Natur – Kultur

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Natur – Kultur
Thomas Anz (Hg.)
Natur – Kultur
Zur Anthropologie von Sprache
und Literatur
mentis
PADERBORN
Thomas Anz
Einleitung
Der Deutsche Germanistentag 2007 fand an einem Ort statt, der für die Geschichte der Germanistik und des Deutschen Germanistenverbandes, der diese Tagung veranstaltete, eine mehr oder weniger rühmliche Bedeutung hat.
1802 begann der achtzehnjährige Jacob Grimm, ein Jahr vor seinem Bruder
Wilhelm, in Marburg zu studieren. Sein Zusammentreffen mit dem nur sechs
Jahre älteren Juraprofessor Friedrich Carl von Savigny hat ein guter Kenner
der Geschichte der Germanistik als „Urszene“ der Deutschen Philologie beschrieben. Der Student lernte bei seinem Lehrer, wie man Texte interpretiert,
Gesetzestexte zunächst, bevor er in der Bibliothek des Juristen der Literatur
des Mittelalters begegnete.
111 Jahre später, 1913, führte der „Deutsche Germanisten-Verband“ seine
Gründungsversammlung und seine erste Tagung durch, als Begleitveranstaltung zur „Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner“, an einem
späten Septembertag – in Marburg.
Es gab allerdings gute Gründe dafür, dass diese Stadt nicht sonderlich stolz
darauf sein und dass die Tagung im Jahr 2007 sich die vor fast hundert Jahren
nicht zum Vorbild nehmen konnte. Der Gründungsaufruf des Verbandes war
für weite Teile der damaligen Germanistik durchaus charakteristisch: „Mehr
und mehr ist in allen Kreisen, denen es um die Zukunft unseres Volkstums
ernst ist, die Überzeugung zum Durchbruch gekommen, daß unser deutsches
Geistesleben stärker als bisher auf völkische Grundlagen gestellt werden
muß. [...] Um dies Ziel zu erreichen, halten es die Unterzeichneten für geboten, [...] einen Zusammenschluß der Germanisten, insbesondere der Vertreter
des Deutschen an den Hochschulen und den Höheren Schulen, zur Förderung des deutschen Unterrichts herbeizuführen.“
Der damalige Bericht der Marburger Zeitung stilisierte die Veranstaltung zu
einem triumphalen Ereignis: „Am Montag, dem 29. September tagte zum ersten Male der Deutsche Germanisten-Verband [...] in unserer Stadt. Die Aula
der Universität war der Schauplatz einer Begeisterung, die von dem sieghaften
Vorwärtsschreiten des Verbandes auf seinem Wege zu hochgesteckten Zielen
das beste Zeugnis ablegte. [...] Mit hoher Befriedigung konnte der umsichtige
Leiter der Tagung, Herr Prof Dr. Elster, [...] diese erste Tagung mit dem
zuversichtlichen Wunsch schließen, daß die Anregungen des Programms rei
Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.
S. 54 ff.
Zitiert nach Jochen Berns: Zur Bedeutung Marburgs für die Geschichte der Germanistik.
In: Marburg-Bilder: eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Teil 2. Hg. von
Jörg Jochen Berns. Marburg 1996. S. 169-187; hier S. 183 f. – Berns stützt sich in seinem
Aufsatz auf Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur
germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte. Köln 1980, S. 140 ff.
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chen Segen bringen möchten, der großen und herrlichen Sache der Hebung
des Deutschtums.“
Nach 1945 wurde der Deutsche Germanistenverband, der in den 1920er
Jahren in eine Gesellschaft für Deutsche Bildung integriert worden war und
sein völkisch-nationales Profil behalten hatte, mehrfach neu gegründet, 1949
in München und 1952 in Münster.
Solchen Ur- und Gründungszenen in der Geschichte der Germanistik sei
hier ein anderes Szenarium gegenüberstellen, das sich dem Germanistentag
2007 gleichsam als Motto unterlegen lässt. Es ist ein Szenarium des produktiven Misslingens, der erkenntnisstimulierenden Störung des Gewohnten und
Selbstverständlichen, des reibungslos und unauffällig Funktionierenden, ein
Szenarium, das nicht an einen Ort und einen Zeitpunkt gebunden ist, sondern
sich in der Geschichte der menschlichen Natur und Kultur ständig wiederholt, ein prototypisches, universales Szenarium für Wissenschaft überhaupt,
das in den Sozial- und Kulturwissenschaften wie in den Naturwissenschaften
vielfältige Ausprägungen hat.
Ein inneres Organ wird von uns oft erst wahrgenommen, wenn es schmerzt,
Regeln, denen wir beim Sprechen und Handeln folgen, werden uns oft dann
bewusst, wenn jemand sie verletzt. Zu den eindrucksvollen Geschichten, die
uns die Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten erzählt hat, gehören
die von Patienten, bei denen die Verletzung bestimmter Hirnregionen mit
dem Verlust bestimmter kognitiver oder emotionaler Fähigkeiten einherging,
woraus sich weitreichende wissenschaftliche Einsichten gewinnen ließen. Der
Psychoanalyse hatten vor hundert Jahren auch kleinere, oft komische Unglücksfälle und Anomalien des Alltagslebens zur Generierung ihres Wissens
verholfen.
Prototypische Szenarien für die Sprach- und Literaturwissenschaften sind
Störungen in Kommunikationsprozessen, für literaturwissenschaftliche Tätigkeiten die Konfrontation mit nur bruchstückhaft überlieferten, vom Verschwinden oder Vergessen bedrohten Texten oder mit solchen, die kaum
noch verständlich oder gravierenden Missverständnissen ausgesetzt sind, die
es aber wert scheinen, noch in der Gegenwart gelesen und verstanden zu
werden.
Wo Wissenschaften keine Störungen und auffällige Anomalien vorfinden,
werden diese von ihnen in erkenntnisfördernder Absicht oft künstlich erzeugt. Linguisten erfinden gerne ungrammatische Sätze oder inkohärente
Texte, um an ihnen zu demonstrieren, was da nicht regelgerecht funktioniert.
Literaturwissenschaft muss da nichts erfinden, die Literatur macht dies permanent selbst. Literaturwissenschaft ist ständig mit sprachlichen Gegenständen befasst, die es spielerisch darauf anlegen, aufmerksamkeitsbindende und
erkenntnisfördernde Abweichungen von normalsprachlichen Regeln und
alltäglichen Kommunikationsroutinen zu erzeugen, die zusätzlich zu oft his­
torisch bedingten Verständnisproblemen Schwierigkeiten bereiten und eine
Herausforderung sind, die literarischen Verfahrensweisen zu durchschauen.
Zitiert ebd., S.184.
Einleitung
In der Konfrontationen mit Störungen übernehmen Wissenschaften vor
allem zwei Funktionen: Störungen zu reduzieren und aus Störungen allgemeines Wissen über das Funktionieren ihrer Gegenstände zu gewinnen. Das
ist nicht das einzige, was unterschiedliche Wissenschaften eint. Was sie eint,
wissen sie oft selbst nicht. Auffälliger erscheint ihnen zumeist, wenn sie denn
überhaupt etwas Substantiellen voneinander wissen, was sie trennt. Im Vorfeld der Tagung wurde gelegentlich gefragt, ob der Deutsche Germanistentag
in Marburg mit dem Thema „Natur – Kultur“ die alte Debatte über die zwei
Kulturen fortsetzen wolle. Ja und Nein. Die Kluft zwischen der Kultur der
Naturwissenschaften und der Kultur der Geisteswissenschaften existiert nach
wie vor. Doch es gibt schon lange nicht nur zwei Kulturen, sondern viele. Die
der Literatur ist eine andere als die der Literaturwissenschaft. Die Kultur der
Literaturkritik und des Feuilletons oder die der Sprach- und der Literaturdidaktik unterliegen wiederum anderen Regeln und Funktionen. Allein innerhalb der Germanistik, die sich wie das gesamte Kultur- und Wissenschaftssystem immer weiter ausdifferenziert hat, existieren Wissenschaftskulturen, die
zum Teil so unterschiedlich sind, dass sie miteinander kaum noch kommunizieren, und wenn sie es tun, nur noch schwer verstehen.
Spezialisierungen und institutionellen Ausdifferenzierungen, so haben wir
von der Systemtheorie gelernt, erhöhen die Leistungsfähigkeit eines Systems
erheblich, sie haben jedoch einen hohen Preis, der den Gewinn gefährdet
und oft Programme zur Entdifferenzierung in Gang setzt. Der Preis besteht
vor allem darin, dass sich die spezialisierten Fächer und Forschungsgebiete
oft nicht mehr gegenseitig wahrnehmen, ihre Wissensbestände nicht mehr
abgleichen und nicht mehr den Stellenwert erkennen, den sie in größeren
Zusammenhängen haben.
Ausdifferenzierungen eines Systems müssen, um seine Leistung zu steigern, mit komplexeren Integrationsprozessen einhergehen. Im Blick auf
das Gesamtsystem der Wissenschaft entspricht dem seit Jahren das Postulat inter- und transdisziplinärer Forschung. Eine integrative Funktion haben
nicht zuletzt Tagungen wie die des Deutschen Germanistenverbandes. Eine
ihrer Intentionen und Funktionen ist es, Brücken zu bauen, Brücken zwischen diversen Kulturen, in denen man sich mit Sprache und Literatur befasst
– zwischen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, zwischen Sprach- und
Literaturwissenschaften, zwischen Mediävistik und Neuerer deutscher Literaturwissenschaft, zwischen Universität und Schule, zwischen Wissenschaft und
Journalismus, zwischen Wissenschaft und Literatur, zwischen wissenschaftlichen Generationen, zwischen germanistischen Aktivitäten in verschiedenen
Ländern.
Solche Brücken sind stets einsturzgefährdet. Einsturzszenarien können dabei die produktive Funktion haben, Konstruktionsfehler zu erkennen, neue
Brücken zu bauen, bessere. Der Germanistentag sollte dazu ermutigen. Die
Wahl des Themas und Titels, „Natur – Kultur. Universalität und Vielfalt in
Sprache, Literatur und Bildung“, trug jüngeren Entwicklungen in den germa
Gemeint sind die Debatten zu Charles P. Snow: Die zwei Kulturen. Stuttgart 1967.
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nistischen Fächern Rechnung, die in der Ankündigung so skizziert wurden:
„Die Germanistik ist gegenwärtig mit einer Vielzahl von anthropologischen
Fragen befasst, die Sprache und Literatur gezielt in Grenzbereichen zwischen
menschlicher Natur und Kultur positionieren. Die Konkurrenzbeziehungen
und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Natur-, Kultur- und Kunstwissenschaften in diesen Forschungsterrains sind dabei für die Germanistik eine
Herausforderung, die sie auf unterschiedliche Weise aufgreift. Aneignungen
neurophysiologischer, kognitionspsychologischer oder evolutionsbiologischer
Konzepte, die sich tendenziell auf eine universale oder langfristige Konstanz
der Natur berufen, stehen kulturalistische Positionen gegenüber, die auf differenzierte Vielfalt, prinzipielle Kontingenz und historischen Wandel kultureller Phänomene insistieren, oder Bemühungen, natur- und kulturwissenschaftliche Forschungen zu integrieren sowie die Dichotomie von Natur und
Kultur zu unterlaufen.“
Vorträge und Diskussionen in sechs Sektionen haben sich mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten diesen Herausforderungen gestellt. Die
Druckfassungen eines großen Teils der Vorträge sind in eigenständigen Bänden veröffentlicht. Dieser Band enthält, mit einer Ausnahme, die sektionsübergreifenden Plenarvorträge aus dem Rahmenprogramm und im Anhang
eine Übersicht über alle Tagungsveranstaltungen. Der Eröffnungsbeitrag des
Literaturwissenschaftlers Karl Eibl sondiert neuere und neueste evolutionsbiologisch fundierte Perspektiven der Kulturwissenschaften und beruft sich
dabei schon mit dem Titel auf eine alte Schrift eines jungen, vor 250 Jahren
geborenen Autors: auf die medizinische Dissertation Friedrich Schillers. Darauf, dass sich um 1800 die Biologie neu als eine Wissenschaft etabliert und
bald als eine Art Leitdisziplin erhebliche Einflüsse auf die Sprachwissenschaft
hat, weist Ludwig Jäger hin. Sein Beitrag skizziert eine Geschichte der Sprachwissenschaften, die ihren Gegenstand mit wechselnden Aktzentuierungen im
Bereich zwischen Natur und Kultur positionieren und selbst im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften agieren. Georg Braungart
geht den Beziehungen zwischen der sich um 1800 konstituierenden Geologie
und der Literatur nach und exemplifiziert dabei Konzepte, mit denen die Zu
Mitteilung des Deutschen Germanistenverbandes 53, 2006, H. 2-3, S. 352.
Beate Kellner / Christian Kiening (Hg.): Körper – Kultur – Literatur (= Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83, 2009, H. 1). Stuttgart:
Metzlcr 2009 [Sektion 1]. – Thomas Anz / Heinrich Kaulen (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Beiträge zum Deutschen Germanistentag 2007 in Marburg. Berlin, NewYork: de Gruyter 2009 [Sektion 2]. – Martin Huber /
Simone Winko (Hg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines
Arbeitsfeldes. Paderborn: mentis 2009 [Sektion 3]. – Judith Klinger / Gerhard Wolf (Hg.):
Gedächtnis und kultureller Wandel. Beiträge zum Deutschen Germanistentag 2007 in Marburg. Tübingen: Niemeyer 2009 [Sektion 5]. – Paul Ingwer / Fritz Tangermann / Winfried
Thielmann (Hg.): Standard: Bildung. Blinde Flecken der deutschen Bildungsdiskussion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008 [Sektion 6].
Michael Tomasello, der einen Vortrag mit dem Titel „The Human Adaptation for Culture”
gehalten hat, verweist auf folgende bereits veröffentlichte Grundlage seines Beitrages: Michael Tomasello / Malinda Carpenter: Shared intentionality. In: Developmental Science 10,
2007, H. 1, S. 121-125.
Einleitung
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sammenhänge zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte untersucht
werden können. Vergleiche zwischen literarischen und wissenschaftlichen
Entwicklungen nehmen auch der Mediziner und Wissenschaftshistoriker
Michael Hagner und der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann vor.
Michael Hagner liest Italo Svevos 1923 erschienenen Roman Zeno Cosini als
eine literarische Neurologie der Schwäche, die in bemerkenswertem Kontrast steht zu Theorien der Stärke, wie sie seinerzeit in sozialdarwinistisch geprägten Wissenschaften und dabei auch in der Hirnforschung vertreten wurden. Gerhard Neumann wiederum befasst sich mit wissenschaftlichen wie
literarischen Erkundungen der immer wieder anders gezogenen oder auch
angezweifelten Grenzen zwischen Natur und Kultur am Beispiel der als besonders heikel eingeschätzten Unterscheidungen zwischen Affe und Mensch.
Alle Beiträge beschreiben und haben selbst Anteil an ganz unterschiedlich
gearteten ‚Affären‘ zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen sowie literarischen Geschichten vom Menschen.
Organisatorisch und thematisch integriert in das Rahmenprogramm des
Germanistentags war die Verleihung der Marburger Brüder Grimm-Preises
an Peter von Matt. Die Laudatio von Heinrich Detering portraitiert die in den
Arbeiten dieses Literaturwissenschaftlers überall sichtbare anthropologische
Neugier. Der Geehrte selbst stellt sie mit facettenreichen Beobachtungen zu
einer literarischen Anthropologie der Dummheit unter Beweis. Wenn er dabei
aufzeigt, wie literarisch in Szene gesetzte Dummheiten als Abweichungen von
geltenden Normen der Vernunft wahrgenommen, verlacht oder handgreiflich bestraft werden, demonstriert er einmal mehr, welche Erkenntnismöglichkeiten Literatur wie Wissenschaft aus Szenarien der Störung gewinnen
können.
Allen, die zum Gelingen des Germanistentages beigetragen, und denen,
die ihre Vorträge für die Veröffentlichung in diesem Band überarbeitet haben,
sei noch einmal herzlich gedankt.