Rollenspiele - Bertz + Fischer Verlag

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Rollenspiele - Bertz + Fischer Verlag
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Rollenspiele
n der Westküste hielten Jamie und Angelina regelmäßig Kontakt zum Vater. Die Sechsjährige spielte an seiner Seite ihre
erste Filmrolle, in dem von Hal Ashby inszenierten, beim
Publikum durchgefallenen Spielerdrama LOOKIN’ TO GET OUT (Der
Zocker / Zwei in der Tinte; 1982), für das Jon Voight als Koautor und
Produzent verantwortlich zeichnete. Es ist nur eine kurze Szene, in der
Voight sie unter den Augen ihrer Filmmutter Ann-Margret als seine
Tochter kennenlernt, von der er bis dahin nichts wusste. Auch Marcheline Bertrand gab ein kurzes Gastspiel – zu Beginn des Films wird sie
von einem übermütigen Jon Voight von Auto zu Auto angesprochen
und um ein Rendezvous gebeten.
Schon in frühester Jugend entwickelte Angelina Jolie Voight, wie
sie damals noch hieß, ein Faible für Rollenspiele. Sie liebte es, sich zu
verkleiden und in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, häufig solche,
die sie den Erwachsenen abgeschaut hatte – was gelegentlich dazu
führte, dass ihre Mutter von Angelinas Schule über das unziemliche
Benehmen ihrer Tochter informiert wurde. Auch als sie ihren Vater im
Alter von zwölf Jahren zu einer Oscar-Verleihung begleitete, übte sie
sich im Mummenschanz und kopierte mit kindlichem Vergnügen das
Gebaren der aufgetakelten Stars und Starlets, die sich geschäftig ins
Scheinwerferlicht drängelten.
Während Angelina schon früh darstellerisches Talent bewies, verhielt ihr Bruder James hinter der Kamera. In Interviews berichtete Jon
Voight gern, wie sein Sohn die Videokamera führte und vorzugsweise
seine kleine Schwester in Szene setzte, die sich selten zweimal bitten
ließ, Jamies Regieanweisungen zu folgen.
Auch wenn Angelina Jolie ihren Namen, der in etwa »niedlicher
Engel« besagt, erklärtermaßen hasst – die Voights bewiesen Weitsicht,
als sie beiden Kindern mit Bedacht einen mittleren Namen mitgaben,
den sie später als Künstlernamen benutzen konnten, sofern es sie ins
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Jon Voight (Mitte) in LOOKIN’ TO GET OUT
Showgeschäft verschlagen sollte. Tatsächlich verzichteten beide als Erwachsene auf den Namen Voight, weil sie ihre Karrieren nicht auf dem
Ruhm ihres Vaters oder auf Nepotismus aufbauen wollten, laut Jon
Voight ein Charakterzug, der bei Angelina schon in jungen Jahren
sichtbar wurde: »Schon als sie noch ein Baby war, wollte sie sich
niemals helfen lassen, nicht einmal mit dem ABC.« [21]
James Haven Voight studierte Drehbuch und Film, Angelina Jolie
strebte zur Schauspielerei. Mit elf Jahren schon besuchte sie Kurse am
gut beleumundeten Lee Strasberg Institut, wo auch ihre theaterbegeisterte Mutter studiert hatte, fand dort aber zunächst keine angemessene Förderung: »Sie forderten mich auf, mich fünf Jahre zurückzuversetzen und ein Ereignis aus meinem damaligen Leben noch mal zu
durchleben. Aber im Alter von sechs Jahren gibt es noch nicht viel, mit
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dem man arbeiten kann.« [22] Sie war klug genug, eine Pause einzulegen – »ich hörte mit der Schauspielerei auf und erlebte ein paar ganz
normale Teenager-Jahre. So gab es dann einiges mehr, worauf ich aufbauen konnte, als ich zurückkehrte.« [23]
Ab da bemühte sie sich konzentriert um ihre Ausbildung und besuchte regelmäßig Workshops des Strasberg Instituts. Ihr Vater, der
häufig mit ihr probte, wurde gelegentlich von ihrer Rollenwahl überrascht. Als eine Inszenierung der ursprünglich für die Marx Brothers
geschriebenen und später auch verfilmten Burleske ROOM SERVICE
(Die Marx Brothers: Zimmerdienst; 1938; R: William A. Seiter) anstand, entschied sich die aufgeweckte 16-jährige für die Rolle der
wuchtigen Geschäftsführerin – eine korpulente Frau um die 40 und
gebieterische »Domina«, wie sie selbst ihren Auftritt skizzierte [24].
Weitere Bühnenerfahrungen sammelte sie im MET Theater Ensemble,
wo sie auf prominente Kollegen wie Holly Hunter und das Ehepaar Ed
Harris und Amy Madigan traf.
Die Thespis-Kunst war Angelina manches Opfer wert. In der Schule hatte sich das frühreife Punk-Gör einen schlechten Ruf erarbeitet,
indem es notorisch mit Lehrern über die Unterrichtsinhalte stritt, den
Sinn von Mathematikaufgaben in Zweifel zog und in Geschichte historische Taten hinterfragte. Als ihr die Entfernung aus der Schule drohte,
meldete sie sich freiwillig für ein therapeutisches Programm, um ihren
Abschluss nicht zu gefährden, der ihr wichtig war, weil sie so bald als
möglich ihre reguläre Schauspielausbildung aufnehmen wollte.
Nicht nur ihren Pädagogen muss sie zu jener Zeit völlig unberechenbar erschienen sein – einerseits trug sie Lederjacke, Netzstrümpfe und
hoch geschnürte Doc Martens, andererseits absolvierte sie in hochhackigen Schuhen und Ballkleidern Tanzstunden und nahm mit Erfolg an
Tango-Wettbewerben teil. »Meine Freunde dachten, ich sei geisteskrank. Aber für mich war es ein großer Spaß«, freute sie sich noch Jahre
später [25]. Auch als Erwachsene blieb sie ihrer Tanzleidenschaft treu;
eine Freundin verriet der Zeitschrift Rolling Stone, dass Angelina heimlich Steptanz betreibe [26].
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Tätowierungen als Markenzeichen: Jolie mit Ryan Phillippe in PLAYING BY HEART
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Die hoch begabte junge Frau machte ihren Abschluss anderthalb
Jahre vor Ablauf der regulären Schulzeit. Mit 14 Jahren versuchte sie
sich kurz als Model, musste aber aufgeben – sie sei zu klein, zu dick und
habe zu viele Narben, wurde ihr gesagt. Später wurden ihre Wundmale
und Tätowierungen sozusagen zum Markenzeichen. Die Schmisse und
Schrammen verdankte sie ihrer Vorliebe für scharfe Klingen. Eine
Ausstellung über altertümliche Waffen hatte einst ihr Interesse an
derlei Gerät geweckt. Seither ist sie von Messern fasziniert, sie sammelte sie in ihrer New Yorker Wohnung und tändelte früher auch gern
mit ihnen herum. Dabei zog sie sich einige Verletzungen zu, die, auch
im Gesicht, bleibende Spuren hinterließen, ohne sie sonderlich zu
entstellen. »Du bist jung, du bist verrückt, du bist im Bett und du hast
ein Messer – so langt man in die Scheiße«, kommentierte sie die
kleinen Betriebsunfälle mit der ihr eigenen Lakonik [27]. Zu Beginn
ihrer Filmkarriere scherte sich niemand um diese Dinge. Als sie aber
ein Star wurde, gehörte es zum journalistischen Pflichtprogramm, jedes ihrer Stigmata einzeln aufzulisten.
Dass sie, zumindest in jungen Jahren, den dunkleren Bereichen des
Lebens zuneigte, hat sie nie in Abrede gestellt. Als braves Mädchen
dürfte sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht in Erinnerung
geblieben sein – sie trug die Haare purpurn gefärbt und lebte bereits als
14-Jährige mit ihrem Freund, einem Punker, zusammen; sie besaß eine
Schlange mit dem trefflichen Namen Harry Dean Stanton und bekritzelte sich die Arme mit Tinte, ehe sie dazu überging, sich ausgewählte
Motive unter die Haut stechen zu lassen. Jede ihrer Tätowierungen sei,
so sagt sie, wohlüberlegt und hat eine eigene Bedeutung. Sie ließ sich
das japanische Schriftzeichen für Tod einstechen und an einer intimen
Stelle findet sich ein Zitat von Lord Byron: »Quod me nutrit me
destruit« – was mich nährt, zerstört mich. »Ich schätze, es spricht nur
die Intelligenten an«, witzelte Jolie. »Jeder, dem ich es gezeigt habe, hat
es verstanden.« [28]
Der Buchstabe H steht für zwei Menschen, die ihr viel bedeuten
oder bedeutet haben. Ein blaues Rechteck soll ein Fenster symbolisie-
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ren, das flächige Kreuz schräg oberhalb der Leiste überdeckt eine
frühere Arbeit, die ihr nicht mehr gefiel. Das Motiv spricht ebenso für
sich wie der Drache auf der linken Schulter und das Tennessee-Williams-Zitat, das sie sich im Beisein ihrer Mutter beibringen ließ: »A
prayer for the wild at heart, kept in cages«. Die Zeilen können als
Schlüssel zu Williams’ Werk aufgefasst werden. Im vorliegenden Wortlaut stammen sie aus dem Stück Orpheus Descending [29], das bezeichnenderweise auch unter dem Titel Battle of Angels aufgeführt wurde.
Nach Angaben des an der East Tennessee State University lehrenden
Williams-Forschers Dr. Darryl E. Haley schrieb der Dichter Mitte der
vierziger Jahre an seinen Agenten, wenn es in seinen Arbeiten ein
zentrales Thema gebe, dann seien es die Beschädigungen, die sensiblen
Individuen von Vertretern einer bürgerlichen Moral zugefügt werden.
In gewisser Weise scheint Williams’ Kernsatz Angelina Jolies Rollenauswahl inspiriert zu haben. Viele der von ihr dargestellten Charaktere
sind in ihren Lebensumständen gefangen und oftmals Opfer von Einflüssen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Auffallenderweise gibt es in
einigen ihrer ansonsten stilistisch disparaten Filme Einstellungen, die
sie hinter einer Barriere, zumeist einem Drahtzaun, zeigen: In FOXFIRE
(1996; R: Annette Haywood-Carter) springt sie freiheitshungrig gegen
eine Maschendrahtumzäunung, in HELL’S KITCHEN (1998; R: Tony
Cinciripini) wartet sie hinter einer Umfriedung auf den vermeintlichen
Mörder ihres Bruders, in GIA steht das Metallgeflecht zwischen dem
wie besessen arbeitenden Fotografen und seinem splitternackten Model, und hier es hat den Anschein, als sei es der Lichtbildner, der vor
der ungestümen Wildheit dieses reinweg animalischen Wesens geschützt werden muss.
Viele ihrer Rollen führten die Schauspielerin in Grenzbereiche des
menschlichen Daseins, in ihren Augen eine Form von Psychotherapie:
»Es liegt wohl daran, dass ich in meinem eigenen Leben nicht oft weine.
Mein Motto: ›Okay, ich habe eine Szene. Großartig! Therapie!‹ Offenbar ist das der Grund, dass ich in meinen Filmen immer wie ein Wrack
wirke.« [30]
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Gefangen und gebändigt: Angelina Jolie ...
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