Die Flucht aus Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkrieges unter
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Die Flucht aus Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkrieges unter
Conrad-von-Soest Gymnasium Schuljahr 2011/2012 Facharbeit zum Thema: Die Flucht aus Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkrieges unter besonderer Betrachtung der staatlichen Maßnahmen - am Fallbeispiel meiner Großmutter Fach: Geschichte Verfasserin: Ellen Flüchter Fachlehrer: Herr Grade Abgabedatum: 13.03.2012 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .............................................................................................................. - 3 - 2. Geschichtlicher Kontext zur Flucht aus Ostpreußen ............................................ - 3 - 3. Zeitzeugenbericht vom Winter 1944 bis Sommer 1946 ....................................... - 5 - 4. 3.1. Die Zeit kurz vor der Flucht .......................................................................... - 5 - 3.2. Erste Etappe mit dem Pferdetreck ................................................................. - 5 - 3.3. Zweite Etappe mit dem Zug von Preußisch Holland bis Altdamm ............... - 6 - 3.4. Aufenthalt in der Nähe von Berlin ................................................................ - 7 - 3.5. Vierte Etappe – Mecklenburg........................................................................ - 8 - 3.6. Die letzte Etappe der Flucht: Über die „grüne Grenze“ bis Soest ................. - 9 - Untersuchungsaspekt .......................................................................................... - 10 4.1. Staatliche Maßnahmen im Umgang mit der Zivilbevölkerung ................... - 10 - 4.2. Vergleich mit den Erzählungen der Zeitzeugin ........................................... - 12 - 5. Fazit .................................................................................................................... - 14 - 6. Anhang ................................................................................................................ - 16 - 7. Literaturverzeichnis ............................................................................................ - 20 - 8. Eigenständigkeitserklärung ................................................................................. - 21 - -3- 1. Einleitung In meiner Facharbeit beschäftige ich mich mit der Flucht aus Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieses Thema ist für mich insofern interessant, als dass meine Großmutter auch davon betroffen war. Da sie mir schon viel von ihrer Flucht erzählt hat, bin ich auf die Idee gekommen, dieses Thema in meiner Facharbeit zu behandeln. Im Folgenden wird neben einem allgemeinen Abriss über das Kriegsgeschehen in Ostpreußen und die damit verbundene Flucht auch die ganz persönliche Geschichte meiner Großmutter, die als 13 Jährige die Flucht selber erlebt hat, erzählt. Da meine Großmutter in ihren Berichten oft von den chaotischen Zuständen während der Flucht erzählt hat, möchte ich mich außerdem damit beschäftigen, ob und inwieweit es von staatlicher Seite Evakuierungspläne oder andere organisatorische Maßnahmen für die Flucht aus Ostpreußen gab und ob sie sinnvoll gewesen wären. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen möchte ich dann mit dem Bericht meiner Großmutter vergleichen. 2. Geschichtlicher Kontext zur Flucht aus Ostpreußen Ostpreußen war bis zum Sommer 1944 weitgehend vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben, da hauptsächlich Mittel- und Westdeutschland von den Bombenangriffen der Alliierten betroffen waren. Dadurch wiegte sich die ostpreußische Bevölkerung in Sicherheit, zumal die Ostfront relativ weit entfernt war, nämlich auf russischem Territorium. Doch durch die gewaltige sowjetische Offensive, die am Donnerstag, den 22. Juni 1944, begann, verlor sich dieses Gefühl der Sicherheit allmählich.1 Dieser Angriff traf die Heeresgruppe Mitte überraschend, denn „Hitler und sein Generalstab hatten die sowjetische Offensive im Süden der Ostfront erwartet“.2 Die 1 Vgl. de Zayas,Alfred: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, Vorgeschichte, Verlauf, Folgen.München: Deutscher Taschenbuch Verlag,1981 (S.80) 2 Böddeker Günther: Die Flüchtlinge, Die Vertreibung der Deutschen im Osten.5.Auflage.München:F.A.Herbig,1995 (S.11) -4Rote Armee schlug die deutsche mit einer vielfachen Übermacht an Soldaten und Panzern und gewann so immer mehr Land.3 Währenddessen begann Gauleiter Koch, der für die östliche Provinz verantwortlich war, mit dem Bau „seines Ostwalls“. Mit Panzergräben und Erdwällen wollte er Ostpreußen schützen. Eine Evakuierung der Grenzkreise Ostpreußens lehnte er strikt ab und verbot sogar zu fliehen.4 Ab dem 16. Oktober 1944 begann die Rote Armee eine Großoffensive gegen die Ostgrenze von Ostpreußen und eroberte am 19. Oktober die Kreise Goldap und Gumbinnen. Als ein deutscher Gegenschlag die Sowjets am 5. November zurück drängte, fand die Wehrmacht nur noch wenige überlebende Zivilisten im Ort Nemmersdorf vor. Die Nachricht über dieses Geschehen verbreitete sich schnell in der ostpreußischen Bevölkerung und gab für viele Menschen den letzten Anstoß zur Flucht. 5 Am 12. Januar setzten die Sowjets zur Eroberung Ostpreußens an und rückten von Osten, Süden und Norden gleichzeitig an, mit dem Ziel, Ostpreußen vom restlichen Deutschland zu isolieren. Die deutsche Armee versuchte noch das Gebiet um Königsberg zu halten. Dadurch blieb der Bevölkerung noch ein kleiner Fluchtweg über das Frische Haff. Dieser führte über die vereiste Fläche des Frischen Haffs bis zur Landzunge und dann über diese weiter nach Westen. Doch diese Möglichkeit blieb den Flüchtlingen nur bis zum 26. Januar. Denn dann erreichten die Sowjets Tolkemit und Ostpreußen war völlig eingeschlossen. Die Flüchtlinge waren nun ausschließlich auf den Seeweg angewiesen. Sie wurden hauptsächlich über Pillau nach Gotenhafen (heute: Gdingen) ausgeschifft. Von dort ging es dann wiederum mit Schiffen weiter nach Westen. 6 Insgesamt flohen über Land- und Seewege ca. zwei Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen nach Mittel- und Westdeutschland. 3 Vgl.: Böddeker 1995: (S. 11f.) Vgl.: Arndt,Werner: Die Flucht und Vertreibung. Friedberg: Podzun-Pallas-Verlag, 1984 (S.7f.) 5 Vgl.: de Zayas 1981:( S.81ff.) 6 Vgl. :„Planet Wissen“, Sendung im WDR: Ostpreußen - Spurensuche in einem Land der Widersprüche, 28.12.2010 4 -5- 3. Zeitzeugenbericht vom Winter 1944 bis Sommer 1946 Der folgende Bericht ist auf der Grundlage von Gesprächen mit meiner Großmutter entstanden und schildert die Erlebnisse aus ihrer Perspektive. Da meine Großmutter zum Zeitpunkt der Flucht erst 13 Jahre alt war und inzwischen viel Zeit vergangen ist, kann sie sich teilweise nicht mehr genau daran erinnern, warum bestimmte Wege eingeschlagen wurden. Der gesamte Fluchtweg ist auf einer Karte im Anhang dargestellt (siehe Anlage 1) Daher sind in diesen Bericht Hinweise aus drei ausführlichen Briefen ihrer Mutter eingefügt, die diese noch kurz vor ihrem Tod wiederum an ihre Eltern geschrieben hat. 3.1. Die Zeit kurz vor der Flucht Zu Weihnachten 1944 war es wie in jedem Jahr. Es lag viel Schnee und wir Kinder rodelten und liefen Schlittschuh auf den Seen und Teichen. Es war wie immer im ostpreußischen Winter und trotzdem lag dieses Jahr eine Unruhe in der Luft, besonders bei meiner Mutter und den Großeltern. Wir hatten Flüchtlinge aus dem ostpreußischen Grenzgebiet in unserem Haus, die den ersten Ansturm der Roten Armee schon erlebt hatten. Aber wir fühlten uns sicher. Was war bei uns schon passiert! Es hatte keine Bombenangriffe gegeben und bis Osterode (heutiges Ostroda/ Kreis Olsztyn) würden die Russen doch nicht mehr kommen. Zu Weihnachten war auch mein Vater nochmal für ein paar Tage zu Hause, weil er auf der Durchreise von Russland nach Berlin war. Dort sollte er an einem Lehrgang teilnehmen. 1945 hatte angefangen und es kamen immer mehr Soldaten der deutschen Wehrmacht, die meinen Großeltern sagten, sie wären die letzten der Truppe und wir sollten machen, dass wir wegkommen. Oma hatte noch Sirup gekocht, darüber machten sich die Soldaten her, dann zogen sie weiter. Am 18.Januar ging ich nochmal zur Schule nach Osterode. Dort wurde uns gesagt, dass wegen der vielen Verwundeten deutschen Soldaten die Schule belegt war. Der Direktor sagte uns, dass wir am 22.01. wiederkommen sollten und schickte uns nach Hause. 3.2. Erste Etappe mit dem Pferdetreck Die Partei hatte der Zivilbevölkerung verboten zu flüchten. Am Samstag den 20.01.1945 packten wir trotzdem in aller Eile einen Kastenwagen mit den nötigsten Sachen. Es war ein sonniger, eiskalter Tag (-23 bis -25°C) und in der Ferne war bereits -6Kanonendonner zu hören und das Geräusch kam immer näher. Am frühen Nachmittag verließen wir das Haus. Auf dem Wagen saßen die Großeltern, eine Tante von mir mit ihrer Tochter (7 Jahre) und ich (13 Jahre), meine Mutter ging neben dem Wagen her. Man kam nur sehr schlecht vorwärts, dauernd blieb der Treck stehen. Aus allen Wegen und Straßen drängten weitere Wagen auf die Straße. Außerdem musste eine Straßenseite für das Militär freibleiben, sodass die Straße schon bald hoffnungslos überfüllt war. Zudem hatten wir keine wetterfesten Schuhe und Oberbekleidung, sodass man schnell nasse Füße bekam und bei Schneefall auch obenrum nass wurde. So war es sehr kalt. Nachdem wir einige Stunden in Richtung Elbing gefahren waren, machten wir an verlassenen Häusern die erste Rast. Das Pferd musste ausruhen und gefüttert werden. Wir Kinder lagen gerade auf den Betten, als es hieß: „Weiter, weiter! Die russische Armee ist schon in Osterode!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir waren erst ca. 25 – 30 km gefahren. Wir fuhren also schnell weiter. Irgendwann kamen wir dann in Preußisch Holland an, 15 km südlich von Elbing. Dort standen viele Soldaten, die uns mitteilten: „Hier müsst ihr alle weg, das wird Kampfgebiet!“ Daraufhin änderten wir schnell unseren Plan: Oma und Opa sollten alleine mit dem Treck weiter fahren, denn wir waren zu viele für das eine Pferd. 3.3. Zweite Etappe mit dem Zug von Preußisch Holland bis Altdamm Wir, meine Tante mit ihrer Tochter, meine Mutter und ich trugen unsere Gepäckstücke in verlassene Häuser, nahmen nur Rucksäcke und das, was wir tragen konnten mit zum Bahnhof. Dort standen wir vier und warteten auf irgendeinen Zug. Der erste Zug war restlos mit Flüchtlingen aus dem Gebiet um Mohrungen überfüllt und nahm keinen mehr mit. Danach kam ein Werkstättenzug der Wehrmacht und nur durch Bitten und Betteln war der Zugführer bereit, die frierenden Menschen mitzunehmen. Über dick vereiste Puffer konnten wir dann schließlich mit Hilfe von Soldaten in einen Wagon einsteigen, wo sich Hobelbänke, Bohrmaschinen und große und kleine Eisenteile befanden. Sitzplätze gab es keine. „Wir bekamen einen kleinen Ofen und bald füllte sich der Wagon bis auf 52 Personen, 26 Erwachsene und 26 Kinder, die vorher auf dem offenen Lorewagen fast erfroren -7waren. Meine Mutter übernahm das Heizen und dafür konnten wir direkt neben dem Ofen sitzen. Alles war rußig und ölig.“7 Wir waren froh, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Oft standen wir, mal ging es auch rückwärts, dann wieder vorwärts. Es gab im Zug nichts zu trinken und zu essen, deshalb mussten wir uns mit der Speckschwarte, die wir von zu Hause mitgenommen hatten, und den Eiszapfen vom Zug oder getautem Schnee zufrieden geben. Die Fahrt ging über Elbing. Marienburg, Danzig, Gotenhafen, Köslin, Kolberg bis Altdamm bei Stettin. Nach ca. sieben Tagen beschlossen wir auszusteigen, da wir durch den räuchernden Ofen fast erstickt wären. „Dort blieben wir über Nacht in einer Auffangstelle der N.S.V. (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und konnten wenigstens wieder ausgestreckt auf dem Fußboden schlafen.“8 3.4. Aufenthalt in der Nähe von Berlin „Am folgenden Tag fuhren wir von dort mit einem Sonderzug Richtung Berlin, weil wir dort meinen Vater erreichen wollten, dessen Kursus auf dem Truppenübungsplatz bis zum 29.01.1945 andauern sollte.“9 Am Abend des 28.01.1945 erreichten wir dann Stettin und konnten von dort meinen Vater in Döberitz erreichen. Eigentlich sollte er am 29.01. wieder an die Front, bekam aber auf Grund unserer Ankunft noch acht Tage Urlaub. Mein Vater hatte befürchtet, dass wir die Flucht nicht überstanden hätten und war daher sehr froh, uns zu sehen. Wir konnten vorerst im olympischen Dorf von 1936 übernachten, wo auch die deutschen Soldaten untergebracht waren. Dann brachte mein Vater uns am 02.02.1945 nach Brück, wo wir entfernte Verwandte hatten. Diese waren aber nicht bereit uns aufzunehmen, da sie von Flüchtlingen nichts wissen wollten. Aber zum Glück nahm uns eine Bäckerfamilie, bei der wir Brot gekauft hatten, auf. Dort wohnten wir zwar sehr beengt und mussten tüchtig arbeiten, z.B. Lebensmittelkarten kleben, im Geschäft Backwaren verkaufen und anderes, aber dafür 7 Aus dem Brief meiner Urgroßmutter vom 06.04. 1945 Siehe Fußnote 7 9 Siehe Fußnote 7 8 -8hatten wir genug Brot und Brötchen zu essen und die Bäckerfamilie war sehr nett zu uns. Meine Tante und ihre Tochter schliefen in einem Bett und meine Mutter und ich im anderen. In dieser Zeit hatten meine Tante und wir Kinder einmal hohes Fieber, schwitzten furchtbar und konnten nicht mal die durchgeschwitzten Betten wechseln. 3.5. Vierte Etappe – Mecklenburg Wir blieben in Brück bis zum 20.04.1945, als wir erfuhren, dass sich die russische Armee Berlin näherte. Wir hatten inzwischen über eine ausgemachte Kontaktadresse Post von meinen Großeltern erhalten und erfahren, dass sie mit ihrem kleinen Pferdewagen in Mecklenburg angekommen waren. Dorthin wollten wir nun. Da zu der Zeit wenige Züge fuhren, stellten wir uns mit unserem Handgepäck an die Straße und wurden von Zivilpersonen oder dem Wehrmachtspersonal mitgenommen. So kamen wir bis Rathenow, mit Übernachtung in einer Fabrikhalle, dann über Neustadt/Dosse, Perleberg, Grabow bis Ludwigslust. Hier übernachteten wir in einer Schule. Bis hierhin hatten wir die weite Tour aus Ostpreußen gut überstanden, doch am 25.04.1945 schlug das Schicksal erbarmungslos zu. Wir stellten uns wieder an die Straße, um in den Kreis Hagenow zu gelangen, wo sich die Großeltern aufhielten, es waren nur noch ca.30 km. Wir konnten auf einer Zugmaschine mit zwei Anhängern mitfahren. Etwa 3 km hinter Ludwigslust kam es auf der B5 Berlin-Hamburg zu einem Tieffliegerangriff der US-Armee. Meine Mutter wollte über die Anhängerkupplung abspringen, um Schutz zu suchen, geriet dabei unter die Räder des folgenden Anhängers und wurde der Länge nach überfahren. Sie verstarb schließlich im Krankenhaus Ludwigslust. Das war eine schwere Zeit für uns. Am 26.04.1945 kamen wir bei den Großeltern an. Als meine Oma uns kommen hörte, rief sie zu ihrem Mann: „Fritz, wach auf, die Liesel10 ist da!“ Doch als sie rauskam und nur uns drei da schweigend stehen sah, begriff sie, dass etwas passiert sein musste. Wir weinten alle. Wer schließlich erzählt hat, was passiert war, weiß ich nicht mehr. Untergebracht waren wir in dieser Zeit bei einer Lehrerfamilie, die uns mehr oder weniger gezwungenermaßen aufgenommen hatte. Wir hatten nur ein sehr kleines Zimmer unter dem Dach. Ich war nun 14 Jahre alt geworden und der Krieg war 10 Anmerkung: gemeint ist hier die verstorbene Mutter der Zeitzeugin (Elise Sabels) -9endgültig zu Ende. Das Gebiet wurde ab dem 02.Mai 1945 zunächst von Amerikanern, dann für kurze Zeit von Engländern und schließlich von Russen übernommen. In dieser Zeit ging ich auch zur Konfirmation und hatte regelmäßig Konfirmandenunterricht. Ansonsten arbeitete ich noch bei einer Bauernfamilie, die sehr viel tat für alle Flüchtlinge, auch für die, die nur auf der Durchreise waren. 3.6. Die letzte Etappe der Flucht: Über die „grüne Grenze“ bis Soest Im Jahr 1946 erhielt meine Tante Nachricht von ihrem Mann aus einem Lazarett in Malente (Schleswig-Holstein). Daraufhin ging meine Tante mit ihrer Tochter im Sommer über die grüne Grenze bei Helmstedt/Marienborn. Ein Onkel, wohnhaft in Bad Gandersheim, und ein Grenzführer, holte die beiden ab. So blieb ich alleine mit den Großeltern zurück in Mecklenburg. Doch bald darauf erhielten auch wir Nachricht von meinem Vater aus amerikanischer Gefangenschaft. Er ließ sich 1946 nach Beusingsen entlassen, dass er während des Krieges als dort stationierter Soldat kennen gelernt hatte. Vom Tod meiner Mutter hatte er erst dann – ein Jahr später – erfahren. Obwohl wir uns bei der Bauernfamilie gut aufgehoben fühlten, wollten wir nun auch nicht mehr in der russischen Zone bleiben. Also kamen der Onkel und ein weiterer Grenzführer wieder ins Dorf und wir fuhren mit der Bahn in Richtung Magdeburg. Vor Magdeburg stiegen wir aus dem Zug aus und gingen zuerst zu Fuß. Später fuhren wir bei einem Bauer auf dem Trecker mit, der auf dem Weg zu einem Feld in Grenznähe war. Es wurde dunkel. Am Grenzzaun mussten wir kriechen, dann ging es ebenfalls kriechend durchs Niemandsland. So erreichten wir einen Wald, wo wir uns geschützt glaubten. Leider trieben sich dort Männer herum, die auf Gepäckstücke aus waren. Wir liefen so schnell wir konnten in Richtung Grenze und endlich, da war Helmstedt. Es war schon stockdunkel und wir waren endlich im Westen! Nach einem viertägigen Aufenthalt in Bad Gandersheim bei unseren Verwandten ging unsere letzte Fahrt nach Soest, wo mein Vater uns mit einem Einspänner vom Bahnhof abholte. Er arbeitete inzwischen bei einem Bauern in Beusingsen. Wir kamen nach Neuengeseke, wo dieser Bauer einen weiteren Hof hatte, denn es gab hier keine Wohnungen, da viele Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet hier Unterkunft gefunden - 10 hatten. So wohnten wir drei, Oma, Opa und ich in einem Schlafzimmer und einem umgebauten Badezimmer. In diesem schlief ich auf drei Stühlen und mit dem Kopf auf einem tiefer stehenden Sessel. Weil wir keine Zuzugsgenehmigung vorlegen konnten, sondern auf eigene Veranlassung hergezogen waren, entzog man uns für ca. vier Wochen die Lebensmittelkarten. Das war bitter und ich weiß bis heute nicht mehr, wie wir das überstanden haben. Schließlich erhielten wir einen Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge (siehe Anlage 2: Zweitausfertigung des Ausweises). Im Herbst 1946 ging ich für eineinhalb Jahre zu einem Bauern nach Ostönnen, um für meinen Lebensunterhalt zu sorgen. Dort gab es einfaches, aber regelmäßiges Essen, etwas Verdienst (30,-Reichsmark), keine Freizeit und Arbeit im Stall, im Haus und auf dem Feld. Aber ich habe das gut überstanden und danach ging es wieder aufwärts. 1949 bekam mein Vater wieder eine Anstellung als Dorfschullehrer in Müllingsen und wir zogen dort in die Schule. 4. Untersuchungsaspekt 4.1. Staatliche Maßnahmen im Umgang mit der Zivilbevölkerung Bei der Schilderung der oben beschriebenen Ereignisse haben mich besonders die chaotischen Zustände während des Fluchtverlaufs im vorher stark durchorganisierten nationalsozialistischen Staat verwundert. Daher hat es mich interessiert, warum es keine rechtzeitigen Evakuierungen gegeben hat. Bei meinen Recherchen bin ich zurückgegangen bis zum kritischen Zeitpunkt ab dem Sommer 1944, als die Rote Armee immer weiter nach Westen vorrückte. Zu dieser Zeit beantragte die deutsche Armee bereits die Räumung des östlichen Teils von Ostpreußen, doch Reichsverteidigungskommissar und Gauleiter Koch, der unter anderem für Ostpreußen und die besetzten Ostgebiete verantwortlich war, lehnte ab mit den Worten: „Wer hier noch einmal von Räumung spricht, ist ein Verräter!“11 Im Spätsommer 1944 wurde „die Bedrohung der deutschen Ostprovinzen […] immer akuter.“12 Trotzdem durfte nur der Raum bis zu zehn Kilometern hinter der 11 12 Arndt 1984: (S.6) Arndt 1984: (S.6) - 11 Hauptkampflinie geräumt werden. Gauleiter Koch hatte sich strikt geweigert einen bereits „im Sommer 1944 vom Oberpräsidium in Königsberg ausgearbeiteten Plan zur Evakuierung Ostpreußens […] weiterzuleiten“13Allerdings war bei der Ausarbeitung des Evakuierungsplanes die Unterstützung der Sowjets durch die USA nicht einkalkuliert worden und somit auch nicht die Wucht ihrer militärischen Angriffe.14 Statt einer Evakuierung ließ Gauleiter Koch einen „Ostwall“ bauen. „Er wollte den Russen-Sturm mit Gräben und Schützenlöchern aufhalten.“15 Trotz des Kanonendonners in der Ferne fühlten sich die Menschen zunächst noch sicher, denn sie vertrauten der Armee, deren Zustand sie allerdings nicht einschätzen konnten. Zudem sprach die Parteipropaganda immer wieder vom „Endsieg“. Der ostpreußischen Bevölkerung wurde also zu dieser Zeit durch systematisches Zurückhalten von Informationen und Propaganda eine völlig realitätsferne Sicherheit vorgegaukelt. Hinzu kam der Größenwahn und die Sturheit von Gauleiter Koch. Er lehnte nicht nur jeden Evakuierungsplan schlichtweg ab, sondern „weigerte sich sogar die Verwaltung und Partei in Ostpreußen darüber zu informieren, was im Falle eines Angriffes geschehen sollte.“16 Lediglich der Abtransport von wertvollen Maschinen und Vorräten für die Möglichkeit eines vorrübergehenden „Feindeseinbruchs“ wurde geplant, aber es durfte sich niemand damit beschäftigen, dass Ostpreußen vollständig besiegt werden könnte. Das galt als Defaitismus und wurde bestraft.17 Dies führte dazu, dass die meisten Zivilisten im Januar 1945, eigentlich zu spät, praktisch unvorbereitet und panikartig auf die Flucht gingen. Zu dem Zeitpunkt war eine organisierte Evakuierung nicht mehr möglich. Am 24. Januar 1945 stand die Einkesselung Ostpreußens und somit auch fast einer halben Million Soldaten und noch mehr Zivilisten kurz bevor. Deshalb gab es im Quartier des Oberbefehlshabers, General Hoßbach, eine Krisensitzung. Hoßbach befahl am 25. Januar eigenständig den Rückzug, um die „Schlagkraft“ der Armee zu erhalten. Auf dieser Konferenz äußerte Hoßbach unter anderem, dass die Zivilbevölkerung 13 Arndt 1984:( S.7) Vgl.: Arndt 1984:( S.7) 15 Böddeker 1995:(S.13) 16 Böddeker 1995: (S.15) 17 Vgl.: Böddeker 1995:( S.13ff.) 14 - 12 zurück bleiben muss.18 Aber er ging sogar noch weiter: „Da die flüchtenden Menschenmassen den Durchbruch nach Westen zu Behindern drohten, befahl er:‚Die Trecks müssen von der Straße runter‘“19 Zwar konnte Hoßbach seinen Rückzugsplan nicht in die Tat umsetzen, da er von Hitler abgesetzt wurde und die Armee den Befehl bekam die Stellung zu halten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Jedoch war es kein Einzelfall, dass dem Kampf Vorrang gegeben wurde vor dem Schutz der Zivilbevölkerung. So „ließ die Wehrmacht nicht nur die gut ausgebauten Hauptstraßen für Trecks sperren, sondern nahm auch die Eisenbahnkapazitäten für sich in Beschlag“.20Auch der Abtransport der Flüchtlinge über die Schiffe ab dem 26. Januar, erfolgte teilweise gegen den Befehl der Heeresleitung.21 Insgesamt verlief die Flucht also völlig planlos und die Bevölkerung konnte auf keine wesentliche Unterstützung der Gauleitung oder der Wehrmachtsführung hoffen. An dieser Stelle muss aber erwähnt werden, dass einzelne Soldaten und Offiziere der Zivilbevölkerung geholfen haben, auch wenn es sich meistens nur um die Information der Bevölkerung über die aktuelle Lage handelte. Aber durch diese Warnungen konnten die flüchtenden Menschen sich besser orientieren. Nur die Führung, an oberster Stelle Gauleiter Koch, war an dem Schicksal der Zivilbevölkerung offensichtlich nicht interessiert. Doch auch wer es nach Westen geschafft hatte, hatte es in der Anfangszeit nicht leicht, denn die einheimische Bevölkerung hatte selber unter den Folgen des Krieges zu leiden. Sie war in den meisten Fällen nur unter Zwang bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. und betrachtete die Flüchtlinge „häufig als unerwünschte Gäste oder Eindringlinge“.22 4.2. Vergleich mit den Erzählungen der Zeitzeugin Die Erzählungen der Zeitzeugin decken sich in einigen Punkten mit den oben dargestellten Informationen. Zu Beginn ihrer Flucht wurde die Familie meiner Großmutter nicht offiziell über die aktuelle Lage an der Front informiert. Letztlich kam 18 Vgl.: Aust,Stefan: Die Flucht, über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Hamburg: SpiegelBuchverlg, 2002: (S.71ff.) 19 Aust 2002: (S.72) 20 Aust 2002: (S.77) 21 Vgl.: Aust 2002: (S.78f.) 22 Douglas,R.M.: Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. München: C.H.Beck Verlag, 2012: (S.386) - 13 die Aufforderung zur Flucht auch nicht von der Wehrmachtsführung oder dem Gauleiter, sondern von desertierten Soldaten. Auch kommt in dem Bericht der Zeitzeugin vor, dass es ein Fluchtverbot gab („Die Partei hatte uns verboten zu flüchten“) Zudem durften die eilig zusammengestellten Pferdetrecks nur auf einer Straßenseite fahren, um Militärtransporten genügend Platz zu lassen. Außerdem wird in dem Zeitzeugenbericht deutlich, dass längst nicht genug Züge zum Abtransport der Flüchtlinge bereitstanden. Manche Züge waren so überfüllt, dass die Menschen bei starkem Frost auf offenen Lorewagen saßen. Schließlich musste die Zeitzeugin mit ihren Familienangehörigen in einem Zug mitfahren, der für den Personentransport überhaupt nicht geeignet war, sondern bei dem es sich um einen Werkstättenzug der Wehrmacht handelte. Insgesamt werden im Bericht das Chaos und die fehlende staatliche Führung deutlich. Die Flüchtlinge waren größtenteils auf sich alleine gestellt und mussten selber entscheiden, welchen Weg sie nehmen. Der Gedanke bei den meisten Flüchtlingen war außerdem, dass sie nur vorübergehend fliehen würden und dann wieder zurückkommen könnten. Was die Behandlung durch die einheimische Bevölkerung angeht, hat meine Großmutter sowohl völlige Ablehnung als auch sehr freundliche Behandlung erlebt. So wollten ihre entfernten Verwandten sie überhaupt nicht aufnehmen, weil sie mit Flüchtlingen nichts zu tun haben wollten. Auf der anderen Seite gab es immer wieder fremde Menschen, die freiwillig bereit waren, sie aufzunehmen, so zum Beispiel die Bäckersfamilie in der Nähe von Berlin. Die Mutter der Zeitzeugin schreibt dazu in einem Brief: „Unsere Gastgeber haben uns noch niemals merken lassen, dass wir ihnen zu viel sind, obwohl die Kinder oft recht laut sind.“ Später in Mecklenburg war die Gastgeberfamilie zwar nicht gerne bereit, Flüchtlinge beherbergen zu müssen, aber insgesamt war die Behandlung doch noch recht freundlich. Außerdem gab es dort noch eine Familie, die einen Bauernhof besaß und vielen Flüchtlingen half, auch denen, die nur auf der Durchreise waren. Dort konnte meine Großmutter in dieser Zeit arbeiten und bekam dafür etwas zu essen. - 14 - 5. Fazit Abschließend ist zu sagen, dass die Flucht völlig planlos ablief und das faschistische Regime Tod und Leiden von mehreren Millionen Menschen billigend in Kauf genommen hat. Durch eine frühzeitige Evakuierung hätten wahrscheinlich mehr Menschen gerettet werden können. Allerdings stellt sich angesichts des Kriegszustandes im restlichen Deutschland die Frage, ob eine Evakuierung Ostpreußens überhaupt möglich und sinnvoll gewesen wäre. Schließlich waren aus Mittel- und Westdeutschland auch viele Frauen und Kinder nach Ostpreußen evakuiert worden. Im Falle einer Evakuierung aus Ostpreußen wären diese und die restliche ostpreußische Bevölkerung in die westlichen Kriegsgebiete geschickt worden und ob das sinnvoll gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln. Aufgrund dieser Überlegungen und dem mit Sicherheit verlorenen Krieg, wäre meiner Meinung ein schneller Friedensvertrag bzw. eine Kapitulation die einzige praktikable Lösung zum Schutz der Bevölkerung gewesen, auch mit dem Ziel, die Bevölkerung in ihrer Heimat zu belassen. Dies wäre jedoch unter den gegebenen politischen Bedingungen unrealistisch gewesen. Zumindest aber wären nach einem Friedensschluss Übergriffe auf die Bevölkerung völkerrechtlich absolut nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Danach hätte es zwar noch eine staatlich organisierte Zwangsüberführung der Bevölkerung nach Westen geben können, die aber vermutlich weniger Opfer gefordert hätte als die Flucht im Winter 1945. Aber auch eine staatliche Umsiedlung ethnischer Bevölkerungsgruppen führt zu großem Leid bei den betroffenen Menschen. In diesem Zusammenhang stehen die rücksichtslosen und gewaltsamen Massenvertreibungen und Zwangsverschleppungen der polnischen Bevölkerung, die das nationalsozialistische Regime schon während des Krieges durchgeführt hatte. Unter anderem dadurch angeregt wurden nach dem Krieg im Zuge der Potsdamer Konferenz weitere Millionen Menschen in ganz Osteuropa zwangsumgesiedelt zwecks „ethnischer Säuberung“. Absicht war es, Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu vermeiden. Doch auch bei dieser staatlich angeordneten Umsiedlung gab es viele Todesopfer und Verbrechen an der Bevölkerung. Abschließend kann ich sagen, dass es sehr spannend war, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Das Gespräch mit meiner Großmutter war sehr emotional und - 15 aufschlussreich, zumal ich durch unsere Reisen nach Polen auch eine Vorstellung habe für die große Entfernung. Diesen Weg dann auch noch im Winter zurückzulegen bei eisiger Kälte und schlechter Lebensmittelversorgung, ist für mich kaum fassbar. Außerdem muss es schlimm sein, von heute auf morgen die Heimat und zusätzlich noch Freunde und in einigen Fällen auch noch die Familie zu verlieren. Dieses Gefühl der verlorenen Heimat sitzt auch bei meiner Großmutter tief, auch wenn sie nur einen kurzen Teil ihres Lebens in Ostpreußen verbracht hat. Sie fährt noch heute oft nach Polen, um ihre alte Heimat zu besuchen. Ich selber war auch schon ein paarmal mit. Wir haben dort eine polnische Familie mit der wir gut befreundet sind. Letzten Endes verbindet die Generation meiner Großeltern mit dieser polnischen Generation, dass beide ihre Heimat verlassen mussten. Zwar unter verschiedenen Bedingungen, auf der einen Seite der Krieg und auf der anderen Seite Umsiedlungen im Zuge der neuen Gebietsverteilungen nach dem Krieg, aber das Gefühl, irgendwo anders neu anfangen zu müssen, bleibt doch das Gleiche. - 16 - 6. Anhang Anlage 1: Karte des Fluchtweges der Zeitzeugin Anlage 2: Zweitausfertigung des Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge Anlage 3: Internetquelle „Planet Wissen“ - 17 Anlage 1: Karte des Fluchtweges der Zeitzeugin - 18 Anlage 2: Zweitaufertigung des Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge - 19 Anlage 3: Internetquelle „Planet Wissen“ Quelle: http://www.planetwissen.de/politik_geschichte/nachkriegszeit/flucht_und_vertreibung/index.jsp. - 20 - 7. Literaturverzeichnis 1. de Zayas, Alfred M. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen Vorgeschichte, Verlauf, Folgen . München : Deutscher Taschenbuchverlag , 1980. 2. Arndt, Werner. Flucht und Vertreibung. Friedberg : Pozun-Pallas-Verlag, 1984. 3. Aust, Stefan. Die Flucht, Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. [Hrsg.] Stephan Burgdorff. Hamburg : Spiegel-Buchverlag, 2002. 4. Douglas, R.M. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg . München : C.H.Beck Verlag , 2012 . 5. Böddeker, Günther. Die Flüchtlinge,Die Vertreibung der deutschen im Osten. 5. Auflage . München : F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung , 1995. 6. WDR: "Planet Wissen" . Sendung: Ostpreußen - Spurensuche in einem Land der Widersprüche. [Online] 08. 12 2010. [eingesehen am 29 . 02 2012 .] http://www.planetwissen.de/politik_geschichte/nachkriegszeit/flucht_und_vertreibung/index.jsp. - 21 - 8. Eigenständigkeitserklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Ellen Flüchter