Spektakuläre Kriminalfälle: Kannibalen
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Spektakuläre Kriminalfälle: Kannibalen
Unverkäufliche Leseprobe Etienne Jallieu Spektakuläre Kriminalfälle: Kannibalen 280 Seiten ISBN: 978-3-8025-3753-0 © 2011 VGS verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les crimes cannibales in den Editions Scènes de Crimes, Genf 204 Hrsg.: Steve Goldstein Etienne Jallieu Spektakuläre Kriminalfälle Kannibalen Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les crimes cannibales in den Editions Scènes de Crimes, Genf 2004 Hrsg.: Steve Goldstein © 2011 VGS verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln Alle Rechte vorbehalten. 1. Auflage Text: © Etienne Jallieu (Isabelle Longuet und Stéphane Bourgoin) Übersetzung: Michael von Killisch-Horn Vermittlung: Undercover Literary Agents & Scouts, Köln Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Layout & Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8025-3753-0 www.vgs.de Inhalt DER KANNIBALE VON ROTENBURG (Isabelle Longuet) Prolog: Ein kleiner Junge wird … Kannibale . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1 Computertechniker und Kannibale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Von der Wiege in die Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Kapitel 2 Brav wie ein Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Kapitel 3 »Es gibt Tausende, die gefressen werden wollen« . . . . . . . 35 Immer noch die gleiche Liebe zum Detail . . . . . . . . . . . . . 41 Kapitel 4 Der Weg eines freiwilligen Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Kapitel 5 »Ich hoffe, ich werde dir schmecken« . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kapitel 6 Das Hauptgericht kommt mit der Bahn um 10 Uhr 15 . . . 56 Eine Nacht des langsamen Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Schlachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Kapitel 7 Fetische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Die Perversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Kapitel 8 Zu Tisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Kannibalismen und Kannibalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Kapitel 9 »Ich habe bald kein Fleisch mehr« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Aufmarsch von Bewerbern im Haus des Grauens . . . . . . . 83 Kapitel 10 »Einen Kaffee, Herr Kommissar?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Kapitel 11 Und die Rolle der Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kapitel 12 Ein Bild des Jammers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Der Kannibale im Gerichtssaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Albtraumhafte Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Anatomie der Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Zeugen mit besonderen Vorlieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kapitel 13 Ein Häftling mit Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kapitel 14 Der Kannibale von Rotenburg ist geistig gesund . . . . . . . . 115 Ein modernes Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Der Traum von einer Familie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Das Opfer konnte sich gut verstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Das Spielzeug des Kannibalen: Barbie und Marzipan . . . . 120 Näher an den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kapitel 15 Und das Urteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die Meinung von Fachleuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Nachtrag des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Epilog: Im Unmärchenland der Brüder Grimm . . . . . . . . . 134 DER MENSCHENFRESSER VON MONTANA (Stéphane Bourgoin) Kapitel 1 6. Februar 1996, Great Falls, Montana . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kapitel 2 »Es ist, als wäre er vom Erdboden verschwunden« . . . . . . 136 Kapitel 3 1965: Ein frühreifer Kinderschänder . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Kapitel 4 Verdächtige Fälle verschwundener Kinder . . . . . . . . . . . . . 143 Kapitel 5 Bridgewater: Die Geschichte eines Verrückten . . . . . . . . . 146 Bridgewater entlässt gefährliche Kriminelle . . . . . . . . . . . . 148 Kapitel 6 1991, Great Falls: Rückkehr zu Mama . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kapitel 7 1999: Ein Pädophiler wird verhaftet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Kapitel 8 2000: Die Beweise häufen sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Bar-Jonah kennt Zachary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bar-Jonah ist von kleinen Jungen besessen . . . . . . . . . . . . . 165 Die Entführungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Bar-Jonahs Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kapitel 9 Ein krankhafter Appetit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Kapitel 10 Geschichten von Kannibalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 »Meine liebe Mrs. Budd, …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Kapitel 11 2002: Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Kapitel 12 Die überraschende Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Nachtrag des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 SEX, LEICHEN UND KLEINE JUNGEN (Stéphane Bourgoin) Kapitel I Ein Hundeleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Kapitel 2 Die Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die ersten Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kapitel 3 Ein Verdächtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Kapitel 4 Das Verhör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Ein Manipulator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Kapitel 5 Schreckliche Geständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Die Gründe, die diese Ereignisse ausgelöst haben . . . . . . . 242 Kapitel 6 Ein Besuch bei dem Kannibalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Über den Herausgeber Steve Goldstein . . . . . . . . . . . . . . . 249 Der Kannibale von Rotenburg Isabelle Longuet Prolog Ein kleiner Junge wird … Kannibale Ich bin acht dreiviertel Jahre alt. Mama findet mich lächerlich, wenn ich dreiviertel hinzufüge. Sie sagt, ich sei trotzdem ein kleiner Junge. Ein ganz kleiner. Und dass ich schön brav sein muss, sonst ermüdet sie das noch mehr. Sie ist die ganze Zeit müde, weil sie arbeiten muss, um mich großzuziehen. Und es ist schwer, 1970 allein einen kleinen Jungen großzuziehen. Denn wir beide sind jetzt allein. Und ich, das ist noch schlimmer, bin jetzt allein mit mir. Zum Glück gibt es die Schule. Es gibt meine Klassenkameraden. Na ja, ich meine, diejenigen, die ich am meisten mag. Der Stärkste. Den ich für immer behalten will, ganz nah bei mir. So nah wie möglich. Um nie mehr verlassen, nie mehr einsam zu sein. Ich heiße Armin, das ist ein alter deutscher Vorname; Mama nennt mich Minchen, das heißt kleiner Armin, und noch irgendwie anders, aber ich erinnere mich nicht mehr, wie. Ich bin ihr kleiner Mann, schön brav und schön sauber. Aber Papa ist gegangen. Und meine beiden Brüder auch. 11 Wolfgang, der vierundzwanzig ist, und Ingbert, der vierzehn ist. Ich mag ihn sehr, er hat sich um mich gekümmert. Meine beiden Brüder fehlen mir schrecklich, und mein Papa auch. Er hat uns vor neun Monaten verlassen. Ich habe geweint, als er uns eines Tages sagte, ich gehe, und dann stieg er sofort in seinen Wagen, ohne sich von mir zu verabschieden, und als ich hinter dem Wagen herlief, blickte er nicht einmal in den Rückspiegel. Es tat so weh, dass es immer weh tun wird. Ich bin tief in meinem Innern allein. Lebwohl, Papa. Dein kleiner Junge, der dich liebt. Man hat mir immer beigebracht, mich gut zu benehmen. Allen zu helfen. Ich muss auf das hören, was Mama sagt. Ich darf nicht auffallen. Niemals vergessen, mir vor dem Essen die Hände zu waschen. Die Ernährung ist wichtig. Es ist wichtig, sich gut zu ernähren. Mama sagt immer wieder, dass ich kein fettes Fleisch essen darf. Also habe ich immer sauber gewaschene Hände, wenn ich mit Mama esse, und ich esse nicht alles. So, ich habe meine Ferienaufgaben beendet. In diesem Augenblick sind wir in Wüstefeld, einem sehr hübschen kleinen Dorf fünf Kilometer von Rotenburg entfernt, einer Stadt, die auf das Mittelalter zurückgeht. Es hat ein Wappen, das ich in meinem Zimmer an die Wand gehängt habe; es stellt einen dunkelroten Berg dar und einen Baum mit drei grünen Blättern, der auf ihm gewachsen ist. Den Rest des Jahres leben wir in Essen, in einem kleinen Haus. Mitten im Ruhrgebiet. Ich finde, dass es in Wüstefeld, in unserem riesigen Familiengut, viel schöner ist. Wenn ich mit den Aufgaben fertig bin, gehe ich in den Garten, die kleinen gelben Blumen des Sommers sind verwelkt, stattdessen liegen überall die Blätter der Bäume herum. Ich 12 liebe die Tiere, ich gehe immer nachschauen, was im Haus neben uns los ist, das ist der Bauernhof der Kramers. Ich gehe an ihren rosa Geranien vorbei, die noch blühen, sie säumen den Eingang zu ihrem Besitz, und ich gehe in den Hof. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Herr Kramer und zwei andere Nachbarn das Schwein (dasjenige, das ich nur für mich selbst Hänsel genannt habe) an den Füßen an einem sehr großen Haken aufhängen – der Kopf meines Freundes Hänsel hängt nach unten! Der Haken des Bauern muss ganz schön stabil sein. Er hat mir erklärt, dass die Fleischer für das Schlachten der Tiere alle die gleiche Art von Haken haben. Wie Hänsel schreit und mit seinem dicken Bauch zappelt, der ganz rosa ist, wie die Geranien! Ich möchte nichts verpassen von dem Schauspiel, das da vor meinen Augen beginnt, und bewege keine Wimper. »Ich werde dir zeigen, wie man ein Schwein absticht, denn ich bin nicht sicher, ob du dich noch erinnerst, als wir im letzten Dezember Willy getötet haben«, ruft Vater Kramer mir zu. Der Nachbar will mir Dinge beibringen, die nützlich fürs Leben sind. »Schau gut zu, Armin … du beginnst damit, die Vene zu suchen«, und schon rammt er die Klinge seines großen Messers, immer dasselbe, schön scharf, in den Hals des Tieres, zwischen den beiden Vorderbeinen, ich bin ganz aufgeregt und zittere ein bisschen, ich starre auf das dicke Blut, das sich in eine große Schüssel ergießt, und sofort taucht Frau Kramer eine Hand in dieses rote Meer, um die Unreinheiten herauszufischen, wobei sie darin rührt. Der Bauer hat jetzt den Bauch geöffnet, Hänsels Brust klafft weit auf, und er lässt die Eingeweide, – ich lerne neue Wörter –, den Magen, die Därme, die Leber, die Lunge, die Nieren, das Herz, platsch! in einen riesigen mit weißem Stoff ausgeschlagenen Haselnuss13 strauchkorb fallen. Ein Fest aus Gerüchen, Geräuschen und Farben! Nach getaner Arbeit sind die Männer hineingegangen, um etwas zu essen und zu trinken. Und auch die Frauen haben angefangen, über die Qualitäten von Hänsel zu diskutieren, der nie wieder grunzen wird. Mama ist hocherfreut, als Frau Kramer ihr ein schönes Stück Blutwurst schenkt. Und ein paar Koteletts. Ich denke, wir werden sie mit Knoblauchbratkartoffeln essen. Ich werde Hänsel in meinem Bauch haben. Kapitel 1 Computertechniker und Kannibale Den großen, in seiner Kleidung und seinen Bewegungen durchaus eleganten Mann, der den Saal D 130 der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Kassel in Hessen betritt, könnte man leicht für einen Anwalt halten, der für eine gute Sache vor Gericht eintritt. Er trägt drei dicke graue Aktenordner unter dem Arm und einen gut geschnittenen, ebenfalls grauen Anzug sowie ein anthrazitfarbenes Hemd, von dem sich eine schwarze Krawatte mit kleinen gelben Rauten abhebt, die von einer goldenen Nadel gehalten wird. Mit einer geschmeidigen Bewegung legt er seine Aktenordner auf den Tisch der Verteidigung, während er entspannt in die Runde lächelt und den auf ihn gerichteten Kameras zu sagen scheint: Hier bin ich endlich, aus Fleisch und Blut, mehr denn je bereit, eure brennende, leicht beunruhigte Neugier zu befriedigen und in allen Einzelheiten meine unglaubliche Erfahrung zu schildern. Dieser vierzigjährige Mann – in zwölf Tagen, am 15. Dezember 2003, wird er seinen zweiundvierzigsten Geburtstag feiern –, 14 der wie der ideale Schwiegersohn wirkt oder wie ein Verkäufer teurer Wagen, heißt Armin Meiwes. Er ist Computer-Techniker. Sein Haar lichtet sich über der Stirn, es ist nach rechts gescheitelt, am Ringfinger trägt er einen schwarzen Siegelring, er ist glatt rasiert und scherzt mit einem unscheinbaren rothaarigen Mann, der tatsächlich Anwalt ist – Harald Ermel. Meiwes, sein Mandant, sitzt seit genau einem Jahr in der Justizvollzugsanstalt in Kassel-Wehlheiden ein, wo er auf seinen Prozess wegen »Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs« wartet, der an diesem Mittwoch, dem 3. Dezember, beginnt. Eine sehr eigenartige Bezeichnung für ein Verbrechen, das man nicht definieren kann, weil es einzig in seiner Art ist. Denn der wie aus dem Ei gepellte Angeklagte hat einen dreiundvierzigjährigen Ingenieur entmannt und zusammen mit ihm den Penis verspeist, bevor er ihm die Kehle durchschnitt, ihn zerstückelte und aß. Zu zwei Dritteln. Denn von den 30 Kilogramm Fleisch, die er in kleine Portionen zerlegt hat, hat Meiwes sich 20 einverleiben können, bevor er 21 Monate später von der Polizei verhaftet wurde. Im Gericht herrscht hektisches Treiben. Der Andrang draußen ist so groß, dass die Polizei die Straße absperren musste, um den Fernsehteams den Zugang zu erleichtern. Der Kannibale von Rotenburg trägt eine olympische Ruhe zur Schau. Und ein Lächeln, das seine weißen Zähne entblößt – wie die Sensationspresse nicht versäumt hat anzumerken. Man könnte meinen, er genießt es. Sein Weg war lang und unheilvoll von den ersten widernatürlichen Kindheitsphantasien bis zur Verwirklichung des alten verzehrenden Traums in der Nacht vom 9. auf den 10. März 2001. 15