Blut, ABstAmmung und fAmilie in jK rowlings HARRY POTTER

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Blut, ABstAmmung und fAmilie in jK rowlings HARRY POTTER
interjuli
02 i 2012
Blut, ABstAmmung und fAmilie in j.K.
rowlings Harry Potter-reihe
Melanie Babenhauserheide
Einer der Kunstgriffe J.K. Rowlings ist,
dass sie in der Harry Potter-Reihe Ressentiments und Diskriminierungen
nicht an den aus der realen Welt bekannten Gruppierungen verhandelt,
sondern diese anhand verschiedener
magischer Wesen und der Frage nach
der Abstammung von nicht-magischen
Menschen auf einer fiktionalen Ebene
– also verfremdet – thematisiert. In der
wissenschaftlichen Literatur wurden
häufig insbesondere die Nachteile dieser Herangehensweise herausgestellt
(vgl. etwa Gupta 108) oder die Differenz zur Realität weitgehend ignoriert
(wie beispielsweise von Anatol 114ff.).
Ich möchte diesem Artikel daher eine
kurze Darstellung der grundsätzlichen
Vorteile dieser verfremdenden Thematisierung voranstellen, um deutlich zu
machen, dass die Stoßrichtung meiner
Analyse weder in der prinzipiellen
Problematisierung von Verfremdung
noch in der umstandslosen Gleichsetzung gesellschaftlicher und fiktiver
Konflikte besteht.
Durch die Verhandlung der Problematik auf einer fiktionalen Ebene
lässt sich die relative Kontingenz und
historische Bedingtheit von Diskriminierung und Verfolgung hervorheben.
Gerade die Differenz zur Realität kann
die Wirklichkeit transzendieren und
Kritik und Erkenntnisse induzieren,
weil sie den Leser aus dem Gewohnten heraustreten lässt. Eine blanke Abbildung und möglichst wirklichkeitsgetreue Beschreibung hingegen reproduziert die Realität lediglich und lässt
diese im Medium der Unterhaltungsliteratur angenehmer erscheinen. Bei
der Untersuchung der literarischen
Verfremdung ist jedoch zu reflektieren, wie die Harry Potter-Reihe mit
ihren Metaphorisierungen und Allegorien ein kritisches Verhältnis zu Diskriminierung eröffnet und wie sie Ressentiments und faschistoides Denken
verharmlost, prolongiert oder hofiert.
Affirmation und Kritik schließen sich
dabei nicht gegenseitig aus, weil die
Harry Potter-Reihe diesbezüglich in
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Blut, ABstAMMung und FAMilie Bei Harry Potter
sich widersprüchlich ist. Im Folgenden werde ich diese Widersprüchlichkeit an verschiedenen Aspekten der
Themenkonstellation „Familie und
Abstammung“ aus einer an die Kritische Theorie angelehnten, ideologiekritischen Perspektive ausführlicher
analysieren. Meine Argumentation
versucht dabei, das widersprüchliche
Verhältnis, das die Harry Potter-Reihe
inhaltlich zu Familie und der Logik
des Abstammungsprinzips einnimmt,
nachzuvollziehen und in Bezug zu setzen zur politischen Ideologie der
Blutsreinheit, die auf den ersten Blick
in den Romanen kritisiert wird.
Der Zusammenhang von Ressentiments und Diskriminierung auf der
einen und Stolz auf die eigene Ahnenreihe auf der anderen Seite wird in den
Romanen wiederholt thematisiert.
Schon als Harry durch Draco zum ersten Mal damit konfrontiert wird, dass
auch in der Zauberwelt nicht alle Menschen gleich angesehen sind, argumentiert dieser, dass die Zauberbildung für
„the old wizarding families“ (Rowling
1997, 61) reserviert bleiben sollte, da
alle anderen ja anders aufgewachsen
seien. Die Erzählung reflektiert damit
eine reale Problematik: Die Berufung
auf Familie und Abstammung ist bis
heute Bestandteil rassistischer und sozialdarwinistischer Ansichten (vgl.
Malik 258f.). Die Darstellung von
Rasse als erweiterter Familie steht in
engem Zusammenhang mit dem
Trend, Ethnie oder Rasse als Grundlage für Identität aufzufassen und positiv umzuwerten (vgl. Malik 273),
damit aber die Einzelnen dem Kollektiv einer als authentisch und homogen
imaginierten Kultur unterzuordnen.
Daher eignet sich der Fokus auf Familie aus werkimmanenten Gründen wie
auch im Bezug zu gesellschaftlichen
Ideologien besonders, um die Ideologie der Harry Potter-Reihe im Hinblick
auf Diskriminierung, Verfolgung und
Abstammungslehren zu beleuchten.
Im Folgenden zeige ich auf, dass die
Widersprüchlichkeit der Harry PotterReihe zu diesem Themenkomplex
nicht auflösbar ist,1 dass aber schließlich über eine Aufspaltung in gute und
schlechte Familien sowohl die in der
Erzählung entfaltete Kritik an Familien
und Abstammungslehren als auch das
Hinterfragen von Diskriminierung
und Ressentiments unterlaufen wird.
e
ine frage der herkunft:
familienähnlichkeiten
und Vererbung
Auf den ersten Blick sind es die als
böse markierten Figuren in der Harry
Potter-Reihe, die andere Menschen
und Wesen über eine faschistoide Blutund Abstammungslehre beurteilen.
Das gilt nicht nur für die Welt der
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Zauberer, in der die Malfoys, die Todesser und Voldemort für die Erhaltung
von Reinblütigkeit unter magischen
Menschen eintreten, sondern auch in
der Muggelwelt: Onkel Vernons
Schwester Marge äußert die Ansicht,
die Dursleys könnten nichts dafür,
dass Harry „mentally subnormal“
(Rowling 1999, 25) sei. Vielmehr sei
dies, wie bei ihren Hunden, eine Frage
der Abstammung:
nicht gerade eine angenehme verwandtschaftliche Beziehung hat.
Schließlich gehört es zu den Problematiken der Blutsverwandtschaft,
dass man sich die Menschen, mit
denen man darüber verbunden ist,
nicht aussuchen kann; und diese Problematik scheint ja auch darüber, dass
Harry bei seinen ihn verachtenden
Verwandten leben muss, thematisiert.
Indem aber die überaus große körperliche und psychische Ähnlichkeit zwischen Vernon, Dudley und Marge
betont wird –
„It’s one of the basic rules of breeding,” she said. „You see it all the
time with dogs. If there’s something wrong with the bitch,
there’ll be something wrong with
the pup”. (Rowling 1999, 24)
she was very like Uncle Vernon:
large, beefy and purple-faced, she
even had a moustache, though
not as bushy as his3 (Rowling
1999, 22)
Die Berufung auf genetisch bedingte Charaktermerkmale beschränkt
sich jedoch nicht auf die in der Romanhandlung als schlecht dargestellten Charaktere. Nicht nur Sympathie
evozierende Charaktere wie Hagrid
beziehen sich ebenfalls auf die Lehre
des unterschiedlichen Blutes, auch der
Erzähler2 selbst greift positiv darauf
zurück: So wird sich darüber mokiert,
dass Harry angehalten wird, die unausstehliche Schwester des Onkels
Tante zu nennen, obwohl sie keine
Blutsverwandte ist (vgl. Rowling 1999,
19). Nun ist diese Äußerung einigermaßen verwunderlich vor dem Hintergrund, dass Harry auch zu seiner
engsten Verwandten, Tante Petunia,
– wird die Meinung von Marge, dass
Abstammung alles bestimme, bestätigt. Ihr Fehler scheint weniger darin
zu bestehen, dass sie die Abstammung für Harrys „Zustand“ verantwortlich macht, sondern vor allem
darin, dass sie Harry und seine Eltern
verkennt. Denn Harrys Ähnlichkeit
mit seinen Eltern wird von anderen
Charakteren immer wieder positiv
unterstrichen und von Harry freudig
aufgenommen. Seine abwesenden Eltern werden als bessere Familie imaginiert. Während die Ähnlichkeit
zwischen Marge und Vernon für eine
„schlechte“ Abstammung steht,
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Muggle-borns will have a witch or
wizard somewhere on their family
tree, in some cases many, many generations back. The gene re-surfaces in some unexpected places.
(vgl. www.accioquote.org)
deutet sich in Harrys Ähnlichkeit mit
seinen Eltern eine Vorstellung von
guter Herkunft an.
Auch die Charakterisierung vieler
Figuren mit Hilfe ihrer Namen drückt
aus, dass die Herkunft, repräsentiert in
den Familienamen, und das Erbe der Eltern, in Form der von ihnen vergebenen
Eigennamen, als von immenser Bedeutung für die Entwicklung der Individuen betrachtet werden.4 Die einzigen
wirklich tragenden Beispiele dafür, dass
Abstammung keinen determinierendem Einfluss auf die Entwicklung der
Person hat, sind in der Harry PotterReihe Harrys Pate, Sirius Black, sowie
dessen Cousine und Großcousine und
Tante Petunia, die unausstehliche
Schwester von Harrys Mutter. Davon
abgesehen lässt sich im Großen und
Ganzen aufgrund der Familienzugehörigkeit ermitteln, welche Figur auf
welcher Seite steht.
Nicht einmal das, was einer Abstammungslehre am meisten zu widersprechen scheint, die Begabung
der Einzelnen, steht dieser wirklich
entgegen, denn die Fähigkeit zur
Magie ist explizit angeboren, vermutlich – wie die Existenz von
Squibs, nicht magisch begabten Kindern von Zauberern und Hexen,
nahe legt – rezessiv vererbt. So erklärt es Rowling auch ihren Fans in
einem Interview:
Damit hat die Autorin inner- und außerhalb der Erzählung die restriktivste Form der Erklärung gewählt:
Magie ist eine Frage der genetischen
Festlegung durch Abstammung.
Wie zentral die Herkunft für die
persönliche Entwicklung ist, deutet
sich zudem dadurch an, dass die Einsortierung in die Schulhäuser in der
Regel den familiären Traditionen entspricht: So waren alle Weasleys in
Gryffindor und alle Malfoys in Slytherin. Die Ausnahmen (so war Sirius ein
Gryffindor, obgleich seine Familie traditionell zum Hause Slytherin gehörte, und die Zwillingsschwestern
Padma und Pavarti sind in verschiedenen Schulhäusern) bestätigen letztlich
nur die Regel. Wie Just expliziert, ist
die Zuordnung zu verschiedenen Häusern zwar auch eine Anlehnung „an
das in Großbritannien verbreitete ‚Old
Boys Network‘“ (32), da jedoch die
Häuser für bestimmte Eigenschaften
stehen, wird damit subtil der Eindruck
erweckt, Charakterzüge seien durch
Herkunft determiniert: Beispielsweise
sagt Dumbledore in seiner Trauerrede
über den ermordeten Cedric Diggory:
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Cedric was a person who exemplified many of the qualities which
distinguish Hufflepuff house […].
He was a good and loyal friend, a
hard worker, he valued fair play.
(Rowling 2007, 626)
place, klingt also schon bei der ersten
Nennung nach dem düsteren, trostlosen Ort, als der es dann auch beschrieben wird. Von diesem vergifteten Ort voller schwarzer Artefakte
und ekelerregender Ziergegenstände versucht die keifende Mutter
ihr Regiment über den Tod hinaus
fortzuführen. Die Ahnengeschichte
mit dem Familienmotto „Toujours
pur“, die außer Sirius alle Mitglieder
des „Noble And Most Ancient
House of Black“ mit Stolz erfüllt hat,
stellt sich in gefährlichen Erbstücken, Staub, Spinnweben und „a
sweet rotten smell“ (Rowling 2003,
58) als unheimliche Last der Vergangenheit dar. Die toten Geschlechter
sind so präsent, dass Harry beim
Eintritt den Eindruck hat „as though
they had just entered the house of a
dying person“ (Rowling 2003, 59).
Den Lebenden scheint diese Präsenz
der Ahnen kaum Raum zum Atmen
zu lassen: Einer der Gründe, warum
Sirius schließlich im Kampf von seiner eigenen Cousine getötet wird,
ist, dass er es nicht ertragen kann,
sich länger in seinem Elternhaus
aufzuhalten, und sich deshalb dem
Kampf anschließt. Das Erdrückende
des Familienstolzes und die unheimliche Last der Ahnengeschichte werden hier eindrucksvoll metaphorisch
verdichtet.
d
ursleys und Blacks: die
schlechte familie
Der unterschwellige positive Bezug
auf Abstammung und familiäre Tradition erscheint erstaunlich, wird
doch anfänglich ein düsteres Bild von
Familie gezeichnet, inklusive der
Sehnsucht, ihrem einschränkenden
und herrschaftsförmigem Zugriff zu
entkommen. Dies zeigt sich nicht nur
in Bezug auf die Dursleys, auch Sirius‘ als Portrait konservierte Mutter
ist Sinnbild für eine schlechte, böse
Familienstruktur:
Mrs Black’s policing of her own
bloodline is typical of the strongwilled woman who – being limited by society to the household
and family affairs – becomes the
overbearing mother who manifests power, and expresses that
power, through control over the
one thing that is truly hers: her offspring. Accordingly, Mrs Black (or
what is left of her) is represented
as trapped in the house, locked inside her picture frame. (Gallardo
C./Smith 96)
Das Haus der Blacks hat die
Adresse Number Twelve, Grimmauld
Place, ein Homophon von grim old
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w
ahlverwandtschaften
und die gründung der
‚richtigen‘ familie
Auch in der Familie Dursley fallen die nicht erwünschten Anteile
der Familiengeschichte aus den familiären Erzählungen. So wie Mrs.
Black Sirius und Tonks aus dem Familienstammbaum herausgebrannt
hat, werden Harrys Eltern durch
die Dursleys verschwiegen. Überhaupt wird bei dern Dursleys kein
Wert auf die Familiengeschichte
gelegt. Harrys Großeltern werden
nur in einer Ausnahmesituation erwähnt, in der das übliche Schweigen gebrochen wird. Die Dursleys
leben in einem oberflächlichen,
spießbürgerlichen Jetzt. Während
Mrs. Blacks Portrait die ganze Zeit
über die Abtrünnigen keift, sind
die Dursleys vor allem damit beschäftigt, ihren Rasen zu pflegen
und ihre Küche blank zu putzen,
um mögliche Brüche in der reinen
Normalität zu überdecken. Die
Dursleys streben an, möglichst normal zu sein, während die Blacks
sich abheben und etwas Besseres
sein wollen. So unterschiedlich
diese beiden schlechten Familien
auch dargestellt sind, sie beide bieten ihren Sprösslingen keinerlei
Raum für Entfaltung, weil jede unangepasste Äußerung als Verrat an
der Familie bestraft wird, so dass
sowohl Harry als auch Sirius auf
ihre Art das Weite suchen.
Nach einer solchen Darstellung der repressiven Seiten des Familienlebens
wäre zu erwarten, dass die Erzählung
bei der Kritik stehen bleibt oder für die
Figuren eine Alternative eröffnet, wie
es aus anderen Kulturindustrieprodukten bekannt ist. In der Folge „Family“ der Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer, die auf den ersten Blick
viele inhaltliche und narrative Ähnlichkeiten zur Harry Potter-Reihe aufweist (vgl. Willcox 66ff.), wird, als die
konservative Familie der lesbischen
Hexe Tara diese gegen ihren Willen
zurück in ihren Heimatort mitnehmen
will, gegen den Vorrang der Abstammung eine Lanze für ‚Wahlverwandtschaften‘ gebrochen. Buffy und ihre
Crew stellen sich der Herkunftsfamilie
in den Weg.
This is insane. You people have no
right to interfere with Tara’s affairs. We are her blood kin! Who
the hell are you?
schleudert der misogyne Vater Taras
FreundInnen entgegen, worauf Buffy
antwortet: „We are family“ (Buffy
36:16–36:29). Ein nicht so radikal ausformulierter oder feministisch inspirierter, aber doch vergleichbarer Ansatz findet sich in der Harry PotterReihe darin, dass Harry die Schule als
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wahres Zuhause empfindet und dass
er in den Schulferien vor allem damit
beschäftigt ist, seine FreundInnen zu
vermissen: Ron und Hermione, ferner
auch Dumbledore und der nicht verwandte Pate Sirius (ab Ende des dritten Bands) sowie Rons Eltern erscheinen als Harrys zentralste Beziehungen. Allerdings wird dieser Ansatz,
freundschaftliche Bindungen über
Blutsbande zu stellen, tendenziell dadurch unterlaufen, dass die engsten
Freundschaften in eine wirkliche Familie überführt und durch verwandtschaftliche Beziehungen besiegelt werden: Während Harrys nicht verwandte
Vaterfiguren, Dumbledore, Sirius und
Lupin, am Ende tot sind, haben im
Epilog nicht nur Hermione und Ron
eine kleine Familie, auch Harry wird
durch die gemeinsame Elternschaft
mit Ginny Mitglied von Rons Familie.
Interessant ist auch die Rezeption
des Epilogs: Von einer Hochzeit zwischen Ginny und Harry bzw. Hermione
und Ron ist keine Rede, es wird lediglich deutlich, dass beide Pärchen offenbar fest zusammen sind und Kinder
haben. Rons Scherz gegenüber seiner
Tochter – „If you’re not in Gryffindor,
we’ll disinherit you“ (Rowling 2007,
604) – lässt höchstens vage eine eheliche Verbindung vermuten. Dennoch
wird offenbar die Vorstellung einer
Ehe in dieser Kleinfamilienidylle
heraufbeschworen, was sich unter anderem darin äußert, dass unter Rezipienten weitgehend unhinterfragt
davon ausgegangen wird, dass es sich
um eheliche Verbindungen handelt:
Das deutsche Harry Potter Wiki-Lexikon gibt ebenso wie der deutsche und
der englische Wikipedia-Eintrag an,
dass die Paare verheiratet seien.5 Die
Tatsache, dass ohne expliziten Hinweis
im Text von einer ehelichen Verbindung
der Paare ausgegangen wird, lässt
durchaus interessante Rückschlüsse auf
die gesellschaftlich hegemoniale Stellung von Ehe zu. Zugleich sagt es aber
auch einiges über die Harry PotterReihe, die mit der Hochzeit der unkonventionellen Tonks mit Remus Lupin
sowie der Hochzeit von Bill und Fleur,
who is transformed from Triwizard Tournament competitor and
dangerously captivating beauty to
Bill Weasley’s doting wife and housemaker (Gallardo C./Smith 92),
sicherlich die Vorlage für diese Interpretation geliefert hat.
Mit diesen Familiengründungen
rückt die wirkliche Familie als wahre
Familie ins Zentrum des Glücks. Es
wirkt, als könnten die engsten
Freundschaften nur für Sicherheit
bürgen, wenn sie in familiale Strukturen überführt werden: Harrys Tochter
Lily beispielweise wünscht sich, dass
der verwaiste Teddy Lupin, der sich
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Spleen dargestellt und Ron und Ginny
haben ihm auch nicht den Gefallen
getan, einen Muggel in der Familie begrüßen zu dürfen, sondern eine Hexe
beziehungsweise einen Zauberer als
Lebenspartner auserkoren.
etwa viermal die Woche bei ihrer Familie aufhält, ihre Cousine heiraten
möge: „‚Teddy would really be part of
the family then!‘“ (Rowling 2007, 605,
Hervorhebung im Original). Da am
Ende der Romane außer einer losen
Verbindung zu Neville keine weiteren
Beziehungen der Hauptfiguren offenbleiben, wird die familiäre Beziehung
zu dem, was zählt. Andere Freundschaften scheinen kaum denkbar: Als
Ron und Hermione darüber diskutieren, ob ihre Tochter Rose sich eventuell mit Dracos Sohn Scorpius anfreunden könne, warnt Ron:
d
ie liebe und das fremde
Der Scherz Rons, Rosie solle ihrem
Großvater zuliebe einen Muggel heiraten, lässt nach zwei Seiten keinen Ausweg aus der Sippenlogik: Einen fremden Muggel zu heiraten, wäre das, was
der Vererbungslehre der Familie (namentlich des Großvaters Arthur) entspräche, also bereits eingemeindet in
die familiäre Tradition, während eine
Liaison von Rosie und Scorpius eher
Romeo-und-Julia-Qualität und damit
Protest gegenüber den herkömmlichen
Familiengeschichten innehätte. Zugleich hieße eine solche Verbindung,
sowohl innerhalb der Bluts-Logik der
Familie Malfoy als auch innerhalb der
‚Ich-heirate-meine-Schulfreunde-dieich-seit-der-Kindheit-kenne‘-Logik der
Buch-Reihe zu verweilen. Dass aber
die Blutsideologie und die Frage, wer
wen heiratet, durch die scherzhafte
Andeutung, dass nur eine Heirat mit
jemand Fremdem der Idee der Blutsreinheit entgegensteht, miteinander
verbunden werden, ergibt tatsächlich
Sinn: Das Hinausgehen über Blut und
Don’t get too friendly with him
though, Rosie. Granddad Weasley
would never forgive you if you
married a pure-blood. (Rowling
2007, 605, Hervorhebung im Original)
Wenn auch scherzhaft gemeint, wird
hierin einmal mehr das Bild, dass
freundschaftliche Absichten, wenn sie
allzu ernsthaft sind, in die Gründung
einer Familie münden, unterstrichen
und noch dazu in Verbindung gebracht mit den Abstammungsvorlieben der Familie, wenn auch hier in auf
den Kopf gestellter Form zu der faschistischen Vorstellung der Blutsreinheit. Diese Umdrehung ist nicht ganz
ernst zu nehmen, denn Rosies Großvaters Begeisterung für Muggel wird im
Großen und Ganzen als infantiler
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Boden ist historisch unweigerlich
daran geknüpft, dass die Liebe zu einer
Liebe zum Fremden werden konnte,
wie Pohrt in seinem Aufsatz über Liebe
und Geld bei Balzac ausgeführt hat:
Hierarchien und Rivalitäten weiter bestehen. Das alles Gutmachende scheint
zu sein, dass der Held das Kämpfen
aufgegeben und sich ins Private zurückgezogen hat. Das Entkommen aus
dem Leid, das die Familie Dursley für
Harry bereitgehalten hat, führt – derweil ja die 19 Jahre zwischen dem
letzten Kapitel und dem Epilog übersprungen werden – direkt in die richtige Familie. Und diese lebt nicht
einmal von der Liebe zum Fremden,
die aus dem Gewohnten heraustritt.
Stattdessen wird eine Liebe idealisiert,
die sich auf die Vertrautesten richtet.
Wo vorher in Gestalt von Nachbarskindern sich ein Acker mit
dem angrenzenden zusammentat,
um seine zukünftigen Bebauer zu
zeugen, da herrscht im Verhältnis
der Geschlechter nun nicht mehr
der natürliche, überkommene
Gang der Dinge, sondern die subjektive Willkür des anmaßenden
Einzelnen: sein Wille, nicht mit der
Nächstbesten vorliebzunehmen,
sondern die auserwählte schöne
Fremde zu besitzen. [...] Die Lust
im Stande der Sehnsucht und des
Verlangens – oder die Liebe – ist
daher von Anbeginn über Romeo
und Julia bis hin zur Dirne ein Protest gegen Sippe, Blut, Boden und
Familie als Repräsentanten jenes
auf „Bluturenge, Natur- und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen gegründeten nur lokalen
Zusammenhangs“, von dem Marx
spricht. (10)
d
ichotomisierung von
familie
Gegen den bedrückenden Charakter
der Familien Dursley und Black wird
also ein Bild der idealisierten Familie
gehalten. An Dumbledore wird die
Flucht aus der Enge der Familie sogar
als etwas Schreckliches gezeichnet,
denn die Ambitionen des jungen, begabten Zauberers, und sein Wunsch,
im Leben etwas Anderes zu tun, als
sich um die Angehörigen zu kümmern, tragen direkt zum tragischen
Tod seiner kleinen Schwester bei. Der
Weg aus bedrückenden Familienverhältnissen scheint nur zum Glück zu
führen, wenn er am Ende in die Gründung einer neuen Familie mündet.
Dabei wird die Dialektik von Familie
In der Harry Potter-Reihe hingegen
wird von den ProtagonistInnen das
Fremde (etwa in Gestalt Victor Krums)
links liegen gelassen, mit den Nächstbesten vorlieb genommen, die Beziehungen zur Familie institutionalisiert
und all dies schließlich als Happy End
verkauft. „All was well“ lautet der
letzte Satz und das, obwohl die alten
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n
achkommen als lösung
für die Angst vor der eigenen sterblichkeit
in der bürgerlichen Gesellschaft in
gute und schlechte Aspekte auseinander gerissen. Die Widersprüchlichkeit der Familie besteht darin,
dass es sich um eine „vom Naturalverband sich herleitende und in
ihrer Binnenstruktur nicht durch
den Äquivalententausch regulierte
Institution“ handelt (Adorno 1998a,
14), die doch von gesellschaftlichen
Prinzipien wie Tausch und Konkurrenz eingeholt wird, was sich, wie
Adorno zeigt, in der Form der „muffigen
Interessensgemeinschaft“
(Adorno 1997, 40) und spätestens in
Scheidungskriegen (vgl. Adorno
1997, 29ff.) offenbart. Familie ist in
ihrer anachronistisch wirkenden
und an Naturverhältnisse angelehnten Irrationalität gleichzeitig funktional und dysfunktional (vgl.
Adorno 1998b, 305). Zugleich findet
sich ein Widerspruch im Spannungsverhältnis von konkreten
Macht- und Herrschaftsverhältnissen, denen die Einzelnen im Schutzraum des Privaten ausgeliefert sind,
und der Gewährung von „Nachsicht,
Duldung, Zuflucht für Eigenheiten“
(Adorno 1997, 30). Diese Widersprüchlichkeit wird in der Harry PotterReihe dichotom aufgespalten und auf
die idealisierten und dämonisierten
Familien verteilt.
Dabei kommt der Nachkommenschaft
auch die Funktion zu, die Lösung für
die Problematik zu bieten, die der faschistischen Herrschaft Voldemorts
zugrunde liegt: die Angst vor dem Tod
und der Wunsch nach Verewigung.
Während Horkruxe, Einhornblut und
die Heiligtümer des Todes allesamt
kein gutes Mittel zum Erlangen von
Unsterblichkeit darstellen, haben die
Nachkommen der ProtagonistInnen
nicht nur die Namen der Verstorbenen
vererbt bekommen. Vererbung ist vielmehr die heimliche Protagonistin des
Epilogs: Es wird betont, dass Harrys
Sohn Albus die Augen von Harrys
Mutter hat, Ron bestätigt Rose, sie
habe die Klugheit ihrer Mutter Hermione geerbt, Ginny attestiert dem
kleinen James, er sei genau wie Ron,
und Dracos Sohn Scorpius „resembled
Draco as much as Albus resembled
Harry“ (Rowling 2007, 605). Die Kinder sind eine Art Verlängerung des
elterlichen oder familiären Körpers
und der geistigen Fähigkeiten und
Marotten ihrer Erzeuger, Verwandten
und Vorfahren. Sie garantieren, dass
ein Teil ihrer Eltern über den Tod hinaus lebt. Diese Auflösung der Frage
nach dem Umgang mit der eigenen
Sterblichkeit hat, wie im Falle von
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Hermione und Rose, insofern etwas
für sich, als sich in den Kindern über
Erziehung, Identifikationsmechanismen und Erinnerungen tatsächlich
Elemente der Eltern erhalten können.
Diese Erhaltung jedoch rein als eine
Frage der Vererbung darzustellen, negiert literarisch individuelle Entwicklung in der Festschreibung auf ein
biologisches Prinzip. Die Bedeutung
von Roses Intelligenz liegt in der
Übernahme und Wiederholung der
Klugheit ihrer Mutter und scheint
keine eigene Geschichte zu haben:
Rose ist durch die mütterlichen Gene
determiniert. Unter den ökonomischen Bedingungen und Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft
sind die Entwicklungsmöglichkeiten
für die Individuen tatsächlich gesellschaftlich beschränkt:
hier nicht – wie noch wenigstens
ansatzweise in Harrys Auseinandersetzung mit Marge – als fragwürdig
dargestellt, sondern affirmiert.
Für die Freien, Gleichen, Einzelnen heißt Subjektsein unter den
Bedingungen der eigenen objektiven Austauschbarkeit zur Individuation gezwungen zu sein, während Individualität verwehrt
bleibt. (Kirchhoff 112)
„Listen to me, reliving my family
history ...” he said quietly. „Why, I
am growing quite sentimental ....
But look, Harry! My true family returns ...“ (Rowling 2000, 561, Hervorhebung im Original)
f
amily Values und gemeinschaft gegen den
Zerstörer der familien
Was in der oben zitierten Szene aus
Buffy the Vampire Slayer die Guten
auszeichnet, nämlich ihre Bereitschaft,
Freundschaften über die Herkunftsfamilie zu stellen, markiert in der Harry
Potter-Reihe den Bösewicht: Nachdem
Voldemort sich magisch einen neuen
Körper zugelegt hat, erzählt er Harry
davon, wie sein leiblicher Vater ihn und
seine Mutter im Stich gelassen und er
selbst sich schließlich über den Vater
erhoben und ihn aus Rache ermordet
hat, und schließt mit den Worten:
Die Todesser als wahre Familie sind
für die LeserInnen ziemlich fraglos
eine Horrorvorstellung von Familie,
denn Voldemort foltert und straft seine
AnhängerInnen wahllos, die Beziehungen scheinen eher von Angst und
Machtgier gekennzeichnet als von Zuneigung. Voldemorts Abwendung von
Gesellschaft selbst nimmt dabei die
Züge eines Naturverhältnisses an (vgl.
Horkheimer/Adorno 36ff.). Naturalisierungen wie die Vererbungsidee im
Epilog spiegeln diese Problematik
wider und hypostasieren sie zugleich.
Die Entindividualisierung Roses wird
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der eigenen Familie scheint auch eine
zentrale Ursache dessen zu sein, was
in der Harry Potter-Reihe immer wieder als hervorstechende Eigenschaft
seiner Gewaltherrschaft dargestellt
wird: Dass er Familien auseinanderreißt. An einer Stelle, an der diese Vorstellung thematisiert wird, dient sie als
Kitt zwischen gegensätzlichen Impulsen des Protagonisten (und sicherlich
auch vieler LeserInnen): Nachdem
Harry in Dumbledores Erinnerungen
an eine Gerichtsverhandlung eingetaucht ist, schwankt er zwischen zwei
Impulsen: erstens die schlimmste Strafe
für die Todesser zu wünschen, die die
Eltern seines Freundes Neville so lange
gefoltert haben, bis diese den Verstand
verloren. Zugleich hat er zweitens Mitgefühl mit zumindest einem der Verurteilten, dem seinen Vater anflehenden
neunzehnjährigen Crouch Junior, der
angeblich ein Jahr nach seiner Inhaftierung gestorben ist. Die Lösung dieses
Konfliktes sieht schließlich so aus:
It was Voldemort […], it all came
back to Voldemort ... He was the
one who had torn these families
apart, who had ruined these lives.
(Rowling 2000, 528)
Voldemort zu dem familienzerstörenden Prinzip. Das destruktive Element
findet sich nicht mehr innerhalb der
Familie, etwa im lieblosen Vater, sondern außerhalb der Familie. Immer
wieder wird der Schluss nahegelegt,
das Zerstören von (familiären) Bindungen sei das Wesen von Voldemorts
Herrschaft, weshalb auch Dumbledore Zusammenhalt fordert:
I say to you all, once again – in the
light of Voldemort’s return, we are
only as strong as we are united, as
weak as we are divided. Lord Voldemort’s gift for spreading discord
and enmity is very great. We can
fight it only by showing an equally
strong bond of friendship and
trust. […] Some of you, in this hall,
have already suffered directly at
the hands of Lord Voldemort.
Many of your families have been
torn asunder. (Rowling 2000, 627)
Genau die Vorstellung jedoch, dass
Einheit und Gemeinschaft die besten
Mittel gegen den zersetzenden Faschismus seien, ist mit Vorsicht zu genießen
– besonders vor dem Hintergrund,
dass Voldemort oft nicht zu Unrecht als
eine Art magischer Hitler gelesen wird
(vgl. etwa Blake 79, Goldstein 73, Jung
102 ff.). Die Vorstellung, dass eine faschistische Herrschaft trennt, statt Verbindungen herzustellen, während Gemeinschaft das ist, was dagegenhalten
kann, ist eine postnazistische Ideologie,
Während vorher noch suggeriert wird,
dass sich Crouch Junior möglicherweise den Todessern angeschlossen
hat, weil sein eigener Vater nicht
genug für ihn da war, wird hier nun
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die gerade im Entstehungszeitraum
der Harry Potter-Reihe an internationaler Bedeutung gewonnen hat und sich
nicht zuletzt im Erfolg deutscher Filme
über den Nationalsozialismus manifestiert, in denen dem gemeinschaftszerstörenden Werk der Nazis die gute,
über die Familie oder Kameradschaft
vermittelte Volksgemeinschaft entgegengehalten wird.6 Dass der Nationalsozialismus Familien auseinandergerissen hat, trifft zwar auf seine Opfer
zu, jedoch nur bedingt auf seine AnhängerInnen. Zwar gab es diese Tendenz insofern, als nicht wenige Eltern
ihre Kinder begeistert in den Krieg
schickten bzw. ziehen ließen, zum Teil
eigene Familienangehörige denunziert
wurden und Euthanasie-Morde sowie
Projekte wie Lebensborn und Napola
die Bevölkerungspolitik und Volkserziehung zugunsten einer genetischen
Volksgesundheit aus dem Rahmen der
Familie lösten, jedoch war gleichzeitig
der Nationalsozialismus vornehmlich
dadurch bestimmt, Einheit zu stiften,
besonders natürlich die der Volksgemeinschaft. Als Keimzelle hierfür
waren durchaus die deutschen Familien gedacht, wie etwa die von Hitler
eingeführte Verleihung des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter anzeigt. Hier
verkennt die in der Harry Potter-Reihe
immer wieder auftauchende Vorstellung, Faschismus sei nur trennend und
zersetzend, Gemeinschaft und familiäre Werte hingegen das, was dagegen
wirkt, nicht nur einige grundsätzliche
Prinzipien des Nationalsozialismus, an
den Voldemorts Herrschaft angelehnt
ist, sondern bietet ein Gegenrezept, das
selbst Elemente faschistischen Denkens
innehat: Gleichzeitig erscheint nämlich
Voldemort als Stammhalter einer verdorbenen Familie. Voldemorts Vorfahren, allen voran sein Namensgeber und
Großvater Marvolo und sein Onkel
Morfin, sind zerrüttete Gestalten. Ihre
Charaktereigenschaften sind im Wesentlichen Jähzorn, Gewalttätigkeit
und Borniertheit. Körperlich werden
sie als tierähnlich und degeneriert dargestellt; Morfin beispielsweise schielt.
Sie tragen zerlumpte Kleidung und gebaren sich als unfähig zu höflicher oder
auch nur verständlicher Kommunikation. Dies alles wird als Folge von Inzucht dargestellt. Damit werden die
beiden Motive verbunden: Die unter
der Hand stattfindende Bestätigung für
Vererbungslogik und Sippen-Emphase,
in der das Fremde als Anziehendes keinen Platz mehr hat, und die Vorstellung, faschistische Herrschaft sei das
antagonistische Prinzip zu Gemeinschaft, Bindung und Familie, werden
verschweißt, indem der faschistische
Familienzerstörer selber aus einer gestörten Familie mit schlechtem Erbgut
kommt.
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Blut, ABstAMMung und FAMilie Bei Harry Potter
„B
ad blood“: die Bedeutung der Blutsverwandtschaft
Potter-Reihe an vielen verschiedenen
Stellen unterstrichen. Als beispielsweise Voldemort sich etwas von Harrys Blut einverleibt, wird ihm auch der
magische Schutz übertragen, den dieses Blut durch die Liebe und das Opfer
von Harrys Mutter erhalten hat. Da
aber gerade Diskriminierung und Ressentiments in der Harry Potter-Reihe an
der Frage der Blutes, an den Kategorien „Pureblood“, „Mudblood“ und
„Halfblood“, und an der Frage der Familienzugehörigkeit verhandelt werden, entsteht hier ein anderer Eindruck
von deren Bedeutung, als es der manifeste Impetus der Kritik an diesen Kategorien will, denn Blutszugehörigkeit
und Abstammung werden als Bezugsgröße über die Familie affirmiert.
Damit wird der Impetus der Reihe,
sich gegen die Rassen- und Vererbungslogik Voldemorts und der Todesser zu
wenden, gleichsam untergraben.
In die gleiche Kerbe schlägt Hagrid
schon früher, indem er über die Malfoy-Familie urteilt:
Rotten ter the core, the whole family, everyone knows that. No
Malfoy’s worth listening ter. Bad
blood, that’s what it is ... (Rowling
1998, 51)
Dem schlechten Blut wird in der Harry
Potter-Reihe unter der Hand die gute
Blutslinie der idyllischen Familie, die
alles Fremde ausschließt (wie im Falle
von Ron, Hermione, Harry und Ginny)
oder domestiziert (wie im Falle von
Fleur), entgegenhalten. Gestützt wird
die mehr oder weniger unterschwellige Ideologie, dass Blut dicker sei als
Wasser, auch von einigen Interviews
Rowlings. Beispielsweise antwortet sie
auf die Frage, warum Zauberstäbe vererbt werden können, obgleich sie die
passenden Magier wählen, wie folgt:
Melanie Babenhauserheide
(*1976) ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet als
Lehrkraft für besondere
Aufgaben an der Fakultät
für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Sie promoviert an der Universität Frankfurt zur Ideologie der Harry
Potter-Reihe aus der Perspektive der Kritischen Theorie Adornos.
As established by Ollivander, a
wizard can use almost any wand,
it is simply that a wand that chooses him/her will work best. Where
there is a family connection, a
wand will work a little better than
a wand chosen at random, I think.
(www.accioquote.org)
Die Bedeutung der Blutsverwandtschaft wird auch innerhalb der Harry
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interjuli
02 i 2012
Anmerkungen
1
Nicht wenige wissenschaftliche Auseinandersetzungen lesen die Harry Potter-Reihe ent-
weder als kritisch-emanzipatorisch oder als konservativ, reaktionär und rassistisch und
übergehen dabei die jeweiligen Widersprüche: Howard z.B. betrachtet die Harry PotterReihe in ihrem Aufsatz „‚Slaves no more’: The Harry Potter Series as Postcolonial Slave
Narrative“ als relativ gelungene moralische Erzählung gegen Sklaverei, während Anatol
sie aus postkolonialer Perspektive ausschließlich problematisiert.
2
In der Harry Potter-Reihe findet sich eine Mischung aus auktorialer und personaler Er-
zählperspektive.
3
Beachtlich ist dabei auch der Seitenhieb auf eine Maskulisierung von Frauen.
4
Sogar in Fällen, in denen diese Art der Charakterisierung von der Erzählung selbst unter-
miniert wird: Remus Lupins Name spielt darauf an, dass er ein Werwolf ist, dabei hat er diesen
Namen natürlich schon getragen, ehe er von einem Werwolf gebissen und angesteckt wurde.
5
(vgl. http://www.harrypotterwiki.de/wiki/Epilog:_Neunzehn_Jahre_später, http://en. wi-
kipedia.org/wiki/Harry_Potter_and_the_Deathly_Hallows#Epilogue und http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Potter_und_die_Heiligt%C3%BCmer_des_Todes#Epilog 30.05.2012)
6
Ebbrecht beispielsweise analysiert, wie in Der Untergang die Nazis, allen voran Magda
Goebbels, als böse Eltern dargestellt werden, während Traudl Jung das Gegenbild dazu
darstellt und zugleich das neue Deutschland repräsentiert (vgl. 184ff.). Wie Sonja Witte
zeigt, trachtet die in Das Wunder von Bern zentrale Vorstellung der guten, nationalen Gemeinschaft danach, „den Gegensatz von einzelnem und Kollektiv in einer Ganzheit aufzuheben, in der jedeR am anderen Teil hat und trotzdem ganz ‚er selbst‘ sein kann“ (2007,
229), was die Deutschen aus konfliktuösem Chaos und mangelndem Gemeinschaftssinn,
die dem Naziregime wie der Niederlage zugeschrieben werden, erlöst (vgl. Witte 2010,
83). Denn die alte Garde der unter den Nazis Aktiven „repräsentiert eine patriarchale
Autorität, die spaltet und nicht verbindet“ (Witte 2010, 86) und die geneigt ist, Familien
zu zerstören. Das Auseinandergerissene wird schließlich durch die „Großfamilie
Deutschland-einig-Siegerland“ (Witte 2010, 96) und einen neuen, postnazistischen Nationalismus geheilt. Auch in Sophie Scholl von 2004 hält die Protagonistin den bösen Nazis
die gute Gemeinschaft vor, die eigentlich Frieden wolle (vgl. Winter 62) und in Napola:
Elite für den Führer steht die gute Kameradschaft den perversen Nazis gegenüber (vgl.
Winter 64). Dabei werden im Wesentlichen Feindbilder der Nazis übernommen, nur mit
dem Unterschied, dass in diesen Filmen die Nazis selber diejenigen sind, die sie repräsentieren, denn sie sind feige und unkameradschaftlich, dekadent, maßlos und zersetzend. Die Nazis gelten als die Falschen, um Gemeinschaft zu stiften. „Und während diese
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Blut, ABstAMMung und FAMilie Bei Harry Potter
‚Nazis‘ sublim mit den [...] JüdInnen assoziert werden, überlebte die ambivalenzfreie und
stereotype ‚deutsche Weiblichkeit und Männlichkeit‘ mit ihrer kameradschaftlich-mütterlichen Selbstlosigkeit im Dienste der Gemeinschaft, abgetrennt von der völkischen Gedankenwelt, der sie enstammte, nicht nur den Untergang des NS, sondern wird in den
besprochenen Filmen als einzig angemessen-aufrichtiges Verhalten zum Hort des Widerstands verklärt“ (Winter 66).
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