Mozarts Requiem_Korr - Choir of New College Oxford

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Mozarts Requiem_Korr - Choir of New College Oxford
MOZARTS REQUIEM
[Die englischen und französischen Fassungen des Textes befinden sich auf www.newcollegechoir.com]
Die traditionelle Fassung von Mozarts Requiem, wie sie dem Grafen Franz von Walsegg Anfang
1792 als Ausführung eines im Sommer zuvor angenommenen Auftrages überreicht wurde, ist zum
Gegenstand eines intensiven musikwissenschaftlichen und analytischen Diskurses geworden. Im
Zentrum dieser Diskussion stand die Urheberschaft der Sektionen des Requiems, welche Mozart
eindeutig nicht selber vervollständigte, und bei denen der Beitrag Franz Xaver Süssmayrs eine
gewisse Rolle spielt. Kritiker von Süssmayrs Rolle bei der Vervollständigung des Werkes gingen so
weit, Alternativen zu bieten (in den letzten fünfzig Jahren: Beyer, Landon, Maunder, Druce und
Levin). Aus Gründen, die am besten von Christoph Wolff zusammengefasst wurden, übernimmt
diese Aufnahme die traditionelle Werkvervollständigung Süssmayrs:
... die Süssmayr-Fassung ist es wert, als das einzige historisch zeitgenössische,
philologische und musikalische Dokument, welches von Teilen des Requiems zeugt, die
Mozart seinem Entwurf nicht mehr hinzufügen konnte, beschützt zu werden. Dem
Zuhörer offenbart die Süssmayr-Fassung auch eine ästhetische Dimension, da es das
einzige Dokument ist, welches die reine musikalische Wahrheit des unvollendeten
Werkes wiedergibt. In der Tat versetzen uns die grobe Nebeneinandersetzung und offene
Mischung von Perfektion und Imperfektion in die Welt und Atmosphäre des intimen
Mozart-Kreises, als versuchte wurde, einem überwältigenden Erbe gewachsen zu sein.
(Wolff 1991, S. 81)
Die folgende Notiz soll den Leser mit der Entstehungsgeschichte des Requiem bekannt machen
und den Wert der traditionellen Fassung verteidigen, durch welche Süssmayr zum hauptsächlichen
Mitarbeiter Mozarts wurde.
Die Umstände, in denen das Requiem komponiert wurde, sind nicht so außergewöhnlich,
wie man sie manchmal darzustellen vermag. Niemtschek schneidet das Thema in seiner Chronik
von Mozarts Leben, die 1798, nur sieben Jahre nach dem Tod des Komponisten, herausgegeben
wurde, an; seine Darstellung basiert auf Augenzeugenberichten, unter anderen die der Mozartwitwe
Constanze. Dort liest man:
Kurz vor der Krönungszeit des Kaisers Leopold, bevor noch Mozart den Befehl erhielt nach
Prag zu reisen, wurde ihm ein Brief ohne Unterschrift von einem unbekannten Bothen
übergeben, der nebst mehreren schmeichelhaften Aeusserungen die Anfrage enthielt, ob
Mozart eine Seelenmesse zu schreiben übernehmen wollte? und welchen Preis und binnen
welcher Zeit er sie liefern könnte?
Mozart der ohne das Mitwissen seiner Gattin keinen Schritt zu thun pflegte, erzählte ihr den
sonderbaren Auftrag, und äußerte zugleich sein Verlangen sich in dieser Gattung auch
einmal zu versuchen, um so mehr, da der höhere pathetische Stil der Kirchenmusik immer
sehr nach seinem Genie war. Sie rieth ihm den Auftrag anzunehmen. Er schrieb also dem
unbekannten Besteller zurück, er würde das Requiem für eine gewissen Belohnung
verfertigen; die Zeit der Vollendung konnte er nicht genau bestimmen; er wünschte jedoch
den Ort zu wissen, wohin er das Werk, wenn es fertig seyn wüde, zu übergeben habe. In
kurzer Zeit erschien derselbe Bothe wieder, brachte nicht nur die bedungene Belohnung mit,
sondern noch das Versprechen, da er in dem Preise so billig gewesen sey, bey der
Absendung des Werkes eine beträchtliche Zugabe zu erhalten. Er solle übrigens nach der
Stimmung und Laune seines Geistes schreiben, sich aber gar keine Mühe geben, den
Besteller zu erfahren, indem es gewiß vergeblich seyn würde.
(Niemtscheck (1798), S. 45-46)
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Diesen Bericht spiegelt eine frühere Beschreibung im Salzburger Intelligenzblatt am 7. Januar 1792
(Landon (1988), S. 160) wider. Die Identität des mysteriösen Bestellers kommt in einem späteren
Dokument ans Licht, geschrieben 1839 von Anton Herzog (aber erst durch Otto Deutsch 1964 frei
zugänglich gemacht). Herzogs Aussagen sind durchaus glaubwürdig, da er als junger Mann bei der
Person selbst, die ihm den Befehl die Bestellung zu überliefern, gegeben hatte, nämlich dem Grafen
von Walsegg, gedient hatte.
Am 14. Februar 1797 entriß der Tod dem Hr. Grafen von Walsegg seine geliebte Gattinn
[sic], in der Blüthe ihres Lebens. Er wollte ihr ein doppeltes Denkmahl, und zwar auf eine
ausgezeichnete Art, gründen. Er ließ durch seinen Geschäftsträger, Herrn Dr. Johann
Sortschan, Hof- und Gerichts-Advokaten, in Wien, bey einem der vorzüglichsten Bildhauer
Wiens, ein Epitaphium, und bey Mozart ein Requiem bestellen, von welchem er sich wieder,
wie gewöhnlich das alleinige Eigenthumsrecht vorbehielt. […]
Das Requiem aber, das jährlich am Sterbetage der Frau Gräfin aufgeführt werden
sollte, blieb länger aus; denn der Tod überraschte Mozart in der Mitte dieser ruhmvollen
Arbeit. Nun war guther Rath theuer. Wer sollte sich herbey lassen einem Mozart
nachzuarbeiten? Und doch mußte das Werk vollendet werden; denn die Witwe Mozart, die
sich wirklich, wie bekannt ist, nicht in den besten Umständen befand, hatte den Betrag von
hundert Dukaten dafür zu empfangen. […]
Endlich ließ sich Süßmayer herbey, das angefangene große Werk zu vollenden, und
bekennt in den Briefen an die Musikhandlung in Leipzig, „daß er noch bey Lebzeiten
Mozarts, die schon in Musik gesetzten Stücke, nähmlich das bey Lebzeiten Mozarts, die
schon in Musik gesetzten Stücke, nähmlich das gesungen, daß er sich mit ihm über die
Ausarbeitung dieses Werkes sehr oft besprochen und ihm den Gang und die Gründe seiner
Instrumentierung mit getheilt hat“. […]
Nachdem also Hr. Graf von Walsegg die Partitur des Requiem erhalten hatte, schrieb
er dieselbe sogleich, nach seiner gewöhnlichen Weise, mit eigener Hand von Note zu Note
ganz rein ab, und übergab solche stückweise seinem Violinspieler Benaro, damit er die
Auflagestimmen ausschreibe. […]
Da nun alle Auflagestimmen ausgeschrieben waren, so wurde sogleich die Einleitung
zur Aufführung des Requiem getroffen. Weil sich aber in der Umgegend von Stuppach [wo
sich Walseggs Gut befand], nicht alle dazu geeigneten Musiker auf bringen ließen, so wurde
veranstaltet, daß die erste Aufführung des Requiem in Wiener Neustadt geschehen sollte.
Man traf die Auswahl unter den Musikern so, daß die Solo- und wichtigsten Parte von den
besten, wo man sie fand besetzt wurden; daher geschah es, daß der Sopranist Ferenz von
Neustadt, die Altistin Kernbeiß von Schottwien, der Tenorist Klein von Neustadt und der
Bahsist Thurner von Gloggnitz zu den Soloparten verwendet wurden. Am 12. Dezember
1793 wurde Abends auf dem Chore in der Cisterzienser-Stiftspfarrkirche zu WienerNeustadt die Probe, und am 14. Dezember um 10 Uhr ein Seelenamt in der nähmlichen
Kirche abgehalten, wobey dieses berühmte Requiem zum ersten Mahle, zu seinem
bestimmten Zwecke, aufgeführt wurde.
(Herzog (1964), S. 53-56)
Am Ende dieses Berichtes bleibt noch zu klären, in welcher Geistesverfassung sich Mozart befand, als
er dieses letzte (und unvollendete) Stück begann, was die Rolle Süssmayrs (und anderer) bei der
Vervollständigung des Requiem gewesen sein mag, und welche Stellung das Werkes im Mozart’schen
Kanon einnehmen darf. Zu Ersterem liest man bei Nissen, Constanzes zweitem Mann:
Nach Mozart's Zurückkunft von Prag nach Wien [im Oktober 1791] nahm er sogleich seine
Seelenmesse vor, und arbeitete mit ausserordentlicher Anstrengung und einem lebhaften
Interesse daran; aber seine Unpässlichkeit nahm in demselben Verhältnisse zu und stimmte
ihn zur Schwermuth. Mit inniger Betrübniss sah seine Gattin seine Gesundheit immer mehr
hinschwinden. Als sie eines Tages an einem schönen Herbsttage mit ihm in den Prater fuhr,
um ihm Zerstreuung zu verschaffen, und sie Beyde einsam saassen, fing Mozart an vom
Tode zu sprechen, und behauptete, dass er das Requiem für sich setze. Dabey standen ihm
Thränen in den Augen, und als sie ihm den schwarzen Gedanken auszureden suchte, sagte
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er: Nein, nein, ich fühle mich zu sehr, mit mir dauert es nicht mehr lange: gewiss, man hat mir Gift gegeben!
Ich kann mich von diesem Gedanken nicht loswinden.
[…]
Am Tage seines Todes liess er sich die Partitur des Requiem an sein Bette bringen. »Hab' ich
es nicht vorher gesagt, dass ich diess Requiem für mich schreibe?« so sprach er, und sah noch einmal
das Ganze mit nassen Augen aufmerksam durch. Es war der letzte schmerzvolle Blick des
Abschiedes von seiner geliebten Kunst
(Nissen (1828), S. 563-564)
Heute denkt man nicht mehr, dass Mozart vergiftet wurde (Salieri, wenn auch ein Rivale, war kein
Mörder). Aber gegen Ende Oktober 1791 beklagte sich Mozart über ‚ein großes Schwächegefühl, das
ihn nach und nach bedrückte‘ (diese Information wurde von Vincent Novello im Juli 1829 nach einem
Gespräch mit Constanze aufgenommen); Ende November war er bettlägerig, und am Morgen des 5.
Dezember verstarb er. Zeitgenössische Berichte nennen als Todesursache rheumatisches Fieber, eine
Krankheit, unter der Mozart als Kind schon mehrmals gelitten hatte. Mozart hatte so viele Gründe,
leben zu wollen, dass ihm die Idee, zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere todkrank zu sein, unerträglich
wurde: kurz zuvor wurde ihm der Posten des Kapellmeister im Wiener Stefansdom angeboten, aus
Prag und Wien wurden ihm Bestellungen versprochen, und seine bislang gefährliche finanzielle Lage
schien sich glücklich zu wenden. Er tat sich mit dem eigenen Ende schwerer, als mit dem Tod seiner
Mutter 1778, welchen er als Ausdruck des göttlichen Schicksals gesehen hatte.
Auf die Frage, wer das Requiem tatsächlich geschrieben habe, kann man eindeutig Mozart als
Antwort geben, auch wenn nur Teile des Werkes von eigener Hand sind. Franz Xaver Süssmayr (17661803) spielte die Haupt-Nebenrolle, und Sophie Haibel (Constanzes Schwester) bestätigte Nissens
Bericht, dass Süssmayr von Mozart Anweisungen bekam, um das Werk zu vollenden:
Als ich zu meiner trostlosen Schwester kam, war Süssmaier bey Mozart am Bette. Auf der
Decke lag das Requiem, und Mozart explicirte ihm, wie seine Meynung sey, dass er es nach
seinem Tode vollenden sollte. […] Sein Letztes war noch, wie er mit dem Munde die Pauken
im Requiem ausdrücken wollte und er seine Backen aufbliess.
(Mozart (1922), S. 161; Nissen (1828), S. 574)
Gleichermaßen schrieb Vincent Novello von diesen Ereignissen nach seinen Gesprächen mit
Constanze:
Kurze Zeit vor seinem Tod sang [Mozart] mit Madame [Constanze] und Süssmayr das
Requiem. Bei mehreren Sätzen musste er weinen. Er schrieb das Recordare und die
Hauptpartien und sagte: ‚Wenn ich nicht überlebe, sind diese das Allerwichtigste‘. Als sie
fertig waren, rief er Süssmayr zu sich und ließ ihn wissen, dass, sollte er vor der Vollendung
des Werkes verscheiden, die Fuge, die er am Anfang geschrieben hatte [Kyrie], wiederholt
werden könne, und zeigte ihm wo und wie die anderen Stimmen, die bereits skizziert waren,
ergänzt werden mussten. Darum schrieb Süssmayr an Breitkopf in Leipzig, er habe den
Hauptteil dieses Requiem selber geschrieben; aber, wie es Madame richtig bemerkte, jeder
hätte es an seiner Stelle tun können, den Skizzierungen und genauen Angaben Mozarts
folgend, und keines der Werke Süssmayrs, weder früher noch später, zeugte je von
ebenbürtigem Talent.
Natürlich musste Constanze dafür Sorge tragen, dass die Bestellung vollendet wurde, und, soweit
möglich, als Mozarts eigenes Werk gelten konnte. Das dem Grafen von Walsegg gesandte Manuskript
trug sogar Mozarts Unterschrift, gefälscht von Süssmayr, dessen Handschrift der von Mozart sehr
ähnlich sah. Constanze hatte durchaus recht, Süssmayr als deutlich weniger talentiert darzustellen, als
ihr Gatte, jedoch war Süssmayr auch nicht im Unrecht, einen gewissen Teil der Autorschaft für sich zu
beanspruchen. Im Sinne des Familienstolzes mag Constanze die Rolle Süssmayrs minimieren, und
Süssmayr die eigene Rolle übertrieben haben wollen.
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Aber wie groß war dann der Beitrag Süssmayrs? Um eine lange und komplizierte Geschichte
kurz zu fassen: Mozart vollendete den Eröffnungssatz (Requiem aeternam) und die Chorpartien der
folgenden Fuge (Kyrie eleison), mit Anmerkungen zur Instrumentation. Er schrieb auch die
Stimmpartien zur Sequenz (Dies irae, Tuba mirum, Rex tremendae, Recordare, Confutatis, Lacrimosa –
bis zum 8. Takt), erneut mit Anmerkungen zur Instrumentation, wie zum Beispiel die Solo-Posaune am
Anfang des Tuba mirum. Die Stimmpartien des Offertorium (Domine Jesu Christi und Hostias et
preces) sind auch aus Mozarts eigener Hand. All dies wurde übernommen und anschließend von
anderen vervollständigt, und zwar nicht nur Süssmayr (welcher den größten Beitrag leistete), sondern
auch, in frühen Stadien, Franz Jacob Freystädtler (der das Kyrie orchestrierte) und Joseph Eybler (der
den größten Teil der Instrumentation in den Sequenz-Sätzen ausarbeitete). Diese Musiker waren alle
drei Schüler von Mozart und Teil eines intimen Kreises beruflicher Bekannten, die Constanze
selbstverständlich um Hilfe bei der problematischen Vollendung des Werkes bitten konnte. Süssmayrs
Vorherrschaft, als der kompositorische Assistent des Projektes, kommt in den letzten Sätzen zur Schau,
nämlich in der Instrumentierung des Offertorium und anschließend, deutlich problematischer, in der
Komposition des Sanctus, Benedictus, und Agnus Dei. Wie es die historische Quelle nahelegt, war die
Rückkehr zu Musik aus Mozarts eigener Hand für die abschließende Communio (welche die ersten
zwei Sätze wiederholt) eine Anweisung Mozarts an Süssmayr.
Besonders diese späteren Sätze (Sanctus, Benedictus und Agnus Dei) wurden unter Musikern
und Musikwissenschaftlern zum Gegenstand reger Debatten. Manche haben sie als misslungen
bezeichnet (unfertige Stimmführung, zu kurz gefasste Fugen, eigenartige tonale Planung,
Einfallslosigkeit) und nannten dies eine zwar unvermeidliche aber bedauerliche Konsequenz dessen,
dass es einem grenzwertig kompetenten Schreiberling oblag, ein Meisterwerk zu vollenden. Dies hieße
aber, dass sowohl Quellen, die beweisen, dass Mozart mit Süssmayr seine Ideen besprochen hat, als
auch Skizzen aus Mozarts eigener Hand (separate Manuskriptblätter, wovon nur eines bis zu uns
gekommen ist) außer Acht gelassen werden; man müsste sich dann auch über Einwände zu gewissen
Aspekten dieser Sätze wundern. Zum Beispiel wurde das Benedictus als überorchestriert (Druce, S. vii),
unter harmonischer Stagnation leidend (Druce, S. viii), und seine instrumentale Einführung als
‚besonders unbeholfen und unpassend‘ (Wolff, S. 76) beschrieben. Gleichermaßen wurden
Nachlässigkeiten im Sanctus kritisiert und die krude Stimmführung und Kürze des Hosanna
angeprangert (Levin, S. 5). Dies sind aber deplacierte Urteile. Beispielsweise schrieb Mozart in seinen
Benedictus-Vertonungen einfache instrumentale Antizipationen vor der Einführung der Stimmpartien
(siehe seine Missa Brevis in B-Dur, K275) und die Doublierung der Stimme durch Posaunen ist nicht
unelegant, wenn sie auf einem Sackbut gespielt wird. Auch die tonale Planung der Sätze scheint
durchaus kompetent zu sein, mit dem zentralen Dominant-Halbschluss, der Subdominantfärbung bei
der Reprise (mit dem Tenor-Eintritt), ganz zu schweigen von den aufschlussreichen, in den
musikalischen Interludien auftretenden Anspielungen auf die Vertonung und die musikalischen Figuren,
welche zuvor im Eröffnungssatz gehört wurden. Dies sind zu selbstsichere und einfallsreiche Eingriffe,
um nur die Arbeit eines Schreiberlings zu sein. Was Vorwürfe gegen beide Hosanna anlangt, ist es
vielleicht eher ein genialer Einfall, dass diese nicht in derselben Tonart komponiert wurden (mit dem zu
erwartenden da capo-Effekt), sondern in zwei unterschiedlichen Tonarten (D-Dur und B-Dur); der
Übergang nach B-Dur (2. Hosianna zum Agnus) macht einen eindeutig stärkeren Eindruck als die
Varianttonart (von D-Dur nach D-Moll). Vertonungen des Sanctus mit dem ersten Hosanna waren in
der Wiener Messen-Tradition immer kurz gefasst: Das Benedictus musste als Elevationsmotette dienen
und die Elevation der Hostie durfte nicht lange verzögert werden, da die (stille) Rezitation des Canon
Missae (dem Konsekrationsgebet) sofort nach dem Sursum Corda und der Präfation begann. Viel
wahrscheinlicher ist, dass Mozart und Süssmayr das Benedictus bewusst nicht durch eines längeres
Hosanna als dasjenige, das uns zugekommen ist, verzögern wollten.
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Christoph Wolff schlägt vor, dass Mozart mit seinem Requiem ‚die Gattung der Kirchenmusik,
für die er schon so lange nicht mehr aktiv gearbeitet hatte, in eine vollkommen neue Richtung steuern
wollte‘ (S. 75). Dies kann man an der durch und durch vokalen Orientierung des Stückes erkennen,
sowie an der eigentümlichen Instrumentation (von den Holzblasinstrumenten behält Mozart nur
Bassetthörner und Fagotte, wie in seiner freimaurerischen Musik) oder an den Anspielungen innerhalb
der gesamten Partitur (eines der subtileren Beispiele dafür wären die melodischen Ähnlichkeiten
zwischen den Eröffnungstakten des Dies irae und des Sanctus); erkennbar ist dies auch an der
kontrapunktischen Genauigkeit sowie an gewissen Aspekten der tonalen Planung. Die Abwesenheit
einer separaten ‚Amen‘-Fuge am Ende der Sequenz (für welche eine ca. zwölftaktige Skizze vorliegt)
mag auch als ‚Kurswechsel‘ gelten. Angesichts der ergreifenden Natur des Lacrimosa ist die
eindrucksvolle plagale ‚Amen‘-Kadenz durchaus überzeugend und bewahrt die Wirkung des Textes,
anstatt sie in einer ‚kunstvollen‘ Fuge aufzulösen. Und wenn man ein wenig auf unumgängliche,
geschichtliche Spekulation zurückgreifen darf, so kann man sich eine Konversation zwischen Mozart
und Süssmayr vorstellen, in welcher Mozart meint, er würde lieber das ‚Amen‘ innerhalb des Lacrimosa
einbauen, als es zu einem eigenständigen Satz zu machen, ungeachtet der Skizze.
Diese und andere Argumente unterstützen die Ansicht, dass es von Wert ist, die traditionelle
Fassung des Requiem, wie es die Schlussfolgerung Wolffs nahelegt, ‚zu beschützen‘.
Wie steht es aber um die musikalischen Eigenschaften des Requiem? Das Stück unterscheidet
sich offenbar von Mozarts früherer Kirchenmusik aus Salzburg, nicht zuletzt weil es sich um eine
Totenmesse handelt. Der Schwerpunkt ist voll und ganz auf die Stimmpartien gesetzt, sowie auf eine
durch und durch genaue kontrapunktische Praxis. Gleichzeitig zeugt das Requiem von Mozarts
steigernder Vorliebe für Chor-Homophonie, was man am Rex tremendae, Confutatis, Lacrimosa und
Hostias beobachten kann(Dieses Interesse an Choraldeklamation gehört zu den Eigenschaften der Ave
verum corpus-Vertonung (K618), die ein paar Monate zuvor entstanden war). Die Orchesterpalette wird
durch die Verwendung von Bassetthörnern und dem Ausschließen aller Holzblasinstrumenten außer
den Fagotten deutlich verdunkelt, die Kompositionsweise ist unverkennbar auf die freimaurerische
Musik Mozarts zurückzuführen. Der Wienerischen Kirchentradition entnommen sind das Zitieren
eines Cantus firmus-Verses (‚Te decet hymnus‘, hier im tonus peregrinus), das auffällige Posaunen-Solo
am Anfang des Tuba mirum, mit den Sarastro-ähnlichen Beschwörungen des solo-Baß, sowie die Wahl
der D-Moll Tonart, die mit inniger Feierlichkeit assoziiert wird. Die Dramatik dieser Vertonung wurde
sofort von Mozarts Zeitgenossen gepriesen und seinen bestehenden, starken Reiz verdankt das
Requiem der Beherrschung und Handhabung musikalischer Charakterisierung, die aus Mozarts
späteren Opern stammen. Das Werk spiegelt auch Mozarts Geistesverfassung wider, als er das
Requiem komponierte; auch wenn er nicht fieberhaft über den eigenen Tod sann (was zumindest bis zu
den allerletzten Tagen nicht geschah), war er eindeutig angetrieben von der Ambition, sich wieder als
ein der Ernennung zum Kapellmeister des Stefansdomes gewachsener Kirchenkomponist zu etablieren.
Die Requiem-Messe übernimmt die traditionelle liturgische Form eines Introit (Requiem
aeternam), welches sofort vom Kyrie Eleison gefolgt wird. Nach den Lesungen wurde die Sequenz
gesungen, ein 18 Versen langer Text, den Mozart in sechs diskrete Sätze unterteilte (Dies irae, Tuba
mirum, Rex tremendae, Recordare, Confutatis, Lacrimosa), wonach das Offertorium kam (Domine
Jesu Christe, mit seiner zentralen Sektion Hostias et preces). Nach dem Sursum corda und der
Präfation wurden die Sätze Sanctus + Hosanna, Benedictus + Hosanna und Agnus Dei ohne Eingriff
der Liturgie gespielt. Die Communio (Lux aeterna und Cum sanctis tuis) beendete den Ritus.
© Edward Higginbottom, 2011
Translation: Anatole Oudaille-Diethardt
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Sources
The Mozart Companion. (1990). New York: Schirmer. (Hrsg. H.C.R. Landon)
Mozart: Requiem. (1993). London: Novello. (Hrsg. D. Druce)
Mozart: Requiem. (1996). Stuttgart: Carus. (Hrsg: R.D. Levin)
Herzog, A. ‘Wahre und ausführliche Geschichte des Requiem von W. A. Mozart’ in Deutsch, O. E.
(1964). Zur Geschichte von Mozarts Requiem. Österreichische Musikzeitschrift (19. Jahrgang), 4960. (commented edition of the manuscript from Wiener-Neustadt, Städt. Sammlungen, Lit. B
1692)
Landon, H.C.R. (1988). Mozart’s Last Year. GDR: Thames and Hudson.
Mozart, C. (1922). Briefe, Aufzeichnungen, Dokumente 1782 bis 1842, im Auftrage des Mozarteums zu Salzburg,
mit einem biographischen Essay. Dresden: Opal.
Niemtscheck, F.X. (1798). Leben des K.K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen
beschrieben. Prag: Herrlische Buchhandlung.
Nissen, G.N. v. (1828). Biographie W. A. Mozart’s. Leiptzig: Breitkopf & Härtel.
Wolff, C. (1991). The Composition and Completion of Mozart's Requiem, 1791-1792. In C. Eisen
(Ed.), Mozart Studies (pp. 61-81). Oxford: Oxford University Press.
Wolff, C. (1991). Mozarts Requiem: Geschichte, Musik, Dokumente, Partitur des Fragments. München, Kassel:
dtv.
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