Velotour Sardinien - VCS Verkehrs

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Velotour Sardinien - VCS Verkehrs
REISEN
Velotour
Als «Fahradies» ist Sardinien noch fast ein Geheimtipp. Dabei ist vor allem
das praktisch verkehrsfreie Inselinnere ausnehmend schön – wenn auch ganz
schön fordernd.
Ein Giro di Sardegna
Text und Fotos: Kuno Roth
Die Hitze verlangt nach sommerlicher Abkühlung. Die Landschaft
Sardiniens mahnt manchmal an einen
Western.
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S
ardinien hat mancherlei Leckerbissen auf Lager: Meer,
Felsen, Korkeichenhaine, Weinberge, karge Weiden, prächtige
Pinien, (meist) blauer Himmel.
Und Gastfreundschaft. In der
Nebensaison laden schwach frequentierte Strassen zum Velofahren ein; anders als im Hochsommer spült noch kein Überdruck
Motorräder von den Küstenstrassen ins Inselinnere. Jeder
und jede findet so das passende
Veloterrain: im meist flachen
Küstengebiet zum gemütlichen
Bummeln, im sardischen Hügelland zu genussreichem, aber auch
anstrengendem Auf und Ab.
Kommt hinzu, dass die meisten
Hotels und Agriturismi schon
bzw. noch geöffnet und einiges
billiger sind als zur Hochsaison.
Unsere Nordrundtour beginnt
in Porto Torres, führt zuerst dem
Meer entlang und nach etwas
mehr als 20 Kilometern in Lu
Bagnu durch die erste Hügelkette Richtung Perfugas. Vorbei am
Felsen «L’Elefante», über reizende kleine Passübergänge und auf
einer Nebenstrasse durch Scala
Ruia an den Etappenort Aggius.
Im Agriturismo «Il Muto di Gallura» geniessen wir die köstliche
regionale Küche. Das Frühstück
ist unitalienisch üppig, der Kaffee italienisch gut.
Das Teilstück von Aggius ostwärts nach Arzachena beginnt mit
einer imposanten Felsenschau.
Bald biegen wir auf die Nebenstrasse nach Aglientu ab. Anstatt
das Dorf zu umfahren, nehmen
wir den Weg durch den Ort. Mit
etwas Glück begegnet man einer
Schildkröte, vor allem aber lohnt
sich die Abfahrt hinter dem Dorf
über die alte Strasse zum Meer.
Nach etwa 20 Kilometern führt
der Weg vom Meer über überraschend viele, aber lohnende Höhenmeter im Auf und Ab über
Campoglio nach Arzachena. Die
letzten fünf Kilometer der Etappe
zum Agriturismo auf dem Pass
sind begeisternd: eine Landschaft
wie aus einem Western. Durch
karge Hügel und rötliche Klippen
windet sich die Strasse gegen den
blauen Himmel.
Grandios ist die am nächsten
Tag folgende Abfahrt ans Meer ab
der Abzweigung Richtung Osten,
zwei Kilometer vor Ala di Sardi.
Eine wild-stille Landschaft mit
sonnenverwöhnten Felsen, Steppen und spröden Wäldern. Erst
auf den letzten Kilometern vom
schmucken Posada dem Strand
entlang nach Orosei begegnen
wir Menschen. Von diesem sehenswerten Städtchen sind es bis
zum Etappen- und Bergort Fonni
gemäss Karte 1000 Höhenmeter,
in Tat und Wahrheit ist es, typisch
sardisch, rund das Doppelte. Auf
dem Pass hinter Orgosolo, dessen Häuser mit Wandgemälden
geschmückt sind, machen wir
die Bekanntschaft des schönsten
Korkeichen- und Pinienhains
der Welt, dies erst noch vor der
umwerfenden Kulisse des Gennargentu-Nationalparks. Hinunter nach Pratobello, hinauf nach
Fonni. Hier wie andernorts zeigt
sich, dass die Bar Centrale der
gute Auskunftsort für Unterkunft
und Verpflegung ist.
VCS MAGAZIN / SEPTEMBER 2012
Frühmorgens geht’s still und
einsam zuerst weiter bergan,
dann hinab zum Arato-Fluss und
wieder hinauf zum nächsten Pass,
wo wir die Abzweigung nach
links nehmen. Es folgt ein schmales Strässchen, das am Fusse der
höchsten Berge (1800 m ü.M.)
kilometerlang der Höhenlinie
entlangkurvt. Nur Schafe ab und
zu. An Aritzo rechterhand vorbei
über Atzara nach Sorgono, wo
wir im Hotel Villa Fiorita die einzigen Gäste sind. Das zwingt den
zunächst brummigen, am nächsten Morgen aber sehr aufgeräumten Wirt zum Öffnen der Küche.
Entzückt radeln wir die eng
gewundene Strasse hinter Austis hinab zum Lago Omodeo, wo
üppig Heckenröschen blühen,
zum nächsten Etappenort Santu
Lussurgiu. Diese Wahl galt dem
historischen Städtchen selber,
aber auch dem Slow-Food-Hotel
«Antica Dimora del Gruccione». Es dient Studierenden der
Universität Turin als Lernort
für «regionale Produktion» und
will zudem den Langsamtourismus fördern, wozu bald eine
Velowerkstatt eröffnet werden
soll. Der Gaumen beginnt ob
VCS MAGAZIN / SEPTEMBER 2012
des langsamen, mehrgängigen
Essens zu tanzen. Ein Muss sind
die Culingionis, sardische, mit
Pecorino gefüllte Ravioli.
Nach Lussurgiu folgen ein
längerer Anstieg und eine noch
längere Abfahrt durch die vom
Eisen gerötete Landschaft des
Monte Ferru, durch Cuglieri
über Porto Alaba zum sehr schönen, sehr touristischen Städtchen
Bosa. Danach fliesst schon wieder der Schweiss, wobei sich die
500 Höhenmeter nach Montresta
immerhin auf fast 20 Kilometer
verteilen. Hier lebte die LiteraturNobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871–1936), und auch hier
bewährt sich das Vorgehen, im
Laden nach dem Weg zu fragen.
Auch wenn wir dafür mühsam
ein paar italienische Brocken zusammensuchen müssen. Die Reaktion ist stets freundlich. Des Öftern folgt eine englische Antwort,
einmal gar eine in akzentfreiem
Bayerisch, von dem pensionierten
Mann, der auch gerade einkauft
und Jahrzehnte als Buschauffeur
in München gearbeitet hat.
Die 20 Kilometer später folgende Meersicht auf dem Weg
nach Villanova lohnt sich, ebenso
wie die schon von Weitem sichtbaren, engen Serpentinen hinauf
nach Monteleone Rocca Doria.
Der frühere Schlosssitz ist zu dieser Jahreszeit äusserst ruhig, abgesehen von den leisen Stimmen
des Frauenchors, die aus der romanischen Kirche dringen. Nach
kurzer Suche finden wir ein Zimmer. Am nächsten Tag atmen wir
die Anisdüfte von wildem Fenchel ein, als wir über Thiesi, Siligio, Banari und Florinas durch
die reizvolle Landschaft zum
Hotel de Charme Funtanarena in
Codrongianos pedalen.
Unsere Tour ist fast zu Ende.
Sassari, mit seiner an Turin erinnernden Architektur und den vielen Plätzen, ist schöner als Porto
Torres. Die Nachtfähre bringt uns
zurück ans genuesische Festland.
Auf Deck nochmals Focaccia,
Pecorino, Pomodoro und Cannonau, wir werfen einen letzten,
melancholischen Blick auf die
entschwindende Insel: Sardegna,
bella, ciao!
Für Ihre Reiseplanung
Anreise: Nadelöhr ist der Velotransport nach Mailand (bzw. zurück). Alternative zum Eurocity sind die Regionalzüge ab Domodossola, in denen Velos
einfacher mitgeführt werden können. Die Nachtfähre Genua–Porto Torres
und zurück ist perfekt. Fähren auch nach Olbia bzw. von Livorno.
Unterkünfte: Hotels, B&B, Agriturismi – Adresslisten zwecks Vorreservation
und Abklärung, ob Küche offen, findet man unter www.sardegnaturismo.it.
Das empfehlenswerte Slow-Food-Hotel in Lussurgiu: www.anticadimora.com
Tourenbeschriebe: z.B. Radatlas Sardinien, Radtourenbuch, Esterbauer
Verlag, 2009, www.alturl.com/wscra oder www.alturl.com/chbaa (Guida
Cicloturistica).
Wetter, z.B.: www.alturl.com/dvzfj. Ab April wird es wärmer, im Juli und
August ist es knochentrocken, ab September werden die Temperaturen
wieder angenehm.
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