrdimensionalität menschlicher Existenz wie auch der selbstorgani satorisch ablaufende Prozess einer individuellen Entwicklung integriert wurde. Es wurde auch ein prakti kables Modell mehrdimensionaler Diagnostik und Therapie entwickelt und mit positivem Ergebnis ange wandt. (15, 16) Um die Komplexität und Dynamik psychotischer Krankheitsentstehung fassbar zu machen, wurde auf Ba sis der Ergebnisse der Komple xitätsforschung die Hypothese formuliert, dass psychotische Er krankungen als sich selbst organisie rende Entwicklungen eines dysfunk tionalen Selbst verstanden werden können. Um ein entsprechendes wis senschaftliches Untersuchungsmodell zu entwickeln, wurde in einem ersten Schritt das menschliche Selbst unter dem Blickwinkel dieser Ergebnisse definiert. In einem zweiten Schritt wurden, ausgehend von Masterson (7) 10 Hauptkategorien formuliert, welche die gesamte biopsychosozi ale Komplexität berücksichtigen. Sie werden als wesentlich angesehen für die Entwicklung eines gesunden, das heißt autonomen und flexiblen Selbst. Eine psychotische Erkrankung wird in diesem Zusammenhang als Ergebnis einer dysfunktionalen Entwicklung des Selbst definiert. Dieser Krank heitszustand ist durch nicht linear aufeinander wirkende, sich selbst organisierende Einflüsse entstan den, welche einen stark hemmenden Einfluss auf die Entwicklung eines gesunden Selbst ausüben. Um diese Hypothese wissenschaftlich untersu chen zu können, wurde ein spezielles qualitatives Untersuchungskonzept entwickelt und im Rahmen einer Diplomarbeit auf seine wissenschaft liche Anwendbarkeit hin erprobt. Material und Methode Die Hypothese, dass eine psycho tische Erkrankung als das Ergebnis eines, sich selbst organisierenden dysfunktionalen Selbst anzusehen ist, beruht einerseits auf der wissen schaftlichen Gegebenheit, dass zahl reiche Befunde aus dem biologischen, psychischen und sozialen Bereich die Mehrdimensionalität psychotischer Krankheitsentstehung belegen und andererseits auf Erkenntnissen der Komplexitätsforschung, welche das menschliche System als komplex und dynamisch, in einem sich selbst orga nisierenden Prozess darstellen. Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ... Grundprinzipien der Komplexitäts forschung (Chaostheorie, Theorie der Selbstorganisation): Die Komplexitätsforschung geht von der grundsätzlichen Annahme aus, dass alle lebenden Systeme den glei chen Grundprinzipien unterliegen. Dies gilt sowohl für den Aufbau und Erhalt von Struktur und Funktion als auch für die unterschiedlichen Zustände von Ordnung, die inner halb eines Systems in einem Prozess der Selbstorganisation entstehen, bestehen und sich gleichzeitig lau fend verändern. Chaos im Sinne der Chaostheorie meint einen hochkom plexen Ordnungszustand, der durch Selbstorganisation entsteht und sich gleichzeitig selbst organisiert. Dieser Prozess folgt einerseits ei ner festgelegten „deterministischen“ Regel, andererseits ist aber keine Vorhersagbarkeit der Entwicklung im Detail möglich. Jedes komplexe System, auch das menschliche, benötigt für Entstehen und Existenz Energie und Information von adäquater Quantität und Qualität aus seiner Umgebung. Ein zentrales Charakteristikum der Selbstorganisation ist eine extre me Empfindlichkeit gegenüber den Anfangsbedingungen. Das heißt, bereits minimale Änderungen der Anfangsbedingungen führen trotz gleicher Regel des Ablaufs durch ex ponetielle Verstärkung der Fluktuation zu einem völlig unvorhersagbaren Ergebnis. (Schmetterlingseffekt) (6) In komplexen Systemen bestehen nicht lineare Bedingungen. Das heißt, Systemparameter – beim Menschen der organische, psychische und sozi ale Bereich – wirken nicht linear auf einander und erzeugen dadurch einen bestimmten Systemzustand. Kommt es im Bereich eines Parameters – zum Beispiel im sozialen Bereich – zu einer Änderung, dann kommt es au tomatisch, im Detail nicht vorher sagbar, zu einer Änderung im psy chischen und organischen Bereich. Das Ergebnis dieser Wechselwirkung ist die Basis für die nächste nicht li neare Wechselwirkung. Gleichzeitig besteht ein Rückkopplungsphänomen auf das, was vorher war, sodass die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft mitbestimmt, auch bei der Entwicklung einer psychotischen Erkrankung. Dadurch kann es kei ne eindimensionale Ursache für eine psychotische Erkrankung geben, son dern eine sich selbst organisierende Entwicklung, in der Einflüsse aus dem biologischen, psychischen und sozialen Bereich nicht linear aufein ander wirken und über die Zeit einen psychotischen Krankheitszustand entstehen lassen. Diagnostisch ist ein so komplexes und dynamisches Geschehen nur durch einen mehr dimensionalen Ansatz erfassbar. Deshalb wurde ein Modell entwic kelt, dass diese Gegebenheiten in ei ner neuen Definition von Gesund und Krank definiert und es mit Hilfe der parallelen und gleichzeitig integrie renden Verwendung einer biologi schen Sichtweise für den organischen Bereich, eine tiefenpsychologisch orientierte für den psychischen und einer, an der Systemtheorie ausge richteten Sichtweise für den sozialen Bereich möglich macht Komplexität und Dynamik in einem diagnosti schen Mosaikbild nachvollziehbar abzubilden. (13, 14, 16, 17) Um die Mehrdimensionalität, Komplexität und Dynamik der Ent stehung schizophren psychotischer Erkrankungen auch in Bezug auf bisherige theoretische Konzepte formulieren zu können, wurde der Weg einer Neuformulierung eines Selbstkonzeptes auf Basis der Kom plexitätsforschung bestritten. Definition des Selbst: 1. Das Selbst eines Menschen ent wickelt sich aus einem energeti schen Kern – Selbst heraus. 2. Das Kern – Selbst ist die Basis und gleichzeitig die energetische Triebkraft für die Entwicklung des Selbst. Der individuelle Wille bestimmt bei entspre 277 chender Unterstützung der Umgebung über die Richtung der Entwicklung sowie über de ren Verlauf 3. Es ist implizite Aufgabe des Kern – Selbst, sich durch die gesamte Lebensspanne hinweg intentio nal zu entwickeln, zu entfalten und zu reifen. 4. Ziel der Entwicklung ist der mög lichst befriedigende Umgang mit den Anforderungen des indivi duellen Lebensprozesses. 5. Die Entwicklung des Selbst er folgt in einem nicht linearen , sich selbst organisierenden Prozess, in dem Veränderungen im biologischen, psychischen und sozialen Bereich nicht vor hersagbar aufeinander wirken. 6. Die Entwicklung des Selbst ist ein energetisches Geschehen, wobei auch Materie als Energieform anzusehen ist. 7. Materie und Energie sind Träger von Information. Durch den Prozess der Selbstorganisation entsteht aus dieser Information das Informationsgefüge eines menschlichen Systems. 8. Der Prozess der Selbst – Entwicklung ist ein integrales geschehen, welches sowohl den biologischen, psychischen und sozialen Anteil zusammenführt, wie auch alle bewusste und un bewusste Information. 9. Die Qualität von Angebot, Aufnahme und Verarbeitung von Information bestimmt in entscheidendem Ausmaß die Qualität der Entwicklung des Selbst. 10. Die Qualität der Information und deren Verwendung bestimmt, ob die Entwicklung eines autono men und flexiblen – das heißt gesunden – Selbst gefördert oder gehemmt wird. Bei der Entwicklung eines gesunden Selbst erfolgt der sich selbst organi sierende Entwicklungsprozess in der Weise, dass die Qualität des Angebotes, der Aufnahme und Verarbeitung von Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth Information das Entstehen eines au tonomen, beziehungsfähigen und fle xiblen Selbst fördert. Bei der Entwicklung eines dysfunk tionalen psychotischen Selbst er folgt der sich selbst organisierende Prozess hingegen in der Weise, dass die Qualität von Angebot, Aufnahme und Verarbeitung von Information, die Entwicklung eines gesunden Selbst beeinträchtigt und hemmt. Zu diesem Geschehen tragen sowohl der organische, der psychische wie der soziale Bereich individuell un terschiedlich, aber in gleichwertiger Weise bei. Die Wechselwirkung zwi schen den drei Bereichen unterliegt nicht linearen Gesetzmäßigkeiten. Der Entwicklungsprozess folgt den Regeln der Selbstorganisation. Die Definition der wesentlichen Hauptkategorien für die Entwicklung eines gesunden Selbst erfolgten in Anlehnung an die, von Masterson (7) definierten 10 Fähigkeiten des wahren Selbst. Nach weiterem Literaturstudium und ausführlicher Diskussion wurden Kategorien zum Teil zusammengelegt oder weggelas sen. Es wurden neue Kategorien, die als essentiell erschienen, hinzugefügt. Bei den beibehaltenen Fähigkeiten wurden die Definitionen erweitert, da sie bei Masterson nicht sehr ausführ lich sind. Die Anzahl der Kategorien blieb mit 10 gleich. 10 definierten Hauptkategorien: 1. Fähigkeit, den weiten Fächer der Gefühle zu erleben und sich da mit auseinanderzusetzen. 2. Fähigkeit, Anrechtsdenken zu entwickeln 3. Fähigkeit zur Selbstaktivierung, Selbstbehauptung und Zielorientierung 4. Fähigkeit zur Selbstachtung 5. Fähigkeit, Belastungen und Kri sen konstruktiv zu bewältigen 6. Fähigkeit zur Beziehungsechtheit und Intimität 7. Fähigkeit zur kreativen Entwick lung eines Strategierepertoires 278 8. Fähigkeit zu befriedigender sozialer Interaktion und Kom munikation 9. Organische Entwicklung und Funktion des Gehirns 10. Sprachentwicklung und Sinnes wahrnehmung Um die Entwicklung des Selbst bei psychotischen Patienten untersuchen zu können, war es erforderlich die entsprechende Information durch Interviews zu erheben. Interviewleitfaden: Basierend auf den 10 Hauptkategorien wurde ein Fragenkatalog erstellt, der es ermöglichen sollte, die, für eine Überprüfung der Hypothese notwendigen Informationen von Patient und dessen Familie zu erhal ten. Dieser Fragenkatalog wurde in 6 Themenkreise gegliedert. Diese sind „allgemeine Krankheitsanamnese“, „biographische Entwicklungsdaten“, Familiengeschichte“, „Interaktion – Kommunikation – Beziehungen“, „Umgang mit Konflikten und Emotionen“ sowie „Vorstellungen und Phantasien“. Information würde bei Auswertung auf Basis eines anderen Vorverständnisses völlig anders interpretiert werden. Die Regelgeleitetheit der Auswertung der gesammelten Information wur de im Laufe der ersten Hälfte des Pilotprojektes bei Probeauswertungen entwickelt und bis zur Untersuchung der vorgestellten Einzelfallanalyse laufend verbessert. Ein Problem ergab sich dabei bei der Abgrenzung und Definition der Hauptkategorien. Die Nähe zum Gegenstand ist in diesem Projekt zweifellos gegeben. Die Fragestellung betrifft konkrete Probleme der untersuchten Personen. Auch das Ziel der Studie ist im Interesse der Betroffenen, da sich durch die Ergebnisse auch therapeuti sche Konsequenzen ergeben können. Eine unmittelbare kommunikative Validierung der Ergebnisse, indem man sie den Beforschten vorlegt, ist in dieser Studie aus offensicht lichen Gründen nicht möglich. Die Interpretation von vielfach unbewus ster Information kann nicht einfach den Interviewten zur Überprüfung vorgelegt werden, da dies höchstens in einem therapeutischen Prozess vor sichtig eingebracht und dadurch über prüft werden könnte. Qualitative Forschungsmethodik: Mayring (8, 9) nennt sechs allge meine Gütekriterien für qualita tive Forschung: die Verfahrens dokumentation, die argumentative Interpretationsabsicherung, die Regel geleitetheit im Vorgehen, die Nähe zum Gegenstand, die kommunikative Validierung und die Triangulation. Die Verfahrensdokumentation wurde bei diesem Projekt durch die Explikation unseres Vorver ständnisses, durch die exakte Dar stellung der Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums, der Durch führung der Datenerhebung, -bearbei tung und -auswertung nachvollzieh bar. Die argumentative Interpretation sabsicherung ergibt sich aus dem adäquaten und in sich schlüssigen Vorverständnis. Dieselbe gesammelte Eine Triangulation fand insofern statt, als direkt nach den Interviews von mehreren Interpreten erste Einschätzungen und Hypothesen entwickelt wurden. Wenn man deren Ergebnis mit denen der systemati schen qualitativen Inhaltsanalyse ver gleicht, so zeigen sich weitgehende Übereinstimmungen vor allem in den großen Problembereichen. Die Reliabilität wurde bei der Pilotstudie durch das Faktum er höht, dass bei der Auswertung im mer mindestens zwei (meistens so gar drei) AuswerterInnen anwesend waren. Es fand eine kommunikative Reliabilitätsprüfung statt, indem die Kodierurteile immer zwischen min destens zwei Personen abgestimmt wurden. Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ... Die Validität ergibt sich aus der Nähe zum Gegenstand und der Einschätzung der Güte des Materials. Das Material ist äußerst umfangreich und umfasst sehr breit gefächerte Themen. Durch das Interview wird das Leben des Patienten nachgezeich net und man erfährt auch viel über die Lebensgeschichte der Eltern. Es steckt aber auch viel Information dar in, was nicht mitgeteilt wird, wo man widersprüchliche oder nicht eindeuti ge Informationen erhält und auch in den nonverbalen Vorgängen und im Interaktionsgeschehen. Deshalb ist es wichtig, die Gesprächsführung sehr achtend und respektvoll zu gestal ten, damit eine möglichst offene und vertrauensvolle Interviewsituation entstehen kann. Durch eine solche Haltung gelang es, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen. Die erhal tene Information war dadurch ehrli cher und tiefgehender. Qualitative Inhaltsanalyse: Nach Studium unterschiedlicher qualitativer Auswertungstechniken erschien die Auswertung der Daten mittels „Qualitativen Inhaltsanalyse“ am besten geeignet zu sein. (8) Die Möglichkeit, deduktiv und induktiv erstellte Kategorienbildung mitein ander kombinieren zu können war für dieses Projekt von Vorteil. Diese Technik ermöglicht, sprachliches Material systematisch zu analysie ren, indem das Material zergliedert und schrittweise bearbeitet wird. Die Analyseaspekte werden vorher im theoriegeleitet am Material entwic kelten Kategoriensystem festgelegt. Es wird eine strukturierende quali tative Inhaltsanalyse angewandt, bei der das Material aufgrund bestimm ter Kriterien eingeschätzt wird. Die Kriterien sind in diesem Projekt jene Faktoren, die auf die Entwicklung des Selbst fördernd oder hemmend wirken. Nach diesen Faktoren wur de der Kodierleitfaden erstellt. Die Hauptkategorien des Kodierleitfadens sind aufgrund unserer theoretischen Grundannahmen, also deduktiv er stellt worden. Zusätzlich wurden erst im Zuge der Auswertung induktiv am Material Subkategorien entwickelt, um zu genaueren Aussagen zu kom men. Diese, im ersten Analysevorgang, sehr konkreten Subkategorien wurden in einem weiteren Arbeitsschritt zu Gruppen zusammengefasst und zu ge nerellen fördernden oder hemmenden Faktoren abstrahiert. Ergebnisse Die hier dargestellte Einzelfallanalyse diente als Pilotuntersuchung für eine umfassendere qualitative Untersuchung der selbstorganisato rischen Entwicklung des Selbst bei schizophren erkrankten Menschen. An Hand dieser Einzelfallanalyse sollte mit Hilfe der Methodik der „qualitativen Inhaltsanalyse“ un tersucht werden, ob der erstellte Interviewleitfaden praktikabel ist und ob der Kodierleitfaden, der aufgrund der theoretischen Konzeption erstellt wurde, greift. Durchführung und Transkription der Interviews: Nach Probeinterviews wurde be schlossen, die Interviewsituation semistrukturiert zu gestalten, weil diese Vorgangsweise ein wesent lich befriedigenderes diagnostisches Untersuchungsergebnis erbrachte. Dieses Interview wurde im Rahmen einer Diplomarbeit (5) hinsichtlich seiner Anwendbarkeit überprüft. Es wurden stationär aufgenommene Patienten und deren Angehörige ge fragt, ob sie an einer solchen mehr dimensional ausgerichteten diagno stischen Interviewsituation Interesse haben. Gleichzeitig wurde auch das Angebot einer anschließenden the rapeutischen Nachbetreuung ge macht. Die Interviewgespräche wur den an Hand des semistrukturierten Interviewleitfadens von einem erfah 279 renen Kinder- und Jugendpsychiater durchgeführt. Im Rahmen der Diplomarbeit wurde ein 15-jähriger Patient und dessen Eltern interviewt. Bei dem Patient war mittels SKID-Interview die Diagnose einer schizophrenen Psychose (ICD10: F 20.3) gestellt worden. Zum Zeitpunkt des Interviews war die erst mals aufgetretene akut psychotische Phase unter Neuroleptikatherapie abgeklungen Der Patient und seine Eltern waren über das spezielle Setting informiert und damit einverstanden. Die Fallgeschichte des Patienten und bestimmte Angaben zur familiären Situation waren bereits erhoben. Fallgeschichte: Die Geburt des Patienten dauerte nach Angaben der Eltern lange und war für die Mutter extrem anstrengend. und für den Vater traumatisch. Der Vater war bei der Geburt anwesend. Nachdem das Baby nicht sofort schrie, glaub te er, dass es eine Totgeburt sei. Das Baby war bis auf eine Hüftluxation körperlich gesund. Nach Aussagen der Mutter war er ein Schreibaby. In den ersten zweieinhalb Monaten schrie er sehr viel, was die Mutter auf seinen Hunger zurückführte. Sie hatte nie mand, der sie unterstützte. Sie fühlte sich extrem gestresst. Die Mutter bedauert noch heute, dass ihr Stillen nicht möglich war, da sie zuwenig Milch hatte und ihr Sohn „so ungedul dig“ und „so hungrig“ gewesen sei. Die Erzählung der Eltern über diese Zeit vermittelt den Eindruck, dass sie mit der Betreuung des Säuglings stark überfordert und ständig im Stress wa ren. Im Alter von 8 Monaten habe der Säugling vom Kinderarzt eine Spritze erhalten, die ihn sehr irritiert hätte. Ab diesem Zeitpunkt habe die Mutter das Kind über Monate jeden Abend beim Einschlafen halten müssen. Ansonsten sei die körperliche und gei stige Entwicklung im Kleinkindalter normal verlaufen. Mit einem Jahr habe er zu Laufen begonnen und mit drei Jahren verspätet zu sprechen. Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth Dabei habe er nie so bebrabbelt wie es andere Kinder tun, sondern er habe gleich begonnen, in ganzen Sätzen zu reden. Die Eltern betonen die au ßergewöhnliche Merkfähigkeit, die ihr Sohn in diesem Alter bereits ge zeigt hätte. Im Kontakt mit anderen Kindern beschreiben ihn die Eltern als sehr vorsichtig und ängstlich. Am Spielplatz habe er eher von abseits zu geschaut als selbst mitgespielt. Er sei nicht auf andere Kinder zugegangen, obwohl er sehr interessiert war. Der Vater erklärte dies mit der besonderen Ängstlichkeit, die er seinem Sohn von klein auf zuschreibt. Ab dem Alter von 3 Jahren be suchte der Patient vormittags den Kindergarten, wo er sich nach anfäng lichen Trennungsängsten wohl fühlte. Er war traurig, als er mit 6 Jahren in die Schule wechseln musste. Der Vater meint, dass sein Sohn in Gesellschaft einer Person gut zurecht komme, in einer Gruppe aber immer Probleme gehabt habe. In der ersten Klasse Volksschule lern te er als Letzter lesen. Nachdem die Lehrerin mit der Mutter gesprochen hatte, übte diese aber so viel mit ihm, dass er innerhalb eines Semesters zum besten Leser in der Klasse wurde. Eines seiner schlimmsten Erlebnisse hatte er auf einem Schulschikurs in der 3. Klasse AHS. Dort wurde er, der immer sehr ruhig und zurückhaltend wirkte, von einigen Schulkollegen, darunter auch zwei, die er als sei ne Freunde betrachtete, gezwun gen niederzuknien, um jemand die Schuhe zu küssen. Er tat es ohne sich zu wehren und wurde deshalb in den nächsten Jahren immer wieder als Feigling verspottet und vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Erschöpfungszustände des Patienten. Bis zu diesem Zeitpunkt war er im mer Vorzugsschüler, doch nun be gann ein massiver Leistungsabfall. Seine Gedanken kreisten immer mehr um die Demütigungen und er konnte sich auch in den Sommerferien nicht mehr erholen. Ende der 4. Klasse schickten die Eltern ihren Sohn auf 280 ein Sommercamp, damit er andere Jugendliche kennen lernen könne. Dort wurde er aber auch innerhalb kürzester Zeit zum Außenseiter und Prügelknaben. Er wurde mit einem Gurt gewürgt, an einem Heizkörper gefesselt und angespuckt und im Schwimmbad fuhr ihm jemand mit dem Finger in den Anus. Seinen Eltern erzählte der Patient nicht oder nur widerstrebend von seinen schlim men Erlebnissen, weil er sich für sein Versagen schämte und von seinen Eltern auch nicht wirklich Hilfe er wartete. Ungefähr ein Jahr vor der stationären Aufnahme bestand bereits ein deutli cher Leistungsabfall sowie eine extre me Müdigkeit und Antriebslosigkeit. In dieser Zeit kam es auch zu nächt lichen Angstträumen, die ihn auch tagsüber beschäftigten. Er wirkte zunehmend geistesabwesend, wie derholte Fragen und Sätze, wenn mit ihm gesprochen wurde. Die Mutter meldete ihn gegen seinem Willen in der Schule krank, da sie meinte, er brauche Erholung. Eine angefragte Psychologin überwies den Patienten an einen Psychiater, welcher eine beginnende Psychose diagnostizierte und ein Neuroleptikum verordnete. Nach einem Monat zu Hause, wo er sehr viel schlief, ging der Patient wie der zur Schule. Er war von seinem Semesterzeugnis, in dem einige Fünfer standen, sehr enttäuscht. Er wurde zu nehmend depressiv. Die Mutter brach te ihn wieder zu einem Psychiater, der eine depressive Episode diagnosti zierte und ein Antidepressivum ver ordnete. Nach einem, von der Mutter, gegen den Willen des Patienten durch gesetzten Schulwechsel, kam es zu einer neuerlichen Verschlechterung des Zustandes. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, weder lernen noch lesen. Er wurde psychomoto risch sehr unruhig. Es kam immer häufiger zu panikartigen Attacken mit Herzrasen, erhöhtem Blutdruck und Schweißausbrüchen. Er litt auch an Ein- und Durchschlafstörungen. Er schien wiederum Fragen nicht zu ver stehen und es bestand eine sehr lan ge Antwortlatenz. Diesmal kam die Mutter mit dem Sohn an die Klinik wo eine stationäre Aufnahme wegen des Verdachts einer schizophrenen Psychose veranlasst wurde. Die Mutter des Patienten hatte einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Die Familie lebte in ei nem kleinen Ort auf dem Land. Ihr Vater arbeitete in einer Fabrik. Er war sehr wortkarg und sprach nie über seine Gefühle. Er verstarb vor eini gen Jahren. Ihre Mutter leidet unter einer Altersdemenz und lebt jetzt in ihrer Nähe in Wien. Die Mutter des Patienten hat zu ihrer Mutter eine sehr enge, symbiotische Beziehung. Sie litt immer mit ihrer Mutter mit, da diese sehr häufig von ihrer trau rigen Lebensgeschichte als wegge gebenes Kind erzählte. Die Mutter des Patienten schildert sich als sehr braves, angepasstes Kind, das stän dig bemüht war, den Eltern keine Probleme zu machen. Sie war meist in der Nähe ihrer Mutter, las und lernte gern und hatte wenig Kontakt zu an deren Kindern. Sie beschreibt sich als Einzelgängerin, die nie wirklich das Bedürfnis nach Freundschaften hatte Sie besuchte die Volksschule in dem Ort, in dem sie lebte. Danach eine Hauptschule im Nachbarort, wo sie zwei Jahre lang täglich 9 km mit dem Rad hinfuhr. Im Alter von 12 Jahren zog sie mit ihrer Familie in die Nähe des Schulortes. Nach eigener Aussage hätte sie statt einer Lehre gerne ihre schulische Ausbildung fortgesetzt und eventuell sogar studiert, da sie immer eine sehr gute Schülerin war und ihr das Lernen Spaß machte. Im Alter von 14 Jahren begann sie eine Lehre und arbeitete dann 3 Jahre in der gleichen Fabrik wie ihr Vater. Mit 21 wurde ihr langweilig und sie ging nach Wien, wo sie die nächsten 15 Jahre arbei tete. Ziemlich bald lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen und zog 3 Jahre später mit ihm zusammen. Nach 9 Jahren des Zusammenlebens heira teten sie, zwei Jahre später bekamen sie den einzigen Sohn. Sie konnte sich Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ... eigentlich nie vorstellen, Hausfrau zu sein und ihre Unabhängigkeit aufzu geben. Sie blieb aber dann doch zu Hause, da sie den Eindruck hatte, dass ihr Sohn sie brauche und es besser für seine Entwicklung sei, wenn sie sich voll und ganz auf ihn konzentriere. Der Vater des Patienten wurde als zweites von insgesamt 8 Kindern in Ägypten geboren. Sein Vater war Kaufmann, die Mutter Hausfrau. Er beschreibt seine Beziehung zu seinen Eltern als distanziert. Die Mutter sei eher für die Versorgung der Familie zuständig gewesen, der Vater habe sich nur gelegentlich über die Schulnoten der Kinder informiert. Ansonsten sei en die Kinder eher sich selbst über lassen worden und selbstständig ge wesen. In der Familie traf der Vater die Entscheidungen. Der Vater des Patienten durfte als einziger studie ren, weil seine Noten sehr gut waren. Er wurde zum Medizinstudium nach Europa geschickt. Er machte dann aber ein Doktorat in Politikwissenschaften. Er sollte nach Hause zurückkehren, blieb aber in Österreich, weil er seine jetzige Frau heiraten wollte. Er mus ste sie dazu überreden. Er arbeitet als Übersetzer bei einer diplomatischen Vertretung. Das semistrukturierte Interview wurde in 9 Sitzungen mit Video aufgenom men. Die auswertenden Studenten verfolgten die Interviewsituaion hinter einem Spiegel im Video aufnahmeraum. Dadurch konnte im Anschluss an die einzelnen Sitzungen eine Nachbereitung insofern erfol gen, als gemeinsam eine allgemeine Beschreibung der Gesprächssituation (Atmosphäre,Ablauf, Besonderheiten) und eine Beschreibung der verbalen und nonverbalen Interaktion und des Verhaltens der Interviewten sowie eine erste Einschätzung vorgenom men wurde. Auswertung des transkribierten Interviews: Die Auswertung der transkribierten Interviews erfolgte mit Hilfe des wis senschaftlichen Software Programms ATLAS ti, Version 4.1 (www.atla sti.com), welches für die Grounded Theory (12) entwickelt wurde, aber auch bei Qualitativer Inhaltsanalyse angewendet werden kann. Das Interview wurde anschließend nach vorher festgelegten Regeln in eine schriftliche Form transkri biert, damit eine wissenschaftliche Auswertung erfolgen konnte Ergebnis der qualitativen Inhalts analyse: Die, für die Analyse des Interviews zentral wichtigen 10 Hauptkategorien waren deduktiv erstellt worden. Im Zuge der Auswertung wurden die Subkategorien induktiv gebildet. Jede Subkategorie wurde mindestens einer der 10 Hauptkategorien zugeordnet. Die Auswertung aller Interviews ergab 1270 kodierte Textstellen, die unter 1139 unterschiedliche Subkategorien kodiert wurden. Die große Zahl an Subkategorien – es stellt fast jede als fordernd oder hemmend ein geschätzte Textstelle eine eigene Subkategorie dar – ergab sich aus dem konkreten Abstraktionsniveau, das für die Pilotstudie gewählt wurde. Dies war notwendig, da keine ent sprechende Voruntersuchung vorlag. Die Subkategorien wurden in einem weiteren Schritt auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammenge fasst. Durch diese Abstraktion ent stand für jede der 10 deduktiv erstell ten Hauptkategorien eine Liste der fördernden und hemmenden Faktoren, die in der sich selbst organisierenden Entwicklung des Patienten zu finden waren. Global beurteilt zeigte sich im Ergebnis der Auswertung, dass bei den ersten 8 Fähigkeiten sehr vie le und schwerwiegende hemmende Faktoren zu finden waren und nur wenig Förderndes. Aus Platzgründen kann nur ansatzweise auf konkrete Auswertungsergebnisse eingegangen werden. 281 1. Die Fähigkeit, den weiten Fächer der Gefühle zu erleben und sich damit auseinanderzusetzen: Diese Fähigkeit – vor allem die Auseinandersetzung mit den Gefühlen – ist beim Patienten schlecht ausgeprägt. Es wurden eini ge Hinweise darauf gefunden, dass er zwar „positive“ (Freude, etwas ange nehm und schön empfinden) und „ne gative“ (Wut, Zorn, Trauer, Kränkung) Gefühle kennt und empfindet, sich aber kaum damit auseinandersetzt. Hemmend auf die Entwicklung eines gesunden Selbst war der Umgang mit Kränkung. Er erfolgte so, dass er zum Beispiel seinen Eltern davon erzählt, allerdings nicht, wenn die Kränkung von diesen selbst verursacht wurde. In der Beziehung zu seinen Eltern kann er Wut und Zorn nicht zulassen. Die vielen Kränkungen durch Mitschüler hat er überhaupt nicht verarbei tet. Sie stellen für ihn eine zentrale Belastung dar. Der Vater berichtete, dass sein Sohn schon als Kind keine Freude zeigen konnte, wenn er ein Geschenk bekam. Bei den hemmen den Faktoren wurden neun verschie dene Kategorien gefunden. Eine zen tral wichtige Rolle spielte dabei die schon früh gemachte Erfahrung, von seinen Eltern nicht verstanden zu wer den. Die Aussagen der Eltern mach ten deutlich, dass sie sich besonders schlecht in die Gefühlswelt eines klei nen Kindes einfühlen konnten. Dieses mangelnde Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Gefühle des ande ren betraf den Patienten durch seine gesamte Entwicklung, aber auch die Eltern in ihrer Beziehung. Hemmend war auch, dass in der Familie kaum über Gefühle geredet wird. Liebe, Freude oder Zuneigung wird kaum gezeigt, ebenso wie Zorn, Wut und Ärger. In der Familie wurden und werden Gefühle wie Freude, Glück, Zärtlichkeit kaum erlebt und sind allen eigentlich fremd. „Negative“ Gefühle und Erlebnisse des Patienten wurden und werden überbewertet, stehen in der Erinnerung aller stark im Vordergrund. Besonders die Mutter hat große Probleme, Gefühle bei sich zuzulassen. Sie kann Mitgefühl kaum Toifl, Kimmel, Mayring, Mörth annehmen. Sie kann sich ihre eigenen Ängsten, ihrer Trauer, Einsamkeit, Belastung und Enttäuschung nicht zugestehen. Sie kann auch Stolz oder Freude über eigene Leistungen nicht zulassen. Hemmend wirkt auch, dass die Mutter die schulischen Leistungen ihres Sohnes so wichtig hält, dass sein emotionales Wohlbefinden zweitran gig erscheint. Die Mutter spricht so wohl dem Patienten als auch ihrem Ehemann die Kompetenz für eigene Gefühle ab. Als fördernde Faktoren für die Entwicklung eines gesunden Selbst fanden sich nur vereinzelte Hinweise darauf, dass der Patient Mitgefühl von seiner Mutter erlebt, bei sich und an deren Gefühle richtig wahrnimmt und dass auch die Eltern die Fähigkeit be sitzen, Gefühle wahrzunehmen. 9. Organische Entwicklung und Funktion des Gehirns: Bei dieser und der 10. Kategorie ist es nicht notwen dig die Kodierungen zu abstrahie ren. Unter den fördernden Faktoren zeigte sich seine gute und weit zu rückreichende Erinnerungsfähigkeit. Schon als Kind hatte er eine außer ordentliche Merkfähigkeit. Seine Konzentrationsfähigkeit war bis zum Ausbruch der Krankheit sehr gut. Schwangerschaft und Geburtsverlauf waren komplikationslos. Die körper liche und geistige Entwicklung im Sauglings- und Kleinkindalter verlief normal. An hemmenden Einflüssen wurde be richtet, dass die Eltern mit dem Baby sehr wenig gesprochen haben und dass der Patient schon als Säugling sehr vorsichtig und ängstlich war. 10. Sprachentwicklung und Sinnes wahrnehmung: Fördernd war, dass so wohl Entwicklung als auch Funktion der Sinnesorgane ohne Probleme verlief. Als hemmender Faktor gilt die verzögerte Sprachentwicklung. Er sprach zwar bereits mit einem Jahr die ersten Worte. Richtig zu sprechen be gann er erst mit 3 Jahren, als er in den Kindergarten kam. 282 Zusammenfassend kann man sagen, dass bei dieser Einzelfallanalyse bei den ersten 8 Hauptkategorien die hemmenden Faktoren deutlich ge genüber den fördernden überwogen. Auf eine quantitative Gewichtung des Verhältnisses wurde bei diesem Pilotprojekt bewusst verzichtet. Bei dieser Eintelfallanalyse erschienen folgende Problembereich als beson ders hemmend für die Entwicklung eines gesunden Selbst: 1. Das mangelnde Einfühlungsver mögen der Eltern in die emotio nalen Bedürfnisse ihres Sohnes. 2. Die unklare und starke reduzierte Kommunikation 3. Die immer extremer werdenden Erfahrungen von Ablehnung und missachtender Grenz überschreitungen 4. Das Nicht – Zulassen von Selbstständigkeit des Patienten, vor allem durch seine Mutter und die Förderung seiner Abhängigkeit. 5. Die fehlende Ermutigung des Patienten durch seine Eltern, sich durchzusetzen, seine Rechte und Bedürfnisse zu verteidigen und sich gegen Angriffe zu wehren. 6. Die beinahe fehlende Fähigkeit zur Selbstbehauptung 7. Die beinahe fehlende Fähigkeit der Familienmitglieder, Probleme zu erkennen, Situationen rich tig einzuschätzen und schwieri ge Situationen, aus denen sich Probleme entwickeln könnten, zu antizipieren. 8. Die fehlende Zielsetzung und Gestaltung des Lebens nach eige nen Zielsetzungen Diskussion Die traditionelle naturwissenschaftli che Forschung beruht auf dem Prinzip einer linearen Kette von Ursache und Wirkung. Dieser naturwissenschaft liche Ansatz konzentriert sein theo riegeleitetes Interesse auf lineare und reduzierte Fragestellungen. Er analysiert anhand eines Experiments oder einer klinischen Untersuchung. Er misst seine Ergebnisse und will Vorherdsagen treffen. (3) Ein redu zierender wissenschaftlicher Ansatz hat den unbestreitbaren Vorteil, dass Untersuchungen aufgrund der gerin geren Datenmengen einfacher durch führbar sind, er beinhaltet aber auch den gravierenden Nachteil, dass er al les ausschließt, was ungeachtet der re alen Komplexität und Dynamik nicht in den, von ihm gewählten Bereich der Aufmerksamkeit fällt. Im Bereich der Ursachenforschung für psychotische Erkrankungen haben unterschiedlich ste Studien, die auf biologischen, psy chischen sowie sozialen Ansätzen be ruhen, Erkenntnisse hervorgebracht, die eindeutig auf eine mehrdimensio nale, multifaktorielle und dynamische Pathogenese verweisen. (1, 11) Diese Ergebnisse legen einen mehrdimen sionalen pathogenetischen Ansatz nahe, der biologische, individuell psy chische und soziale Einflussfaktoren bei der Entstehung psychotischer Krankheitsbilder integriert. (1) Die Erkenntnisse der Chaostheorie und der damit eng verbundenen Theorie der Selbstorganisation bieten eine Möglichkeit, sich wissenschaftlich auch mit nicht linearen Fragen aus einanderzusetzen. Ciompi (2) tat dies mit der, von ihm formulierten Affektlogik für den Bereich psy chotischer Erkrankungen. Es wur de auf dieser wissenschaftlichen Basis auch eine neue Definition von Gesund und Krank formuliert sowie ein praktikables Modell für mehrdi mensional ausgerichtete Diagnostik und Therapie entwickelt, welches den biologischen, psychischen und sozialen Bereich gleichwertig be rücksichtigt.(13, 14, 15, 16,17) Um die hochkomplexe Dynamik der Entstehung und des Verlaufs psycho tischer Erkrankungen wissenschaft lich untersuchen zu können, wurde die Hypothese formuliert, das es sich bei psychotischen Erkrankungen um das Ergebnis einer dysfunktionalen Entwicklung des Selbst handelt. Um dies zu ermöglichen, wurde auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse aus Psychose aus Sicht der Komplexitätsforschung –Ein Modell zur Untersuchung der Selbstorganisation ... der Komplexitätsforschung und auf grund eigener klinischer Erfahrung mit mehrdimensionaler Diagnose und Therapie bei psychotischen Patienten eine neue Definition des Selbst erstellt. Dabei wurden auch andere integrie rende Vorstellungen berücksichtigt. (1, 2, 4, 10) Um die Ursachenkette zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren zu untersu chen und zu verstehen bedarf es wahrscheinlich – und der hier vorge stellte Ansatz geht in diese Richtung – die Bedeutung einer funktionellen Beeinträchtigung von Aufnahme, Integration und Verarbeitung von Information zu untersuchen. In dem vorgestellte Pilotprojekt wird die Entwicklung eines gesunden Selbst als ein sich selbst organisie render Prozess verstanden, in dem Information aus dem biologischen, psychischen und sozialen Bereich durch nicht lineare Wechselwirkung ein Informationsgefüge entstehen lässt, welches imstande ist, in autono mer und flexibler Weise möglichst be friedigend mit den Anforderungen der individuellen Lebensanforderung zu recht zukommen, weil das Erreichen dieses Zieles gefördert wurde. Wird die Erreichung dieses Ziel massiv ge hemmt, dann entsteht demnach ein biopsycho-soziales Informationsgefüge, welches nicht in befriedigender Weise imstande ist mit den Anforderungen des individuellen Lebens zurecht zu kommen, so dass ein dysfunktionales Selbst entsteht, welches bei überfor dernder Belastung dekompensie ren und psychotisch werden kann. Aufgrund extremer Empfindlichkeit der Anfangsbedingungen und der Gegebenheit von Nichtlinearität und Rückkopplung entstehen individuell unterschiedliche Krankheitsbilder, da die Beiträge der Information aus den bio-psycho-sozialen Bereichen unterschiedlich gewichtet sind. Auf einer solchen erscheinen individu ell abgestimmte, mehrdimensionale Therapiekonzepte erforderlich, die das Ziel verfolgen, die Entwicklung eines möglichst gesunden Selbst zu fördern. Schlussfolgerung Das erarbeitete Untersuchungs konzept erscheint uns eine befrie digende Ausgangsbasis zu sein, um die aufgestellte Hypothese zu überprüfen. Es ist geplant den Untersuchungsaufwand zu reduzie ren, einerseits durch Überarbeitung des Interviewleitfadens, andererseits weil in Zukunft die Transkription des Interviews entfällt, da die Auswertung auf CD-ROM erfolgen kann. Literatur (1) Alanen Y.: Schizophrenie. Entstehung, Erscheinungsformen und die bedürfni sangepasste Behandlung. Klett-Cotta, Stuttgart, 2001 (2) Ciompi L.: Affektlogik, Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. KlettCotta, Stuttgart, 1982 (3) Fasching G.: Das Kaleidoskop der Wirklichkeiten. Über die Relativität naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Springer, Wien, 1999 (4) Fleck S.: The development of schizo phrenia: a psychosocial and biological approach. In: Werbart A., J. Cullberg: Psychotherapy of schizophrenia: facilita ting and obstructive factors. Scandinavian University Press, 179-192, 1992 (5) Kimmel B.: Die Entwicklung des Selbst eines psychotischen Jugendlichen.Eine qualitative Einzelfallanalyse. Un veröffentliche Diplomarbeit, Psycho logisches Institut, Universität Wien, 2000 (6) Lorenz E.: Deterministic Nonperiodic Flow. J Atmospheric Sciences, 20, 69-75, 1976 (7) Masterson J.: The Search for the Real Self – Unmasking the personality Disorders of Our Age. The Free Press, New York, 1988 (8) Mayring P.: Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken. (5.Auflage) Deutscher Studienverlag, Weinheim, 1995 (9) Mayring P.: Einführung in die qualita tive Sozialforschung – Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Psychologie Verlags Union, Weinheim, 1997 (10) Robbins M.: Experiences of Schi zophrenia: An Integration of the Personal, Scientific and Therapeutic. Guilford Press, New York, 19993 (11) Schmauß M.: Schizophrenie – Patho genese, Diagnostik und Therapie. UBIMED, Bremen, 2002 283 (12) Strauss A., J.Corbin: Grounded Theory – Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz, Psychologie-Verlags-Union, Wein heim, 1996 (13) Toifl K.: Chaos im Kopf – ein nicht line arer Weg für Medizin und Wissenschaft. Maudrich, Wien, 1995 (14) Toifl K.: Chaostheorie und Medizin. Selbstorganisation im komplexen System Mensch. Maudrich, Wien,1999 (15) Toifl K.: Selbstorganisation von Ge sundheit und Krankheit im komplexen System Mensch. In: Toifl K.: Chaostheorie und Medizin. Selbstorganisation im kom plexen System Mensch. Maudrich, Wien, 109-132, 1999 (16) Toifl K., R.Gössler: Lehrbeispiel für die Selbstorganisation eines mehrdimensio nalen diagnostischen und therapeutischen Prozesses. In: Toifl K.: Chaostheorie und Medizin. Selbstorganisation im komple xen System Mensch. Maudrich, Wien, 133-151, 1999 (17) Toifl K.: Lebensfluss zwischen gesund und krank. Facultas, Wien, 2004 Univ.-Prof. Dr. Karl Toifl Univ. Klinik für Neuropsychiatrie des Kindes und Jugendalters Medizinische Universität Wien [email protected] Kritisches Essay Critical Essay Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 284–290 Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? Thomas Niederkrotenthaler1, Arno Herberth2 und Gernot Sonneck1 1 Institut für Medizinische Psychologie, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien 2 Institut für Germanistik, Universität Wien entstanden im Rahmen des interdis ziplinären Forschungsprojekts “Me diale Repräsentationen des Suizids und ihre Wirkungen”, gefördert durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Schlüsselwörter Werther-Effekt – Imitation – Suizidprä vention – U-Bahn-Suizide Keywords Werther-effect – imitation – suicide pre vention – subway Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? Betrachtet man Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ und sein historisches Umfeld, lässt sich ein breites Spektrum an Iden tifikationsmöglichkeiten für den damaligen Rezipienten beschreiben. Eine davon bildet die ausführlich dargestellte Befindlichkeit des Prota gonisten, aus der sich ableiten lässt, dass dessen Suizidalität bereits lange vor dem Suizid am Romanende eine Rolle spielt. Wie stark der Imitationseffekt im Bezug auf den Suizid in Folge von Goethes Werk © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 war, konnte nie geklärt werden. Auch die aktuelle Forschung zum Imitationsverhalten nach massen medialen Suiziddarstellungen ist noch zu keiner abschließenden Ein schätzung des Phänomens gelangt. Zahlreiche Studien deuten aller dings auf einen Zusammenhang zwischen Berichtsqualität und kurz fristigen Anstiegen von Suiziden in einzelnen Bevölkerungsgruppen hin. In Österreich ist bereits seit 1987 ein Experiment im Gange, das von der Imitationshypothese ausgehend eine Senkung der U-Bahn-Suizide in Wien, aber auch eine Senkung der Gesamtsuizide durch Beeinflussung printmedialer Berichterstattung zum Ziel hat. Die Zahl der Suizide plus Suizidversuche in der UBahn konnte nach Einführung von Medienempfehlungen zur Suizidberichterstattung zunächst um mehr als 80% gesenkt werden und steigt seit 1991 langsam signifikant an, ohne das Niveau vor der Intervention zu erreichen. Bei einer alleinigen Betrachtung der Suizide zeigt sich hingegen eine dauerhaft relativ konstante Senkung. Die Beobachtung, dass sich im Zeitraum seit 1987 die Passagierzahlen nahezu verdoppelt haben und dass die Gesamtsuizide in Wien und in Österreich seit Einführung der Medienrichtlinien kontinuierlich rückläufig sind, stützen die Hypothese, dass die Zusammenarbeit mit Massenmedien eine effiziente Möglichkeit der Suizidprävention ist. The “Werther-effect”: Legend or reality? In social sciences and in medicine, the term “Werther-effect” is used as a synonym for media induced imitation effects of suicidal behaviour. In Goethe´s novel, the contemporary recipient could find a lot of details to identify with. One of these aspects is the detailed description of Werther´s mental state, which suggests that suicidality plays a role in the novel a long time before the suicidal act at the end. Even though we find several reports on imitation effects connected to Goethe´s Werther in literary works, the epidemiological extent of this phenomenon could never be determined. Also current social scientific research on the impact of suicide stories on suicidal behaviour could not completely remove the remaining lack of evidence of the phenomenon. Nevertheless, many studies support the hypothesis, that some aspects of quality of reporting could trigger short-term increases of suicides in certain population subgroups. In Austria, “Media Guidelines for Reporting on Suicides”, have been issued to the media since 1987 as a suicide-preventive experiment. Since then, the aims of the experiment have been to reduce the numbers of suicides and suicide attempts in the Viennese subway and to reduce the overall suicide numbers. After the introduction of the media guidelines, the number of subway suicides and suicide attempts dropped more than 80% within 6 months. Since 1991, Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 285 suicides plus suicide attempts – but not the number of suicides alone – have slowly and significantly increased. The increase of passenger numbers of the Viennese subway, which have nearly doubled, and the decrease of the overall suicide numbers in Vienna (-40%) and Austria (-33%) since mid 1987 increase the plausibility of the hypothesis, that the Austrian media guidelines have had an impact on suicidal behavior. Der Mythos „Werther“ aus litera turwissenschaftlicher Sicht Das Erscheinen von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ 1774 bildete eines jener literarischen Ereignisse der Zeit, die eine breite Debatte nicht nur in schöngeistigen Zirkeln nach sich zogen [1, S. 266f.]. Als „anstößig“ galt dabei nicht bloß der Inhalt: ein bürgerlicher Intellek tueller im Zentrum der Geschichte, der die bereits versprochene Lotte liebt und begehrt und am Schluss des Romans Suizid begeht. Gerade die Möglichkeit von Imitationssuiziden bildete damals einen Knotenpunkt der Debatte. Dabei müssen jedoch auch die strategischen Interessen der sich äußernden Parteien unbedingt in Rechnung gestellt werden. Die Feststellung des Dekans der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, dass „itzo die Exemplare des Selbstmordes frequenter werden“, um so ein Verbot des Romans zu erwirken, können keineswegs als Beweis für einen ausgedehnten Imitationseffekt in der Folge des „Werther“ gezählt werden, der auch nicht epidemiologisch feststellbar ist [2, S. 40; 1, S. 269 (Anm. 420)]. Für die Kirche muss der Text des „Werther“ einen besonderen Affront dargestellt haben, und das nicht nur aufgrund des vollzogenen Suizids am Schluss [3, S. 74]. In Werther finden wir ein bürgerliches Subjekt vor, das religiöse Attribute und Äußerungen mitunter auch dazu heranzieht, um seine eigene Person in Szene zu setzen [4, S. 593]. Glaube wird von Werther zur Privatangelegenheit he runter gebrochen, und stört damit den Machtanspruch des Klerus der Zeit [5, S. 173f.]. Im Anschluss an das Erscheinen des Romans setzte Textzeugnissen zu folge ein so genanntes „Wertherfie ber“ ein. [1, S. 268f.]. Es soll zu einer umfassenden Nachahmung des Romanprotagonisten gekommen sein, „[die] sich an der im Roman gestalteten Problematik bürgerlichen Selbstverständnisses im feudalen Staat entzündete“ [5, S. 173]. Die Darstellung des „Typus des unzu friedenen Intellektuellen, dessen Integrationsversuche in die ständisch gegliederte Gesellschaft an der starken Hierarchie wie auch an der eigenen hohen Selbsteinschätzung scheitern“ [5, S. 173f.] muss ein besonders starkes Identifikationspotential freigemacht haben. Man imitierte Werthers Kleidung, las Homer, ging einsam im Wald spazieren, imitierte seine Redeweise, machte Aussprüche Werthers zu bon mots im alltäglichen Umgang [6, S. 471]. Ja sogar eine Werther-Tasse soll es gegeben haben [1, S. 267]. Identifikation und Imitation der Romanfigur mögen demzufolge nicht bloß in Verbindung mit dem Ereignis des dargestellten Suizids zu sehen sein. Vereinzelte Fälle von Suiziden, die mit der Romanlektüre als Auslöser in unmittelbarem Zu sammenhang stehen könnten, sind allerdings überliefert [2, S. 41]. In einer anonymen Rezension von 1775 kommt sowohl dieses umfassende Identifikationsangebot des Romans an seine Leserschaft, als auch die Möglichkeit von Folgesuiziden zur Sprache: „Der Hauptvorzug dieses Romans, besteht in der vollkommenen Bearbeitung des Charakters der Hauptperson, der so ein Ganzes ausmacht …, daß man sich kein wahreres und nach der Natur getreuer gezeichnetes Bild eines menschlichen Charakters vorstellen kann. […] Ein Buch sei deswegen gefährlich, weil es zum Selbstmord ermuntere…O, man braucht nicht zu besorgen, daß diese Sünde jemals unter den Menschen Mode werde, dafür hat die Natur wohl gesorgt. In der Tat, es gehören besondre Umstände, eine ganz besondre, einem Krankheitszustande sehr ähnliche Gemütsbeschaffenheit dazu … Und so eine Gemütsbeschaffenheit bringt kein Buch hervor … Zudem lobt und verteidigt der Verfasser nirgend seines Helden Tat.“ [4, S. 532] Hier wird deutlich, dass es sich bei Goethes Werk auch um eine minutiöse Schilderung von Umständen und charakterlichen Merkmalen, die in der Folge den Suizid des Protagonisten bedingen [4, S. 532], handelt. Das Suizidthema wird im Roman bereits vor der Bekanntschaft Wer thers mit Lotte angeschlagen. Im Brief vom 22. Mai beklagt Werther die prinzipielle Einschränkung des Menschen [7, S. 13] und schließt seine Betrachtungen wie folgt ab: „Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will“ [7, S. 14]. Werthers Einschätzung des Suizids als Freiheitsbekundung des Menschen wird jedoch durch andere Äußerungen der Figur in ein ambivalentes Licht gestellt. Sehr oft spricht Werther vom „Schicksal“ in Bezug auf seine Person und spricht vom „Getrieben-Sein“ im Hinblick auf sein Verhältnis zu Lotte. Im folgenden Textbeispiel wird dies deutlich; sobald sich Werther dem Zuhause Lottens nähert, kommt er nicht umhin, sie zu besuchen: „Ich bin zu nah in der Atmosphäre – Zuck! so bin ich dort. Meine Großmutter hatte ein Märchen vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen den übereinanderstürzenden Brettern.“ [7, S. 41] Niederkrotenthaler, Herberth, Sonneck Assoziiert wird das Moment der Anziehung mit einem Märchen aus 1001 Nacht, durch das der nicht zu verhindernde „Untergang“ schon vorweggenommen wird. Dieses Spannungsfeld zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestim mung in Bezug auf den Suizid zieht sich durch den gesamten Text und wird gerade auch in der Beschreibung von Symptomen, die einer depressiven Störung zugeordnet werden können, zugespitzt. So äußert sich Werther zum Beispiel in einem Brief an Lotte folgendermaßen: „Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen, und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe. Der Sauerteig, der mein Leben in Bewegung setzte, fehlt“ [7, S. 65]; Ebenso lassen sich Textstellen finden, die das Moment der Aggression aufgreifen: „Wenn ich mich so in Träumen verliere, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du würdest! ja, sie würde – und dann laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe führet, vor denen ich zurückbebe“ [7, S. 76]. Diese Textbeispiele unterstreichen, dass der „Werther“ auch als „Quel lentext“ medizingeschichtlicher wie literaturwissenschaftlicher For schungen für eine historische Dar stellung unseres Verständnisses von Suizidalität interessant sein könnte. Der „Werther-Effekt“ als Anliegen einer evidenz basierten Suizidprävention In den Sozialwissenschaften und in der Suizidologie wird der „WertherEffekt“ als Begriff für medial indu zierte Imitationssuizide seit geraumer Zeit kontroversiell diskutiert. Obwohl 286 die WHO seit 1993 die Beeinflussung medialer Berichterstattung zu den 6 wichtigsten Basiszugängen der Suizidprävention rechnet [8], konnte die empirische Grundlagenforschung bis heute zu keiner Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes des Phänomens der Imitationssuizide finden. Historie der empirischen Be forschung des „Werther-Effekts“ Der Anfang der empirischen For schung zu medial induzierten Imi tationseffekten geht in die Jahre 1967 und 1970 zurück, als J. Motto seine Hypothese untersuchte, wo nach Suizidraten in Zeiten von Zeitungsstreiks und dadurch feh lender Suizidberichterstattung zu rückgehen könnten [9, 10]. Bereits diese Untersuchungen waren von widersprüchlichen Ergebnissen ge kennzeichnet. D. Phillips prägte schließlich 1974 eine Methodik, die für lange Zeit der methodische „State of the Art“ in der soziologischen Beforschung des Phänomens bleiben sollte [11]: Er untersuchte, wie sich die Suizidraten nach Suizidberichten auf der Titelseite der „New York Times“ veränderten, und fand, dass diese nach entsprechenden Berichten signifikant anstiegen. In weiteren Untersuchungen stellte er fest, dass dieser Anstieg umso deutlicher ausfiel, je stärker das Medium ver breitet war und je intensiver über den Suizid berichtet wurde. D. Phillips führte den historisch zweifelhaften, aber einprägsamen Begriff „WertherEffekt“ in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Mit dem von ihm konstruierten Studiendesign wur den auch signifikante Korrela tionen zwischen medialer Suizid berichterstattung und tödlichen Motorradunfällen, für die eine suizidale Komponente angenommen wurde [12], und sogar mit nichtkommerziellen Flugzeugabstürzen [13], gefunden. Trotz dieses „Werther- Fiebers der Scientific Community“ konnten Zweifel bezüglich der Evidenzbasiertheit der Ergebnisse nie vollständig ausgeräumt werden. Dies spiegelte sich in wissenschaftlichen Schlagabtäuschen wie jenem mit Baron und Reiss (1985) wider [14, 15], die Phillip´s Ergebnisse unter anderem auf natürliche Schwankun gen der Suizidzahlen zurückführten, mit dieser Argumentation jedoch nur teilweise überzeugen konnten [16]. Die Auswirkungen der TV-Serie „Der Tod eines Schülers“ im ZDF, 1981 und 1982 Neben der printmedialen Bericht erstattung wurden auch Auswirkungen von Fernsehdarstellungen des Suizids in den Fokus genommen. Eine nicht nur im deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Untersuchung stammt in diesem Zusammenhang von A. Schmidtke und H. Häfner, die die Auswirkungen der 6-teiligen TVSerie „Tod eines Schülers“ über den fiktiven Eisenbahnsuizid eines 19jährigen Jugendlichen untersuchten [17]. Die wöchentlich ausgestrahlten Folgen, in denen jeweils zu Beginn der Sendung der Suizidakt indirekt gezeigt wird, führten zu einem Anstieg der Eisenbahnsuizide um 174% in der modellgleichen Altersgruppe männlicher Jugendlicher. Auch eineinhalb Jahre später, als die Serie trotz Warnungen von psychiatrischer Seite wiederholt wurde [18], kam es wiederum zu einem ähnlichen Effekt. Daraus lässt sich ableiten, dass Ähnlichkeiten zwischen Modell und Rezipient(inn)en für Imitation – speziell bei Jugendlichen – eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen – eine Hypothese, die auch durch die Theorie der differentiellen Identifikation gestützt wird [19]. Wie Schmidtke und Häfners Studie weiters nahe legt, ist Identifikation prinzipiell nicht nur mit authentischen Modellen vorstellbar, sondern kann vielmehr durchaus auch fiktive Medieninhalte betreffen [19]. Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 287 Abbildung 1: U-Bahn-Suizide und -Suizidversuche 1980-2005 in Wien In den bisher genannten Studien wurden erhöhte Suizidzahlen zum Anlass genommen, um retrospektiv nach Medienberichten zu suchen, die diesen Anstieg (mit)verursacht haben könnten. Die Wiener U-Bahn Suizide Möglicherweise das erste prospektive Feldexperiment zum Thema medial induzierter Imitationseffekte wurde 1987 nach einem exponentiellen Anstieg der U-Bahn-Suizide und -Suizidversuche in Wien gestartet [20, 21]. Dieser Anstieg nährte die Befürchtungen, dass diese öffentlichkeitswirksame Suizidmethode begünstigt durch die damals sehr ausführliche und sensationsträchtige Berichterstattung bald zu den am weitest verbreiteten Suizid- und Suizidversuchsmethoden in Wien gehören könnte. Ein Arbeitskreis der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention (ÖGS) verfasste „Medienrichtlinien zur Berichterstattung über Sui zid“. In diesem Leitfaden waren zahlreiche Hypothesen über imi tationsbeeinflussende Faktoren me dialer Darstellungen als Hilfestellung für Journalist(inn)en enthalten. Ziel dieses Experimentes war 1.) eine Reduktion der U-BahnSuizide und -Suizidversuche zu erreichen und 2.) die Gesamtsuizidzahlen in Wien und in Österreich zu reduzieren. die Gesamtsuizide gingen 1987 erstmals seit 20 Jahren um 8% in Wien und um 3,5% in Österreich zurück. Die Verbreitung der Richtlinien wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention organisiert und in Wien zusätzlich durch die Wiener Linien mit Hinweis auf die stark gestiegenen U-Bahn-Suizidzahlen gestützt. Die Medienkampagne zur Ersteinführung der Richtlinien Mitte 1987 hatte eine prompte quantitative Verringerung und eine weniger sensationsträchtige Darstellungsweise der Suizidbe richterstattung zur Folge [21]. Inner halb eines halben Jahres nach der Einführung sank die Zahl der im UBahn-Bereich vollzogenen Suizide und Suizidversuche um 80%. Auch Nach ihrer erstmaligen Einführung wurden die Medienrichtlinien immer wieder anlassbezogen nach dem Erscheinen von Printmedienberichten über Suizide an Journalist(inn)en und Chefredakteure / Chefredakteurinnen der wichtigsten österreichischen Tageszeitungen, die insgesamt 90% der nationalen Zeitungsreichweite umfassen, ausgesandt. Während die Zahl der Suizide und Suizidversuche im U-Bahn-Bereich seit 1991 leicht und signifikant anstieg (p<0,05), ohne dabei die Zahl vor Interventionsbeginn zu erreichen, zeigt eine alleinige Betrachtung der Suizide keinen signifikanten Anstieg Die Entwicklung seither: U-BahnSuizide plus Suizidversuche nur leicht ansteigend, Passagierzahlen verdoppelt, Gesamtsuizide sinken weiter Niederkrotenthaler, Herberth, Sonneck 288 Abbildung 2: Jährliche Zahl der Suizide in Wien und die Regressionsgeraden bis 1986 und ab 1987. Die strichlierten Geraden entsprechen den 95% Vorhersageintervalle der Regressionsgeraden. Die relative Konstanz der Suizid zahlen ist bemerkenswert, da sich die Zahl der Passagiere im gleichen Zeitraum von 222 Mio. auf 424 Mio. fast verdoppelt hat. Wie in anderen Studien beschrieben wurde, spielt die Verfügbarkeit der U-Bahn eine wesentliche Rolle für die Häufigkeit von U-Bahn-Suiziden [22]. Auf der Ebene der Gesamtsuizide hat sich der Rückgang weiter fortgesetzt. Seit Mitte 1987 sind die Suizidzahlen in Wien bereits um 40% und in Österreich um 33% zurückgegangen. Die international wahrscheinlich erste Analyse der Auswirkungen von Medienempfehlungen auf Sui zidzahlen [23,24] zeigte einen sig nifikanten Zusammenhang zwischen der Reduktion der Gesamtsuizide und der Einführung der Medien empfehlungen in Österreich. Die Intervention wurde als ein sui zidpräventiver Effekt von jährlich 81 Suiziden österreichweit berechnet. Dieser Effekt war insbesondere in Regionen mit hoher Auflagezahl der kollaborierenden Medien feststellbar. Eine sogenannte Dosis-WirkungsBeziehung zwischen Medieninput und Suiziden ist damit nicht nur für die Induktion, sondern auch für die Prävention von Imitationssuiziden wahrscheinlich [23]. Auch ande re Aspekte des Phänomens der Imitationseffekte wurden in Öster reich untersucht. So konnte eine weitere österreichische Untersuchung nachweisen, dass selbst nach einem Fernsehbericht über die Auswirkungen von Überführungen auf die betroffenen Lokführer , in dem kein konkretes Modell zur Imitation mitgeliefert wurde, Imitationseffekte feststellbar waren [25]. Auch die Hypothese, dass Medienrichtlinien bei engagierter Zusammenarbeit mit Medienvertreter(inne)n einen signifikanten Einfluss auf die Berichterstattung haben können, konnte bereits in mehreren Studien nachgewiesen werden [23]. Das österreichische Experiment ist dabei das bisher einzige Projekt, das auch einen unmittelbaren suizidpräventiven Effekt postuliert. Bisher abgesicherte Forschungs ergebnisse und Anknüpfungsmög lichkeiten Wie S. Stack (2005) in seiner qualitativen Review analysiert [19], gibt es trotz der häufig wider sprüchlichen Ergebnisse bezüglich des “Werther-Effekts“ einige Ergebnisse, die von einer Mehrheit der Studien zur Thematik mitgetragen werden: So deuten viele Untersuchungen darauf hin, dass nach medialen Darstellungen von Suiziden Prominenter häufiger Imitationseffekte nachweisbar wer den als bei Suiziden von nicht in der Öffentlichkeit stehenden Personen. Dies könnte einerseits auf die Vor bildwirkung Prominenter [19], Der „Werther-Effekt“: Mythos oder Realität? 289 sowie auf die häufig ausführlichere Berichterstattung im Fall eines Prominentensuizids zurückzuführen sein. Weiters wurden nach Berichten in Zeitungsmedien bisher wesentlich häufiger Imitationssuizide gefunden als nach Fernsehberichten. Eine mögliche Ursache dafür ist, dass Zeitungsberichte aufbewahrt und immer wieder gelesen werden können, was ihre Wirkung eventuell verstärkt [19]. Generell wird für authentische Suizidberichte ein größeres Imita tionspotential angenommen als für fiktive Darstellungen [19], obwohl fiktive Suiziddarstellungen darüberhinaus weniger beforscht wurden und darüberhinaus unter gewissen Umständen ebenfalls Imi tation hervorrufen können [17]. Dass qualitative Aspekte des Medienberichts eine wesentliche Rolle für Imitation spielen, kann unter anderem daraus abgeleitet werden, dass nach Berichten mit moralischen Verurteilungen des Suizids und solchen mit detailreichen Beschrei bungen von Verstümmelungen nach Suizidversuchen so gut wie nie Imitationseffekte nachweisbar wur den [19]. Dass derartige Berichte aufgrund der mit ihnen einhergehenden Stigmatisierung allerdings keines wegs als allgemein suizidpräventiv bezeichnet werden können, versteht sich von selbst. Ein Verweis auf Hilfsmöglichkeiten für Menschen in Notsituationen könnte hingegen dazu beitragen, Medienberichte auch präventiv zu nutzen [28]. Welche Darstellungsmerkmale jene sind, die am stärksten Imitation fördern oder präventive Anliegen stützen, ist allerdings nach wie vor nicht gänzlich geklärt [20]. Insbesondere heroifizierende und romantisierende Darstellungen des Suizids sind zu meiden, um Imi tationshandlungen zu verhindern, so lautet eine der Kernhypothesen der Medienrichtlinien [28]. Auch die Nennung von Details zum Suizidort und zur Suizidmethode ist zu vermeiden, wie die Häufung der Wiener U-Bahn-Suizide vor der Einführung der Medienrichtlinien sowie Untersuchungen aus Deutsch land, Japan und den USA zeigten [20, 29]. Durch mediale Propagierung entstehende örtliche Suizidhäufungen können ihrerseits wiederum einen Anlass zu verstärkter und sensations trächtiger Berichterstattung geben, wenn dieser Kreislauf nicht frühzeitig unterbrochen wird. Aber nicht nur der Quantität und Qualität der Medienberichte, sondern auch Merkmalen der Rezipient(inn)en dürfte ein wesentlicher ursächlicher Faktor für das Auftreten von Imita tionseffekten zuzuschreiben sein: Es ist davon auszugehen, dass verschiedene demographische Subgruppen wie z. B. Jugendliche oder ältere Menschen tendenziell stärker zur Imitation neigen als mittlere Altersgruppen [19]. Identitätssuche im jugendlichen Lebensalter und mögliche Verein samung im Alter könnten Ursachen für diese Beobachtung sein. Be züglich des Geschlechts wurden Imi tationseffekte in der Vergangenheit insgesamt häufiger bei Frauen erfasst als bei Männern [19], was im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen Suizid raten, die für Männer 2-3 mal höher liegen, besonders auffällt. Unsere Analysen der U-Bahn-Suizide, die ein ungefähr gleich bleibendes Ge schlechtsverhältnis männlicher zu weiblicher U-Bahn-Suizide von etwa 2:1 vor und nach Beginn der Medienintervention sowie einen überraschend großen Männeranteil auch bei Suizidversuchen zeigen, unterstützen diese Hypothese nicht. Unabhängig von demographischen Merkmalen ist es von großer Be deutung, ob der Rezipient / die Rezipientin zum Zeitpunkt der Rezeption suizidal ist oder nicht: Es ist davon auszugehen, dass Medien berichterstattung nicht als Ursache für einen Suizid, sondern vielmehr als Suizidauslöser bei bereits suizidalen Menschen fungieren kann [28]. Die Untersuchung von Medienwirkungen auf suizidale Menschen ist eines der am wenigsten beforschten Gebiete im Forschungsfeld medial induzierter Imitationseffekte [19]. In diesem Sinne wäre auch ver mehrt Forschung auf rezipient(inn) enorientierten Ebenen notwendig, um besser abschätzen zu können, welche personenbezogenen Variab len für Identifikation mit dem Suizidmodell und weiterführend für Imitationsverhalten relevant sind. Bei primär medienorientierten Untersuchungen wäre es anderer seits zielführend, vorweg zu ana lysieren, wie die Darstellungen, die das Untersuchungsmaterial bilden, qualitativ und quantitativ tatsächlich beschaffen sind und für welche Bevölkerungsgruppen die Auswirkungen dieser Darstellungen getestet werden sollen. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Evidenzbasiertheit von suizidpräventiven Anliegen, zu denen die Zusammenarbeit mit Massenmedien gehört, in mehreren Publikationen generell angezweifelt [30]. Mit Hilfe innovativer und differenzierter methodischer Zugänge könnte es durchaus möglich werden, die Bedeutung des „Werther-Effekts“ für die Suizidprävention in der Zukunft auch international besser einzuschätze. Wie R. Goldney (2005) in seiner Review ausführt, sind viele methodische Möglichkeiten bisher noch nicht vollständig genutzt [30]. Literatur [1] Schreiner, J.: Jenseits von Glück. Suizid, Melancholie, und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. München: R. Olden bourg 2003. [2] zit. nach Steinberg, H.: Der 'WertherEffekt'. Psychiatrische Praxis, 26, 37-42 (1999). [3] Hinterhuber, H.: Philosophisch-lite rarische Aspekte des Suizids. Neuro psychiatrie, 19(2), 72-77 (2005). [4] Trunz, E.: Anmerkungen. In: Goethe, J. W.: Werke. Band 6: Romane und Novellen I. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998. Niederkrotenthaler, Herberth, Sonneck [5] Beutin, W. et. al:. Deutsche Literatur geschichte. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler (2001). [6] Jeßing, B. et. al.: MetzlerGoetheLexikon. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler (2004). [7] Goethe, J. W.: Die Leiden des jungen Werther. In: Goethe, J. W.: Werke. Bd. 6. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1998. 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[31] Goldney, R. D.: Suicide prevention. A pragmatic review of recent studies. Crisis, 26, 128-140 (2005). Dr.med. Thomas Niederkrotenthaler Medizinische Universität Wien Zentrum für Public Health Institut für Medizinische Psychologie thomas.niederkrotenthaler@meduni wien.ac.at Mag.phil. Arno Herberth Universität Wien Institut für Germanistik [email protected] Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 4/2007, S. 291–301 Kritisches Essay Critical Essay Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. Von der Geschichte einer Kontroverse zu den Erkenntnissen der modernen Linguistik Hartmann Hinterhuber Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck Schlüsselwörter: Sigmund Freud – Rudolf Meringer – Carl Mayer – Versprechen – Verlesen, Psycholinguistik Key words: Sigmund Freud – Rudolf Meringer, Carl Mayer – slip of the tongue – speech error – mis-reading – psycholinguistics Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. Von der Geschichte einer Kontroverse zu den Erkenntnissen der modernen Lingustik Um zu den Begriffen des Unbe wussten, des Vorbewussten und des Bewussten zu kommen, ging Sigmund Freud sowohl in seiner „Psychopathologie des Alltaglebens“ als auch in seinen „Vorlesungen“ von den Fehlleistungen, insbesondere vom Versprechen, vom Verlesen und vom Vergessen aus. In den Fehlleistungen erkannte Freud Parallelen zu den Träumen. Diese analysierte er in den genannten Arbeiten unter dem Aspekt der psychischen Motivation. In jenen Schriften erwähnt Sigmund Freud die Studie von Rudolf Meringer und Carl Mayer, die diese 1895 herausgegeben haben. Meringer und Mayer machen © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259 für das Versprechen aber Phänomene, wie Vertauschungen und Umstellungen von ganzen Wörtern, von Silben oder von Lauten, ferner auch Vorwirkungen / Vorklänge oder Antizipationen sowie Nachwirkungen / Nachklänge, WortKontaminationen und Wort-Substitu tionen, verantwortlich. Die vorliegende Arbeit zeigt auf, mit welcher Leidenschaft die drei Wissenschaftler ihre Schwerpunkte vertreten haben. Für die moderne Psycholinguistik und für die Sprach psychologie sind Versprecher immer Ausdruck einer momentanen Funk tionsstörung des menschlichen Sprach produktionssystems: Für den kog nitiven Prozess der Sprachproduktion gewähren die Versprecher Einblick in Sprachrepräsentations- und -verar beitungsaspekte. Vorwirkungen und Nachwirkungen als Serialisierungs fehler stellen – wie bereits Meringer und Mayer erkannt haben – die große Mehrheit aller Versprecher dar: Sie enthüllen keinen verborgenen Sinn. Bei lexikalisch-semantischen Versprechern ist aber die Frage der psychischen Motivierung zulässig. Welche Auffassung der Einzelne von den psychischen Vorgängen und der „Topologie des psychischen Apparates“ hat, entscheidet darüber, welche Determinierungskraft dem Unbewussten beigemessen wird. Diese kurze Abhandlung ist ein Zeichen der Wertschätzung und der Dankbarkeit: zum ersten eine bescheidene Geburtstagsgabe für Sigmund Freud, zum zweiten eine Hommage für Carl Mayer, der während seiner 40-jährigen Vorstandschaft der PsychiatrischNeurologischen Klinik Innsbruck Generationen von Nervenärzten geprägt hat, sodass sein Nachfolger Hans Ganner zu Recht von einer „Carl-Mayer-Schule“ gesprochen hat. Letztlich ist diese kleine Studie aber auch – und besonders – eine späte Würdigung Rudolf Meringers, des großen österreichischen Linguisten. Sigmund Freud, Rudolf Meringer and Carl Mayer: Slips of the tongue and mis-readings. The history of a controversy In both his The Psychopathology of Everyday Life and his Lectures Sigmund Freud derived the terms unconscious, preconscious and conscious, particularly from slips in speech, slips in reading and forgetfulness. In these slips, Freud recognised parallels to dreams. In the work mentioned, he analysed these in depth as part of mental motivation. In the papers referred to, Sigmund Freud paid tribute to Rudolf Meringer and Carl Mayer’s study which was published in 1895. Meringer and Mayer showed as phenomena reversals and rearrangement of whole words, syllables or sounds, along with pre-tones or anticipations and echoes, word contaminations and word Hinterhuber substitutions as responsible for slips of the tongue. The present work demonstrates how passionately these three scientists have contributed to the controversy of their standpoints. For modern psycholinguistics and the psychology of language, speech errors are always an expression of a momentary malfunction of the human speech production system: for the cognitive process of speech production slips of the tongue offer an insight into speech processing. Pre-tones and echoes, serialization errors, as Meringer and Mayer recognised, represent the vast majority of slips of the tongue. They do not reveal any hidden point. But with lexical-semantic slips of the tongue the question of mental motivation is admissible. This short paper is a sign of appreciation and gratitude: firstly, a modest birthday gift for Sigmund Freud, secondly homage to Carl Mayer, who influenced generations of neurologists in his 40 years of chairing the Psychiatric-Neurological Clinic in Innsbruck, so that Hans Ganner rightly spoke of a “Carl Mayer School”. But lastly, this short study is also—and especially—a late recognition of Rudolf Meringer, the great Austrian linguist. The view an individual has concerning mental processes and the “topology of the psychic apparatus” is decisive as to the power of determination attached to the unconscious. 292 des Unbewussten“. Fehlleistungen sind unbeabsichtigte Handlungen, durch welche die handelnde Person ein Ziel, das sie bewusst anstrebt, unwillkürlich durch ein anderes ersetzt. Sigmund Freud rückte diese bedeutungsvollen Phänome des alltäglichen Lebens in die Nähe des Symptoms, da es sich auch bei ihnen um eine Kompromissbildung zwischen der bewussten Absicht und dem verborgenen Wunsch handle: Beim Versprechen trete somit oft die eigentliche Meinung des Sprechers unfreiwillig zutage. Anstelle des intendierten Wortes werde ein ähnlich klingendes gesprochen, das aber dem Gedachten besser entspreche. Diese Fehlleistungen hat Sigmund Freud im Rahmen der „Psychopathologie des Alltagslebens“ (1901 bzw. 1904) unter dem Aspekt der psychischen Motivation analysiert. In dieser Schrift veröffentlichte er in humorvoller Form eine Menge treffender Beispiele für Fehlleistungen. Jacques Lacan kommentierte dies 1953 sehr gekonnt, indem er schrieb: In der Psychopathologie des Alltagslebens (…) wird deutlich, dass jede Fehlleistung ein geglückter, ja sogar ein ziemlich hübsch gedrechselter Diskurs ist (…). Freud’sche Versprecher sind solche, bei denen eine psychische Motivation, ein „Sinn“ vermutet werden kann. Fehlleistungen offenbaren also nach Freud ein Streben, das mit der vorgegebenen Intention im Widerspruch steht und sich im Kompromiss durchsetzt. für vergleichende Sprachforschung an der Universität Wien, und Carl Mayer, Professor für Psychiatrie und Nervenpathologie an der Universität Innsbruck und durch 40 Jahre Vorstand der Innsbrucker PsychiatrischNeurologischen Universitätsklinik, beschäftigt: 1895 erschien ihre 204 Seiten umfassende Monographie „Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-linguistische Studie“ (s. Abb. 1) in der renommierten Göschen’schen Verlagshandlung. Sigmund Freud kannte das Buch – er hat auch fleißig daraus zitiert (ohne jedoch die Quelle anzugeben). „Versprechen und Verlesen“ ist 1978 in Amsterdam bei John Benjamins B.V. neu gedruckt und verlegt worden (s. Abb. 2). Meringer und Mayers „Ver sprechen und Verlesen“ Ausgangspunkt dazu war eine Beobachtung von Salomon Stricker – ebenfalls einer der Professoren Sigmund Freuds –, der bei „stillem Sprechen“ eine r-Dissimilation konstatiert hatte. Der Physiologe Stricker selbst hatte 1880 „Studien Einleitung* Freud’sche Versprecher kennt jeder: In einer ad-hoc-Umfrage assoziierten spontan angesprochene Menschen mit dem Namen „Sigmund Freud“ sofort sprachliche Fehlleistungen, erst dann kamen Antworten wie „Begründer der Psychoanalyse“ oder „Erforscher * 1 Mit Fehlleistungen haben sich aus „psychologisch-linguistischer“ Sicht1 bereits mehr als 6 Jahre vor Sigmund Freud Rudolf Meringer, Professor Meringers und Mayers „Versprechen und Verlesen“ berücksichtigt die damals aktuelle neurophysiologische Sprachforschung; es wird auf die Bedeutung der Arbeiten von Männern wie Broca, Wernicke, Kußmaul, Lichtheim (...) genauso hingewiesen wie auf Ernst Malachowskis Buch „Versuch einer Darstellung unserer heutigen Kenntnisse in der Lehre von der Aphasie“. Erwähnt wird dort schon auf Seite 2: Eine Kritik der herrschenden Ansichten bringt Dr. Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien, Wien 1891. Rudolf Meringer und Carl Mayer publizierten in ihrem Buch die seinerzeit größte Sammlung von Versprechern. Insgesamt hat Meringer ca. 4.400 Lapsus Linguae zusammengetragen! Die vorliegende Studie stellt eine Überarbeitung des Vortrages dar, der am 23.6.2006 im Rahmen des Symposiums "Die Univ.-Klinik für Psych iatrie Innsbruck gedenkt des 150sten Geburtstages von Sigmund Freud" gehalten worden ist. Der Begriff "Psycholinguistik" existiert erst seit etwa 1950. Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. Abbildung 1 Abbildung 2 über die Sprachvorstellungen“ publiziert. Der Linguist Meringer versuchte im genannten Buch, die Zusammenhänge der einzelnen Erscheinungen bei den gewöhnlichen Arten der Sprechfehler als regelhaft nachzuweisen. Die Subjektivität des Versprechens wurde somit aufgehoben. Wörtern und Silben sowie von Lauten - Nachklänge, Postpositionen von Wörtern und Silben sowie von Lauten - Kontaminationen von Sätzen, Redensarten, Konstruktionen so wie von Wörtern - Substitutionen von Wörtern Das Buch basiert auf Meringers Überzeugung, dass man sich nicht regellos verspricht, sondern dass die häufigeren Arten sich zu versprechen auf gewisse Formeln gebracht werden können. Mit der Regelmäßigkeit der Sprechfehler (wie ich zum Unterschied von den organisch bedingten Sprachfehlern sagen will) gewinnen dieselben an Bedeutung, sie müssen durch konstante psychische Kräfte bedingt sein und so werden sie zu einem Untersuchungsgebiet für Natur forscher und Sprachforscher, die von ihnen Licht für den psychischen Sprechmechanismus erwarten dürfen. Für Meringer und Mayer sind „psycho logisch-linguistisch“ folgende Fehl leistungen für das Versprechen ver antwortlich: - Vertauschungen und Umstellungen von ganzen Wörtern, von Silben oder von Lauten - Vorklänge und Antizipationen von Auch für Meringer und Mayer kann das Versprechen eine tiefere Be deutung besitzen: Sie schreiben (S. 98): Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Thätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich thöricht 'Vergesslichkeiten' genannt werden. Die Autoren betonen aber auch: Man muss sich hüten, den Sprechfehler als etwas Pathologisches aufzufassen. Beim Sprechfehler ver_ sagt nur die Aufmerksamkeit, die Maschine läuft ohne Wächter, sich selbst überlassen. 2 293 Sigmund Freud und das Versprechen Während seines Urlaubes im Sommer 1898 schrieb Sigmund Freud an Wilhelm Fließ, er habe endlich eine „Kleinigkeit“ erfasst: die Bedeutung einer Fehlleistung und das Mittel zur ihrer Entschlüsselung durch die Methode der freien Assoziationen. Die erste, von Freud auf diese Weise analysierte Fehlleistung war das Vergessen des Namens des Dichters Julius Mosen.2 Der Name „Julius“ hatte für ihn eine besondere Bedeutung: Julius war der Name des ersten jüngeren Bruders von Sigmund Freud, der bei dessen Geburt eine starke Eifersucht zeigte und ihn „mit bösen Wünschen“ begrüßt hatte. Julius ist knapp einjährig am 15. 4. 1858 verstorben. Sigmund Freud beginnt in „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ das 5. Kapitel „Das Versprechen“ mit einem Bekenntnis: Ich befinde mich hier ausnahmsweise in der Lage, eine Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben R. Meringer und C. Mayer eine Studie über 'Versprechen und Verlesen' publiziert, deren Gesichtspunkte fernab von den meinigen liegen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur Untersuchung veranlasst worden, den Regeln nachzugehen, nach denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen Julius Mosen ist unter anderem auch der Dichter der Tiroler Landeshymne „In Mantua zu Banden“. Hinterhuber Regeln auf das 'Vorhandensein eines gewissen geistigen Mechanismus' schließen zu können, 'in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise verbunden und verknüpft sind' (IV. 61). [4]. Zur Klärung der beobachteten Arten des Versprechens stellt Meringer eine verschiedene psychische Wertigkeit der Sprachlaute auf: Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste Wort eines Satzes innervieren, wendet sich der Erregungsvorgang bereits den späteren Lauten, den folgenden Worten, zu, und so weit diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie einander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch innervierten Lautes klingt vor oder hallt nach und stört so den minderwertigen Innervationsvorgang. Es handelt sich nun darum zu bestimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes sind (IV. 62)[4]. Sigmund Freud widerspricht in der Folge der Ansicht Meringers, es gäbe eine Hierarchie von höchstbzw. hochwertigen Lauten. Die Ungleichwertigkeit der Laute lässt Freud „nur für die Aufklärung der Lautstörungen sowie der Vorund Nachklänge“ zu: (...) Wo sich die Wortstörungen nicht auf Lautstörungen reduzieren lassen, z. B. bei den Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben auch sie unbedenklich die Ursache des Versprechens a u ß e r h a l b des intendierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt durch schöne Beispiele erwiesen. Freud zitiert in diesem Zusammenhang das „Vorschwein“-Versprechen: Die Bildung von Substitutionen und Kontaminationen beim Versprechen ist somit immer ein Beginn jener Verdichtungsarbeit, die wir in eif rigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden (IV. 67)[4]. Nachdem Freud noch das von Merin ger im Jahr 1900 zitierte Versprechen 3 294 des Präsidenten des österreichischen Abgeordnetenhauses („... ich konsta tiere die Anwesenheit von so und soviel Herren und erkläre somit die Sitzung für geschlossen!“) dargestellt hat, fasst er zusammen: Zeigen uns die letzten Beispiele von Meringer und Mayer, dass die Sprechstörung ebenso wohl durch einen Einfluss vor- und nach klingender Laute und Worte des selben Satzes entstehen kann, die zum Ausgesprochenwerden bestimmt sind, wie durch die Einwirkung von Worten außerhalb des intendierten Satzes, deren Erregung sich sonst nicht verraten h ä t t e, so werden wir zunächst erfahren wollen, ob man die beiden Klassen von Versprechen scharf sondern und wie man ein Beispiel der einen von einem Falle der anderen Klasse unterscheiden kann (IV. 68) [4]. Es ist die Annahme hintergründiger, ja abgewiesener Intentionen, die für Sigmund Freud erst den Weg zum tieferen Verständnis der Fehl leistungen öffnet. Auf Seite 179 würdigt Sigmund Freud die erwähnte Arbeit von Me ringer und Mayer und bekennt: Ich bin also keinesfalls der Erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet. Freud setzt in einer Fußnote aber hinzu: Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt, wie sehr ich diesem Autor unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Sigmund Freud wohl die Möglichkeit erkannt hat, dass lautliche Worteigenheiten zu Versprechern führen, dass er diesen aber nur eine begünstigende Wirkung beimisst. In seiner Schrift „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ (S. 90) schreibt er: Die Gesetze, nach denen die Laute verändernd aufeinander einwirken, möchte ich nicht anzweifeln: sie scheinen mir aber nicht wirksam genug, um für sich allein die korrekte Ausführung der Rede zu stören. In den Fällen, die ich genauer studiert und durchschaut habe, stellen sie bloß den vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein ferner gelegenes psychisches Motiv bequemerweise bedient, ohne sich aber an den Machtbereich dieser Beziehungen zu binden. In seiner kleinen Publikation „Das Interesse an der Psychoanalyse“ (1913) kommt Freud auf das Versprechen zurück und schreibt: Fehlleistungen sind das bequemste Material für jeden, der sich von der Glaubwürdigkeit der psychoanalytischen Einsichtung überzeugen lassen will. Die Auseinandersetzung eskaliert Rudolf Meringer veröffentlichte 1908 die Fortsetzung seiner Untersuchungen in einem Buch mit dem Titel „Aus dem Leben der Sprache: Versprechen, Kindersprache, Nachahmungstrieb“. Wieder kategorisierte er Versprecher aus „psychologisch-linguistischer“ Sicht: Dadurch stellte er sich neuerlich gegen den Versuch Sig mund Freuds, in den Versprechern vor allem psychopathologische All tagsphänomene zu sehen. Im Kapitel „D. Anhänge zum I. Hauptstück“ ging Meringer auf „Andere Arbeiten zum Versprechen“ ein und griff Freud und dessen Interpretation massiv an. Auch beklagte er sich, dass Freud nicht wenige seiner Beispiele zitiert hatte, ohne die Quelle zu nennen: Ich muss hier eine Arbeit nennen, nicht so sehr, weil sie uns wirklich gefördert hätte, sondern weil der Verfasser dieser Meinung in so hohem Grade ist, dass er das, was ich mit Mayers Hilfe erkundet und niedergeschrieben habe, nur als 'Vorarbeit' seiner erschütternden Leistung gelten lassen Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. X. Bd. I. Heft; dann auch separat erschienen Berlin S. Karger 1904. Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. kann. Herr Sigmund Freud hat in seiner Schrift 'Zur Psychopathologie des Alltagslebens'3 den Versuch gemacht, viel tiefer in das Wesen des Versprechens einzudringen, als das mir geglückt war. Von einigen bei mir gelesenen Fällen, in denen Nebengedanken sich offenbaren (z. B. 'dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen' wegen 'Schweinereien', V. u. V. = Versprechen und Verlesen, S. 62), ausgehend, hat er die Meinung gefasst, dass in allen Fällen des Versprechens, auch in den rein lautlichen und formellen überhaupt, solche Nebengedanken die Ursache des Versprechens sind. Dies suchte er durch psychische Analysen einiger Fälle, die er gesammelt hat, darzulegen. Diese Analysen sind öfters jenseits von gut und böse. Die Auseinandersetzung mit Freuds Erklärungen ist unnötig, denn sei ne Deutungen haben schwerlich einen Eindruck gemacht, ausser etwa bei den Herren, welche den publizistischen Weiterverschleiss dieser Phantasien in den Blättern unter dem Titel: 'Unfreiwillige Geständnisse' besorgten4. Unnötig ist eine Polemik gegen diese Schrift, weil sie schon durch das Material, das in V. u. V. niedergelegt ist, widerlegt war. Wäre Herr Freud imstande, seinen Einfällen einige Kritik angedeihen zu lassen und sein Luftschiff zu lenken, so hätte er das selbst sehen müssen. Das neue Material, das ich hiermit vorlege, wird wohl genügen, etwaige weitere Versuche in der Freudschen Richtung unmöglich zu machen. Freud hat – es ist die einzige Spur von Selbstkritik in seiner ganzen Arbeit – das Motto aus Goethes Faust gewählt: 'Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, 4 5 6 Dass niemand weiss, wie er ihn meiden soll.' Ich hoffe, dass diese Art Spuk jedermann zu meiden verstehen wird5. Es wäre mir nicht eingefallen, mich mit Herrn Freuds Ausführungen über haupt zu beschäftigen, wenn ich nicht fürchtete, dass sie unter Umständen geradezu Unheil anrichten könnten. Nicht in der Wissenschaft – aber im Leben. Ein Versprechen ist nur dann zu erklären, wenn ich die Seele des Mannes, der sich versprochen hat, kenne. Es ist aber unmöglich, aus einem Versprecher die Seele des Mannes kennen zu lernen, denn hier werden einzelnen Treffern sehr viele Fehlschüsse gegenüberstehen. Ich kann mir wohl vorstellen, und ich habe es oft erlebt, dass ein Mann im Versprechen etwas sagt, was durchaus nicht seine Meinung ist, so dass er selber darüber erschrickt. Gegen diese Verwertung meiner Gedanken, wie sie Herr Freud be liebt hat, gegen diese Nacharbeit zu meiner 'Vorarbeit', protestiere ich auf das energischeste. Im Briefwechsel zwischen Freud und Jung – diesem unmittelbaren Zeugnis der höchst fruchtbaren und letzten Endes tragischen Begegnung zweier außerordentlicher Männer – findet sich ein Hinweis auf Freuds Ärger über Meringers Äußerungen im genannten Buch. Schon am 8. 11. 08 schreibt Sigmund Freud an C.G. Jung (Brief 112F): Berggasse 19, Wien IX Lieber Freund! Eine Welle Arbeit, gegen die ich mühsam nach Atem ringe, und ein Ereignis in meinem Haus haben mich als Korrespondenten lahmgelegt. 295 Meine Tochter (Mathilde) hat sich mit einem jungen Manne ihrer Wahl verlobt (…) Sie hoffe ich jetzt wieder in voller Tätigkeit; wir wollen in diesem Arbeitsjahr weitere Fortschritte nach Innen und Außen machen (…) Von den letzten Beschimpfungen will ich nur wenig reden. Forel geht ja wesentlich auf Sie los, wahrscheinlich aus Ignoranz. Der Prof. Meringer aus Graz (vom „Versprechen“) leistet an ungewaschener Polemik das Außerordentlichste (…) Ich bin nun sehr begierig, von Ihnen und Burghölzli zu hören, vor allem aber zu erfahren, daß es Ihrer lieben Frau gut geht, die sich zu einem zweiten Dankbrief verpflichtet gehalten hat. Mit herzlichstem Gruß Ihr Freud Bereits am 11. 11. 08 antwortet C.G. Jung vom Burghölzli /Zürich (Brief 113J): Lieber Herr Professor! Magna est vis veritatis tuae et praevalebit!6 Die, man könnte sagen, betrüblichen Nachrichten Ihres letzten Briefes – Meringer (...) – wirken recht günstig auf mich. Nichts ist greulicher als in das Tutehorn der allgemeinen bouillonwarmen Anerkennung zu stoßen und sich auf dichtbevölkerter Erde anzusiedeln; darum freue ich mich, wenn man tüchtig Opposition macht. Offenbar sind noch lange nicht alle heran, die sich blamieren können. Auch Forel hat noch Gelegenheit dazu vor Torschluß (…) Außerdem habe ich noch zwei Jünglinge im Laboratorium. Sie sehen, die Schülerplage ist groß! Ein guter Schüler und die Freude, die man an ihm hat, müssen teuer erkauft werden. Vgl. Frankfurter Zeitung, 23. Oktober 1902. „Für die Art der wissenschaftlichen Erklärungen dieses Herrn nur ein Beispiel [...]. Herr Freud berichtet S. 48, dass er in einem Hause einmal in den dritten Stock statt in den zweiten gegangen sei, sich also „verstiegen“ habe. Er fährt fort: „Das andere Mal ging ich wiederum „in Gedanken versunken“ zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, dass ich mich über eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, dass ich „immer zu weit ginge“, und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck „verstiegen“ einzusetzen hatte“. – Vor dieser Gattung Wissenschaft möge uns ein gütiges Geschick bewahren!“ „Groß ist die Gewalt Deiner Wahrheit und sie wird siegen“: So variiert Jung den Bibelvers 'Magna est veritas, et praevalet', Vulgata, 3 Esdras 4:41. Hinterhuber Meine Frau und ich gratulieren von Herzen zur Verlobung. Beste Grüße von Ihrem Jung Freuds „Vorlesungen zur Einführung in die Psycho analyse“ Auch in den „Vorlesungen zu Ein führung in die Psychoanalyse“ (XI. 25) greift Sigmund Freud (19161917) wieder als die für unsere Absichten geeignetste unter den Fehlleistungen das Versprechen heraus: (...) Gibt es nun irgendetwas, was mir im besonderen Falle von allen möglichen gerade die eine Weise des Versprechens aufdrängt, oder bleibt das Zufall, Willkür, und lässt sich zu dieser Frage vielleicht überhaupt nichts Vernünftiges vorbringen? Zwei Autoren, Meringer und Mayer (ein Philologe und ein Psychiater), haben denn auch im Jahre 1895 den Versuch gemacht, die Frage des Versprechens von dieser Seite her anzugreifen. Sie haben Beispiele gesammelt und zunächst nach rein deskriptiven Gesichtspunkten be schrieben. Das gibt natürlich noch keine Erklärung, kann aber den Weg zu ihr finden lassen. Nach einer eingehenden Erörterung seiner Theorien stellt Freud die Frage (XI. 75) [5]: Wenn die Menschen sich, wie wir‘s an vielen Beispielen gesehen haben, dem Verständnis der Fehlleistungen sosehr annähern und sich oft so benehmen, als ob sie deren Sinn durchschauen würden, wie ist es möglich, dass sie die selben Phänomene doch ganz allgemein als zufällig, sinn- und bedeutungslos hinstellen und der psychoanalytischen Aufklärung der selben so energisch widerstreben können? Um zu den Begriffen des Un bewussten, des Vorbewussten und des Bewussten zu kommen, ging Freud in seinen „Vorlesungen“ 296 von den Fehlleistungen, besonders dem Versprechen, dem Verlesen und dem Vergessen aus: In diesen Fehlleistungen erkannte Freud Parallelen zu den Träumen. Anhand von drei Beispielen illustrierte Freud seine Betrachtungsweise (auch in seinen „Vorlesungen“ hat er dem genannten Werk von Meringer und Mayer besonders prägnante Beispiele entnommen): • Ein Mann erzählt von irgend welchen Vorgängen, die er bean standet, und setzt fort: Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen (... Auf Anfrage be stätigt er, dass er diese Vorgänge als Schweinereien bezeichnen wollte. 'Vorschein und Schweinerei' haben zusammen das sonderbare 'Vorschwein' entstehen lassen (XI/35) [5]. Im „Vorschwein“ offenbart sich eine Bewertung durch den Sprecher: Die Fakten, die zum Vorschein gekommen sind, wären Schweinereien, oder der Akteur selbst ein Schwein. • Oder wie es bei einem meiner Patienten zuging, dem ich untersagt hatte, seine Geliebte telephonisch anzurufen, der aber 'irrtümlich','in Gedanken' eine falsche Nummer aussprach, als er mit mir telephonieren wollte, sodass er plötzlich mit seiner Geliebten verbunden war (XI/74) [5]. Der genannte Patient hat sicherlich in jenem Moment, da er mit dem TelephonVermittlungsamt sprach, nicht an seine Geliebte gedacht. Sein Versprechen offenbart seinen insgeheim vorhandenen Wunsch, in Kontakt mit seiner Geliebten zu treten. • Am Ende einer Laudatio spricht ein Festredner: „'Ich fordere sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen.' Hier wird eine feierliche Stimmung un erwarteterweise durch das Eindringen eines Wortes gestört, das eine unappetitliche Vor stellung erweckt. (...) • Freud schließt daraus, dass hier die störende Intention die der Schmähung (ist). Sie ist es, die sich dem Ausdruck der Verehrung widersetzt (XI/42) [5]. Ich will ihn drängen, ob er nicht doch etwas verspürt hat, was sich der Aufforderung zur Verehrung des Chefs widersetzt haben mag. Da komme ich aber schön an. Er wird ungeduldig und fährt plötzlich auf mich los: „Sie, jetzt hören's einmal auf mit Ihrer Ausfragerei, sonst werd’ ich ungemütlich. Sie verderben mir noch die ganze Karriere durch Ihre Verdächtigungen. Ich hab’ einfach 'aufstoßen' anstatt 'anstoßen' gesagt, weil ich im selben Satz schon vorher zweimal auf ausgesprochen habe. Das ist das, was der Meringer einen Nachhall heißt und weiter ist daran nichts zu deuteln. Verstehen Sie mich? Basta. Hm.' Darf sich vielleicht der ambitionierte jugendliche Festredner gar keine schlechte Meinung über seinen Chef erlauben? Oder glauben wir ihm, dass er echte Gefühle der Wertschätzung und Verehrung seinem Vorgesetzten entgegenbringt? Ist „Aufstoßen“ in der Tat nur ein Nachhall? Freud selbst setzt fort: Aus der psychischen Situation, in welcher sich die Fehlleistung ereignet, aus unserer Kenntnis des Charakters der Person, welche die Fehlhandlung begeht, und der Eindrücke, welche die Person vor der Fehlhandlung betroffen haben, können wir als die Anhaltspunkte für unsere Deutung in jenem Falle entnehmen, dass die Aussage des Analysierten den Sinn der Fehlleistung nicht selbst aufklärt ... (XI/45) [5]. Freud vergleicht die drei exemplarischen Beispiele und stellt Folgendes fest: Zur ersten Gruppe gehören die Fälle, in denen die störende Tendenz dem Redner bekannt ist, überdies vor dem Versprechen von ihm verspürt wurde. So gibt beim Versprechen 'Vorschwein' der Sprecher nicht nur zu, dass er Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. das Urteil 'Schweinerei' über die betreffenden Vorgänge gefällt hat, sondern auch, dass er die Absicht hatte, von der er später zurücktrat, ihm auch wörtlich Ausdruck zu geben. Eine zweite Gruppe bilden andere Fälle, in denen die störende Tendenz vom Sprecher gleichfalls als die seinige anerkannt wird, aber er weiß nichts davon, dass sie gerade vor dem Versprechen bei ihm aktiv war. Er akzeptiert also unsere Deutung seines Versprechens, bleibt aber doch in gewissem Maße verwundert über sie. In einer dritten Gruppe wird die Deutung der störenden Intention vom Sprecher energisch abgelehnt; er bestreitet nicht nur, dass sie sich vor dem Versprechen in ihm geregt, sondern er will behaupten, dass sie ihm überhaupt völlig fremd ist. Erinnern Sie sich an das Beispiel von 'Aufstoßen' und an die geradezu unhöfliche Abweisung, die ich mir durch die Aufdeckung der störenden Intention von diesem Sprecher geholt habe (XI/59) [5]. Freud sieht in den drei aufgezeigten Fällen die Gemeinsamkeit, dass die Fehlleistungen durch die Interferenz von zwei verschiedenen Intentionen entstehen (XI/61) [5], von denen die eine die gestörte, die andere die störende heißen kann (XI/60) [5]. Die störenden Tendenzen werden zurückgedrängt. Somit gibt es nach Sigmund Freud drei Möglichkeiten, mit Fehlleistungen umzugehen: • Fehlleistungen werden bemerkt und sofort korrigiert. • Fehlleistungen werden nicht bemerkt, darauf angesprochen bestreitet der Betreffende seine Fehlleistung. • Die Fehlleistung wird nicht be merkt, der Sprecher kann diese jedoch nach den gegebenen Informationen eingestehen und nachvollziehen, wie sich diese Fehlleistung erklären kann. So formuliert, hätte gegen diese Aussagen auch Meringer nichts einzuwenden gehabt. Sigmund Freud und Carl Mayer als Schüler Theodor Meynerts in Wien Sigmund Freud, in Freiberg in Mähren am 6. Mai 1856 geboren, war im Jahr 1883 Schüler von Theodor Meynert (1833-1892). Insgesamt verbrachte er nur fünf Monate an der von Meynert geleiteten Klinik. Darüber schrieb Albert Hirschmüller: Es besteht ein großer Unterschied in der Art, wie Freud sich neurologischen Fällen einerseits und psychiatrischen Fällen andererseits näherte. Mit den ersteren erwies er sich als ein beharrlicher Kliniker (…..) aber mit den im psychologischen Sinne schwer psychotisch Kranken konnte er nicht umgehen. Dank der Unterstützung von Theodor Meynert, Hermann Nothnagl und Ernst von Brücke wurde Freud im September 1885 zum Privatdozenten ernannt. Obwohl Freud das hirnana tomische Modell Meynerts ablehnte, übte dieser sein Lehrer auf die Entstehung mancher Freud’scher Begriffe einen starken Einfluss auf: So lernte er bei Meynert besonders die von Johann Friedrich Herbart vertretenen Theorien der Psychologie kennen. Herbart entwickelte, auf bauend auf Fichte, die Begriffe der „Vorstellung“, des „Triebes“ und der „Verdrängung“. Herbart gliederte die Einheit des Subjektes in unterschiedliche Bereiche, die er „Seelenatome“ nannte. Diese würden unter die Bewusstseinsschwelle gedrängt und kämpften dort gegen einander, um erneut in das Bewusstsein einzudringen. Im Rahmen dieser Theorie beschrieb Herbart bereits die wesentlichen Grundlagen des dynamischen Unbewussten: Von diesen ließ sich Sigmund Freud inspirieren, um sein erstes topisches Modell zu entwickeln. Es war 297 besonders Maria Dorer (1932), die den Einfluss Theodor Meynerts auf Freuds Denken aufzeigte. Carl Mayer wurde am 9. Dezember 1862 in Wien geboren und promovierte dort 1886. Nach einer Ausbildung bei Hermann Nothnagl wurde er 1887 Assistent bei Theodor Meynert, bei dem er bis zu dessen Tod 1892 verblieb. Die Habilitation erfolgte 1893 in Wien. An der Klinik Meynert sind sich Freud und Mayer nicht begegnet: Carl Mayer wurde Meynerts Assistent 4 Jahre nachdem Sigmund Freud dessen Klinik wieder verlassen hatte. Nachdem Gabriel Anton, der erste Vorstand der psychiatrischneurologischen Universitätsklinik Innsbruck, als Nachfolger Wagner von Jaureggs 1894 nach Graz berufen worden war (1905 übernahm Anton nach Carl Wernickes den Lehrstuhl und die Klinik in Halle an der Saale), wurde Carl Mayer zum Professor für Psychiatrie und Nervenpathologie nach Innsbruck berufen. Als Vorstand leitete er die psychiatrischneurologische Klinik in Innsbruck bis in das Jahr 1936. Carl Mayer entwickelte verschiedene Ideen Theodor Meynerts weiter und wurde zu einem Pionier auf dem Gebiet der Neuroanatomie und der pathologischen Neurohistologie. 1915 erkannte er die Bedeutung des „Mayer’schen Grund-Gelenk-Re flexes“ als wertvolles, leicht prüfbares Diagnostikum bei der neurologischen Untersuchung: Der Mayer’sche Grund-Gelenk-Reflex gehört auch heute noch zu jedem neurologischen Status. Dem klinischen Syndrom parasagittal wachsender Tumoren gab C. Mayer den Namen „Mantelkantensyndrom“: Diese Bezeichnung hat sich allgemein stark eingebürgert, C. Mayer wird jedoch als Erstbeschreiber selten genannt. Seine wichtigste psychiatrische Ar beit ist eine psychopathologische Studie mit dem Titel „Über Halb traumzustände“. Bahnbrechend je Hinterhuber doch bleibt die gemeinsam mit Rudolf Meringer verfasste „psychologischlinguistische“ Monographie zum „Versprechen und Verlesen“. Obwohl Sigmund Freud sehr häufig den Urlaub in Tirol (besonders in Oberbozen, in Klobenstein am Ritten und in Trafoi, am Karerpass, in Wolkenstein im Grödental, in Waidbruck und in Lavarone) ver bracht hatte, ist eine Begegnung der beiden großen Wissenschaftler nicht belegt. Carl Mayer verstarb in Innsbruck am 24. April 1936, Sigmund Freud in London am 23. September 1939. Rudolf Meringer, ein Vor denker der modernen Psy cholinguistik: eine kurze Biographie Rudolf Meringer wurde 1859 in Wien geboren. An der Universität Wien widmete er sich frühzeitig der Indogermanistik, die er in einen interdisziplinären Kontext stellte. Nach seiner Habilitation verblieb er als a.o. Univ.-Professor bis 1899 in Wien. In diesem Jahr wurde er an die Universität Graz berufen. Dort vertiefte er seine linguistischen Studien und initiierte darüber hinaus auch ethnologisch-ethnographische Untersuchungen. In Verbindung mit J.J. Mikkola, R. Much und M. Murko gründete er die kulturhistorische Zeitschrift für Sprachund Sachforschung „Wörter und Sachen“: In der Tat hat Rudolf Meringer nicht nur mit seltener Selbständigkeit und hoher Originalität die Linguistik, sondern auch die Sachforschung begründet. Rudolf Meringer fühlte sich zeitlebens vom Verhalten Sigmund Freuds ihm gegenüber brüskiert. Er warf ihm nicht nur fehlende Genauigkeit in der Zitierung vor, sondern auch ein Unverständnis gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der linguistischen Forschungsarbeit. Aus der großen Sammlung von Meringer 298 und Mayer analysierte Sigmund Freud insgesamt 9 Versprecher. Aber gerade bei diesen kamen unbewusste Motive nicht vor. Den Sieg vieler seiner Gedanken konnte er – wie Hermann Güntert 1932 schrieb – „am Abend seines Daseins noch erleben“. Rudolf Meringer starb am 14. Februar 1931 in Kreusbach bei Graz. Nach seinem Tod blieb R. Meringer in der Sprachwissenschaft besonders bei den Sprachhistorikern – vor allem bei den Indogermanisten – durch seinen Einsatz für Wörter und Sachen präsent. Im Nachruf von Güntert findet sich ein Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten Meringers. Der Standpunkt der mo dernen Psycholinguistik Die moderne Fehlerlinguistik sieht im Bereich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Versprechern in Rudolf Meringer und Carl Mayer die Ahnherren und Begründer die ser Forschungsrichtung. Mehrere spätere Abhandlungen über das Ver sprechen greifen in Würdigung von Rudolf Meringer und Carl Mayer auf Beispiele zurück, die in deren Monographie aufgelistet sind. Für die Psycholinguistik und die Sprachpsychologie sind Versprecher immer Ausdruck einer momentanen Funktionsstörung des menschli chen Sprachproduktionssystems. Im Rahmen der kognitiven Prozes se der Sprachproduktion gewähren Versprecher Einblicke in Repräsen tations- und Verarbeitungsaspekte. Der Beitrag von Ulrich Schade, Thomas Berg und Uwe Laubenstein mit dem Titel „Versprecher und ihre Reparaturen“ im „Internationalen Handbuch der Psycholinguistik“, 2003 bei Walter de Gruyter erschienen, bietet eine umfassende Übersicht über die modernen Theorien der Versprecher und deren Korrekturen. Danach wird für Versprecher folgendes Klassifikationsschema gebraucht: Vieles dabei wurde bereits von Meringer und Mayer vorweggenommen. Von großen kognitionswissenschaft lichen und linguistischen Studien wissen wir, dass beim Versprechen in aller Regel nicht ein besonders heikles Wort verwendet wird, sondern eines, das meist derselben Wortklasse angehört und das dem beabsichtigten vor allem in der Bedeutung, seltener im Klang ähnlich ist. Die Möglichkeit der psychischen Motivierung wird weitgehend abgelehnt: Versprecher sind für die Mehrzahl der Linguisten wertvolle Fenster, die Einblicke in die Mechanismen der Sprachproduktion ermöglichen. Dies vertritt vor allem Nora Wiedenmann. Äußerst detailreich hat Nora Wiedenmann die Versuche verschie dener Forscher zur Erklärung von Versprechern auf den unter schiedlichen Stufen des Sprechens, von der Intention eines Sprechers über den Aufbau seines mentalen Lexikons bis hin zu sprechgestischen und neurophysiologischen Vorgängen der Artikulationsorgane dargestellt. Auf 237 Seiten arbeitete sie die Forschungsliteratur zu Analyse und Interpretation von Versprechern auf. Ihr Werk ist die größte Studie zum Versprechen und zur Erklärung dieses Phänomens, es ist das Referenz- und Standardwerk für diesen Fragen komplex – und wird es auch noch lange bleiben! Nora Wiedenmann schreibt zu Recht, dass sich die Größe einer Versprechersammlung auf deren Aus sagekraft auswirkt: Auf Versprecher, die als äußerst selten gelten, weil sie allenfalls in einer Größenordnung von Promille auftreten, wird man nur in großen Corpora durch relevante Häufung aufmerksam. So hat erst Stemberger (1989) auf der Grundlage eines sehr großen Corpus (von fast 8.000 Versprechern) von vornherein die Kategorie der 'cross position errors' eingeführt, d. h. Sigmund Freud, Rudolf Meringer und Carl Mayer: Versprechen und Verlesen. Deskription Größe der modifizierten Einheit Explikation 1. Dimension 2. Dimension 3. Dimension Substitution Addition Elision/Deletion Doppelsubstitution Addition-Elision Merkmal Phonem Phonemsequenz Cluster Morphem Wortform Antizipation Perseveration Permutation Verschiebung Kontamination Interferenz Kontraktion Assoziation Maskierung Tabelle 1:Ein Klassifikationsschema für Versprecher aus: Schade et al. 2003 [20] von Versprechern, bei denen formal initiale und finale Silbenpositionen in Interaktion treten. Für Nora Wiedenmann sind vie le Versuche zur Erklärung von Versprechern nur zum Teil er folgreich, sie hinterlassen offene Fragen: Die restlose Erklärung von Versprechern könnte auch eine Klärung der Strukturen von Sprachproduktionsmodellen be wirken. Durch genaue Untersuchungen großer Anzahlen von Versprechern war es der Psycholinguistik möglich aufzuzeigen, in welcher Abfolge unser Gehirn seine Äußerungen zusammenbaut. Jedes Wort zum Bei spiel ist mit anderen, verwandten Wörtern in einem Netzwerk von As soziationen verbunden: Am stärksten sind nach Michael T. Motley die Assoziationen zu Wörtern mit verwandten Bedeutungen, schwächer hingegen die zu ähnlich klingenden Wörtern. Benutzen wir ein Wort, so wird ein ganzes Feld von Wörtern mit verwandtem Sinn (und ggf. Klang) aktiviert. Parallel dazu vorhandene Gedanken erregen ihr eigenes Netz von Assoziationen. In einer Versuchsanordnung hat Motley (1980) drei Gruppen von Versuchspersonen tachistoskopisch Wortpaare ohne Sinn zum lautlosen Lesen präsentiert, nur einige her vorgehobene sollten gesprochen werden. Erst durch das (beim Versprechen) unwillkürliche Aus wechseln der Anfangslaute ergaben sich sinnvolle Worte bzw. Begriffe. In der ersten Gruppe wurden – in Anwesenheit einer sexuell aufreizend gekleideten Versuchsleiterin – häu figer sexuelle Begriffe gelesen; die Teilnehmer der zweiten Gruppe, die scheinbar an Elektroden ange schlossen waren und die immer wieder in ihrer Stärke variierbare elektrische Schläge. (aber: „No shocks were administered“; S. 139) hätten erhalten sollen, lasen, sich bei Wortpaaren versprechend, vermehrt Wörter, die sich auf den elektrischen Strom bezogen. (In der Kontrollgruppe fand sich keine aufreizende Versuchsleiterin, auch wurden keine Elektroden angelegt.) Motley glaubte aufgrund seiner Ergebnisse eine Bestätigung der Fehlleistungstheorie von Sigmund Freud zu erblicken. Obgleich anders interpretierend, konnte der Kom munikationsforscher Motley aber gerade die Ansicht Meringers und Mayers bestätigen, die bereits 1895 festgestellt hatten, dass ein Wort aus einem Parallelgedanken so sehr 299 aktiviert werden kann, dass es sich in die konkrete Äußerung hineinschiebt. In Motleys experimentellen Unter suchungen war es der innere Zu stand des Probanden, der das Ver sprechen beeinflusste. Durch seine Versuchsanordnung konnte Motley somit – entgegen seiner eigenen Hypothese – die Freud’schen Theorien in nur geringem Umfang bestätigen. Auch Sebastiano Timpanaro und – auf diesen aufbauend – A. Grünbaum kritisieren diese Studie von Motley, da in dessen Versuchsanordnung die provozierten Versprecher auf bewusste Vorstellungen zurückgeführt werden müssen, nicht aber auf verdrängte Inhalte. Grünbaum (1988) übte darüber hinaus klare Kritik an der Fehlleistungstheorie Sigmund Freuds, indem er – dieser gegenüber – für den Prozess des Versprechens der linguistischen Erklärung bzw. den phonetischen Charakteristika eindeutig den Vorzug gab. Auch Timpanaro interpretiert die große Mehrzahl der von Freud als „Versprecher“ geschilderten Beispiele als Einschiebungen gleichzeitig bewusster Nebengedanken: Fehl leistungen dieser Art gehen ge wiss darauf zurück, dass etwas unterdrückt wurde, der Sprecher ist sich des Unterdrückten jedoch völlig bewusst. (...) Es ist nichts, was wirklich „verdrängt“ (vergessen) wurde und jetzt aus den Tiefen seines Unbewussten wieder auftaucht. In einer weiteren experimentellen Untersuchung testete Thelma Veness (1962) Studentinnen, indem sie ihnen emotional stark besetzte Wörter neben neutralen vorgab: Bei 7.200 vorgelesenen Wörtern kamen nur 41 Versprecher vor, 20 von ihnen betrafen emotionale, 21 neutrale Wörter. Die Emotionalität der Wortbegriffe schien also keinen besonderen Einfluss auf die Versprecher zu haben. T. Köhler und P. Simon versuchten 2002, Motleys Ergebnisse zu replizieren und fanden in ihrer Untersuchung von 52 Psycholo Hinterhuber giestudentinnen, dass Versprecher nach Texten aggressiver und ero tischer Natur häufiger vorkamen als nach der Lektüre eines neutralen Textes. Darüber hinaus ergaben sich nach der Lektüre des erotischen Textes signifikant mehr erotische, nach der Lektüre des aggressiven mehr aggressive Versprecher. Nach Köhler und Simon zeigen diese Ergebnisse: – in aller Zurückhaltung formuliert –, dass nicht allein phonetische Eigenheiten von Wörtern dafür verantwortlich sind, wenn man sich bei ihnen verspricht. Es hängt auch vom psychischen Zustand des sich Versprechenden ab, nämlich davon, was ihn gerade beschäftigt, und genau dies sagt in allgemeinster Formulierung Freuds Theorie der Fehlleistungen aus. Köhler und Simon wiesen aber auch darauf hin, dass man nicht aus jeglicher Fehlleistung sofort auf die Wirkung von verdrängt Unbewusstem oder gar in der Kindheit Verdrängtem schließen kann ... Vielmehr sieht man an ihnen oft recht augenfällig, wie Unterdrücktes, darunter bewusst oder willentlich beiseite Gelassenes, sich doch noch einen Ausdruck verschafft; die Analyse scheinbar zufälliger Versprecher oder anderer Fehlleistungen kann sie oft auf (bewusstseinsfähige wie unbewusste) psychische Inhalte zurückführen und belegt so jenen von Freud als Grundvoraussetzung seiner Theorie angenommenen strengen psychischen Determinismus. 300 kraft des Unbewussten wird im konkreten Fall jedoch immer davon abhängig sein, welche Auffassung der Einzelne von den psychischen Vorgängen und der „Topologie des psychischen Apparates“ hat. Danksagung Wie so häufig hat mir mein lang jähriger Freund Hans Moser, Professor für Germanistische Lin guistik am Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, wichtige Hinweise ge geben. Ihm danke ich dafür sehr. Frau Dr. Nora Wiedenmann hat meine bescheidenen psycholinguistischen Kenntnisse vervollständigt und mich zunehmend für ihr Fach begeistert. Sie hat das gesamte Manuskript gegengelesen und mit wertvollen Ergänzungen bereichert. Dafür gebührt ihr mein aufrichtiger Dank. Literatur [1] [2] [3] [4] [5] Resümee Vorklänge und Nachklänge (also Serialisierungsfehler) stellen – wie Meringer und Mayer bereits erkannt hatten – immer die große Mehrheit aller Versprecher dar, sie enthüllen keinen verborgenen Sinn. Bei lexikalisch-semantischen Versprechern jedoch ist die Frage der psychischen Motivierung zulässig. Die Beurteilung der Determinierungs [6] [7] [8] [9] Bally G.: Einführung in die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Rowohlt-Verlag, Reinbek/Hamburg 1961. Bredenkamp J.: Lernen, Erinnern, Ver gessen. Beck, München. 1998. Dorer M.: Historische Grundlagen der Psychoanalyse. Felix Meyner Verlag, Leipzig. 1932. Eysenck H.J.: Sigmund Freud: Nieder gang und Ende der Psychoanalyse. List, München. 1985. 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