zum vernünftigen Wesen vom Homo Sapiens Sapiens
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zum vernünftigen Wesen vom Homo Sapiens Sapiens
AUF DEM WEG ZUM TECHNISCH OPTIMIERTEN MENSCHEN? Ist Technik die Zukunft der menschlichen Natur? 36 Essays Herausgegeben von Armin Grunwald und Justus von Hartlieb Wehrhahn Verlag 3 4 EINFÜHRUNG Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage 2012 Wehrhahn Verlag www.wehrhahn-verlag.de Satz und Gestaltung: Wehrhahn Verlag Dank an Katharina Wiese Umschlaggestaltung: Wilfrid Schroeder (unter Verwendung eines Fotos des »Maschinenmenschen« aus dem Film Metropolis; akg-images) Druck und Bindung: Aalexxdruck, Großburgwedel Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany © by Wehrhahn Verlag, Hannover ISBN 978–3–86525–095–7 EINFÜHRUNG 8 Inhalt 13 Armin Grunwald / Justus von Hartlieb Auf dem Weg zum technisch optimierten Menschen? Ein Essay-Wettbewerb und sein Kontext 33 Meike Adam Vom Leben als Prothesengott. Warum die Natur des Menschen so natürlich gar nicht ist 40 Sönke Ahrens Etwas mehr Distanz bitte! Zum Selbstverhältnis des Menschen in einer technischen Welt 50 Imre Bárd Transhumanismus: Selbstentfaltung oder Selbstauflösung? 59 Meik Bittkowski Faustischer Drang im Turing’schen Gewand. Erlösungs-Pop für das 21. Jahrhundert 66 Ragnar Bödefeld Die technologische Singularität und ihre Folgen für die Evolution des Menschen 76 Niels Boeing Die offene Technosphäre 85 Clemens Bohrer Cyborg-Geschichten 94 Sascha Dickel The Obsolete Body? Technik als Gegenwart der menschlichen Natur AUF DEM WEG ZUM TECHNISCH OPTIMIERTEN MENSCHEN? 104 Anne Dippel Vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens optivus. Ironisches Prolegomenon für einen »Entartungsschutz des Menschen« 115 Franz Domaschke Wer entscheidet worüber und warum? Zur Topographie der Frage, ob Technik die Zukunft der menschlichen Natur sei 124 Helena Etzold Die wunderbare Welt der Menschheit 127 Thorsten Felden Grenzgänger. Der Mensch zwischen Natur und Technik 135 Ernst Grabovszki Der Körper und seine Schöpfer. Über die literarische Lüge und die human-technische Erzählung 144 Jürgen Gunia Lesen und Leben. Kreativität und Intensität im Zeitalter der elektronischen Medien 154 Jürgen Hädrich Homo instabilis oder Kein Versuch zur Verortung des Menschen 164 Oliver Herwig Das Gesicht der Zukunft. Technik ist die zweite Natur des Menschen 172 Eva Holling Denkst du? 180 Marc Jongen Technik und Natur – eine notwendige Einheit 190 Nicole C. Karafyllis »Bruno ist tot!« Die Raubtiernatur und die anthropologische Zukunft des Menschen 9 10 EINFÜHRUNG 200 Alexander Kochinka Andersts Langeweile oder Vom Lächeln der Bienen 208 Jörg Krenmayr Newtopia, am 31. Juli 2056 216 Miriam Ji Sun Leis Wie die Technik den Menschen verändert hat. Ein Szenario aus dem Jahre 2076 225 Christian Luckscheiter Technik – und was dann? 232 Sven Meyer Perfekte Menschen und echte Helden 239 Philip P. Moltmann Denkenskraft 242 Torsten Nahm Das faustische Gefängnis 247 Andreas Pfrengle Quo vadis, Homo sapiens technologicus? 254 Jürgen Prokop Ein Traum voll Wissenschaft 258 Elisaweta Pudowa Wir + sie = Zukunft? 262 Thomas A. C. Reydon Der Transhumanismus ist nicht vertretbar 272 Jörg Salman Ich bin ein maschinelles Säugetier. Müssen wir uns vor einer Zukunft aus Technik fürchten? AUF DEM WEG ZUM TECHNISCH OPTIMIERTEN MENSCHEN? 11 276 Johannes Scholten Stimmen 284 Stefan Selke Sinn – Mangelware des 21. Jahrhunderts. Menschen als Werkzeuge der Veränderung in der Sphäre der Hypertechnologisierung 293 Alexander Singer Kontrollierbarer Umgang mit Innovation 300 Katrin Sonnleitner Was soll werden? Gedanken über morgen 309 Erik Strub Das Humane ist das Konkrete ist das Humane Anhang 319 Über die Autorinnen und Autoren 324 Weiterführende Literatur 104 ANNE DIPPEL Anne Dippel Vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens optivus Ironisches Prolegomenon für einen »Entartungsschutz des Menschen« Die Vorstellung, dass die Naturwissenschaften zur Förderung einer allgemeinen Kultur- und Vernunftbegabung der menschlichen Natur beitragen könnten, ist nicht ohne Ironie, sind es doch gerade sie und die von ihnen angeleitete Technik, denen angesichts ihres grenzenlosen Erkenntnisdrangs gern unterstellt wird, bar jener Vernunft zu sein, die es ihnen mit Blick auf all die Chancen ihrer Forschungen ermöglichen würde, jene inhärenten Gefahren zu erkennen, die zuweilen die gesamte Menschheit bedrohen. Der Erkenntniszuwachs der Naturwissenschaften wird von Idealen eines beunruhigenden Fortschrittsglaubens getragen, die gerade in der global vernetzten Welt weniger harmonisierend als konfliktverstärkend erscheinen. Je mehr Technik unter die Haut des menschlichen Organismus geht, desto größer werden die Abhängigkeiten von ihr, umso tiefer die Ängste, sich zu verlieren. Die akademische Preisfrage, ob Technik die Zukunft der menschlichen Natur sei, greift zentrale Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte auf, fragt nach Bildern, Hoffnungen und Verheißungen, die im Zentrum der okzidentalen Kosmologie verborgen liegen. Selten erweist sich ein Rückgriff auf die Anfänge für die Lösung aktueller Probleme als hilfreich. Hier aber führt die Synthese zweier zunächst eurasischer Kosmologien zum Verständnis, warum der von okzidentalen Werten geprägte Mensch das Bedürfnis hat, sich neu zu erschaffen; sie erhellt, wieso es ihm nicht reicht, von der Natur anstelle von Gott erschöpft worden zu sein, und weshalb er sich also mehr nolens als volens selbst erschaffen muss. Denn Adam und Eva haben nie zusammengepasst. Prometheus wäre der Richtige für sie gewesen, obgleich sie gemeinsam zu einem gleichsam maßlos unerhörten, aber anziehenden, kosmogonischen Monstrum geworden wären. Mythopoietisches scheint in der säkularen, von naturwissenschaftlichem Fortschrittsdenken und aufgeklärtem Vernunftstreben durchwehten Gegenwart hinfällig, geradezu störend zu sein. Und doch: In der Welt des postmodernen Menschen wirken eben jene Verletzungen im Unbewussten fort, von der die Bestrafung VOM HOMO SAPIENS SAPIENS ZUM HOMO SAPIENS OPTIVUS 105 des Vorausdenkens von Prometheus und des Erkenntnisdrangs von Eva erzählen. Am Beispiel der aktuellen Fortpflanzungsmedizin, die sich offenkundig intensiv mit dem auf Eva lastenden Fluch, unter Schmerzen zu gebären, auseinandersetzt, und anhand von Überlegungen, inwieweit die Naturwissenschaft zur Förderung einer Kultur- und Vernunftbegabung des Menschen beitragen könnte, gelingt es, Schlaglichter auf die Zukunft der menschlichen Natur und ihr Verhältnis zur Technik zu werfen. Wirtschaftliche Entwicklungen und Fragen der Energieversorgung, ethische Regulierungen und politische Entscheidungen binden den aktuellen naturwissenschaftlichen Betrieb solcherart, dass zeitaufwendige, reflektierende Gesten hinderlich und überflüssig wirken. Für diese Betrachtungen haben Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften per definitionem Zeit in Fülle. Mag ihr Reflex auch nur einen geringen Einfluss auf den technologischen Fortschritt innerhalb der Naturwissenschaften besitzen, so kann seine legitimatorische und kritische Kraft gerade im Hinblick auf denkbare Möglichkeiten im politisch-öffentlichen Raum kaum überschätzt werden. Homo sapiens optivus – der selbstgewählte Mensch Das Wort »sapiens« ist zum Epitheton ornans, zum schmückenden Beiwort, für jene Menschenaffenart gewählt worden, die sich heute daran macht, ihre eigene biologische Evolution mittels naturwissenschaftlich angeleiteter Technik selbst zu gestalten. Sapiens, ein Adjektiv, das die besondere Fähigkeit dieser Säugetiere, genau genommen: einer Unterart der Trockennasenaffen, kennzeichnen soll: klug, einsichtig und weise, mit einem Wort vernunftbegabt, so sieht sich der Mensch im Kreis der Menschenaffen. Die Frage, ob Technik die Zukunft der menschlichen Natur sei, deutet einen möglichen Gattungsumbau an. Streng taxonomisch, im Sinne des Biologen Carl von Linné gedacht, dürfte dieser zukünftige Mensch nicht mehr als Homo sapiens sapiens bezeichnet werden; es bedürfte vielmehr einer neuen Bezeichnung. Wenn der Mensch sich selbst veränderte, würden seine Nachkommen nicht mehr einfach in die Welt geworfene, unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten analysierbare Lebewesen sein. Sie könnten auch nicht mehr als Schöpfungen nach dem Ebenbild Gottes angesehen werden. Dieser Mensch wäre ein gewünschter, ein gewählter Mensch, ein Homo sapiens optivus. 106 ANNE DIPPEL Die gegenwärtige Welt ist nicht mehr jener Transzendenz unterzuordnen, gegen die sich die Naturwissenschaften während ihrer Entstehung behaupten mussten. Sie selbst zerstörten sie in ihrem erkennenden Werden. Aber es scheint, dass ihr Entstehungskontext einen kolossal prägenden Eindruck auf sie hinterlassen hat. Er wird sichtbar in technischem Fortschrittsdenken und im Glauben an eine mögliche Allmacht des Menschen. Also alles wie immer, ob König oder Gott ist dabei einerlei, hier muss es deshalb heißen: Dieu est mort! Vive le dieu! Die Naturwissenschaften üben sich darin, die Grenzen menschlichen Bewusstseins und menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu überschreiten. In ihrem Bestreben, das sich kurzgefasst mit ascendere trans immanentia (aufsteigen durch die Immanenz selbst) umschreiben lässt, verbergen sich indessen spezifische, kulturell gebundene Muster. Sie sind es, die den Naturwissenschaften den Vorwurf einbringen, sie versuchten den Menschen zu vervollkommnen, sie spielten Gott, weil schließlich nur ein Wesen in der okzidentalen Kosmologie vollkommen ist. So bedingt ein fragwürdiger Minderwertigkeitskomplex das ehrgeizige, hochgradig kulturabhängige Grundverständnis der Naturwissenschaften. Eva und Prometheus Schon in den beiden dominanten mythologischen Wurzeln der okzidentalen Gesellschaften findet sich das Bedürfnis des Menschen, seine eigene Natur zu bestimmen und der Willkür vorzugreifen, der er naturgemäß ausgeliefert ist. Zwei Gestalten sollen hierfür als Sinnbilder stehen, ihre Handlungen in einem Gedankenspiel eine positive Deutung erfahren: die biblische Eva und der griechische Prometheus. Beide wollten sich nicht damit abfinden, bloß gemacht zu sein, sie selbst wollten etwas machen: Ihre Taten brachten den Menschen die Versuchung und das Feuer, die Vertreibung aus dem Paradies und die Büchse der Pandora. Mit dem Leid, das so die Menschheit überkam, schenkten Eva und Prometheus ihr zugleich etwas völlig anderes, der menschlichen Natur ebenfalls Eigentümliches: die Hoffnung. Sie war es, die den Sündenfall begleitete und auch als Geschenk auf dem Grund der Büchse der Pandora zu finden war. Und sie wird bis zum Tage des Jüngsten Gerichts und der Überquerung des Styx die Menschen in ihren moralischen Entscheidungen bestimmen. Eva aß vom Baum der Erkenntnis, weil sie verständig zu werden für gut hielt. Mit dem Biss in den Apfel nahm sie die Erinnerung an die zeitlose Ewigkeit in VOM HOMO SAPIENS SAPIENS ZUM HOMO SAPIENS OPTIVUS 107 sich auf und übergab ihn an ihre Kinder und Kindeskinder. Prometheus gab durch Feuer und Lehm den Menschen die Erkenntnis, nicht nur gemacht zu sein, sondern auch selber fähig zu sein, aus dem Menschsein etwas zu machen. Erst nach der Vertreibung aus dem Paradies und dem Rückzug der Götter auf den Olymp begann die Gegenwart, ein vergängliches Moment zu werden. Mit der Vergangenheit vor Augen saß die Zukunft den Menschen im Nacken: Sie sehnten sich nach der Zeit, als sie keine Zeit kannten. Sie sehnten sich nach der Ewigkeit. Diese Sehnsucht nach dem vollkommenen Dasein brachte den Glauben an Fortschritt mit sich. Auch wenn diese Bewegung selbst letztlich immer weiter vom paradiesischen Grundverständnis eines zeitlosen Jetzt wegführte, war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der befriedigendste Ersatz für die Unsterblichkeit, die den Menschen selbstverschuldet verloren gegangen war. Erst außerhalb des Paradieses, erst durch den Betrug des Titanen Prometheus, erst nachdem die Götter den Menschen misstrauten, wurde es notwendig, die Zukunft zu denken und nicht aufzugeben, bis in den Tod hinein – die Hoffnung stirbt zuletzt. Mit ihrer Hybris durchtränkten Eva und Prometheus das Menschengeschlecht. Die subversiven Anmaßungen ihrer Taten bergen in nuce die Überzeugung, der Mensch sei das Maß aller Dinge; sie überantworten dem Homo sapiens die innigste Erkenntnis: Ich ist ein Anderer. Selbstbewusstsein braucht Entfremdung. Die Menschen waren sterblich geworden. Und sie konnten es nicht mehr vergessen. Seitdem versucht der Mensch sich im Nachbau des Paradieses. Doch weil er in Zeitlichkeit denken muss, bleibt ihm nur, seine Entwicklung als Fortschritt zu begreifen und die Techniken seiner Urahnen weiter zu entwickeln, um zurückkehren zu können. Worin unterscheiden sich Evas Erkenntnisdrang und das Vorausdenken des Prometheus von den Forschungsbemühungen der Naturwissenschaften? Welche anderen Errungenschaften als die von Prometheus den olympischen Göttern entwendeten bilden die Grundlage der modernen Technik? Von allen guten Geistern verlassen, in menschlicher Gesellschaft und trotzdem auf sich gestellt, mit technischer Finger- und kognitiver Lernfähigkeit ausgestattet, wählt der Homo sapiens den Angriff auf die Natur selbst, er versucht, die Welt sich untertan zu machen, eine Welt, in die er ungewollt hineingestellt ist, in die er heute dank naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nur planbarer hineingeworfen werden kann. Noch immer arbeitet er an einer Vorstellung von gemeinsamem Glück. Seine Umwelt nimmt mehr und mehr die Gestalt seines Willens an. Sogar das Klima ist er zu prägen im Stande. Die Kinder von 108 ANNE DIPPEL Eva und Prometheus haben ihre Spuren durch Land, Wasser und Luft gezogen und alle Grenzen verschoben. Dennoch konnten sie das Paradies weder wiederfinden noch neu erschaffen. Nach der Eroberung der Welt bleiben ihnen noch zwei Unendlichkeiten, die Weite des Universums und die Untiefe ihres Seins, der bestirnte Himmel über ihnen und die menschliche Natur in ihnen, denn die menschliche Natur ist untief, bodenlos und oberflächlich zugleich. Reproduktion – inter urinas et faeces nascimur Zwischen Erzverhüttung und Quantenmechanik, zwischen Coitus interruptus und hormonellem Contrazeptivum liegt ein göttlicher Wimpernschlag. Doch seitdem sind Äonen menschlicher Reflexion vergangen. Der Umbau der menschlichen Gattung ist seit langem im Gange. Nur nimmt er weniger spektakuläre Züge an, als transdisziplinäre Projekte sie vorausahnen lassen. Welcher Bereich menschlichen Lebens erregt mehr Aufmerksamkeit, hat mehr Phantasie geschenkt bekommen, ist Grundlage aller Genealogie und allen Zukunftsstrebens, seitdem es Menschen gibt, als eben jener Vorgang, der die Möglichkeit des Lebens in sich birgt? Es ist ein Augenblick von Lust, dessen Kraft die ganze menschliche Natur in ihrer Zärtlichkeit und Schönheit, in ihrer Gewalt und Grausamkeit vereint. Bis heute hat die Liebe keine Berge versetzt, aber kaum Mühen noch Leid gescheut, um eben jenen Fortschritt zu erzielen, der sie durch Trennung von Sex und Fortpflanzung frei gemacht hat. Fausts Gretchen (nicht aber Faust, natürlich nicht!) musste noch einen qualvollen Tod dafür sterben, dass sie sich ihrer Lust hingegeben hatte. Hundertfünfzig Jahre später schon hätte sie mit hormoneller Empfängnisverhütung ihren Körper manipulieren können und hundertachtzig Jahre später hätte sie womöglich einen Kinderwunsch gehegt und wäre verzweifelt darüber gewesen, dass ihr Eisprung und Fausts Ejakulation nicht zwingend Kindersegen verhießen. Das war der Anfang vom Ende des okzidentalen Patriarchats, wie es noch heute unser Denken bestimmt: die sexuelle Revolution, die Kontrolle der Reproduktion in den Händen der Frauen, ein genormter Zyklus unter der Herrschaft von Östrogen und Gestagen, eine kleine Antibabypille. Die naturwissenschaftliche Forschung oszilliert zwischen Minimierung und Maximierung von Fertilität. Ihre Ergebnisse entfachen Diskussionen, die da fragen, inwieweit die Infertilität Einzelner nicht zum Plan der Natur gehöre, ob Fortpflanzung überhaupt zu regulieren sei. Es sind die moralischen VOM HOMO SAPIENS SAPIENS ZUM HOMO SAPIENS OPTIVUS 109 Positionen bekannt, die assistierte Reproduktion und Empfängnisverhütung am liebsten verbieten würden, für die verklebte Eileiter oder Azoospermie genauso wie die ungewollte Empfängnis Ausdruck unergründlichen göttlichen Willens bleiben. Ein Leben nach dem Tod wäre ohne Sterblichkeit nicht denkbar. Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit setzt eine ewige Lust am Leben voraus, sie zeugt von tiefer Angst. Zu Recht heißt es: Den Tod gefürchtet, heißt halb gestorben sein. Das menschliche Miteinander ist von der biologischen Determiniertheit des Einzelnen abhängig. Am Beispiel der aktuellen Fortpflanzungsmedizin wird die Vermengung von organischer und technischer Beschaffenheit besonders sichtbar. Für die Reproduktionsmedizin ist der Mensch produzierbar. Die Erfolgschancen bei Befruchtungsversuchen via In-vitro-Fertilisation liegen nur drei Prozent unter denen eines koitierenden Paares von Anfang 20, nämlich bei 27 Prozent. Sicherlich bestünde die Chance, dass eine Retorte die Gebärmutter ersetzte. Doch geschieht es nicht. Es werden Fruchtbarkeitsbehandlungen am Menschen ausgeführt. Die angewandte Technik ist darauf aus, die natürliche Gebärfähigkeit der Frauen zu optimieren, nicht aber Gebärmaschinen zu generieren. Sie zielt darauf ab, die männliche Zeugungskraft zu potenzieren, nicht aber einen künstlichen Ersatz für sie zu entwickeln. So lange Frauen zu Müttern und Männer zu Vätern erzogen werden, wird es den Wunsch nach natürlicher Reproduktion geben, und sei es ihrer bloßen Simulation. Im Angesicht des menschlichen Organismus ist der technisch assistierte Wille relativ. Nicht jeder Körper nimmt die künstlich befruchtete Eizelle an, selbst wenn vom Samen bis zum Ovum das Bestmögliche bewirkt, Spermien durch Waschvorgänge optimiert werden und der Eisprung via Ovulationsinduktion stimuliert wird. Auch bei einer Technik, die Schritt für Schritt dem Menschen assistiert, sind die Chancen für eine Befruchtung niedrig, die psychische und physische Belastung, wie auch der finanzielle Aufwand, aber groß. In den okzidentalen Demokratien ist die Technik des freien Willens durch Gesetz geregelt, gegründet auf die Utopie der Würde und Gleichheit aller Menschen. So wie heute die Patientin für eine assistierte Reproduktion ihren informed consent gibt, ist zu vermuten, dass das Individuum selbst wird entscheiden können, wie weit es seinen Körper mit naturwissenschaftlich errungener Technik versetzen und manipulieren will. Das bürgerliche Individuum hat mit einer Unterschrift seinen Willen und seine Aufgeklärtheit über unwägbare Folgen zu bestätigen, es gibt seine Einverständniserklärung. 110 ANNE DIPPEL Technische Neuerungen wirken am eigenen Körper als Transformationen, nicht als Revolutionen. Die heilberufliche Pflicht, Patienten über die Auswirkungen der bevorstehenden Behandlungen zu informieren, bezeugt, dass es immer Aufklärung geben muss, sexuelle wie geistige. Diese Verpflichtung, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, lässt die Hoffnung zu, dass dies unter den Vorzeichen der Vernunft geschehen werde. Die Vernunftbegabung des Menschen bleibt aber zuerst und zumeist bloß eine Begabung. Es stellte eine absolute Überschätzung der destruktiven Macht technischer Ratio und eine Unterschätzung der konstruktiven Macht kritischen Denkens dar, wollte man vermuten, die Vernunft habe nicht schon überall ihre Adepten gezüchtet, bereit aufzustehen, wenn es heißt, Aufklärung zu betreiben und somit eine zynische Enttäuschung allen Fortschrittsdenkens fortzuführen, ob als Erben Kassandras, Zarathustras oder Galileis. Auch wenn die Gebärmutter der technizistischen Ratio eindeutig fertiler als der geistige Uterus der Aufklärung zu sein scheint, sind aus ihren Verbindungen Nachkommen entstanden, hermeneutisch-technoide Hybride, die begreifen helfen, was sich nicht mit der Logik biologischer Reproduktion erfassen lässt. Sapere aude? Natur und Technik figurieren den Menschen. In ihm sind sie seit je untrennbar. Das Menschsein aber ist relativ. Es ist bestimmt durch Begrifflichkeiten und Wertvorstellungen. Die technologischen Perspektiven des beginnenden 21. Jahrhunderts wecken eine Vorstellung, die nach jenen Fähigkeiten fragt, mit denen das Projekt der Aufklärung verstärkt in das Bewußtsein der okzidentalen Kulturen gerückt ist: die Kultur- und Vernunftbegabung des Menschen. Dabei taucht wieder die Vergangenheit vor den Augen der Gegenwart auf und verhindert den Blick in die Zukunft. Denn auch das Aufklärungsprojekt hat sich in den letzten 200 Jahren mit der naturwissenschaftlichen Entwicklung gewandelt. Ließe sich nicht fordern, dass es gerade eine ethische Angelegenheit der Naturwissenschaften sein müsste, den Homo sapiens einem Gattungsumbau zu unterziehen? Spricht nicht der menschenverachtende Umgang mit technischen Errungenschaften, wie er sich im 20. Jahrhundert gerade in deutschem Namen ereignete, von der natürlichen »Entartung«, zu der der Mensch immer fähig ist? Sollten die Naturwissenschaften zum Nutzen aller nicht einen »Entartungsschutz« einfordern? Stellte ein »Artenschutz« des VOM HOMO SAPIENS SAPIENS ZUM HOMO SAPIENS OPTIVUS 111 Homo sapiens nicht das größte Verbrechen der Menschheit dar, und könnte nicht gerade eine technische Veränderung seiner »Natur« ihm helfen, das Projekt der Aufklärung fortzuführen? Wann endlich schlägt der Mensch aus seiner Art? Es wäre wünschenswert, wenn durch das Zusammenwirken von Kognitionsforschung mit Nano-, Bio- und Informationstechnologie etwa die allgemeine Kultur- und Vernunftbegabung des Menschen gefördert und nicht bloß die Optimierung seiner organischen Fähigkeiten betrieben würde. Ein unsachgemäßer, also unvernünftiger Umgang mit Technik könnte dann als selbstverschuldet bezeichnet werden. Jedes unmenschliche, also allzu menschliche und mit Technik betriebene Verbrechen, läge dann per se außerhalb des Verstehens. Schließlich hätte für den Menschen von vornherein die Möglichkeit bestanden, sich seines vernunftoptimierten Verstandes zu bedienen. Es wäre bewiesen: Der Mensch ist zu allem fähig, das ist seine Natur. Somit würde jedes Unrecht nach einer Optimierung der allgemeinen Kultur- und Vernunftbegabung des Menschen den Vernunftgedanken der Aufklärung und das Fortschrittsdenken der Naturwissenschaften selbst ad absurdum führen und als hilflose Vervollkommnungsutopien entlarven. Aber Vernunft kann nur angenommen werden, man kann nur zu ihr kommen. Vernunft liegt in der Zeit, sie ist eine Frage der Einsicht und des Entschlusses. Vernunft ist kein a priori, sie ist ein Prozess. Und in der heutigen Gegenwart bedarf es einer, die ironisch, kritisch, schlagfertig und geistreich den technischen Umbau der menschlichen Natur begleitet. Die Macht der Technik weckt paranoide Gedanken: dass die menschliche Natur von Technik vollkommen beherrscht sein könnte, dass der Mensch in ein sklavisches Abhängigkeitsverhältnis zur Technik geriete, dass er all seine menschlichen Züge verlöre. Diesen Überlegungen lässt sich entgegenhalten, dass das Wort Paranoia zur Hälfte »Verstand« bedeutet. Nur wer lebensmüde ist, hat keine Angst. Nur wer nicht bereit ist, in den Apfel zu beißen, ist davor gefeit, keine Vernunft anzunehmen. So gesehen kann der Mensch gar nicht durch Technik selbst entmündigt werden. Schließlich bedarf Technik einer Anleitung, ist sie selbst Teil der menschlichen Natur. Ziel des Aufklärungsprojektes war und bleibt es, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Vielleicht wäre jene Hoffnung auf überlegtes Handeln endlich via technischen Umbau der menschlichen Gattung realisierbar. In diesem Sinne gilt auch in Zukunft: Sapere aude! – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, damit Unrecht nicht weiter toleriert werden 112 ANNE DIPPEL kann. Im Wort »Vernunft« hinterlässt die althochdeutsche Bedeutung firneman (»wahrnehmen«) ihre Spur. Vernunft selbst zielt auf das Eingebundensein des Einzelnen in ein Ganzes sowie auf seine Einsicht über Vermögen und Unvermögen. Wenn Vernunft- und Kulturbegabung des Menschen engineert werden könnten, würde vielleicht endlich jene ungute Beziehung ein Ende haben, die materielles und geistiges Vermögen bis heute im Namen der Vernunft miteinander eingegangen sind. Die Menschen würden gleicher werden und blieben doch verschieden. Das Aufklärungsprojekt träumte immer davon, die gesamte Menschheit anzusprechen, doch meistens sprach in seinem Namen bloß der begüterte Teil. Überspitzt formuliert: Es bliebe zu wünschen, dass bis zu dem geradezu transparadiesischen Zeitpunkt, da selbst Einsichten technisch generiert werden können und die Toleranz ihr Ende findet, in der gegenwärtigen Gesellschaft neben der Förderung von Symbiosen technologischer Disziplinen und wirtschaftlichen Gewinns zugleich auch die Vernunftund Kulturbegabung der Menschen durch noch stärkere Investitionen in die Bildung der einzelnen Bürger gefördert würde. Ob aber der technische oder der didaktische Weg zur Förderung der allgemeinen Kultur- und Vernunftbegabung des Menschen der jeweils utopischere oder erfolgversprechendere ist, bleibt freilich offen. *** Durch die »Verpartnerung« von Eva und Prometheus konnte im ersten Abschnitt gezeigt werden, dass das Fortschrittsstreben als ein menschlicher Minderwertigkeitskomplex gegenüber einer transzendentalen, göttlichen Existenz zu fassen ist, von der es somit abhängig bleibt. Auch wenn in Zeiten der Postmoderne die moderne Suche nach einem Ursprung als mythologisches Phantasma entlarvt worden ist, ermöglichte das Gedankenspiel, zu verstehen, dass Naturwissenschaften und Aufklärungsprojekte der Gegenwart sich an antiken Idealen orientieren; ihr Fortschrittsstreben stellt den Versuch einer imaginären Rückkehr dar. Immer steht die Vollkommenheit am Anfang der menschlichen Natur. Wäre sie nicht verloren gegangen, müsste sie nicht gesucht werden. Naturwissenschaft und Technik sind Schlange und Apfel, sind Feuer und Lehm; in einem Gattungsumbau des Homo sapiens zum Homo optivus hinterlassen Eva und Prometheus ihre Spuren. Würde der Mensch via Technik vollkommen, wäre er endlich unendlich. Aber mit VOM HOMO SAPIENS SAPIENS ZUM HOMO SAPIENS OPTIVUS 113 dem Ende der Unberechenbarkeit hörte auch der Mensch, so wie er heute ist, auf, zu existieren. Dann hätten Naturwissenschaft und Vernunftstreben ihre verdrängten mythologischen Ursprünge zu ernst genommen, sie hätten ihrem Erkenntnisdrang und Vorausdenken selbst ein Ende bereitet: Dann wäre »endlich endlich«1. Im zweiten Abschnitt zeigten kursorische Überlegungen zur aktuellen Fortpflanzungsmedizin, wie moderne Technik unmerklich zum Teil der menschlichen Natur geworden ist. Die westlichen Demokratien eröffnen mit der Idee vom selbstbestimmten Individuum und der Technik des informed consent einem bürgerlichen Subjekt die Möglichkeit, innerhalb des gesetzlichen Rahmens seinem anpassungsfähigen Wesen auch in Zukunft gerecht zu werden. So wie den Menschen anfänglich bloß eine Technikbegabung auszeichnet, ist der Mensch zuerst vernunftbegabt. Diese Begabungen sprechen vom Möglichkeits-, nicht vom Wirklichkeitssinn des Menschen. Die Idee einer vollkommenen menschlichen Natur ist immer eine kulturgebundene Vorstellung. Mit der ironischen Hoffnung auf eine mögliche Optimierung der allgemeinen Kultur- und Vernunftbegabung durch naturwissenschaftliche Forschung lässt sich aus dem dritten Abschnitt schließen, dass das Bündnis zwischen Natur, Vernunft und Technik als gleichwertige, voneinander abhängende Elemente des Menschlichen neu zu bestimmen ist; post- und transhumanistische Vervollkommnungsutopien oder Ideen vom »Artenschutz« des Menschen sind Teil einer abendländischen Hoffnung: das Glück der Menschheit auf Erden mit den Waffen eines überlegenen Geistes und des technischen Fortschritts zu erreichen. Es existiert keine Dichotomie zwischen aufklärerischer Vernunft 1 »Wenn du das aufgeben könntest, austreten könntest aus deiner gewohnten Beklemmung über das Gute und das Böse und in dem Brei alter Fragen nicht weiterrührtest, wenn du den Mut hättest, einzutreten in den Fortschritt/ Nicht nur in den vom Gaslicht zur Elektrizität, vom Ballon zur Rakete (die subalterne Verbesserung)/ Wenn du den Menschen aufgäbst, den alten, und einen neuen annähmst, dann/ Dann, wenn die Welt nicht mehr weiterginge zwischen Mann und Frau, so wie jetzt, zwischen Wahrheit und Lüge, wie Wahrheit jetzt und Lüge jetzt/ Wenn das alles zum Teufel ginge/ (...)/ Wenn die Nachfolge in keinem Geist mehr angetreten wird/ Wenn endlich endlich kommt/ Dann/ Dann spring noch einmal auf und reiß die alte schimpfliche Ordnung ein. Dann sei anders, damit die Welt sich verändert, damit sie die Richtung ändert, endlich! Dann, tritt du sie an!« (Ingeborg Bachmann: Das 30. Jahr, in: Sämtliche Erzählungen, München 2005, S. 112-114). 114 ANNE DIPPEL und technizistischer Ratio. Ihrer Gemeinsamkeit wohnt eine paradoxe Konstellation, eine konstruktive Ironie inne. Dieser zu folgen ermöglicht ein weiteres Mal, der Frage entgegenzutreten, an die die akademische Preisfrage selbst rührt: Was ist der Mensch?