Rehabilitation bei psychischen Erkrankungen und Behinderungen
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Rehabilitation bei psychischen Erkrankungen und Behinderungen
Rehabilitation bei psychischen Erkrankungen und Behinderungen – relevante Konzepte in der Sozialpsychiatrie Kapitel 6 (Depression) + 7 (ICF, recovery etc.) Konzepte depressiver Störungen • früher in deutscher Psychiatrie ätiologisch orientierte Konzepte der Depression • reaktive, neurotische oder endogene (psychotische) Depression • im ICD 10 deskriptiv • Betonung des episodischen Charakters der Depression („depressive Episode“) Kennzeichen der Depression I Umfassende körperliche Symptomatik (ohne organische Grundlage) Schlafstörungen Schmerzen Magen-Darm-Beschwerden Blutdruckschwankungen „Morgentief“ Infektanfälligkeit … Depressionen sind „richtige“ Krankheiten !!! Kennzeichen der Depression I Umfassende körperliche Symptomatik (ohne organische Grundlage) Gedrückte Stimmung kein Interesse oder Freude mehr – auch an Ereignissen und Dingen, die einem sonst Freude machen kein Schwung mehr, bleierne Müdigkeit negative Selbstsicht/Schuldgefühle Die „Big Three“ der Depression dauerhaftes Stimmungstief sich nicht freuen können Antriebsdefizit …wie immer das Selbstwertdefizit kompensiert wird • z.B. durch narzisstische Kompensation Arroganz beißende Kritik „Niedermachen“ von Schwächeren Imponiergehabe (selbstbeweihräuchern, Radschlagen wie ein Pfau, angeben, sich aufspielen) … oder eben durch die „narzisstische Plombe“ Alkohol Depression – Subjektives Erleben I • • • • • • • durchgehende Lustlosigkeit Dysphorie/Gereiztheit (bes. bei Männern) Erschöpftheit, Müdigkeit Unerklärlichkeit (selbst und Umwelt) meist kein subjektives Krankheitskonzept oft „larviert“ hinter körperlichen Krankheiten bes. bei Männer auch hinter Alkoholmissbrauch Depression – Subjektives Erleben II nicht eigentlich traurig, sondern gefühllos ausgeprägte Ängstlichkeit bzw. hohes Angstniveau ständiges Gefühl der Überforderung … des Unverstandenseins negative Zukunftsgedanken Perspektiv- und Aussichtslosigkeit bis hin zu Suizidideen (auch bei leichteren Depressionen) Diagnostische Leitlinien Depression gem. ICD 10 1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit 2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen 3. Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit 4. negative und pessimistische Zukunftsperspektiven 5. Gedanken oder erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen 6. Schlafstörungen 7. Verminderter Appetit Formen der Depression gem. ICD 10 A. Depressive Episode (F 32*), leicht (F 32.0), mittelgradig (F 32.1), schwer (F32.2) B. C. D. E. Rezidivierende depressive Störung (F 33*) Dysthymia (F 34.1) (anhaltende, eher milde Depression) Anpassungsstörung, depressiv (F 43.2) Bipolare affektive Störung, gegenwärtig depressiv (F 31.3 – 5) F. Organische depressive Störung (F 06.32) G. Schizoaffektive Psychose (F 25.1) Manie und bipolare affektive Störung gem. ICD 10 F 30 + F 31 A. B. C. D. Hypomanie F 30.0 Manie ohne psychotische Symptome F 30.1 Manie mit psychotischen Symptomen F 30.2 bipolare affektive Störung F 31.0 gegenwärtig…. Symptome der Manie Charakteristika der Störung: Gehobene Stimmung, Ausmaß und Geschwindigkeit der körperlichen und psychischen Aktivität Symptome der Manie • intensive, aber unbegründete gehobene heitere Stimmung bis hin zur Euphorie • ins Maßlose gesteigertes Selbstbewusstsein • starke Erregung, innere Getriebenheit • rastlose Aktivität und Unruhe • Verlust von Hemmungen • Weitschweifigkeit, Logorrhoe, Ideenflucht • Größenwahn und andere Wahnsymptome • Halluzinationen möglich • stark vermindertes Schlafbedürfnis • manchmal Vernachlässigung von Nahrungsaufnahme und Körperhygiene Varianten der Manie • klassische Manie (im Vordergrund Antriebssteigerung und gehobene Stimmung) • gereizte Manie (mit zornig-gereizter Stimmung) • Mischsymptomatik Manie/Depression • rapid-cycling Bipolare Störung • Bipolare Störung I: Mindestens einmaliges Auftreten einer manischen Episode • Bipolare Störung II: wiederkehrende Depressionen und mindestens eine Hypomanie • Geschlechterverhältnis: Bipolar I beide gleich, bei Bipolar II überwiegen Frauen Prävalenz der depressiven Störungen • stark unterschiedlich hinsichtlich der unterschiedlichen Formen der Depression • generell sog. life-time-Prävalenz bzgl. einer depressiven Störung ca. 15 % • dabei bipolare affektive Störung 1 % • ca. 15 % der an einer Depression Erkrankten sterben durch Selbsttötung !! Depression - Ursachen – biologisch-physiologische Beschreibungsebene • genetische Komponenten • Erkrankungswahrscheinlichkeiten familiär erhöht • ein Elternteil 20 %, beide 50-60% • eineiige Zwillinge Konkordanzrate ca. 65 % • Verhältnis Frauen zu Männer 2 : 1 (!!) • dispositionell Anfälligkeit des serotonergen Neurotransmittersystems Depression - Ursachen – Neurotransmitter • relativer zentralnervöser Mangel an Serotonin und Noradrenalin • erklärt Stimmungstiefs und Antriebsmangel • auch Dopamin: erhöhte Ausschüttung im präfrontalen Kortex korrelliert mit Manien, erniedrigte mit Depression • auch GABA- und Glutamat-System beteiligt Depression – fördernde und aufrechterhaltende Bedingungen • Unkontrollierbarkeit (Unvorhersagbarkeit, mangelnde Beeinflussbarkeit etc.) • Selbstwertkränkung/-infragestellung/bedrohung • wechselnde unklare Bindungen/Beziehungen • Überwiegen negativer Emotionen Beck’sche Trias der Depression Verzerrte Kognitionen, d.h. negative Sichtweisen - des eigenen Selbst - der Umwelt/der eigenen Erfahrungen - der Zukunft führen zur Depression !! Typische depressive Denkfehler • • • • • willkürliche Schlussfolgerungen Übergeneralisierung/Verallgemeinerung selektive Abstraktion Über- und Untertreibung Personalisierung Typische depressive Denkfehler - ausführlich I Willkürliche Schlussfolgerungen: ohne sichtbaren Beweis oder sogar trotz Gegenbeweisen werden willkürlich Schlussfolgerungen gezogen. Übergeneralisierung nach dem Muster: aufgrund eines Vorfalls wird eine allgemeine Regel aufgestellt, die unterschiedslos auf ähnliche und unähnliche Situationen ange-wendet wird. Dichotomes Denken: Denken in Alles oder NichtsKategorien. Personalisierung: Ereignisse werden ohne klaren Grund auf sich selbst bezogen. Typische depressive Denkfehler - ausführlich II Selektive Abstraktion: Einige Einzelinformationen werden verwendet und überbetont, um eine Situation zu interpretieren. Damit werden bestimmte Informationen auf Kosten anderer überbewertet. Zum Beispiel wenn jemand, der von allen gegrüßt wird, von jemanden nicht beachtet wird und denkt, dass ihn keiner mag. Maximieren und Minimieren: Negative Ereignisse werden übertrieben und positive Ereignisse untertrieben. Zum Beispiel: "Dass ich einen bestimmten Abschluss hinbekommen habe, ist nichts wert. Aber, dass der Kunde heute noch nicht zurück gerufen hat, zeigt, dass ich ein schlechter Verkäufer bin!" Katastrophisieren: Das Eintreffen oder die Bedeutung von negativen Ereignissen wird stark überbewertet. "Meinen Kindern wird bestimmt etwas Schlimmes passieren!" Typische depressive Denkfehler - ausführlich III Emotionale Beweisführung: Das Gefühl wird als Beweis für die Richtigkeit der Gedanken genommen. "Ich fühle, dass ich nichts wert bin, also ist das auch so!" Etikettierung: Aus einer Handlung wird ein umfassender Sachverhalt gemacht, z.B. "Ich habe verloren - ich bin ein absoluter Verlierer!" Gedankenlesen: Man meint ohne nachzufragen, die Gedanken der anderen zu kennen. "Die anderen denken, ich bin ein Versager!" Tunnelblick (selektive Aufmerksamkeit): Jemand sieht nur einen bestimmten Aspekt seines gegenwärtigen Lebens. "Wenn ich Stress auf der Arbeit habe, dann ist mein Leben verpfuscht!" 8. Psychiatrische Rehabilitationskonzepte • Klassisches Konzept der Stufen der Prävention und Rehabilitation • ein Schlaglicht auf die ICF • ebenso auf den Recovery-empowermentAnsatz moderner (sozial-)psychiatrischer Arbeit (solange die Zeit reicht) Stufen der Prävention und Rehabilitation ICF • International Classification of Functioning, Disability and Health • Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit • WHO • Zentrale Dimensionen des Functioning Functioning: Eine Person ist funktional gesund, wenn 1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen), 2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheits-problem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), 3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder –strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation/Teilhabe an Lebensbereichen). Der 'recovery'-Ansatz - Historie • viele Bedeutungen des Begriffs • u.a. Aufschwung, Besserung, Genesung, Wiedergewinnung, Bergung, Rettung etc. • aus Verbraucherschutzbewegung in USA hervorgegangen • Schlüsselfragen : Nutzung der Angebote durch Betroffene und Wahrung der persönlichen Authentizität in der Therapie • erste Anwendung in Drogentherapie (12-SchritteProgramm, Einsatz von Ex-usern) • heute viel in der Pflegeforschung zu finden Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Was meint recovery ? I • recovery ist Prozess und Ergebnis • … betont, dass man auch aus schwerster seelischer Behinderung herauswachsen kann • …dass vielleicht doch die Krankheit augenblickliche Krise war • …und ich mich auf eine Reise von Heilung und Transformation begeben muss • …um mein Potential und meine Lebensfreude wiederzugewinnen Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Was meint recovery ? II • …die Krankheit ist letztlich egal, sie darf mich nicht behindern • …ich kann trotz Krankheit meinen Platz in der Gesellschaft einfordern (empowerment) • kann auf meinen Rechten als Behandelter/ Betreuter bestehen • mich von Betroffenen beraten/begleiten lassen, wenn ich unsicher Profis gegenüber bin • …möchte an Entscheidungen, die mich betreffen, beteiligt sein • …Betroffen und deren Verbände sind an fachlichen und politischen Entscheidungen beteiligt Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Was meint recovery ? III • …ich kann zuversichtlich sein, was den Verlauf meiner Krankheit angeht • …ich brauche Menschen/Profis, die an mich glauben • …und nicht personifizierten Pessimismus bzw. prognostischen Negativismus • in jedem Fall kann ich meine persönliche Bewältigungsstrategie erfolgreich anwenden • …ich kann Selbstachtung haben unabhängig von der Erkrankung Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Ron Coleman „Psychotic and Proud“ „I hear voices...................... ......and they don‘t like you!“ Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. I want to be able to talk to someone in a pub and say „I have been mentally ill“ and for them to say „that‘s interesting, what did you experience?“ UK, 1997; quoted in Sayce, 2002 Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Was heißt recovery für die Praxis ? • Zuversicht motiviert Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. ‚Holders of Hope‘ "So many times we ask our mental health professionals to be our ‚Holders of Hope‘. Sadly most of them however can't be our ‚Holders of Hope‘ because they come from the 'mind set' that ‚I do not believe that you can recover, therefore you cannot recover'". Helen Glover Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. „Jemand, der an uns geglaubt hat, hat uns zur Gesundheit geholfen “ Dan B. Fisher, M.D., Ph.D. „eine Ärztin, die an mich geglaubt hat. Sie hat nie aufgegeben. Sie war die einzige, die nicht aufgegeben hat... " „... Hat mich motiviert weiterzukämpfen. Gib nicht auf. Lass nicht die anderen sich durchsetzen. Kämpf einfach weiter. " „Sie hat an mich geglaubt. ... Sie schickte mir eine Karte ‚machs weiter so gut!‘ Sie hat etwas in mir gesehen. Von Anfang an hat sie mir gesagt, dass vieles für mich spricht. Sie hat mir Mut gegeben und mich angespornt.“ Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. Was heißt recovery für die Praxis ? • Zuversicht motiviert • überhaupt sollten Profis Betroffene zu Eigeninitiative und Bewältigung motivieren • Beachtung und Stärkung der Patientenrechte und bedürfnisse • Betroffene systematisch beteiligen (Selbsthilfe und Interessenvertretung) • Beteiligung an Psychoedukation und Öffentlichkeitsarbeit • Personenzentrierung • … Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. recovery – ein Prozess Hoffnung (Ressourcenorientierung, individuelle Ziele, positive prognostische Einschätzung) Heilung (Selbstgefühl unabhängig von der Erkrankung finden, Selbstachtung, Selbstwertgefühl, Kontrolle) empowerment (Autonomie, Verantwortung) Gesellschaftlichenr Anschluss (soziale Inklusion) Jacobson and Greenley, 2001 Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd. recovery HOFFNUNG-MACHT-SINN Jean Hermanns, Dipl. Psych.;Dipl. Soz.päd.