Der Hexenturm Roman

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Der Hexenturm Roman
Der Hexenturm Roman
(Zum Teil basierend auf historischen Fakten ohne Anspruch auf geschichtliche oder chronologische Korrektheit)
Sonntag, 3.Februar 1546, Jülich
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Der Mann drückte sich in den Schatten, den die Hauswand hinter seinem Rücken warf.
Warum musste der Mond auch ausgerechnet heute so helles Licht auf die Stadt werfen! Er
hatte entfernte Schritte gehört, und er hoffte, dass es sich nicht um den Nachtwächter
handelte, der in der Stadt des Nachts seine Runden ging. Er hoffte, nein, er betete zu Gott im
Himmel, dass es sich nur um einen betrunkenen Knecht handelte, der randvoll mit Bier von
der nahen Schenke zu seinem Bett unterwegs war. Die Schritte näherten sich, wurden lauter,
man konnte den Klang der Schuhe hören, wie sie auf dem festen Lehmboden auftraten, und
hin und wieder vernahm man auch das leise Platschen, wenn der nächtliche Spaziergänger in
eine Pfütze trat. Der Mann drückte sich noch ein wenig fester in den Schatten der Mauer.
Schweiß stand ihm trotz der kalten Witterung auf der Stirn. Aber dieses Mal war das Glück
auf seiner Seite. Die Schritte wurden nun wieder leiser, und entfernten sich in Richtung zur
Propsteikirche hin, und verstummten dann vollends. Es war wieder völlig still in der Stadt.
Der Mann atmete erleichtert auf.
Der Mann hieß Jacop. Er war ein Dieb. Nicht die üble Sorte Dieb natürlich, wie die solchen,
die in der Nähe der Geleitstraßen1 ihr Unwesen trieben und plündernd und mordend durch
die Lande zogen. Jacop verabscheute Gewalt. Und er war nicht ganz freiwillig zum Dieb
geworden. Er stahl aus purer Not, und er nahm seinen „Opfern“ auch keine
Wertgegenstände ab, er stahl nie Geld. Nur Lebensmittel für sich und seine Familie. Heute
stahl er Fleisch, da die Rauchfänge der wohlhabenden Bürger in diesen Tagen voller
wunderbarer Fleischstücke hingen. Jacop lief allein beim Gedanken an das Fleisch das Wasser
im Mund zusammen, und er rieb sich unbewusst die rußgeschwärzten Hände, und freute
sich schon auf seine Beute, die er in dieser Nacht zu machen hoffte. Er hatte sich sein Gesicht
und die Hände mit Ruß eingerieben, um im Schutze der Dunkelheit möglichst unsichtbar zu
bleiben. Drei Fleischbrocken befanden sich nun schon in dem groben Leinensack, den sich
Jacop auf den Rücken gebunden hatte, aber ein oder zwei weitere Stücke würde er noch
brauchen, um seine Familie satt zu bekommen. Und so schlich er sich leise durch die
Dunkelheit, und sein Ziel war der Rauchfang der Eheleute Carl und Anna Goddert. Die hatten
immer genug zu essen, reich wie sie waren.
Ganz im Gegensatz zu Jacop. Er war bettelarm. Das war nicht immer so. Noch vor drei Jahren,
also im Jahre des Herrn 1543, war Jacop ein Bauer, der im nahen Gelderland in dem kleinen
Ort Ammerzoden bei Utrecht einen bescheidenen Hof bewirtschaftete. Hof war vielleicht
etwas übertrieben ausgedrückt, es handelte sich eigentlich mehr um eine Lehmhütte mit
Strohdach als Wohnstatt, und einen hölzernen Stall, der das Vieh beherbergte. Er stand
damals unter seinem Lehnsherrn, dem Herzog Wilhelm V. von Jülich, Kleve, Berg, Mark und
Ravensberg, und er war zufrieden mit seinem Leben im Herzogtum. Die Abgaben, die er an
seinen Lehnsherren abzutreten verpflichtet war, hielten sich in Grenzen, und der Hof warf
genug ab, um ihm und seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
Seine Familie, das waren seine Frau Magdalena und seine vier Kinder, Josef, Gabriel,
Willibrord und Franziska. Seine Söhne, sie waren fünf, drei und zwei Jahre alt, und trotz der
bitteren Armut kerngesund, und Franziska, sein Nesthäkchen, seine Prinzessin und
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bewachte Handelsstrassen
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Augenstern. Sie war erst vier Monate alt.
Wenigstens für sie musste er noch nicht stehlen. Ihr genügte, was Magdalena in ihren
wundervollen Brüsten trug.
Damals, vor drei Jahren, als Jacop noch in Ammerzoden im Schutze des Kastells Ammersoyen
seinen Hof betrieb, hätte er sich niemals vorstellen können, dieses kleine Paradies verlassen
zu müssen. Aber es kam alles anders.
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Sein Herr, Herzog Wilhelm V. von Jülich, konnte trotz all seiner Macht die Ansprüche auf
seine geldrischen Besitztümer nicht halten. Kaiser Karl V., ein Habsburger, meldete ebenfalls
Ansprüche auf Geldern an, und in der fürchterlichen Schlacht um Düren Anno 1543 errang
der Kaiser einen eindeutigen Sieg über den Herzog. Dieser war nun gezwungen, den „Vertrag
von Venlo“ zu unterzeichnen, in welchem er seine geldrischen Ansprüche vollständig an
Kaiser Karl übertragen musste, und so kam es zum Kniefall des Herzogs vor dem Kaiser. Damit
war für Jacop und seine Familie das ruhige Bauernleben vorbei, denn schon kurz nach der
Schlacht von Düren machten sich die Habsburger im Gelderland breit, und sein wundervoller
Hof wurde mitsamt Haus und Tieren annektiert und einer Habsburgersippe zugesprochen.
Jacop wurde mit seiner Frau Magdalena und seinen damals noch zwei Kindern Josef und
Gabriel vertrieben. Wie Vieh wurden sie behandelt, man prügelte sie mit Stöcken von ihrem
Land, und sie mussten sich der Übermacht der neuen Besitzer ergeben und fliehen.
Jacop wollte sich zu seinem Herrn, dem Herzog, nach Jülich begeben, um dort um ein neues
Lehen zu bitten, und so machte sich die junge Familie auf den beschwerlichen Weg in die
Hauptstadt des Herzogtums.
Da zu dieser Zeit, im Winter 1543/44, arktische Temperaturen über die Natur herrschten,
konnte die Familie nur bei Tage über Land ziehen, wenn durch das Sonnenlicht wenigstens
etwas Wärme auf Ihre Gesichter fiel.
Jacop verlor in diesem Winter zwei Finger seiner linken Hand an die Kälte, da er einen
Handschuh verlor, als er seine Familie in einem verzweifelten Kampf auf Leben und Tod
gegen einen Bären verteidigen musste. Er hatte Erfolg, der Bär war wahrscheinlich durch
Wilderer aus seinem Winterschlaf gerissen worden, und war so schwach, dass er schon nach
wenigen Minuten von ihnen abließ und sich trollte. Aber sein Handschuh war nicht mehr zu
gebrauchen, und so musste die Hand frieren. Die Nächte verbrachte die junge Familie damals
in den Ställen der ansässigen Bauersleute, und manchmal bekamen sie von den Besitzern
sogar etwas Brot und Suppe, um den größten Hunger zu stillen.
In Jülich angekommen, stieß Jacop allerdings bei seinem ehemaligen Lehnsherrn auf taube
Ohren. Man wollte ihm kein Lehen überlassen, das Land wäre bereits vollständig aufgeteilt
und vergeben, so hieß es. Er bekam selbstverständlich niemals den Herzog persönlich zu
sehen, sondern musste sich mit den teilweise sehr arroganten Beamten des Herzogtums
herumärgern. Jacop erhielt nichts weiter als die Erlaubnis, sich vor den Stadttoren eine Hütte
zu bauen, wo er mit seiner Familie leben durfte. Aber immerhin stellte man ihm in Aussicht,
am Bau der neuen Festung mitzuarbeiten, wenn diese dann erbaut würde. Das war
wenigstens etwas, auf das zu Warten sich lohnte. Man würde ihn gut dafür entlohnen, teilte
ihm ein Beamter des Herzogs mit. Der Haken an der Sache war, dass niemand sagen konnte,
wann der Bau der Festung beginnen würde. Der Herzog habe den berühmten Architekten
Alessandro Pasqualini, der aus Bologna im fernen Italien kam und der ein Adliger war, dafür
gewinnen können, die Festung, eine Zitadelle im Stil der Renaissance, zu planen und zu
erbauen.
Damit war Jacop nun nicht mehr Bauer, sondern einer von vielen Armen, die vor den Toren
der Stadt hausen mussten. Und er war nun dazu verdammt, den vorbeiziehenden Händlern
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etwas Brot und Geld abzubetteln. Da er aber eine Familie zu ernähren hatte, Magdalena ging
damals mit Willibrord schwanger, reichte das Erbettelte an allen Ecken und Enden nicht. Und
so sah sich Jacop schon bald gezwungen, für den Unterhalt, nein, das nackte Überleben
seiner Familie zu stehlen. Er versuchte es mit der täglichen Beichte in der Jülicher
Propsteikirche wieder gut zu machen, zumindest was ihn und seinen obersten Herrn, Gott im
Himmel, anging. Den wohlhabenden Bürgern, die er bestahl, und er bestahl nur
wohlhabende Bürger, nie die ärmeren, tat ein wenig Fleisch oder Gemüse nicht wirklich weh.
Und heute hatte er Fleisch gestohlen. Geräuchertes Fleisch. Wieder schoss ihm das Wasser in
den Mund, und sein Magen vermeldete Hunger. Bald, ja bald würde es wieder etwas zu
essen geben, nur noch etwas Fleisch aus dem Rauchfang der Eheleute Goddert würde er sich
nehmen. Er hatte das Haus erreicht, alles war ruhig und dunkel. Nirgendwo war der Schein
einer Kerze oder Talglampe zu sehen, oder etwas zu hören. Die Godderts schliefen also! Sehr
gut!
Jacop hatte mittlerweile einige Erfahrung mit dem Stehlen, und so war die Tür des Hauses für
ihn kein Hindernis. Er betrat leise die Kammer. Jetzt nur keine unbedachte Bewegung,
ermahnte er sich in Gedanken, denn an die Wohnkammer des kleinen bürgerlichen Hauses
grenzte direkt die Schlafkammer, in der er die Godderts atmen hörte. Wobei „atmen“ eine
ziemliche Untertreibung darstellte. Carl Goddert schnarchte, als würde er einen Baum
zersägen wollen.
Hoffentlich wacht die alte Anna nicht auf, dann bin ich geliefert, dachte Jacop. Aber
offensichtlich war die Frau an das Sägen ihres Mannes gewohnt, denn sie rührte sich nicht in
ihrem Bett. Jacop schlich auf leisen Sohlen an dem Ehepaar vorbei zur Küchentür, hob den
einfachen Holzriegel an und öffnete die Tür. In diesem Augenblick rutschte Jacop
buchstäblich das Herz in die Hose, als die Türe mit einem lauten Knarren aufsprang. Jetzt ist
es aus!, dachte er und suchte verzweifelt nach einer Deckung, in der er sich vor den Ehepaar
verbergen konnte, aber in der Dunkelheit konnte er nichts entdecken, was ihm Schutz
geboten oder die Flucht ermöglicht hätte, denn es gab nur einen Ausgang. Und der führte
direkt an dem Bett der beiden Godderts vorbei! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, er konnte
das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Blutes laut und deutlich hören. Jacop
wagte nicht zu atmen, und so machte sich langsam eine ungesunde, rotblaue Farbe in
seinem Gesicht breit. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, denn Carl Goddert
hatte in dem Moment mit dem Schnarchen aufgehört, als die Tür begann, ihr Konzert zu
veranstalten.
Jetzt steht er gleich auf, und dann entdeckt er mich!, dachte Jacop, und sah sich in Gedanken
bereits in Ketten liegend auf dem Weg in den Kerker.
Aber dann, nach unendlich scheinenden Sekunden, setzte sich lautstark das Sägewerk wieder
in Gang, und Frau Goddert drehte sich im Bett laut seufzend auf die andere Seite, so dass sie
Jacop jetzt sogar den Rücken zugewandt hielt. Dabei verrutschte die Bettdecke, und Jacop
erhaschte einen Blick auf ein entblößtes Hinterteil, welches im fahlen Mondlicht wie ein
weiterer, zweigeteilter Mond leuchtete. Der Mond ist aufgegangen, sang Jacob lautlos, und
konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, besann sich jedoch sofort wieder, und wandte sich
unendlich erleichtert dem eigentlichen Grund seines Besuches zu.
In der Küche war es für ihn ein Leichtes, den Rauchfang auszumachen, obwohl es so dunkel
war, dass er überhaupt nichts sehen konnte. Die Küche hatte keine Fenster. Dennoch konnte
er sich am Geruch der geräucherten Schinken orientieren, und so tastete er sich vorsichtig
dem verlockenden Duft des würzigen Fleisches entgegen, und streckte seine Hand aus. Er
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bekam den ersten Schinken zu fassen, und befühlte die fettige Oberfläche. Der Schinken war
mit Schmalz eingerieben, damit er in der Luft des Rauchfanges frisch blieb, und nicht einfach
nur vertrocknete. Der Schinken fühlte sich großartig an, und wieder stieg in Jacops Magen
dieses brennende Gefühl des Heißhungers auf.
Aber diesen Schinken würde er nicht stehlen.
Er war zu groß, und auch zu schwer. Er würde ihn nicht tragen können, und vermutlich würde
er noch nicht einmal mehr in den Leinensack passen, den er auf dem Rücken trug. Also
tastete er weiter, und er fand tatsächlich zwei kleine, handliche Fleischbrocken, die er von
ihren Haken löste, und vorsichtig in dem Sack verschwinden ließ, den er zuvor an dem
ledernen Trageriemen auf seinen Bauch gedreht hatte, um ihn zu öffnen. Mit langsamen
Bewegungen, immer darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen, schulterte er den
nun prall gefüllten Sack wieder, und schlich auf Zehenspitzen auf die Haustür zu. Die
Küchentür ließ er diesmal unberührt, da er befürchtete, noch einmal würde sein Herz einen
solchen Schrecken wohl nicht überstehen. Er trat nach draußen in die Schwärze der Nacht,
und…
Genau in diesem Augenblick sprang ihm eine riesige schwatze Katze laut kreischend
entgegen!
„Heilige Mutter Gottes, verdammt noch eins!“, entfuhr es Jacop, und sein Herz tat einen
riesigen Sprung, so dass er dachte, es würde zerspringen.
Laut Fauchend zeigte ihm die verdammte Katze, die eigentlich für eine Katze viel zu groß war,
da sie locker die Größe einer Ziege hatte, ihre Fangzähne, die im fahlen Mondlicht weiß
leuchteten.
„Verschwinde, Biest, Du weckst noch alles auf!“, zischte Jacop der Kreatur mit rasendem Puls
entgegen, und gab Fersengeld. Er hatte keinerlei Lust, von den Bürgern der Stadt beim
Stehlen erwischt zu werden, und so rannte er laut keuchend und kreidebleich vor Schreck auf
das Stadttor zu, in Richtung zu seiner Hütte…
Die Katze hörte augenblicklich auf zu fauchen, und lief langsam hinter Jacop her…
Donnerstag, 26. Februar 2004, Jülich
„Also, dann bis Morgen früh. Und mach nicht zu lange, Hans, wir können den Rest doch
Morgen auch noch gemeinsam erledigen.“
„Ja ja, bis Morgen. Gute Nacht.“, sagte Hans Bruckner gedankenverloren, und beachtete
seinen Vorgesetzten kaum, als dieser das Museum verlies. Hans Bruckner war Archivar und
seit über zwanzig Jahren Angestellter der Stadt Jülich. Herr Perse, sein Chef, war der Leiter
des stadtgeschichtlichen Museums der Stadt Jülich. Das Museum war bereits einhundert
Jahre alt, und zeigte für gewöhnlich eine Ausstellung mit Exponaten aus der langen
Geschichte der Stadt, die bis auf die Römerzeit zurückreichte. Hans Bruckner hatte den
ganzen Tag daran gearbeitet, die Exponate für eine neue Ausstellung zu erfassen, sie zu
katalogisieren und dann in den Vitrinen zu arrangieren, wobei er jedes Teil mit einem
winzigen Schildchen mit einer Nummer darauf versah. An die Seitenwand einer jeden Vitrine
würde er dann später Schilder mit Erläuterungen zu den einzelnen Ausstellungstücken
anbringen, so dass Besucher der Ausstellung neben dem bloßen Anblick der Gegenstände
auch fundierte Kenntnisse ihrer Geschichte erwerben konnten.
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Gerade positionierte er eine altrömische Fibel2 in einer Vitrine, und stellte eine winzige „2“
direkt davor. Es war bereits nach zehn Uhr abends, und Hans verspürte langsam aber sicher
eine starke Müdigkeit, und beschloss, bald Feierabend zu machen. Er hatte schon seit acht
Uhr morgens ununterbrochen gearbeitet, und sein Vorgesetzter hatte nicht weniger
geschuftet, um die Ausstellung für die Morgen angesetzte Eröffnung vorzubereiten.
„Na ja, Morgen früh ist ja auch noch etwas Zeit“, sagte er leise zu sich, und schloss die
Glastür der Vitrine. Er beschloss, noch einen kurzen Kontrollgang durch die Räume des
Museums zu machen, bevor er nach Hause ging, denn er war sehr gewissenhaft, und wollte
sichergehen, dass er nicht versehentlich jemanden einschloss, oder ein Licht brennen ließ.
Und so ging Hans Bruckner, der erst vorgestern seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag
gefeiert hatte, leise vor sich hin summend durch die Räume des Museums, und sah sich
aufmerksam um. Er befand sich in dem Teil des Museums, der zum vor einigen Jahren neu
erbauten „Kulturhaus am Hexenturm“ gehörte, und ging langsam auf die Verbindungstür zu,
die das Kulturhaus selbst mit dem „Hexenturm“ verband. Der Turm war ursprünglich im Jahre
1330 als Stadttor erbaut worden und Bestandteil einer mittelalterlichen Befestigungsanlage,
und war unter dem Namen „Rurtor“ bekannt. Erst als der berühmte Architekt Alessandro
Pasqualini 1553 damit begann, die einige Jahre zuvor fast vollständig niedergebrannte Stadt
im Renaissance-Stil wieder aufzubauen und mit Bastionen3 zu versehen, wurde die
mittelalterliche Befestigung der Stadt unwichtig, und musste weitgehend weichen. Das
Rurtor aber wurde als Turm stehen gelassen, und fortan als Gefängnis und Folterstätte des
Haupt- und Criminalgrerichts des Herzogtums genutzt. Da in dieser Zeit der Hexenglaube
noch weit verbreitet war, bekam der Turm bald den Namen „Hexenturm“, nachdem man
„Frauen, die etwas können“ dort gefoltert und eingekerkert hatte. Der „Hexenturm“ hatte
während seiner Nutzung als Stadttor vier Verteidigungsebenen, einschließlich des flachen,
zinnenbewehrten Daches. An seinem von stadteinwärts gesehen rechten Turm gab es einen
Aborterker4.
Hans wurde von einem Geräusch jäh aus seinen Gedanken gerissen. Ein leises Kratzen hinter
der geschlossenen Verbindungstür hatte seine Aufmerksamkeit erregt. „Hallo, ist dort
jemand? Wir haben schon lange geschlossen!“ Als er diesen Satz kaum zu Ende
ausgesprochen hatte, hätte er sich am liebsten sofort selbst geohrfeigt. Wir haben schon
lange geschlossen. Es ist nach zehn, es kann niemand mehr im Museum sein! Die Türen sind
seit sechzehn Uhr zu!, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Aber irgendwo her musste das
Kratzen ja gekommen sein, und so blieb Hans Bruckner vorsichtig. Er steckte erst einmal den
Schlüssel in das Schloss der Tür, drehte ihn zweimal um und öffnete langsam und vorsichtig
die Tür, nur ein winziges Stück. Er sah hindurch.
Nichts. Keine Geräusche, keine Bewegungen. Der Raum sah aus wie immer, zumindest der
kleine Teil, den er durch den Türspalt erkennen konnte, und nichts wies darauf hin, dass hier
etwas anders sein könnte als sonst.
Aber Hans fühlte sich unwohl. Er hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, das hier etwas
nicht stimmte. Er hätte nicht sagen können, was dies war, aber das Gefühl war unbestreitbar
vorhanden. Es war unangenehm. Und er fühlte sich beobachtet. Er konnte förmlich fremde
Augen auf sich lasten spüren, obwohl er wirklich nichts Ungewöhnliches mit seinen Sinnen
2
Spange aus Metall, die Kleidungsstücke zusammen hält
Verteidigungsstellungen
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Ein kleiner Vorsprung an der Außenmauer mit Öffnung im Boden, der als Toilette diente.
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wahrnahm. Er steckte vorsichtig den Kopf durch die einen Spalt breit geöffnete
Verbindungstür und sah sich um. Immer noch nichts. Er öffnete die Tür nun vollends, und
ging langsam in den Raum hinein, der als Ausstellungsraum diente. Es war der Raum über
dem eigentlichen Durchgang des ehemaligen Stadttores, und hatte an der West- sowie
Ostseite jeweils zwei kleine Fenster. An der Nord- und Südseite des Raumes gab es
Durchgänge zu den Treppen. Durch unglaublich enge Wendeltreppen aus Stein ging es nach
oben in die beiden Türme, wo sich früher in jedem Turm jeweils eine Kerkerzelle befunden
hatte. Diese waren fensterlos, nur mit Schießscharten ausgestattet. Heutzutage standen sie
leer und waren für Besucher nicht zugänglich. Nach unten führte nur im Nordturm eine
Treppe, wo es stadtseitig einen Ausgang zur Straße gab. Die Treppe im Südturm war nicht
zugänglich, dort konnte also niemand sein.
Da!
Wieder dieses Kratzen.
Hinter der zweiten Vitrine!
„Hallo? Hören Sie, ich weiß, dass sie da sind, ich kann sie hören!“, sagte Hans mit zitternder
Stimme in die Dunkelheit. Licht wollte er nicht einschalten, er wäre sich sonst feige
vorgekommen. Als Antwort erhielt er nur ein wiederholtes, leises Kratzen an der Wand, und
es begann, ihm unheimlich zu werden. Sein Herz schlug etwas wilder.
„Verdammt, wer ist denn da? Hier gibt es nichts wirklich wertvolles, falls sie hier
eingebrochen sind, hören sie? Außerdem ist die Ausstellung Videoüberwacht! Kommen sie
schon, geben sie sich zu erkennen!“, rief Hans mit vor Angst zitternder Stimme in die
Dunkelheit. Und dann setzte er noch hinzu: “Ich kann sie sehen!“. Das allerdings war gelogen,
denn er sah eigentlich überhaupt nichts.
Jetzt war das Geräusch verschwunden. Er ging langsam auf die gegenüberliegende Tür zu, die
zum Aufgang in den ehemaligen Kerkerturm führte. Als er die zweite Vitrine auf der rechten
Seite erreichte, beschlich ihn wieder dieses seltsame Gefühl. „Du wirst beobachtet, alter
Junge“, sagte er leise zu sich selbst, und in Gedanken fügte er hinzu: Nur durch wen
verdammt noch mal?
Ein Schatten!
Hans wurde schlagartig kreidebleich, das Blut wich aus seinem Gesicht, und sein Herz setzte
für einige Augenblicke aus.
Etwas hatte sich bewegt!
Dort im Schatten. Er konnte es nicht genau erkennen, aber es erschien ihm fast, als käme
eine Schemenhafte Gestalt aus der Mauer heraus gekrochen!
Hans Bruckner wusste, dass es nicht sein konnte, die Dunkelheit und das Schattenspiel des
einfallenden Mondlichts musste seinen Augen einen Streich spielen, aber das war seinem
Pulsschlag egal. Der beschleunigte auf ungesund hohe Werte und raste mit seinem Atem um
die Wette, der stoßweise und viel zu flach aus seinem Mund gepresst wurde. „Verdammte
Scheiße, wer ist da? Hören sie mit dem Mist auf, ich habe keine Lust auf solche Spielchen!“,
rief er, und langsam schlich sich in die mittlerweile panische Angst auch ein wenig Wut.
„Purrrr!“
Was war das, verdammt noch mal?, raste es durch Hans´ Gehirn. Eine Katze? Er hatte
eindeutig eine Katze schnurren gehört! Aber der Schatten, der sich da wie in Zeitlupe aus der
Dunkelheit schälte, konnte niemals eine Katze sein! Der Schemen, der tatsächlich aus der
Wand heraus zu kriechen schien, war mindestens sechzig Zentimeter hoch, für eine Katze viel
zu groß! Er spürte plötzlich diese Enge in seinem Oberleib, und das Brennen hinter seinem
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Brustbein machte ihm schmerzhaft bewusst, dass sich die verdammte Angina Pectoris5
wieder meldete. Scheisse, bitte nicht jetzt!, flehte Hans in Gedanken, Jetzt nur keinen
Herzkasper kriegen, alter Junge! S´ist nur´n verdammtes Katzenvieh, bestimmt aus dem
Kulturhaus übers Dach geklettert und durch eine Schiessscharte hereingekommen. Kein
Grund zur Panik, schön ruhig durchatmen!, versuchte er sich zu beruhigen, indem er wie
besessen seine Gedanken auf die Hoffnung zu fokussieren versuchte, es wäre eigentlich alles
in Ordnung, und ihm stünde tatsächlich nur eine Katze gegenüber. Und dann war das Wesen
aus dem Schatten herausgetreten, und Hans wünschte sich nichts sehnlicher als sein NitroSpray6, denn die Enge in seiner Brust nahm ihm fast vollständig den Atem, und es begann ihn
schwindlig zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Wesen an, das da ganz
ruhig vor ihm stand. Ein Wesen, eine andere Bezeichnung fiel Hans im Moment nicht ein für
das, was er vor sich sah. Von der Statur her war es tatsächlich eine Katze, daran bestand kein
Zweifel, aber das war es auch schon mit der Normalität. Das Tier war mindestens so groß wie
eine junge Ziege, und ob es sich wirklich nur um ein Tier handelte, darüber war er sich gar
nicht mehr sicher. Das Vieh hatte blaue Menschenaugen! Es schockierte ihn zutiefst, und er
befürchtete, den Verstand zu verlieren. So etwas konnte es doch nicht geben! Es ging ihm
über den Verstand. Unfähig, sich auch nur ein wenig zu rühren, starrte er in die Fratze der
Riesenkatze, die seinen Blick erwiderte, aus absolut menschlich wirkenden Augen, mit
runden Pupillen und hellblau leuchtender Iris. Und…die Katze grinste!
Sie bleckte nicht nur die Zähne, welche für sich allein ihm schon genug Angst für einen
mittleren Herzanfall gemacht hätten, nein, die blauen Menschenaugen unterstützten diesen
Eindruck eines höhnischen Grinsens noch!
Hans spürte, wie seine Beine begannen, zu zittern. Das Pochen seines Herzens hatte
Ausmaße angenommen, die er nicht lange würde überstehen können, dessen war er sich
sicher. Er hatte vor einem guten Dreivierteljahr einen leichten Vorderwandinfarkt erlitten,
und seitdem öfters Probleme mit seinem Kreislauf gehabt. Daher hatte ihm sein Hausarzt
mehrere Tabletten verordnet, unter anderem Beta-Blocker, die er seitdem täglich einnehmen
musste. Und das Nitro-Spray, welches durch seine gefäßerweiternde Wirkung die Symptome
seiner immer wiederkehrenden Angina Pectoris zu bekämpfen half, lag in seinem
Schreibtisch im Büro. Im Kulturhaus! Das Kulturhaus! Dorthin musste er fliehen, bevor das
Katzenmonster ihn durch seinen bloßen Anblick in den Herztod trieb! Seine
Bewegungsunfähigkeit fiel schlagartig von ihm ab, und wich einem panischen Aktionismus,
welcher seinen Puls allerdings zu noch extremeren Werten beschleunigte. Dies bemerkte
Hans in seiner Todesangst nicht. Er spurtete in Richtung des Treppenabgangs zum Ausgang
am Nordturm, rannte die enge Wendeltreppe hinunter. Das er besser einfach durch die
Verbindungstür zurück hätte laufen können, dass fiel ihm nicht ein, und das war einzig der
kopflosen Panik zuzuschreiben, die ihn befallen hatte. Unten an der Türe angekommen, fiel
ihm auf, dass er den Schlüssel nicht bei sich trug. Sackgasse!
Hans biss sich auf die Unterlippe, so fest, dass es blutete. Er spürte die warme Nässe auf sein
Kinn herunter laufen, und nahm den metallischen Geschmack auf seiner Zunge wahr. Er
drehte sich gehetzt um, wollte die Treppe wieder hinauf.
Die Katze!
Sie war ihm gefolgt, ganz ruhig, und stand nun einige Stufen weiter oben, und starrte ihn an.
Ihre furchtbaren, kalten Menschenaugen waren gleichauf mit den seinen. Das Vieh grinste
immer noch!
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„Brustenge“, Symptom der koronaren Herzkrankheit
Medikament gegen Angina Pectoris
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Hans blieb einen kurzen Moment stehen, völlig außer Atem, mit rasendem, schmerzendem
Herzen, und er bemerkte wieder dieses Schwindelgefühl, dass ihm die Besinnung zu rauben
drohte. Alles drehte sich, und er hatte Schwierigkeiten, seinen Blick auf das Monster zu
konzentrieren.
In diesem Moment sprang ihn das Tier an.
Mit einem gewaltigen Prankenhieb seiner rechten, klauenbewehrten Vorderpfote riss das
Katzenvieh ihm eine Furche durch sein Gesicht, die sofort ein brennendes Schmerzinferno in
seinem Gesicht auslöste. Er schlug mit einem verzweifelten Aufschrei die Hände schützend
vor das in unsäglichem Schmerz aufflammende Gebiet, doch es war bereits zu spät. Das Tier
hatte ihm eine tiefe Rissverletzung zugefügt, aus der es sehr stark blutete. Die Wunde reichte
von seiner linken Stirnseite schräg nach unten über die Nasenwurzel, das rechte Auge und
über die rechte Wange bis hin zum Ohr. Hans bemerkte sofort, dass etwas mit dem Auge
nicht in Ordnung war, denn er konnte nichts sehen. Er schob es in seinem Schockzustand, der
ihm durch die erhöhte Adrenalinausschüttung die größten Qualen vorerst ersparte, auf das
viele Blut, das ihm ins Auge gelaufen war. Dass er kein rechtes Auge mehr besaß, merkte er
nicht.
Wild um sich schlagend kämpfte er sich wieder die Wendeltreppe hinauf, musste mehrfach
die Zähne und Klauen der wild fauchenden Riesenkatze abwehren, was ihm weitere tiefe
Risse in beiden Armen verschaffte, und er schaffte es irgendwie wieder in den
Ausstellungsraum hinauf. Nur wenige Schritte trennten ihn noch von der vermeintlich
rettenden Verbindungstür in das Kulturhaus, als ihn die Katze mit einem Riesensatz
übersprang, sich blitzartig drehte, die Muskeln spannte, um ihm wieder ins Gesicht zu
springen. Die Wucht des Aufpralls brachte Hans aus dem Gleichgewicht. Er taumelte
rückwärts, während die Katze von ihm abließ, und er fiel auf sein Gesäß, was ihm sein
Steißbein sogleich mit einem dumpfen Schmerzerlebnis dankte. Und so saß er jetzt da, durch
zweieinhalb Meter und eine Riesenkatze von der Verbindungstür getrennt, und blickte in die
unheimlichen blauen Augen des Tieres. Alles drehte sich, die Schmerzen schwollen an. Sein
Gesicht und seine Arme brannten lichterloh, und sein Puls war für ihn bereits nicht mehr
fühlbar, so schnell schlug sein Herz. Er hatte dass Gefühl, sein Brustkorb müsse explodieren,
und sein Blut rauschte mit infernalischem Getöse durch seine Ohren. Sein linker Arm wurde
taub. Und in diesem Moment geschah das Unglaubliche!
Die Katze öffnete ihr Maul… und sprach!
„Du wirsst verrdammt ssein…“, krächzte es verzerrt aus dem Tiermaul, und fauchend
verkündete das Katzenwesen weiter: “Deine Sseele gehört zu Vincenze da Como, dem Herrrn
dess Ssteinss, und ihm wird ssie fürderhin dienen!“
Hans spürte, wie sein Herz immer wieder einen Schlag ausließ, und seine Atmung kam ihm
auf einmal viel zu flach vor. Er schaffte es aber nicht, auch nur ein wenig tiefer zu atmen, es
gelang ihm einfach nicht. Der Schmerz in seiner Brust schwoll wieder an, und ihm wurde
bewusst, was dies bedeutete. Er würde einen Herzinfarkt erleiden, und er hatte keine
Chance, daran noch vorbeizukommen! Hoffentlich packe ich das, dachte er voller Panik,
Hoffentlich überlebe ich diesen Mist hier, und er begann verzweifelt zu weinen, saß einem
sprechenden, riesigen Katzenvieh gegenüber, auf einem Auge blind, schwer verletzt und dem
Herztod nahe. Er dachte voller Angst noch einmal an seine Frau, sagte in Gedanken ein
letztes Mal Ich liebe Dich.
Und dann geschah es erneut!
Die Katze sprang!
Aber dieses Mal verletzte sie Hans nicht. Während sie auf ihn zuflog, zerfaserte ihre Gestalt
ganz seltsam, so dass es aussah, als würde sie sich in eine Vielzahl von Würmern verwandeln,
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die auseinander stoben, nur um sich dann einen Bruchteil einer Sekunde später wieder
zusammen zu fügen…In eine menschliche Gestalt!
Hans nahm nicht mehr wahr, dass ihn eine hundertstel Sekunde lang eine Frau angrinste, mit
zerfurchten, fast hölzern wirkenden Gesichtszügen. Sie war am ehesten mit den Hexen aus
den Märchen der Gebrüder Grimm zu vergleichen. Im nächsten Augenblick allerdings war
von der Frau, der Hexe, nichts mehr wahrzunehmen. Sie hatte sich einfach wieder in die
wurmartigen Gebilde zerfasert, und sich dann übergangslos in Nichts aufgelöst…
Hans Bruckner bekam davon nichts mehr mit. Zusammengesunken saß er mit blutenden
Wunden an Gesicht und Armen im Ausstellungsraum des Hexenturms. Sein Herz flimmerte
noch ganze acht Minuten, bevor es endgültig aussetzte.
Zu Atmen hatte Hans schon vor zwei Minuten aufgehört.
Und dann starb er.
Sonntag, 3. Februar 1546, Jülicher Land
Vor zwei Minuten ungefähr hatte Jacop das Stadttor hinter sich gelassen. Jetzt bereits
vollkommen außer Atem, erreichte er den Übergang über die Rur. Noch ein paar Minuten
wollte er im Schutze der Dunkelheit weiterlaufen, um sich dann ein, vielleicht zwei Stunden
im Wald zu verstecken, bis er sicher war, dass ihm niemand gefolgt war. Der Schreck saß ihm
zwar immer noch in den Gliedern, aber er war wieder in der Lage, klare Gedanken zu fassen.
Dieses verdammte Katzenvieh!, dachte er bei sich. Das Tier hatte ihn derart erschreckt, dass
er sich zu lautstarken Flüchen hatte hinreißen lassen. Er ärgerte sich über so viel
Unprofessionalität, und schwor sich in Gedanken, nie wieder so unbedacht zu handeln. Aber
die Katze war auch zu unheimlich gewesen. Er hätte schwören können, mit den Augen des
Tieres stimmte etwas nicht. Irgendwie wirkten sie nicht wie die Augen einer Katze. Wenn er
sich recht erinnerte, waren die Pupillen in den Augen des Tieres nicht hochkant stehende
Ellipsoide, sondern es handelte sich um runde Pupillen! Wie bei einem Menschen! Und blau
waren diese Augen, leuchtend blau! Welche Laune der Natur mochte diese Kreatur wohl
geschaffen haben? Jacop war sich sicher, Der Herrgott hatte mit diesem Tier nichts zu
schaffen. Aber das war jetzt unwichtig. Jacop musste sich ein Versteck suchen, in dem er die
nächsten zwei Stunden ausharren konnte, um den etwaigen Verfolgern zu entgehen, die auf
seiner Fährte waren. Oder zumindest sein mussten, denn bei dem Lärm, den er bei seiner
Flucht, erschrocken fluchend durch die unheimliche Katze, verursacht hatte, war es mehr als
unwahrscheinlich, dass niemand ihn bemerkt hatte…
Schon nach kurzem Suchen entdeckte Jacop die ideale Zuflucht. Ein Erdloch, umwachsen von
einem schulterhoch gewachsenen, dornenbewehrten Gestrüpp, nahm ihn auf, und sogleich
war er für seine Umwelt unsichtbar. Hier findet mich bestimmt niemand, dachte er zufrieden
bei sich. In spätestens zweieinhalb Stunden bin ich wieder zu Haus bei Weib und Kindern, und
dann gibt es erst einmal einen kleinen Festschmaus! Zuversicht machte sich in der
Gedankenwelt des versteckten Diebes breit, und so harrte er in dem Erdloch der Dinge, die
da kommen mochten. Und die Dinge kamen. In Form einer großen, schwarzen Katze!
„Ich ssehe dich, Sstroclch, und Du wirsst mir nicht entgehen!“, zischte plötzlich eine
verzerrte, kaum an eine menschliche Stimme erinnernde Lautfolge an Jacops Ohr. Das ist
doch nicht möglich!, dachte er bei sich, Wie um alles in der Welt kann mich jemand hier
entdeckt haben? Ich bin bestimmt nicht zu sehen! Die Sträucher sind absolut dicht, nichts ist
von außen zu sehen! Angsterfüllt und gehetzt sah sich Jacop die Sträucher um ihn herum an.
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
10
Nichts. Nicht die kleinste Lücke, durch die er etwas hätte erkennen können, was sich
außerhalb seines Erdloches abspielte. Sicher handelt es sich um einen Täuschungsversuch
seiner Häscher, die ihn nun verfolgten. Sicher können sie mich nicht finden, und hoffen, ich
falle auf ihre Finte herein!, dachte Jacop. Ich muss nur weiter stillhalten, dann geschieht mir
nichts!
„Ja, halt nur sstill, kleiner Dieb, sso isstss recht. Und ssieh mal nach oben, wenn ess dir
nichtss aussmacht, Purrrr!“, erklang es wieder mit dieser unwirklichen, fauchenden Stimme
direkt über ihm, gefolgt von einem Schnurren, dass so gar nicht behaglich klang. Jacop
rutschte das Herz buchstäblich in die Hose. Langsam hob er den Kopf, mit vor Angst
zugekniffenen Augen, und er hoffte inständig, nichts zu entdecken, wenn er sie öffnete. Es
konnte doch nicht sein! Niemals war er erwischt worden, und er hatte ja auch niemals etwas
wirklich Schlechtes getan. Das bisschen Essen, dass er denjenigen nahm, die ohnehin im
Überfluss besaßen, dass konnte ihm doch nicht derartige Schwierigkeiten machen. Herrgott
im Himmel, ich flehe dich an, lass es nur eine Finte sein!, schickte er ein Stoßgebet gen
Himmel, und öffnete nun langsam die Augen. „Keine Menschenseele!“, entfuhr es ihm in
Flüsterlautstärke, und sogleich hielt er die Luft an, als er sich der Dummheit gewahr wurde,
die er so gerade wieder einmal begangen hatte. Idiot, schollt er sich selbst in Gedanken,
Wieso musst Du immer in genau den Augenblicken laut werden, in denen du die Klappe
halten solltest? Du verhältst Dich eher wie ein Narr als wie ein Dieb!
„Weil du ein Idiot bisst!“, fauchte es aus dem Geäst der Bäume über ihm!
Jacop´s Herz machte einen Sprung. Wie war das möglich? Er war sich sicher, keine
Menschenseele über sich ausgemacht zu haben! Wieder hob er seinen Blick, um etwas
Menschliches in den Bäumen zu entdecken, und nun wurde ihm sein Irrtum schlagartig klar:
Er hatte in den Bäumen gar nichts Menschliches entdecken können, weil in ihnen nichts
Menschliches war! Aber die schreckliche Katze, die mit den kalten blauen Menschenaugen,
starrte ihn mit gefletschten Zähnen an! Sie hockte, durch die Dunkelheit geschützt, in einer
Astgabelung, und es waren lediglich die Augen und die scheußlichen Zähne zu sehen.
„Herrgott verdammich!, entfuhr es Jacop, und er sprang wie vom wilden Affen gebissen auf,
und versuchte der Kreatur zu entkommen. Er rannte ohne Rücksicht auf seine Kleider
schnurgerade nach vorne, und durchbrach das Gestrüpp, wobei er sich einige Risse sowohl in
seiner Kleidung als auch an Gesicht und Händen zuzog. Mit zusammengebissenen Zähnen
und Tränen in den Augen rannte er auf die Brücke zu und versuchte wieder in Richtung seiner
Hütte zu fliehen. Ihm war es egal, ob er von Bewohnern der Stadt gesucht wurde oder nicht,
er wollte nur weg von dieser Höllenkreatur, denn was anderes kann eine Katze sein, die sich
der menschlichen Sprache bedient? So etwas durfte es doch gar nicht geben!
Außer Atem, sowohl vor Schreck als auch durch die Anstrengung der letzten Minuten,
erreichte Jacop die Brücke. Gehetzt blickte er über seine Schulter hinter sich, und was er aus
den Augenwinkeln dort zu sehen bekam, ließ ihn stolpern und hinfallen. Er drehte sich auf
den Rücken und schaute mit schreckgeweiteten Augen auf das Schauspiel, das sich ihm bot.
Die schwarze Katze löste sich auf!
Sie verwandelte sich vor Jacops Augen in eine Legion unheimlicher Würmer, die auseinander
stoben, nur um im nächsten Augenblick wieder aufeinander zu zu fliegen. Und plötzlich
erschien dort, wo Bruchteile von Sekunden zuvor noch die Katze war, eine Frauengestalt!
„Jungfrau Maria, beschütze mich!“. Rief Jacop verzweifelt. In Augenblicken solcher Panik rief
Jacop seit seiner Begegnung mit dem Bären immer die Jungfrau Maria zu Hilfe, denn damals
hatte sie ihm seiner Meinung nach das Leben gerettet. Er wollte sich hochrappeln und weiter
vor der Frauengestalt fliehen, denn sie musste mit dem Teufel persönlich im unheiligen
Bunde stehen, soviel stand für ihn fest. Aber er konnte einfach seine Blicke nicht vor ihr
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
11
lassen. Die Frau, nein, die Hexe, denn es musste eine sein, war von mittlere Größe, und
schlank gebaut. Jedenfalls nach dem, was man von ihr in dem weiten Umhang erkennen
konnte. Der Umhang war in Hüfthöhe mit einem Gürtel gebunden, und das allein offenbarte
einen eher zierlichen Wuchs. Sie bewegte sich nun mit federnden, schnellen Schritte auf
Jacop zu, also musste sie zudem recht jung sein. Dies stand aber in krassem Gegensatz zu
dem, was Jacop nun zu sehen bekam: Die Hexe schritt noch ein wenig näher an ihn heran,
und blieb stehen. Und in genau diesem Augenblick trat der Mond hinter einer Wolke hervor
und schickte sein Licht auf das Gesicht der Frau!
Jacops Atem stockte. Dieses Gesicht! Es konnte nicht sein! Es sah nicht aus wie das Gesicht
einer jungen Frau, nicht einmal wie dasjenige eines alten Weibes. Die Haut hatte einen
braunen, fast grauen Farbton, und es war derartig von Falten zerfurcht, dass es mehr an Holz
denn an Haut erinnerte. Einzig die leuchtenden, kalten blauen Augen bewiesen Jacop, dass in
diesem Körper so etwas wie Leben hausen mochte. Aber es konnte kein von Gott
geschaffenes Leben sein, da war Jacop sich sicher. Hier hatte der Antichrist seine Klauen im
Spiel!
In diesem Augenblick kehrte wieder Leben in seine Beine zurück. Er sprang auf, und begann
zu rennen. Verzweifelt wollte Jacop vor dieser Kreatur fliehen, und ein Blick zurück bewies
ihm, dass es noch Hoffnung für ihn gab. Die Hexe folgte ihm nicht!
Stattdessen begann sie, unverständliches Zeug zu murmeln, um schließlich laut mit auf Jacop
gerichteten Händen auszurufen: „Consisto!7“
Im selben Augenblick, in dem die Hexe ihre Beschwörung mit dem lauten Ausspruch geendet
hatte, wurden Jacops Gliedmaßen steif. Er blieb wie angewurzelt stehen. Verdammt, was
geschieht hier mit mir?, dachte er verzweifelt. Er versuchte verzweifelt, unter Aufbietung all
seiner Kräfte, sich weiter von der Stelle zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Er stand wie
angewurzelt da, konnte keinen Schritt mehr tun. Er konnte Atmen, er konnte Blinzeln, aber
das war es auch schon. Na toll, dachte er, und wie geht es jetzt weiter? Ihm war klar, dass er
verhext, ja verflucht sein musste, aber zu welchem Zweck, das war ihm noch nicht klar.
„Lass mich dir auf die Sprünge helfen“, ertönte die nun gar nicht mehr verzerrte Stimme der
Hexe. „Du hast gestohlen, ich habe dich gesehen, und nun musst Du für deine Sünden
büßen!“ Mit diesen Worten wandte sich die Hexe zum gehen, und ließ Jacop allein mit sich
und dem Diebesgut zurück an der Brücke stehen. Er konnte sich noch immer keinen
Millimeter bewegen, und so stand er nun da. Er konnte das schallende Lachen der Hexe noch
lange hören, während sie sich in Richtung Stadttor entfernte, und der Duft geräucherten
Schinkens wehte ihm um die Nase. „Verfluchtes Fleisch!“, entfuhr es ihm. Eine Träne der
Verzweiflung rann ihm über die rechte Wange…
€
„Seht nur, da kommt dieses Weib wieder daher. Was sie wohl wieder kaufen will? Und
wovon, so frage ich mich? Was meint ihr dazu, werter Herr Goddert? Woher hat diese Hexe
das ganze Geld?“
„Ich weiß nicht recht, werte Jungfer Schiffer“, antwortete Carl Goddert wahrheitsgemäß der
alten Frau Schiffer, die sowohl eine alte Jungfer als auch ein berüchtigtes, stadtweit
bekanntes Klatschweib war. „Vielleicht verdient sie ja mit dem Mischen ihrer Kräutersalben
und Tees doch genug, um davon ihren Unterhalt zu bestreiten. Man sagt, sie könne die
Zukunft aus der Hand eines Jeden lesen. Vielleicht erhält sie dafür ja auch ein paar Kreuzer.
7
Consisto (latein.)= Stehen bleiben!
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
12
Was geht es uns an? Lassen wir die Catharina doch in Ruhe.“
„Catharina?“, fauchte die Alte angewidert zurück. „Nennt ihr das unheilige Weib nun schon
beim Taufnamen? Passt auf, liebster Goddert, passt auf, nicht dass euch das Weib bereits
verflucht hat… Sie muss eine Hexe sein, bei dem was sie so alles kann. Bedenkt, niemand hier
in Jülich weiß, woher das Frauenzimmer stammt, sie könnte direkt aus dem Reich des Teufels
zu uns gekommen sein!“ Hastig bekreuzigte die Alte sich, als fürchte sie ein Unheil auf sich
zukommen.
„Unsinn, jedermann weiß doch, dass Catharina Elisabeth Schuif eine ehrbare Frau aus dem
Gelderlande ist, die der Heilkunde und anderer ganz und gar irdischer Künste befähigt ist.
Unterlasst bitte solch törichte Andeutungen. Was, wenn über euch solch ehrverletzende
Dinge in die Welt gesetzt würden?“ Goddert konnte das Geschwätz dieser alten Schachtel
noch nie leiden, und außerdem fand er die junge, attraktive Frau aus dem Gelderland
anziehend. Das durfte allerdings seine Frau Anna nicht erfahren, sonst war es mit der Ruhe in
den eigenen vier Wänden erst mal wieder vorbei, so wie damals, als er der Magd des
Herzogs nachgestiegen war. Wochenlang hatte sie ihm das Essen so gewürzt, dass es
erbärmlich schmeckte, und abends im Bett, wenn er sich seiner Frau nähern wollte… Allein
bei dem Gedanken daran meinte er ein Echo des Schmerzes zu spüren, den er damals
zwischen seinen Beinen verspürte. Als sie ihm mit aller Kraft ihr Knie in die „edleren“
Körperteile rammte.
„Und sie ist doch eine verdammte Hexe, ich sage es euch!“, zeterte die alte Schiffer, und
verdrückte sich in Richtung einer Gruppe anderer Frauen, die ebenfalls den Markt besuchten.
Dort würde man ihren Warnungen und Befürchtungen bezüglich der „Hexe aus dem
Gelderland“ schon mehr Interesse entgegenbringen…
Ach, halt doch die Klappe, dachte Carl Goddert bei sich. Er hielt nichts von dem Geschwätz
der Weiber, und von Hexen und solcherlei Humbug schon gar nichts. Er konnte nie verstehen,
warum die ansonsten doch so ehrbare, heilige katholische Kirche sich zu solchen
Verrücktheiten wie der Hexenverfolgung herablassen konnte. Kein Wunder, dass es der
Luther satt hat, und eine reformierte Kirche gründet, dachte er. Immer, wenn eine Frau etwas
kann, das sich nicht jede dahergelaufene Magd erklären kann, wird gleich eine Hexe aus der
armen Frau gemacht. Überall im Land hörte man von den Hexenjagden, der Verbrennung der
Frauen auf dem Scheiterhaufen, wenn sie nach unmenschlicher Folter ihre „Hexerei“
gestanden hatten. Pah, dachte Goddert, Geständnis! Bei den Foltermethoden gesteht doch
ein jeder alles! Nur, um weiterer Folter zu entgehen! Was beweist das schon?
Carl Goddert jedenfalls war froh, dass der Hexenwahn in Jülich nie so recht Fuß fassen
konnte. Vielleicht lag es daran, dass diese Stadt klein war, und ihre Einwohner hauptsächlich
Bedienstete der ansässigen Herzogsfamilie. So richtig schwere Armut herrschte in Jülich
nicht, jedenfalls nicht innerhalb der Stadttore. Diejenigen, welche außerhalb der Mauern
hausten, mochten aufgrund ihrer bitteren Armut und dem damit einhergehenden Mangel an
Bildung zu Aberglauben neigen, aber die so genannte angesehene Bevölkerung Jülichs hatte
mit solcherlei Hirngespinsten mehrheitlich sicher nichts im Sinn. Und natürlich trug der
Leibarzt des Herzogs, der angesehene Herr Johannes Wierus8, in gewisser Weise zur
Aufgeklärtheit des Jülicher Volkes bei, denn er kämpfte schon lange mit guten und
wissenschaftlichen Argumenten gegen den Hexenwahn an, sehr zum Ärgernis der Kirche, der
es eigentlich immer sehr gelegen kam, für alles nicht so leicht erklärbare die Hexerei
verantwortlich zu machen. Dieser Johannes Wierus arbeitete seit Jahren bereits an einem
8
Johannes Weier (Wierus) 1516-1588, Leibarzt am Hofe Herzog Wilhelms
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
13
Buch, das den Titel „De praestigiis Daemonum9“ tragen sollte. Von Seiten der Kirche wurde
ihm lediglich mitgeteilt, dass sein Buch einem Affront gegen die guten gläubigen Bürger der
Stadt gleichkäme, und man sehr davon überzeugt sei, dass sein Buch, wenn es denn
erscheinen sollte, sehr schnell wieder auf dem Index landen würde.
Den Bürgern der Stadt war dies mehrheitlich ziemlich egal, denn nicht einmal ein Viertel der
Jülicher konnte Lesen, geschweige denn Schreiben. Und so kannten die wenigsten die
humanistischen Ansichten des hochintelligenten Arztes. Nicht so Carl Goddert. Er hatte
bereits in vielen Gesprächen mit eben jenem Wierus erfahren, wie es sich mit der Hexerei
wirklich verhielt.
„Carl“, so sagte Johannes Wierus eines Abends im Jahre des Herrn 1544 zu seinem Freund
Goddert, “ich will ja gar nicht die Existenz des Teufels und des Teufelspaktes bestreiten, aber
ich bin der Meinung, dass wir die der Hexerei beschuldigten Frauen ihrer Verantwortung
entbinden sollten. Ich erkläre diese Frauen für einfältig und töricht! Diese Weibsbilder bilden
sich ihre Gräueltaten lediglich in ihrer Phantasie ein, und bedürfen wahrlich eher eines
Arztes, wie ich einer bin, als sie der Folter und des Scheiterhaufens bedürfen. Ich bin fest
davon überzeugt, dass der Satan höchstpersönlich den Menschen diesen ganzen Unfug der
Hexenlehre vorgaukelt, damit sie durch die Hexenprozesse, die ich für die grausame
Ermordung unschuldiger Menschen halte, gegen die Gebote Gottes verstoßen!“
Carl Goddert war seit diesem Abend von der Richtigkeit der Lehre des Arztes überzeugt.
Umso mehr erregte es ihn nun, dass die Waschweiber der Stadt ausgerechnet die schöne
Catharina zur Hexe erklären wollten.
€
Wie jede Woche, so betrat Catharina Elisabeth Schuif, die Frau aus dem Gelderland, die von
den alten Weibern der Stadt auch immer wieder als die „Hexe aus dem Gelderland“
bezeichnet wurde, die Stadt durch das Rurtor. Sie wusste, dass man hinter ihrem Rücken
schlecht über sie redete, dass man sie als Hexe bezeichnete, aber das war ihr egal. Die Leute
hatten ja Recht! Sie war eine Hexe! Eine sehr gute noch obendrein! Aber natürlich war es ihr
lieber, die Leute hielten es für ein unheimliches Gerücht, dass niemand offen vor ihr
auszusprechen wagte. Sie hatte keine Lust, auf einem Scheiterhaufen zu enden, wie so viele
ihrer Schwestern dieser Tage.
Aber heute war ein besonderer Tag. Sie wusste nicht warum, aber vor zwei Nächten war sie
plötzlich aufgewacht, und sie wusste, wohin sie zu gehen hatte. Ein telepathischer Auftrag,
von wem oder was wusste sie nicht, brachte sie dazu, einen armen Mann, der in einer
Lehmhütte vor der Stadt mit seiner Familie ein armseliges Leben fristete, zu beobachten.
Und so fand sie heraus, dass der Mann stahl. Er nahm nicht viel, nur Lebensmittel, und er
nahm nur den Reichen, aber es war dennoch Diebstahl. Normalerweise wäre es Catharina
vollkommen egal gewesen, denn sie nahm es mit den Gesetzen selber nicht so genau. Aber
die telepathischen Botschaften der letzten Nächte verlangten von ihr, diesen Mann der
Jülicher Bevölkerung als Dieb zu präsentieren. Und es kam ihr nicht in den Sinn, diese
Botschaften einfach zu missachten, und den armen Mann in Frieden zu lassen. Es war ihr
schließlich bewusst, dass sie eines Tages einen Preis für ihre Hexenfähigkeiten zu zahlen
hatte, und sie wollte auf ihrer Rechnung keinesfalls einen missachteten Auftrag stehen
sehen. Die dunklen Mächte sind von solchen Dingen nämlich nicht gerade angetan, und auf
9
„De praestigiis Daemonum et incantationibus ac Veneficiis“, zu Deutsch: “Von Teuffelsgespenst, Zauberern
und Gifftbereytern/Schwartzkünstlern/Hexen und Unholden”, erschienen 1563
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
14
eine Bestrafung durch die Dämonen der Hölle wollte sie dankend verzichten. Eher würde sie
sich der Inquisition10 freiwillig stellen! Und so hatte sie den Mann, sein Name war Jacop, in
der letzten Nacht in ihrer Katzengestalt begleitet, hatte seine armseligen Raubzüge
beobachtet, und auf den richtigen Moment gewartet, ihn gehörig zu erschrecken. Gerade, als
er mit zwei frisch gestohlenen Schinken das Haus der Godderts verlies, hatte sie ihn
angefaucht, und natürlich hatte der arme Tropf sich vor Schreck fast in sein Wams gemacht
und Fersengeld gegeben. Im Wald nahe der Brücke, fast direkt am Fluss, hatte sie ihn aus
einem Erdloch getrieben, in dem er sich versteckt hatte, und ihn mit einem gekonnten Fluch
„stehen lassen“. Der arme Kerl stand dort jetzt immer noch im Wald, mit dem gestohlenen
Fleisch im Leinensack auf dem Rücken, und konnte sich keinen Finger breit rühren.
Und nun war sie in die Stadt gekommen, um die wilde Meute auf ihn zu hetzen. Sicher waren
schon alle außer sich vor Zorn, wegen des gestohlenen Fleisches. Der arme Mann tat ihr
ehrlich leid, aber Auftrag war Auftrag, da konnte sie nichts machen. Normalerweise nutzte
Catharina ihre Fähigkeiten nur zu ihren eigenen Gunsten, und schadete anderen damit nicht.
Abgesehen von eben solchen kleinen Befehlen, die sie auf telephatischem Weg erreichten,
und die sie immer sofort ausführte.
Catharina ging in die Mitte des Marktplatzes, und begann ohne Umschweife laut zu rufen:
„Ihr guten Leute! Eilt herbei! Ich habe euch von einem hinterhältigen Diebstahl zu berichten,
der einige von euch bitter traf in der vergangenen Nacht! Ihr wurdet hinterlistig um euer Hab
und Gut gebracht!“
Zunächst schien es ihr so, als würden die Leute auf dem Markt sie nicht hören, denn im
ersten Augenblick sah es so aus, als ob die Stadtbewohner sie ignorierten, und ihren eigenen
Geschäften weiter nachgingen. Daher versuchte sie es erneut, rief wieder die Menschen
zusammen, und erzählte, drei Familien seien in der vergangenen Nacht bestohlen worden,
und sie wisse, wer diese drei Familien seien. Nun zeigten sich erste Reaktionen bei den
Menschen.
„Wer wurde denn bestohlen?“, rief ihr Carl Goddert zu, der sich diese Gelegenheit, mit
Catharina ins Gespräch zu kommen, nicht entgehen lassen wollte.
„Ihr, Herr Goddert, gehört auch zu den Opfern des feigen Diebes, der Nächtens euer Haus
heimsuchte!“
„Hört euch dieses dumme Geschwätz an!“, keifte die alte Schiffer quer über den Marktplatz.
„Wie soll die verrückte Schuif denn wissen, wer bestohlen wurde, wenn sie es nicht selbst
getan hat?“
Zustimmendes Gemurmel von den anderen Frauen, die sich am Gemüsestand um die
Schiffer versammelt hatten, um ein Schwätzchen zu halten.
„Hütet eure Zungen!“, sagte Goddert bestimmt, “die Frau Schuif wird schon einen Grund
haben, einen solchen Verdacht zu äußern. Vielleicht hat sie ja etwas Verdächtiges
beobachtet?“
„Jawohl, das habe ich“, antwortete Catharina schnell, dankbar für Godderts Hilfestellung.
„Ich habe zufällig gesehen, wie in der vergangenen Nacht ein Mann in die Häuser der
Familien Hauffe, Schiffer und Goddert eindrang, und sich des Fleisches bemächtigte, das sich
in den Rauchfängen befand. Ich bin ihm nachgegangen, um herauszufinden, wo er sein Heim
hat. Aber leider hat er mich entdeckt und ist entflohen!“
„Seht ihr, da habt ihrs! Es gibt eine plausible Erklärung für ihr Wissen um die angeblichen
Diebstähle! Und ihr verdächtigt die Catharina gleich, nur weil ihr sie nicht ausstehen könnt.
10
Inquisition= Untersuchung (hier) der katholischen Kirche
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Ihr solltet euch schämen!“, fuhr Goddert die tratschenden Weiber an.
„Pah! Selbst gestohlen hat sie! Versucht nur, die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu
schieben, damit man sie nicht am Ende noch erwischt! Oder glaubt ihr allen Ernstes, dass ein
ausgewachsener Mann, der noch dazu angeblich ein Dieb ist, sich von einer dahergelaufenen
Dirne aus dem Gelderland in die Flucht schlagen lässt? Lügenmärchen sind es, sonst nichts!“
„Halt jetzt den Mund, aber sofort!“, donnerte Goddert. „Wie kannst du es wagen, eine
ehrbare Frau in aller Öffentlichkeit als Dirne zu beschimpfen? Schämen solltest du dich!“
„Schämen sollte sich doch wohl die verdammte geldrische Hexe! Ich gehe jetzt nachsehen,
ob es stimmt, dass ich bestohlen wurde. Und wenn es wirklich zutrifft, dann werden wir das
Weibsbild der Gerichtsbarkeit überantworten. Und dann werden wir ja sehen, ob sie eine
Hexe ist oder nicht!“
Mit hochrotem Kopf machte sich die Alte auf den Weg zu ihrem Haus, das direkt am
Marktplatz gelegen war. Dann blieb sie noch einmal kurz stehen, drehte sich um, und sagte: „
Johann Küffer, sofort nimmst Du dieses Weibsbild, ach was sage ich, diese Hexe in
Gewahrsam! Sie ist des Diebstahl verdächtig!“
Johann, der eigentlich nur der Küster der Propsteikirche war, aber immer schon dazu neigte,
seine Kompetenzen zu überschreiten, rief nur ein knappes „Ja, Frau Schiffer!“, und schnappte
sich Catharina. Unsanft packte er sie am Arm, so dass sie vor Schmerz aufstöhnte.
„Stell dich nicht so an, unheilige Kuh!“, blaffte Johann.
Auch er war wie die Schiffer felsenfest davon überzeugt, dass Catharina eine Hexe war. Ginge
es nach ihm, würde sie noch heute auf dem Scheiterhaufen brennen. Und mit ihr am Besten
das ganze Gesindel, dass sich nicht zumindest einmal die Woche in der Kirche blicken ließ.
Für ihn war die Hälfte der Menschheit gottloses Pack, und gehörte ausgemerzt.
Aber in dieser Stadt ist man ja als ehrbarer Christ kraft Gesetzes nicht mehr in der Lage, für
Zucht und Ordnung zu sorgen, dachte Johann, und alles nur, weil dieser Herzog, dieser
Wilhelm, so ein verdammter Freigeist ist. Eifert diesem verrückten Humanismus nach. Pah!
Er selbst schätzte eher Leute wie Heinrich Insitoris und Jakop Sprenger. Das waren Männer
nach seinem Geschmack. Er hatte deren Buch „Malleus maleficarum“ schon mindestens
zwanzig Mal gelesen, ja geradezu verschlungen. „Malleus maleficarum“, der „UnholdinnenHammer“, den alle aber nur den „Hexen-Hammer“ nannten. In diesem Buch, dass nach
Johanns Meinung auch der Herrgott persönlich geschrieben haben könnte, brachten die
Autoren erstmals nur Frauen mit der Hexerei in Verbindung, ganz im Gegensatz zur
päpstlichen „Hexenbulle“, die Papst Innozenz VIII. am 5. Dezember im Jahre des Herrn 1484
unterzeichnet hatte. Damals legte der spätere Autor des Hexenhammers, Heinrich Insitoris,
dem Papst ein selbstverfasstes Schreiben vor, welches mit den Worten „Summis desiderantes
affectibus“11 begann. Mit seiner Unterschrift bestätigte der Papst Insitoris die Existenz der
„verderbenden Hexen“, und warf damit eine bisher gültige kirchliche Lehrmeinung (Canon
episcopi) über den Haufen. Viele Menschen waren der Meinung, der Papst sei sich
überhaupt nicht im Klaren gewesen, was er da eigentlich unterschrieben hatte, aber das war
nur Gewäsch für Johann. Mit der Bulle in der Hand war es Insitoris damals gelungen, seine
bis dahin eher mühsame Hexenjagd auf eine breitere Basis zu stellen.
Dem Herrgott ein Dank dafür!, dachte Johann bei sich. In den letzten 62 Jahren seit
Veröffentlichung der Hexenbulle waren unzählige dieser unseligen Frauen einer in Johanns
Augen hochverdienten Strafe zugeführt worden. Nur hier in Jülich war dies ein wenig anders.
11
„Mit unserem sehnlichsten Wunsche…“- Anfangstext der Hexenbulle 1484
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Wurden andernorts Frauen nach kurzen Prozessen auf den Scheiterhaufen geführt, nur weil
sie zum Beispiel einen Mann falsch angesehen hatten, so galt der Glaube an die Hexerei am
Hofe Herzog Wilhelms weithin als Aberglaube, zumindest aber die Verfolgung der Frauen als
altmodische Scharlatanerie. Nicht so für Johann. Er hielt es da mit dem „Hexenhammer“.
Und sein profundes Wissen, dass natürlich nur aus diesem Buch stammte, tat er auch jedem
kund, ob derjenige dies nun wollte oder auch nicht.
„Herzog Wilhelm macht einen großen Fehler mit seinem Unglauben! Im „Malleus
maleficarum“ steht geschrieben, ich zitiere: Allein das Leugnen des Hexenglaubens ist als
verwerfliche Ketzerei anzusehen und daher jede Kritik an der Hexenverfolgung
selbstmörderisch. Alle Menschen, die die Meinung vertreten, es gäbe keine Dämonen und
Hexen, sondern dass die Menschen ihre Irrtümer auf selbsterdachte Gestalten schieben,
haben als Ketzer zu gelten!“
Solche und ähnliche Reden schwang der Küster oft in der Stadt.
Und mit dieser Meinung stand Johann Küffer in Jülich nicht alleine da. Neben der alten
Schiffer und ihren Freundinnen gab es noch zahlreiche Bürger in der Stadt, die dem
Hexenglauben etwas abgewinnen konnten. Hauptsächlich handelte es sich bei diesen Leuten
um arme, ungebildete Menschen, die aus lauter Bequemlichkeit lieber gleich alles glaubten,
was man ihnen von der Kanzel predigte, als selbständig zu denken. Nur traute sich fast
niemand von ihnen, dies öffentlich zuzugeben, da die Stadt nun mal von einem Herzog
regiert wurde, der von all dem nichts hielt. Und die Annehmlichkeiten des Lebens in einer so
gut befestigten Stadt wie Jülich wollte keiner der Bürger freiwillig wieder aufgeben.
„Lasst mich gehen, werter Küster Küffer, ihr müsst nicht auf die Jungfer Schiffer hören! Habt
doch ein Nachsehen mit mir! Ich habe nicht gestohlen, so glaubt mir doch. Aber ich weiß,
wer bestohlen wurde und von wem!“, flehte Catharina den Küster an.
„Still, Weib! Ich muss der Frau Schiffer nicht gehorchen, da hast du wohl Recht! Aber ich will
es gern tun, denn auch ich glaube eher an deine Schuld als an deine Lügengeschichten!
Warte nur ab, wenn tatsächlich das Fleisch fehlt, werden wir hier kurzen Prozess mit dir
machen, Herzog hin oder her!“
„Das dürft ihr nicht, und ihr wisst es! Der Herzog wird euch bestrafen lassen!“
„Pah!“, blaffte Johann die verängstigte Frau an. „Wegen einer Hexe? Da kann uns der Herzog
nicht bestrafen wollen. Wir werden Jülich von euch Gesindel reinigen, und dann wird selbst
der Herzog seinen bisherigen Irrglauben einsehen und uns unterstützen! Und jetzt schweig,
bevor ich dir das Maul stopfe!“, herrschte Johann die junge Frau an und verstärkte seinen
Griff um ihre Oberarme, so dass ihr Gesicht einen schmerzverzerrten Ausdruck annahm.
Sie würde noch Tage später blaue Flecken davon zurückbehalten. Geschieht ihr nur recht,
dachte Johann zufrieden, und drückte noch ein wenig fester zu.
Diese Hexe! Glaubt sie doch tatsächlich, ich würde der Schiffer gehorchen! Auf ein Weib
hören! Ich, Johann Küffer, der Küster der Propsteikirche, und auf die Worte eines Weibes
etwas geben! Unglaublich!, dachte Johann, während er, Catharina in einem
schraubstockfesten Griff gepackt, auf die Rückkehr der Schiffer wartete. Johann würde nie
etwas auf die Worte einer Frau geben. Das ließ sein Frauenbild gar nicht zu. Und nach diesem
Frauenbild, welches Heinrich Insitoris nicht unmaßgeblich mitgestaltet hatte, war die Frau
sowohl biologisch als auch metaphysisch12 minderwertig. Für Johann ging dies natürlich aus
12
Metaphysisch= jede mögliche Erfahrung überschreitend
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
17
der Genesis13 hervor, nach der sie aus einer krummen Rippe Adams geformt wurde. Das
heißt, aus einer Brustrippe, die sowohl gekrümmt als auch dem Mann entgegen geneigt war.
Aus diesem Mangel resultierte nach Johanns Ansicht auch, dass das Weib seine
Unvollkommenheit in biologischer und rationaler Hinsicht mit Lüge, Hinterlist und Habgier
auszugleichen versuchte. All dies passte in seiner Gedankenwelt auf Catharina Elisabeth
Schuif, die für ihn nur die Hexe aus dem Gelderland war.
Johann zitierte in der Schenke, wenn er unter den betrunkenen Männern ein offenes Ohr
fand, gerne Cato14, Seneca15 und Tullius16 mit den Worten: „Weint ein Weib, so sinnt es
gewiss auf listige Tücke.“ Oder: “Zwei Arten von Tränen sind in den Augen der Weiber, die
einen für wahren Schmerz, die anderen für Hinterlist; sinnt das Weib allein, dann sinnt es
Böses.“ Besonders oft bekam man von Johann auch zu hören: „Die Weiber treibt zu allen
Schandtaten nur eine Begierde: Denn aller Weiberlaster Grund ist die Habsucht!“
Letztendlich war es für Johann auch kein Wunder, dass die Weiber zumindest seiner Meinung
nach einen geringeren Glauben hatten als die Männer. Er hatte einmal einen Text gelesen,
der ihn zutiefst faszinierte, und während er noch mit der jungen Hexe Catharina am Arm auf
die Rückkehr der alten Schiffer wartete, (Wann kommt das Weib denn endlich zurück? Sie
wollte doch nach fehlendem Fleisch sehen, nicht es aufessen!), rief er sich diesen Text noch
einmal ins Gedächtnis: Dass die Frau von Natur aus einen geringeren Glauben hat und sie in
allen Kräften der Seele, des Leibes und des Verstandes mangelhaft ist, geht aus dem
Schöpfungsbericht hervor, da Eva an den Worten Gottes zweifelte und Adam verführte. Ein
weiteres Indiz ist die Etymologie17 des lateinischen Begriffes für Frau; das Wort ‚Femina’
kommt von’ fe’ und ‚minus’, wobei’ fe’ abgeleitet wird von’ fides’, und ‚Glaube’ heißt,
während ‚minus’ ‚weniger’ bedeutet. Demnach bedeutet’ femina’ „Die weniger Glauben hat“.
Und damit war für Johann bewiesen, dass Frauen von Natur aus schlecht, und somit allesamt
der Hexerei zumindest verdächtig waren.
“He, da kommt die Schiffer! Jetzt kannst Du was erleben, verdammte Hexe!“, entfuhr es dem
Küster. In Gedanken schichtete er schon eigenhändig einen hübschen Scheiterhaufen für
Catharina auf…
€
„Packt die Diebin“, brüllten die Schiffer, während sie mit tiefrotem Kopf auf ihren dicken
Beinen auf den Marktplatz zu stampfte. „Der beste Schinken wurde mir gestohlen, mein
Rauchfang ist leer!“
„Siehst du, verdammtes Weib, was habe ich dir gesagt? Wir kriegen dich, und brennen sollst
du! Jetzt ist endlich die Zeit gekommen, dem lächerlichen Humanismus des Herzogs zu
entsagen, und sich auf die Lehren der Kirche und somit die der Inquisition zurück zu
besinnen!“ zischte Johann Küffer triumphierend in Catharinas Ohren, während er versuchte,
seinen Griff um ihre Oberarme noch ein wenig zu festigen, was ihm den Schweiß auf die Stirn
trieb.
„Auch die Godderts und Hauffes vermissen ihre Schinken! Und die Schuif hat ihre Tat selbst
zugegeben! Denn sie war ja die einzige, die es gewusst hat!“ Die Stimme der Schiffer nahm
langsam einen hysterischen Tonfall an, während ihr vor lauter Brüllerei die Augen wie frisch
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Genesis= Schaffungsakt
Marcus Portius Cato (234-149 v.Chr.) römischer Feldherr, Redner, Historiker und Fachschriftsteller
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Lucius Annaeus Seneca (~4 v.Chr.-65 n.Chr), römischer Staatsmann, Dichter und Philiosoph
16
Marcus Tullius Cicero (106 v.Chr.-43 v.Chr,), römischer Politiker, Philosoph, Konsul, Gegner von Cäsar
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Etymologie= Herkunft, Geschichte und Grundbedeutung eines Wortes
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Der Hexenturm Roman
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geschälte Kartoffeln aus ihrem puterroten Gesicht zu quellen drohten. „Packt das Weib! Und
dann ab mit ihr zum Criminalgericht des Herzogs!“
„Papperlapapp!“, rief der Küster, “Wir sollten sie gleich zum Kirchplatz schaffen, und dem
Herrgott zum Gefallen auf den Scheiterhaufen stellen!“
„Nein, Küffer, das geht nicht. Zuvor müssen wir ihr einen Prozess machen, sonst versündigen
wir uns! Lasst sie uns zum Gericht bringen, und dann verlangen wir einfach alle einen
Inquisitor, und dann sehen wir weiter! Los jetzt, kommt alle mit. Bringen wir das Weib fort!“,
rief ein Mann aus der Menge, die sich mittlerweile um Johann Küffer und die Hexe
versammelt hatte. Es war Herr Hauffe, einer der bestohlenen Bürger. Er hatte eine Heugabel
in der linken Hand, und stocherte damit in der Luft herum, während er sprach. Viele der
ringsum versammelten Menschen hatten Knüppel oder Heugabeln bei sich, zwei sogar eine
brennende Fackel in der Hand. Und der Köhler der Stadt trug sogar eine Axt über seiner
Schulter.
Catharina wurde klar, dass es eng für sie wurde. Die aufgebrachte Menge hielt sie nun für die
Diebin, und da sich die Emotionen hochschaukelten, war es nicht sicher, ob sie lebendig beim
Gericht ankam. Und außerdem hatte sie auch gar nicht vor, sich zum Gericht bringen zu
lassen.
Sie musste eine Entscheidung treffen. Entweder ließ sie sich von der Meute zum
Gerichtsgebäude schleppen, und lief Gefahr, der Hexerei bezichtigt zu werden, was einen
Inquisitor auf den Plan rufen würde. Und das könnte tödlich für Catharina enden. Oder sie
würde des Diebstahls angeklagt, und auch darauf hatte sie keinerlei Lust. Auf Diebstahl
standen im Jahre 1546 nämlich Strafen, die alles andere als angenehm waren. Das fing an mit
„an den Pranger stellen“ und Kerkerhaft, reichte von „Strafen zu Haut und Haar“, also Haare
oder sogar Ohren abschneiden und Hände abhacken, bis hin zu den so genannten
„peinlichen Strafen“18, die Catharina dem Scheiterhaufen keinesfalls vorzog. Eine andere
Möglichkeit wäre die Flucht nach vorn. Sie könnte sich mit Hilfe ihrer geheimen Kräfte
mühelos aus der brutalen Umklammerung des Küsters befreien, und somit ihre wahre
Identität als Hexe preisgeben. Dann allerdings müsste sie die Stadt verlassen, denn man
würde sie zweifelsohne jagen, und verbrennen, wenn man sie erwischte.
Wie man es drehte und wendete, der nächtliche Gedankenbefehl, dem sie zu folgen
verdammt war, brachte ihr nichts Gutes ein. Sie entschied sich dafür, lieber ein neues Leben
in einem anderen Ort zu beginnen, als es in Jülich auszuhauchen.
Sicherlich gab es in Aachen, der alten Kaiserstadt, einen Platz, an dem eine junge, talentierte
Hexe ein paar Kreuzer hier und da verdienen konnte. Dort würde sie es versuchen. Sie
musste sich zuvor nur noch etwas Geld und Proviant für die Reise organisieren, und der
Propsteikirche würde sie auch noch einen Besuch abstatten. Das man einen dunklen Glauben
hat, bedeutet ja schließlich nicht, dass man keinen hat!, dachte sie bitter. Ich werde wohl
verkleidet in die Kirche gehen müssen.
Aber nun galt es, sich dieser verrückten Schar dem Hexenwahn anheim gefallener Bürger zu
entledigen. Und der beste Moment dafür schien ihr genau jetzt gekommen…
€
Johann Küffer, der Küster der Propsteikirche, empfand diesen Moment als einen Moment des
größten Triumphes. Er hatte die verdammte Hexe aus dem Gelderland gepackt, schleifte sie
nun begleitet von der halben Bürgerschaft zum Haupt- und Criminalgericht der Stadt, wo sie
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„Peinliche“ Strafen des Mittelalters waren Todesstrafen wie Erhängen, Enthaupten, Verbrennen und Rädern
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Der Hexenturm Roman
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der Kerker oder hoffentlich Schlimmeres erwartete. Und genau in diesem Moment geschah
es! Und aus größtem Triumph wurde innerhalb einiger Augenblicke blankes Entsetzen…
Johann verspürte plötzlich ein leichtes Kribbeln an seinen Händen, mit denen er die Hexe
regelrecht in einem Schraubstock hielt, welcher nur aus seinen zehn Fingern bestand. Das
Kribbeln wurde stärker, und als er auf seine Hände blickte, blieb ihm augenblicklich die Luft
weg. Die Arme der Frau bewegten sich!
Und sie bewegten sich nicht etwa auf eine normale Art und Weise, die mit dem
Zusammenspiel von Knochen, Gelenken, Muskeln und Sehnen zu erklären war, nein, hier ging
eindeutig etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hexerei!, fuhr es dem Küster durch den Kopf.
Das verdammte Weib ist tatsächlich eine leibhaftige Braut des Satans! Und sie führt in
meinem Griff ihre schwarze Kunst aus!
Entsetzt und mit vor Schreck geweiteten Augen beobachtete Johann, was da vor sich ging,
und vergaß dabei völlig, weiterzugehen, so dass er ins Stolpern geriet, und um ein Haar
gestürzt wäre! Aber zum Glück konnte er sich noch gerade fangen, sonst wäre ihm die Hexe
womöglich noch…entwischt!
Fassungslos starrte Johann auf seine Hände. Leer! Die Hexe hatte sich befreit! Aber er hatte
seinen Griff nicht eine Sekunde lang gelockert! Wie war das möglich?
Im gleichen Moment erhielt er die Antwort auf seine Frage. Direkt vor ihm, allerdings außer
Reichweite seiner Arme, begann die Luft zu flimmern, und innerhalb von Sekunden erschien
Catharina Elisabeth Schuif aus dem Nichts vor ihm!
Zunächst sah es so aus, als würden tausende kleiner, schwarzer Würmer aus einem Loch
irgendwo in der Luft in diese Welt eindringen, dann formierten sie sich, und vereinigten sich
miteinander, so dass sie den Körper der Hexe aus Geldern bildeten. Dabei streiften einige
diese „Würmer“ seinen linken Arm, und sofort verspürte er wieder dieses seltsame Kribbeln
auf der Haut, wie er es kurz zuvor bei Catharinas Armen erlebt hatte.
Jetzt war es ihm klar!
Die Hexe konnte fliehen, weil sie sich in Nichts aufgelöst hatte! Das war die Bewegung, die er
wahrgenommen hatte, bevor er stolperte!
„Halt, Bürger der Stadt!“, ertönte laut donnernd die Stimme der Hexe. Sie schwebte nun über
dem Boden, und erhob sich in die Luft, nur soweit, dass keiner der entsetzen Bürger sie
erreichen konnte.
„Ihr Narren! Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich einfach so gefangen nehmen? Nun, so habt
ihr falsch gedacht! Ja, seht nur her, ihr hattet recht, ich bin tatsächlich eine Hexe! Aber ich
habe bislang keinem von euch auch nur ein Haar gekrümmt. Und das kann auch so bleiben.
Ich bin keine böse Hexe, sondern verwende meine Fähigkeiten nur zu meinem und dem
Vorteil aller, die mir ein paar Kreuzer dafür zahlen. Ihr braucht mich nicht zu fürchten. Also,
warum können wir nicht noch einmal das Ganze überdenken, und diese alberne Hexenjagd
beenden? Carl Goddert, ihr glaubt mir doch, oder? Ich habe immer gespürt, dass ihr mich
mögt, mehr als die anderen! So tretet doch für mich ein, in Gottes Namen!“
„Halte den Herrn aus deinem dreckigen Hexenmaul, Kreatur des Teufels!“, keifte die Schiffer,
und sofort fielen sie und viele der Anwesenden in einen Chorus ein, und skandierten Parolen
wie „Verbrennt die Hexe!“, „Packt sie!“ und „Auf den Scheiterhaufen mit der Satansbraut!“,
und Catharina wurde klar, dass ihr Versuch, doch noch in Jülich bleiben zu können, kläglich
gescheitert war. Sie bekam noch mit, wie Carl Goddert, der es kaum fassen konnte, dass die
schöne Catharina nun doch eine Hexe war, und somit all seine Überzeugungen ins Wanken
gerieten, mit Schreckgeweiteten Augen dastand, und ein seltsam röchelndes „Herr im
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Der Hexenturm Roman
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Himmel!“ rief, um dann in Ohnmacht zu fallen. Und nicht nur er. Auch einige Frauen
verabschiedeten sich offenbar lieber in die Ohnmacht, als der Hexe dabei zuzusehen, wie sie
sich verwandelte.
Mitten in der Luft, direkt über den Köpfen der Leute, verwandelte sich Catharina in eine
Katze!
Das heißt, ihr Kopf tat es. Der Körper blieb, wie er war, der wohlgerundete Corpus einer
schönen jungen Frau, aber der Kopf war jetzt der einer Katze in Größe eines menschlichen
Kopfes!
Die Kreatur bleckte ihre spitzen, weißen Zähne, und sprach fauchend zu den sich verängstigt
duckenden Menschen.
„Ihr habt ess ja nicht anderss gewollt! Jetzt werde ich euch verlasssen müsssen! Aber vorher
ssollt ihr noch erfahren, dass ich tatssächlich nicht die Verantwortung trage für den
Diebsstahl, wesssen ihr mich bezichtigt. Geht hinauss auss der Sstadt, und überquert den
Flusss, und euch wird ein Licht aufgehen! Ich habe den wahren Dieb dort sstehen gelasssen!
Er kann euch nicht entfliehen!“
Nachdem sie ihre kurze Ansprache geendet hatte, zerfaserte sich ihre Gestalt wieder in
tausende kleiner schwarzer Würmer, um dann im Bruchteil einer Sekunde im Nichts zu
entschwinden. Catharina Elisabeth Schuif war den Jülichern, und damit ihrem sicheren Tod,
noch einmal entgangen…
Johann Küffer erholte sich als Erster von dem Schrecken, den er und die vielen Anderen in
den letzten paar Augenblicken erlebt hatten. Es ging ihm nicht in den Kopf. Wie konnte so
eine Kreatur unter Gottes Himmel existieren? Die Frau musste direkt aus der Hölle zu ihnen
nach Jülich gekommen sein, und ganz bestimmt nicht aus dem Geldrischen. Dessen war sich
Johann gewiss.
Aber was soll’s? Nun war die Hexe weg, und es herrschte vorerst wieder Ruhe in Jülich. So
bald würde sich diese Hexe bestimmt nicht wieder in die Stadt trauen, jetzt, da ihre wahre
Natur allen offenbar geworden ist.
Und was das Beste ist; der Herzog kann von nun an seine lächerlichen humanistischen
Ansichten haben, so lang er es will, aber das Volk von Jülich wird er damit nicht mehr
einlullen können! Endlich ist den Hexenprozessen auch in Jülich der Weg geebnet!, dachte
Johann zufrieden. Und als allererstes nehme ich mir diese nervige alte Fettel vor, die Jungfer
Schiffer! So zufrieden wie in diesem Augenblick hatte der grimmige Küster Johann Küffer
noch nie in seinem Leben gegrinst. Er würde auch nie wieder dazu kommen, aber das wusste
er natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht…
„Los, Leute, ihr habt es gehört! Gehen wir aus der Stadt, und sehen nach, ob es stimmt, was
die Hexe gesagt hat. Suchen wir den Dieb!“, rief er.
„Ach, es wird bloß eine Lüge sein. Ihr habt doch alle selbst gesehen, dass sie eine Kreatur aus
der Hölle ist, der kann man doch keinen Glauben schenken. Sicher hat sie das Fleisch bereits
verschlungen, und nun will sie uns alle in eine Falle locken, um auch uns zu verschlingen!“,
erwiderte ein Mann aus der Menge mit ängstlicher Stimme. Küffer sah nicht, wer es war.
„Blödsinn! Das macht doch keinen Sinn!“, rief er zurück. „Wenn sie uns etwas hätte antun
wollen, dann hätte sie es doch bereits tun können. Nein, da liegt ihr falsch! Sie wollte
unerkannt unter uns leben, davon bin ich jetzt überzeugt. Aber jetzt, da wir ihr wahres
Gesicht kennen, kann sie das Risiko nicht mehr eingehen, hier zu bleiben. Sie wird nie
wiederkehren, davon bin ich überzeugt. Wir würden sie auf den Scheiterhaufen binden, und
dass weiß sie auch! Sie wird vermutlich die Wahrheit gesagt haben, und den wahren Dieb
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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tatsächlich dort zurückgelassen haben! Und den sollten wir uns jetzt wirklich langsam
vorknöpfen, bevor er noch seine Fesseln losbekommt und uns auch noch entwischt, wie
schon die Catharina zuvor!“
Und mit diesen Worten schritt der Küster energisch auf das Rurtor zu, in Richtung des Flusses
mit dem Namen Rur.
„Jawohl, da hat er recht!“, stimmte die Schiffer zu, „Wir sollten uns sputen! Ich habe wirklich
keine Lust, nach der ganzen Aufregung und all dem Schrecken, den wir heute erlitten haben,
ohne die Genugtuung schlafen gehen zu müssen, wenigsten den Dieb dingfest gemacht zu
haben! Und ich sage euch, wir sollten uns nicht erst die Mühe machen, ihn zum
Criminalgericht zu schleifen! Wir sollten ihn an Ort und Stelle bestrafen, so wie es einem
Dieb gebührt!“, und mit diesen Worten machte auch sie sich auf den Weg in Richtung Rur.
Und die ganze Meute folgte ihr und dem Küster, und viele von ihnen fuchtelten wild mit
Keulen, Stöcken, Fackeln, einer Axt und einigen Heugabeln herum, und immer wieder
ertönte der Ruf “Peinliche Strafe für den Dieb! Bestraft ihn mit dem Tode!“
€
Jacop hatte die ganze Nacht hindurch am Wegrand gestanden, ganz in der Nähe der Rur am
Waldrand. Und noch immer konnte er sich keinen Finger breit rühren! Er verstand einfach
nicht, wie so etwas möglich sein konnte. Er war verflucht worden, das war ihm schon klar,
aber er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, wie so etwas funktionieren sollte.
Da musste wirklich eine Macht aus dem Reich der Schatten, wenn nicht der Teufel
höchstselbst seine Finger im Spiel haben. Wer weiß, vielleicht war ja die Hexe, das
Katzenungetüm, der Teufel selbst? Oder vielleicht war er, Jacop, auch einfach gestorben?
Ja, das könnte sein!
Ich bin in dem Moment gestorben, als mich die Katze erschreckt hat, als ich mit dem
vermaledeiten Schinken das Haus der Godderts verlassen habe! Ich bin gestorben, und alles
was danach geschehen ist, ist nur Einbildung, meine persönliche Strafe! Meine eigene Hölle!
Ich bin tot und muss nun in Ewigkeit hier stehen! Was könnte schlimmer sein?
Jacop fiel es nicht ein. Noch nicht.
Dann sah er sie.
Es waren sicher hundert Menschen, und einige schienen ihm mit Gegenständen zu winken,
die er nicht erkennen konnte.
Gott sei Dank!, dachte er. Endlich kommt mich jemand aus dieser misslichen Lage befreien! Er
würde sicher einige Zeit brauchen, den Menschen zu erklären, wie er an das Fleisch in
seinem Leinensack gekommen war. Aber er hatte ja nur aus Not gestohlen! Sicher zeigte man
Verständnis und bestrafte ihn nur ganz milde. Vielleicht schnitt man ihm ein Ohr ab, aber was
war schon ein Ohr? Er hatte ja zwei davon, und hören konnte man auch mit einem Ohr.
Aber weshalb kommen denn so viele Leute auf einmal? Vielleicht sind sie ja gar nicht wegen
mir hier? Vielleicht sind es Händler, die vom Markt kommen. Besser, ich mache mal auf mich
aufmerksam, damit sie mich nicht noch übersehen, und ich hier noch länger herumstehen
muss!, dachte Jacop, und holte tief Luft, um den Leuten zuzurufen.
Aber er brachte nicht mehr als ein leises unartikuliertes Pfeifen hervor!
Er konnte nicht sprechen! Plötzlich befiel Jacop eine unbestimmte Angst. Was, wenn er doch
noch nicht gestorben war? Was, wenn die vielen Menschen, die dort in der Ferne
auftauchten, doch nach ihm suchten? Was, wenn diese Menschen wussten, dass er
gestohlen hatte, ein Dieb war? Was, wenn er kein Wort herausbekam, und er ihnen nicht
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
erklären konnte, was geschehen war? Was würden sie wohl mit ihm machen? Er wollte es
sich lieber nicht vorstellen. Aber das musste er ja auch gar nicht. Er erlebte es bald am
eigenen Leib.
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Als die Menschenmenge etwas näher an ihn herangekommen war, konnte Jacop erkennen,
was für Gegenstände es waren, die die Leute mit sich trugen, und mit denen sie
herumfuchtelten. Und es gefiel ihm überhaupt nicht! Diese Leute werden mich nicht befreien,
ganz im Gegenteil!, wurde Jacop plötzlich klar.
Diese Menschen werden mich gefangen nehmen, und dann wird man mich dem Richter
vorführen! Und dann ist es aus mit dem Stehlen, aus mit dem ruhigen Familienleben, aus mit
meiner Zukunft hier in Jülich. Die Arbeit an der Zitadelle kann ich dann ja wohl auch
vergessen, dachte Jacop niedergeschlagen. Und dann sah er erstmals die Gesichter der
Leute, die immer näher kamen. Wutentbrannt waren sie!
Schweiß rann ihm von der Stirn, und das Einzige, was sich an seinem Körper regte, waren
seine Augen, die vor Schreck geweitet auf die Meute starrten, die auf ihn zukam, unfähig,
sich zu schließen, diese Bedrohung aus dem Bewusstsein zu verbannen! Jacop wollte nun
nicht mehr nach den Leuten rufen, er wollte sich viel lieber vor ihnen verstecken. Aber so
sehr er sich auch bemühte, er blieb genau an der Stelle stehen, an der er die ganze Nacht
bereits gestanden hatte. Er konnte nicht einmal umfallen! Er hatte es in der vergangenen
Nacht mehrfach versucht, war jedoch jedes Mal gescheitert, obwohl er so müde war, das er
sich buchstäblich nicht mehr auf den Beinen hatte halten können. Aber seine Beine
gehorchten nun nicht mehr seinem Willen, sondern dem der Frau, die sich vor seinen Augen
verwandelt hatte. Von einer Katze zu einer Frau! Jacop begann aus lauter Verzweiflung zu
weinen. Aber abgesehen von der einen Träne, die aus seinem rechten Auge lief, war davon
für einen Außenstehenden nichts zu bemerken. Und dann sahen sie ihn.
„Da ist er!“, hörte er die Stimme eines Mannes rufen, und kurz darauf war die Gruppe auch
schon bei ihm. Sie blieben rings um ihn herum stehen, und sahen ihn aus hasserfüllten
Augen an. Wenigsten etwas, dachte Jacop, sie verprügeln mich nicht gleich. Vielleicht komme
ich doch noch halbwegs glimpflich davon. Aber diese leise Hoffnung verflog sofort wieder
wie ein Atemwölkchen an einem kalten Abend, als Johann Küffer, der Küster der
Propsteikirche, das Wort an sich riss.
„Was ist mit dir, elender Dieb? Warum gibst du kein Fersengeld? Gefesselt bist du ja nicht!
Die Hexe sagte uns, sie hätte dich hier zurückgelassen. Damit hatte sie ja Recht. Aber warum
bist du hier geblieben? Los, sprich!“, herrschte er Jacop an, und wandte sich dann an die Frau
Schiffer und den Herrn Hauffe: „Los, durchsucht den Sack auf seinem Rücken, ob der
Schinken darin ist! Wir müssen sichergehen, dass dieser Mann der gesuchte Dieb ist! So
macht schon!“
„Also ich fasse ihn nicht an! Wer weiß, mit welchem Fluch sie ihn belegt hat?“, sagte die
Schiffer, „vielleicht geht der Fluch auf uns über, wenn wir ihn berühren?“
„Dann steche ich ihn eben einfach mit meiner Gabel!“, schlug Hauffe vor, der sich in der
Meute plötzlich ganz mutig fühlte. „Dann sehen wir ja, was passiert!“
Hauffe nahm all seinen Mut zusammen, was man seinem Gesichtsausdruck deutlich
entnehmen konnte, und trieb dem armen Jacop einen Zinken seiner Heugabel in die Seite. Es
herrschte absolute Stille, da alle wie gebannt auf das starrten, was sich ihnen darbot. Mehr
als das leise Reißen des Wamses war nicht zu vernehmen, und mehr als einen kleinen
Sturzbach dunkelroten Blutes, begleitet von einem leise schmatzenden Geräusch wahr auch
nicht wahrzunehmen, als Hauffe die Spitze seiner Heugabel wieder aus dem Körper des
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Der Hexenturm Roman
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Armen Jacop zog.
Er schrie nicht, er verzog nicht einmal das Gesicht.
Zumindest nicht für die Leute um ihn herum.
Jacop hingegen hätte am liebsten laut aufgeschrien. Entsetzlicher Schmerz durchfuhr ihn von
der Hüfte aus, wo ihn die Gabel verletzt hatte, brandete durch den ganzen Körper, aber zu
seiner Enttäuschung wurde er nicht durch eine erlösende Ohnmacht von den Schmerzen
befreit. Er konnte das Blut warm an seinem Körper herunter fließen fühlen, aber er konnte
weder schreien, noch konnte er eine Hand auf die Wunde pressen oder vor diesen
Wahnsinnigen fliehen! Ihn mit der Heugabel zu stechen! Welcher Idiot kam denn auf so eine
Idee?
Aber das war erst der Anfang.
„Er kann uns nichts tun, das seht ihr doch! Ich habe ihn verletzt, aber er reagiert nicht
einmal, er blutet einfach nur! Schiffer, schneide ihm mit deinem Messer den Sack vom
Rücken, ich halte ihn mit meiner Gabel in Schach!“, sagte Hauffe, und um seinen Worten
Nachdruck zu verleihen, stach er seine Heugabel einige Male in Jacops Richtung, ohne ihn
allerdings zu berühren.
Die alte Jungfer Schiffer, die immer ihr Gemüsemesser im der Tasche ihres Kittels trug, nahm
es heraus, trat vorsichtig auf Jacop zu, der immer noch nichts Anderes tat als zu bluten, und
schnitt ziemlich unsanft den Tragegurt seines Leinensackes durch. Dies tat sie nicht, indem
sie den Gurt etwas anhob und dann durchtrennte, sondern sie setzte das Messer einfach auf
Jacops Rücken auf, und schnitt mit viel zu viel Druck durch den Gurt, und somit auch durch
Wams, die Haut und das Fleisch seines Rückens hindurch. Der Gurt riss, und der prall mit
Schinken gefüllte Sack fiel mit einem lauten Plumpsen in den Dreck zu Jacops Füßen, und
zurück blieb ihm nur eine drei Zentimeter tiefe Schnittwunde dort, wo soeben noch der Gurt
des Sackes gewesen war. Der Schmerz war unerträglich, aber wieder wollte sich keine
Ohnmacht einstellen, die Jacop wenigstens den Schmerz hätte ertragen lassen. Jetzt haben
sie mich endgültig!, dachte er.
Nun ist es aus!
Er wollte am liebsten einfach weggehen, all dies hinter sich lassen, die vielen Leute, die
Schmerzen, den Schinken, den er die ganze Nacht nur riechen, aber nicht schmecken konnte.
Er wollte nur nach Hause zu seiner geliebten Magdalena, zu seinen Kindern, zu Josef, zu
Gabriel, zu Willibrord und seinem geliebten Augenstern, der kleinen Franziska. Aber so sehr
er auch flehte und hoffte, er konnte sich nicht einen Hauch weit bewegen. Er war noch nicht
einmal in der Lage, seinen Schmerz laut herauszuschreien, und es drohte ihm den Verstand
zu rauben. Aber auch diese Gnade war ihm nicht vergönnt. Jacop war gefangen in einer
Angst- und hasserfüllten Meute von Menschen, die jegliche Moral- und Rechtsempfindung
hinter sich gelassen hatte, die in ihrem Hexenwahn nun einen verfluchten Dieb enttarnt
hatten, und ihm sicher ans Leder wollten!
Hoffentlich reicht ihnen der zurückerhaltene Schinken, und sie lassen mich mit meinem
Wunden hier zurück! Dann findet mich Magdalena vielleicht hier, denn sie wird mich bereits
suchen. Gott gebe es, dass sie mich in Frieden lassen!
Aber Gott gab an diesem Tag nicht mehr.
„Der Schinken! Er ist es! Es ist alles da, und absolut unversehrt!“, rief Küster Küffer, der sich
den Sack geschnappt und den Inhalt überprüft hatte.
„Der Dieb ist überführt, wie die Hexe es vorhergesagt hat! Jetzt lasst uns den Unhold seiner
gerechten Strafe zuführen! ‚Stiehlt er Korn in der Nacht, so hänge ihn, stiehlt er Korn am
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Der Hexenturm Roman
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Tage, so enthaupte ihn!’, zitierte Küffer eines seiner geliebten Bücher. „Er hat in der Nacht
gestohlen, also sollten wir ihn hängen, aber selbst die Heugabel hat ihn nicht in die Flucht
geschlagen, verflucht wie er nun mal ist. Also schlage ich vor, wir gehen sicher und
enthaupten ihn an Ort und Stelle, schließlich habe wir den Diebstahl am Tage aufgedeckt,
dann geht das schon in Ordnung!“
„Auf keinen Fall!“, fiel Carl Goddert ein. „Das können wir nicht tun! Er mag ein Dieb sein,
aber er ist auch das Opfer von Catharina Schuif, dieser, dieser, …na dieser Hexe eben!“ Es fiel
Goddert sichtlich schwer,
einzugestehen, dass seine heiß geliebte Catharina eine Hexe war. „Er ist verflucht, so dass er
sich nicht rühren kann, und er ist durch unsere Hand bereits zweimal verletzt worden! Ist das
nicht Strafe genug für ein paar lausige Stücke Schweinefleisch? Überlassen wir ihn hier
seinem Schicksal!“, sprach Goddert hastig, und wie um die makabere Stimmung dieser
ganzen Szenerie noch zu unterstreichen, ließ sich in genau diesem Moment eine große
schwarze Krähe laut krächzend auf Jacops erstarrtem Arm nieder, hüpfte den Arm hinauf bis
zur Schulter, und riss mit ihrem scharfen Schnabel ein kleines Stückchen blutiges, rotes
Fleisch aus der Schnittwunde an Jacops Rücken, um es dann gierig zu verschlingen.
„Hinfort!“, schrie Küffer die Krähe an, und schlug mit einem Knüppel nach dem Tier, das laut
krächzend davonflog.
„Verdammt seid ihr alle! Wollt ihr euch alle versündigen, indem ihr Hexenwerk zulasst? Ich
sage, wir entledigen uns dieser Pestilenz, in dem wir sie radikal ausmerzen! Die Hexe sind wir
nun los, aber ihr Werk steht hier vor uns und verhöhnt unseren Herrn, Gott im Himmel! Ich
sage, runter mit seinem Kopf, oder noch besser, wie es einem Dieb gebührt; lasst ihn uns
Radbrechen! Du, Köhler, du hast doch noch dein altes Wagenrad im Hof, das mit der
schadhaften Nabe! Geh es holen! Wir schlagen ihn auf deinem Rad an den Galgen! Dann
sollen ihn dort die Krähen fressen, und wir können endlich alle wieder beruhigt schlafen!“
„Nein, das könnt ihr nicht tun!“, unternahm Goddert noch einen letzten verzweifelten
Vorstoß gegen den völlig ekstatischen Küster. „Es ist Sünde! Wenn wir ihn töten, sind wir
nicht besser als Seinesgleichen! Er muss vor Gericht gestellt werden! Ich flehe euch an, so
seid doch Vernünftig!“
Aber es nutzte nichts. Godderts Appell an die Vernunft und Moral seiner Mitbürger verhallte
ungehört, und so packte die aufgebrachte Menge den armen Jacop, und schleppte ihn, der er
steif wie ein Stock war, zum Galgenpfahl vor dem Rurtor. Der Köhler hatte inzwischen sein
altes Wagenrad herbeigeholt, und so begann Jacops letztes Martyrium.
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Jacop wünschte sich wirklich nichts sehnlicher, als endlich das Bewusstsein zu verlieren. Der
Schmerz, den seine Verletzungen an Hüfte und Rücken ihm verursachten, raubte ihm nahezu
den Verstand. Der Stich mit der Heugabel musste ein Organ in seinem Körper verletzt haben,
denn es brannte wie Feuer tief in seinen Eingeweiden. Man wollte ihn an das Wagenrad
binden, um ihn dann am Galgenpfahl, dreieinhalb Meter in der Höhe, festzubinden. Zuerst
band ihm Küffer höchstselbst, der ach so fromme Küster der Propsteikirche, den linken Arm
an das Rad. Als er dann versuchte, gleiches mit dem rechten Arm zu tun, stieß die Kraft
Küffers an ihre Grenzen, denn Jacop war steif wie ein Stock, und hart wie versteinert.
Es gelang dem Küster nicht, den rechten Arm auch zu binden.
„Köhler, gib mir deine Axt. Es wird Zeit, dass der Fluch von dieser armen Seele genommen
wird, die nun sicher bereits in der Hölle schmort. Es heißt nicht umsonst „Rad-brechen“!“
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
Mit diesen Worten nahm sich Johann Küffer die Axt, drehte das stumpfe Ende so, dass es
nach vorne zeigte, holte weit aus, und rief laut „Im Namen des Vaters...“, und ließ das
stumpfe Ende der Axt auf Jacops linken, bereits angebundenen Arm krachen.“
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Jacop hörte seinen linken Oberarmknochen brechen, und sofort durchflutete unvorstellbarer
Schmerz sein gesamtes Bewusstsein.
„Lass mich sterben, lieber Gott, bitte!“, wollte er schreien, aber wieder verließ nur ein leise
zischendes Pfeifen seine starren Lippen. Oder wenigstens in Ohnmacht fallen!, fügte er
verzweifelt in Gedanken hinzu.
Aber dieses Glück hatte Jacop in diesem Leben nicht mehr.
Der wie wahnsinnig geifernde Küster brüllte aus Leibeskräften ein donnerndes „…des
Sohnes!...“, während er wieder die stumpfe Seite der Axt auf den rechten Oberarmknochen
des armen Diebes schlug. Als er ihm danach mit wuchtigen Hieben beide Oberschenkel
zerschlug, schrie er wie von Sinnen „…und des Heiligen Geistes!“ Noch nicht einmal der
Schmerz blieb Jacop erspart, den er erlitt, als ihm der wahnsinnige Küster in seinem
Blutrausch mit einem lauten „Amen!“ das Rückgrat in Höhe des Bauchnabels zertrümmerte.
Ganze neunzehn Stunden hing Jacop noch an das Rad gebunden am Galgenpfahl, und musste
alles ertragen, was das Spektrum des Schmerzes in seinem Körper für ihn bereithielt.
Und doch konnte niemand, der ihn da an das Rad gefesselt sah, auch nur erahnen, was er
durchmachte, denn er verzog nicht eine Miene. Auch nicht, als er seine arme Frau
Magdalena mit den vier Kindern weinend vor seinem Pfahl stehen sah. Auch dann nicht, als
er sie aus der Stadt in die Ferne ziehen sah, wo sie sich einen neuen Platz zum Leben suchen
mussten.
Und auch dann nicht, als sich unter ihm am Galgenpfahl eine große schwarze Katze
niederließ, und zu ihm hochsah.
Er bildete sich ein, die Katze sprechen zu hören. „Ess tut mir leid, Jacop!“ schien sie zu
fauchen.
Und kurz, bevor sein Herz zum letzten Mal schlug, war ihm, als ob aus den seltsam
menschlichen Augen des Tieres einige Tränen auf den staubigen Boden am Fuße des Galgens
herabfielen…
Freitag, 27. Februar 2004, Jülich, Stadtgeschichtliches Museum
„Da, Herr Templeton, schauen sie. Das ist Fatime Metinoglu, unsere Raumpflegerin. Sie
kommt jeden zweiten Morgen gegen neun Uhr, und reinigt die Ausstellungsräume. Eine
zuverlässige und nervenstarke Frau… eigentlich. Sie sehen es ja selbst…“, sagte der Leiter des
Museums, ein Mann namens Parse. Er deutete auf den kleinen schwarz-weißen Monitor auf
seinem Schreibtisch, auf dem die Aufnahmen abgespielt wurden, die die Überwachungskameras des stadtgeschichtlichen Museums in den letzten zwölf Stunden
aufgezeichnet hatten.
Auf dem altertümlichen Bildschirm war zu erkennen, wie die in einen hellblauen Kittel
gekleidete Fatime Metinoglu, die Putzfrau des Museums, eine metallene Zwischentür von
außen öffnete. Die Tür diente offenbar nicht nur zur Trennung zweier Räume, sondern auch
dem Brandschutz. Fatime betrat in der Aufzeichnung gerade mit ihrem Putzwägelchen, auf
dem sie ihre Arbeitsutensilien transportierte, den Raum. Dabei bewegte sie sich rückwärts,
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Der Hexenturm Roman
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und zog ihren Putzwagen hinter sich her. Dann nahm sie einen Staubwedel aus Kunstfasern
von dem Wagen, drehte sich um, und… ließ den Staubwedel fallen, riss Augen und Mund
weit auf, schlug die Hände vors Gesicht, und fiel rücklings in Ohnmacht, wobei sie ihren
Wagen umriss. Ein Eimer mit Wasser ergoss sich über den Museumsboden. Eine dünne
Schicht Seifenschaum verteilte sich wie Neuschnee auf dem Linoleum.
Das Bild fror ein. Herr Parse hatte die Wiedergabe der Aufnahme unterbrochen, indem er auf
der Fernbedienung des Abspielgerätes die Pausentaste betätigte. Den Schrei der Frau und
den Lärm des fallenden Wagens hörte man nicht, da kein Ton wiedergegeben wurde. Ich
betrachtete die Szenerie noch einmal eingehend. Da lag die bedauernswerte
Reinemachefrau rücklings auf dem Boden, Arme und Beine in ihrer Ohnmacht wie ein Käfer
in die Luft gestreckt. Vor ihr saß ein Mann auf dem Boden, etwas in sich zusammengesunken,
und starrte sie an. Und er tat dies mit einem vor Schreck geweiteten Auge, als habe er ein
Gespenst gesehen! Das Gespenst war aber nicht Frau Metinoglu gewesen, sondern eine
unbekannte Person. Der Mann, der dort saß, lebte nicht mehr. Der Mann hieß Hans Bruckner,
ein langjähriger Mitarbeiter des Museums, wie mir Herr Parse geschildert hatte, während er
mir die seltsamen Aufnahmen der letzten Nacht vorführte. Die Bilder ergaben für mich
keinen Sinn. Laut der Aussage der Kollegen von der Spurensicherung hatte der Mann
vermutlich einen Herzinfarkt erlitten. Eine natürliche Todesursache also. Das deckte sich
auch mit dem, was ich auf den Aufzeichnungen zu sehen bekam. Dennoch musste ich bei
dem Toten Archivar, der nur fünfundfünfzig Jahre alt geworden war, von einem
Gewaltverbrechen ausgehen! Und genau das gab mir ein Rätsel auf. Der Mann hatte
unzählige mehr oder weniger tiefe Kratzwunden an den Unterarmen und Händen, so als
hätte er sich gegen ein großes Raubtier zur Wehr setzen müssen.
Und erst das Gesicht!
Der Anblick war wirklich grauenhaft, und auch bei mir hatte er einen leichten Würgereiz
verursacht, obwohl ich als Kriminalkommissar schon einiges zu sehen bekam, und somit als
abgehärtet gelten dürfte. Ich konnte nur zu gut verstehen, dass die arme Putzfrau aus den
Latschen gekippt war! Die riesige Wunde reichte von der linken Stirnseite bis schräg nach
unten über seine Nasenwurzel, deren Knochen unter all dem getrockneten Blut blass
hervorstand. Weiter führte die Spur der Zerstörung durch das Gebiet seines Gesichtes, an
dem sich einmal das rechte Auge befunden haben musste. Dort war aber nichts weiter zu
sehen als rohes Fleisch und getrocknetes Blut! Die Wunde führte noch quer über die Wange
bis hin zum Ohr. Aber obgleich diese Wunde fürchterlich war, und dem armen Mann
unerträgliche Schmerzen bereitet haben musste, als Todesursache schied sie aus. Der Mann
hatte sich höchstwahrscheinlich ganz einfach zu Tode erschreckt. Gewissheit darüber würde
ich nach der Obduktion haben. Inzwischen hatten die Jungs von der Spurensicherung ihren
Job getan, und die Leiche war auf dem Weg in das Gerichtsmedizinische Institut. Ich ließ die
Aufnahmen der Überwachungskameras noch einmal vor meinem geistigen Auge Revue
passieren. Zunächst konnte man gar nichts erkennen, es war vollkommen dunkel. Dann
öffnete sich die Verbindungstür, die die Ausstellungsräume vom angrenzenden Kulturhaus
trennten, einen Spalt breit, und gab einen Blick auf das Gesicht von Hans Bruckner frei, der
seine Nase vorsichtig durch die Tür steckte. Dann, nach kurzem Zögern, öffnete sich die Tür
vollständig, und Bruckner trat ein. Leider ließ er das Licht ausgeschaltet, so dass kaum etwas
zu erkennen war. Gott sei Dank hatte er das Licht im Nebenraum brennen lassen, so dass die
durch die Tür hereinfallende Helligkeit wenigstens etwas Licht ins Dunkel brachte. Der Mann
ging ein paar Schritte in den Raum hinein, blieb dann plötzlich stehen, und öffnete den
Mund, um etwas zu sagen. Da an den Überwachungsmonitor kein Lautsprecher
angeschlossen war, konnte man leider nichts hören. Herr Parse, der Leiter des Museums,
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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machte mir allerdings die Hoffnung, doch noch zu erfahren, was der Mann gesprochen hatte,
denn er erklärte mir nicht ohne einen gewissen Stolz, dass sein Museum über eine
hochmoderne Überwachungsanlage verfügte. Angesichts des altertümlichen schwarz-weißen
Monitors hätte ich dies nicht zu hoffen gewagt. Aber Parse erklärte mir, im Gegensatz zu den
üblichen Systemen, die noch ohne Ton arbeiteten, und die nur Einzelbilder ca. alle zehn
Sekunden schossen, nahm sein Überwachungssystem sehr wohl den Ton mit auf, wenn auch
in schlechter Qualität, da nur ein kleines Mikrophon direkt neben der Kameralinse an der
Decke angebracht war. Die Kamera allerdings lieferte bewegte Bilder mit einer
Bildwiederholrate von fünfzehn Bildern pro Sekunde, was der Qualität handelsüblicher
Zeichentrickfilme entspräche. Als er dies sagte, wünschte ich mir, ich hätte gerade auch nur
einen Trickfilm gesehen, leider entsprach das gefilmte Material aber der schaurigen Realität!
Weiter führte Parse aus, anders als sonst üblich würde das Material nicht auf ein EndlosVideoband, sondern auf eine Computerfestplatte gespeichert, was die Qualität der Bilder
und die mögliche Höchstdauer der Aufzeichnung wohl erheblich steigerte. Mir war das
vollkommen egal, Hauptsache, es ergaben sich daraus für mich Hinweise, die mir bei der
Aufklärung dieses Todesfalles halfen.
„Ich lasse ihnen eine CD mit den betreffenden Aufnahmen brennen, die können sie dann
gleich mitnehmen.“, sagte Parse.
Ich bejahte dies, und widmete meine Gedanken wieder den Aufnahmen, die vor meinem
geistigen Auge Form annahmen. Bruckner hatte also irgendetwas in den Raum hinein gesagt,
aber wohl keine Antwort erhalten. Er ging noch ein, zwei Schritte weiter in den Raum, blieb
wiederum stehen, und was dann geschah, war leider dem Auge aufgrund der Dunkelheit
verborgen. Mist! Hätte er doch bloß das Licht eingeschaltet! Dann, plötzlich, drehte sich Hans
Bruckner auf der Stelle um und rannte los. Aber er rannte nicht zur Verbindungstür zurück,
sondern in ein enges, gewundenes Treppenhaus, so dass er meinen Blicken entschwand. Was
hatte ihn dazu getrieben? Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, einen Schatten zu
sehen, der Hans Bruckner folgte, aber das musste entweder meine Einbildung oder ein
Lichtreflex auf der Kameralinse gewesen sein. Es musste sich, wenn überhaupt, um einen
flüchtigen Schatten gehandelt haben, der für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war.
Dann passierte einige Zeit gar nichts. Bis…
…Ja, bis Hans Bruckner wie von der Tarantel gestochen, mit wild rudernden Armen wieder
ins Bild gestürmt kam! Er rannte bis fast genau zu der Stelle, von der er zuvor losgestürmt
war, blieb wie angewurzelt stehen, und drehte sich um. Es war deutlich zu erkennen, dass
seine Arme nun verletzt waren, denn jetzt wo er sie nicht mehr unkontrolliert in der Luft
rudern ließ, sondern sich beide Hände auf den Brustkorb presste, war deutlich zu sehen, dass
seine Hemdsärmel zerfetzt und blutig waren. Außerdem hatte er eine riesige Wunde im
Gesicht, die auf dem kleinen Bildschirm aber eigentlich nur als dunkle Fläche auszumachen
war. Und dann weitete sich plötzlich das eine noch sichtbare Auge Bruckners, er riss den
Mund auf wie zu einem Schrei… und dann erschlafften seine Gesichtszüge. Er fiel um. Er fiel
aber nicht der Länge nach hin, sondern sackte mehr in sich zusammen, fiel auf sein Gesäß,
und sein Gesicht neigte sich etwas der Brust entgegen. Die Arme hingen nur schlaff herab.
Dann bewegte sich Hans Bruckner nicht mehr. Er war entweder bereits tot, oder zumindest
bewusstlos. Und wieder hatte ich den Eindruck, im dem Moment, kurz bevor Bruckner
umkippte, einen Schatten wahrgenommen zu haben. Aber das war natürlich Blödsinn. Ja,
und dann war auf dem Band nichts mehr zu sehen, bis die Putzfrau auf der Bildfläche
erschien. Es war mir schleierhaft. Bruckner war schwer verletzt worden, wenn auch nicht
tödlich, und der oder die Täter hatten offensichtlich Wert darauf gelegt, es wie den Angriff
eines Tieres aussehen zu lassen. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, wieso jemand so
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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etwas inszenieren sollte. Denn ein Angriff durch ein Tier schied meines Erachtens aus.
Erstens hätten bei den Verletzungen an Bruckners Körper Spuren des angreifenden Tieres,
wie zum Beispiel Haare oder eine abgebrochene Kralle oder zumindest Hautschuppen
vorgefunden werden müssen, was aber nicht der Fall war. Sicherheit darüber würde aber erst
die Obduktion der Leiche ergeben. Und zweitens: Wie hätte das Tier wieder verschwinden
sollen? Alle Türen nach außen waren verschlossen, und Bruckner hatte den Schlüssel an
seinem Platz am Schlüsselbrett in seinem Büro gelassen, wo ich ihn auch noch vorgefunden
hatte. Ich ging vielmehr davon aus, dass der oder die Täter ihn mit einem Messer oder einem
ähnlich scharfen Gegenstand verletzt hatten. Als Motiv konnte ich mir zu diesem frühen
Zeitpunkt der Ermittlungen bestenfalls einen Einbruchdiebstahl vorstellen. Die Diebe wurden
von Bruckner überrascht, als er seinen letzten Rundgang machte. Und das war sein
Verhängnis. Dafür sprach, dass das Museum gewöhnlich bereits um sechzehn Uhr schloss, so
dass sich die mutmaßlichen Einbrecher recht sicher gefühlt haben mussten, als sie gegen
zweiundzwanzig Uhr ihren Einbruch durchführten. Dagegen sprach, dass weder ein
Türschloss oder eine Vitrine beschädigt oder aufgebrochen war. Laut Aussage von Herrn
Marc Parse fehlte zudem nicht ein Teil aus der Ausstellung.
Hier kam ich nicht weiter. Im Museum gab es für mich nichts mehr zu tun. Ich nahm die CD
an mich, die der Museumsdirektor für mich hatte anfertigen lassen, und verabschiedete
mich. Es waren im gesamten Museum weder Hinweise auf den Einbruch, noch irgendwelche
Indizienbeweise wie Fingerabdrücke oder Fußspuren zu finden. Alle Türschlösser waren
unversehrt, die Außentüren verschlossen gewesen. Entweder hatten sich der oder die Täter
bereits nachmittags im Museum einschließen lassen, oder, und auch das konnte nicht mit
letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, der oder die Täter hatten Schlüssel zum Museum.
Somit waren selbst die Mitarbeiter des Museums verdächtig. Allerdings hatte ich nicht den
Eindruck, dass Herr Parse etwas mit dem Tod des Herrn Bruckner zu schaffen hatte, und ich
hatte einiges an Erfahrung und Menschenkenntnis in meinen Dienstjahren bei der Kripo
angeeignet. Ich setzte mich also in meinen Dienstwagen, einen recht neuen silbernen Ford
Mondeo, und verließ Jülich in Richtung der Autobahnauffahrt zur A44 in Richtung Aachen.
Einige Stunden später, In den Räumen der Kriminalpolizei Aachen
„Eine Katze, sagst du? Wie kann eine Katze einen ausgewachsenen Mann töten? Das ergibt
doch keinen Sinn! Und woher soll denn die Stimme gekommen sein? Du wirst mir ja nicht
allen Ernstes erzählen wollen, die Katze hätte geredet, oder?“, sagte Konrad Wallner, Leiter
der Mordkommission Aachen. Er sprach mit seinem Kollegen, Hans Bertrams. Beide Beamte
gingen auf die sechzig zu, und arbeiteten bereits seit Ewigkeiten für die Mordkommission.
Wallner war ein etwas zu korpulenter Mann von eins siebzig Größe, während Bertrams trotz
seines fortgeschrittenen Alters ein drahtiger Kerl war, der noch zweimal im Jahr einen
Marathon lief.
„Konrad, wenn ich es dir doch sage. Wie lange kennen wir uns jetzt schon?“
„So um die dreißig Jahre?“
„Eben. Und ungefähr genauso lange arbeiten wir beide jetzt in ein und derselben Abteilung.
Wenn ich dir also sage, auf den verfluchten Aufnahmen ist eine Katze zu sehen, und dass das
Vieh gesprochen hat, dann ist das eben so! Ich verstehe es ja auch nicht, aber ich habe es mit
meinen eigenen Augen gesehen! Außerdem hat das Vieh den Mann ja nicht getötet. Er ist
nicht an den Folgen der Verletzungen, sondern an einem Herzinfarkt gestorben. Da aber die
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Der Hexenturm Roman
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Verletzungen darauf schließen lassen, dass es sich zumindest um einen Mordversuch
gehandelt haben könnte, bleiben wir an der Sache dran.“
„Mann, ehrlich, du solltest dringend deine Augen untersuchen lassen!“, entgegnete Wallner
seinem Kollegen kopfschüttelnd. „Das sind doch alles Hirngespinste. Wir beide sind jetzt
tatsächlich seit fast drei Jahrzehnten bei der Polizei. Da sollte man doch annehmen, uns kann
nichts mehr überraschen. Daher schlage ich vor, wir gehen das Ganze noch mal durch,
diesmal aber bitte völlig rational, und nichts von diesem Katzen-Monster-Scheiß! Kriegen wir
das hin?“
„Wie du meinst, dann eben noch mal.“ Bertrams seufzte.
Die beiden hatten sich die Aufnahmen, die ihnen Rick Templeton, ein Kommissar der
Abteilung, vorgelegt hatte, schon mehrfach angesehen. Der junge Beamte kam mit den
Aufnahmen nicht klar, und hatte seinen Vorgesetzten Bertrams um einen Ratschlag gebeten.
Die beiden verband ein sehr gutes, wenn auch rein dienstliches Verhältnis. Beruflich
gesehen, könnte man Bertrams als Ricks väterlichen Freund bezeichnen. Und er würde
seinem Untergebenen nur zu gerne eine Erklärung für die Aufnahmen liefern. Wenn, ja wenn
er eine Erklärung dafür hätte! Er selbst kam mit den Aufnahmen nicht zurecht, und hatte
daher seinen alten Freund Konrad Wallner dazu geholt. Aber auch nach dem achten Mal
waren die beiden keinen Schritt weiter gekommen. So oft hatten sich die beiden Polizisten
nun das Material bereits angesehen, dass ihnen Templeton vorgelegt hatte. Es war eine CD
mit Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Jülicher Museum, in dem der Archivar
ums Leben gekommen war. Auf den Aufnahmen war nicht viel zu sehen, außer eben dem
Archivar, der erst in einen Raum kam, dann plötzlich in ein Treppenhaus rannte, wieder
zurückkam, jetzt allerdings schlimm zugerichtet, dann schrie, und in sich zusammensackte
und schließlich starb. Wie es zu den Verletzungen des Mannes kam, war auf den Aufnahmen
leider nicht zu sehen. Das Verrückte an der ganzen Sache war aber erst durch eine
Beobachtung ans Licht gekommen, die der ermittelnde Beamte, Rick Templeton, gemacht
hatte. Dieser hatte auf den Aufzeichnungen einen Schatten bemerkt. Und die Jungs in der
technischen Abteilung hatten sich daraufhin etwas eingehender mit der CD aus dem
Museum befasst. Und hier begann der Fall phantastisch zu werden.
Auf den Filmaufnahmen war tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde ein flüchtiger
Schatten zu erkennen, den man leicht für eine Reflektion oder etwas Ähnliches hätte halten
können. Aber auf dem Ausdruck, den einer der technischen Mitarbeiter von dem Einzelbild
mit dem Schatten angefertigt hatte, sah die Sache etwas anders aus. Dort war, verwaschen
zwar, aber deutlich genug, um es mit einiger Gewissheit sagen zu können, der Umriss einer
Katze zu erkennen! Allerdings war das Tier mit Sicherheit keine gewöhnliche Hauskatze; es
hatte eine geschätzte Schulterhöhe von sechzig Zentimetern, und war somit deutlich größer
als jede Katze, die frei herumlaufen dürfte. Zudem war die Katze, oder was immer für ein Tier
es auch war, nur auf diesem einen Einzelbild zu erkennen. Auf der gesamten restlichen
Aufnahme war von ihr allerhöchstens ein flüchtiger grauschwarzer Schleier zu erkennen.
Entweder handelte es sich gar nicht um eine Katze, sondern nur um einen Zufall, einen
Schattenwurf. Vielleicht fiel Licht durch eines der kleinen Fenster des Ausstellungsraums, und
es entstand der Schatten, der auf dem Bild nur einer Katze ähnlich sah. Oder das Tier war so
verdammt schnell durchs Bild gefegt, dass man es mit einer normalen Kamera nicht hatte auf
Film bannen können. Die Theorie von der riesigen schwarzen Katze hätte allerdings
wunderbar auf die Verletzungen des Verstorbenen gepasst. Aber woher sollte das Tier
stammen? Da es in Jülich einen Zoo gab, wurde dort natürlich sofort nachgefragt, ob es dort
ein schwarzes katzenartiges Tier gab, das entkommen sein könnte. Aber leider brachte das
die Ermittlungen keinen Schritt weiter. Dort gab es zwar Raubkatzen in der fraglichen Größe,
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Der Hexenturm Roman
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aber es handelte sich dabei um Luchse, und die waren nicht schwarz. Außerdem fehlte
keines der Tiere.
Und da gab es noch etwas, was den beiden Kriminalbeamten Wallner und Bertrams
Kopfzerbrechen bereitete. Die Aufnahme aus dem Museum hatte eine Tonspur. Und
tatsächlich war auch etwas darauf zu hören! Nur wäre es den Beamten nie aufgefallen, hätte
Templeton nicht die Sache mit dem Schatten erwähnt. Denn als die Aufnahme langsamer
abgespielt wurde, um den Schatten zu identifizieren, fiel den Technikern ein schriller Pfeifton
auf, für den es zunächst keine Erklärung gab. Diesen Ton spielten sie dann immer wieder
etwas langsamer ab, jedes Mal aber blieb es bei dem Pfeifen, mehr war nicht zu hören.
Gerade, als man aufgeben wollte, etwas aus dem Ton herauszuholen, passierte es!
Einer der Techniker stieß durch Zufall an einen Knopf am Abspielgerät, wodurch die
Aufnahme mit besonders langsamer Geschwindigkeit abgespielt wurde. Und jetzt waren
eindeutig Worte zu hören! Und da es sich nicht direkt um eine menschliche Stimme zu
handeln schien, sondern mehr um ein wie auch immer artikuliertes Fauchen, hatte Hans
Bertrams die Theorie von der sprechenden Riesenkatze ins Spiel gebracht. Es war leider fast
nichts von dem zu verstehen, was die Aufnahme zu Tage gefördert hatte, lediglich ein Paar
Satzfetzen waren eindeutig als Sprache zu erkennen. Und die Worte waren: „…verdammt
sein…Seele…da Como…Stein…“, und das Wort „dienen“. Ansonsten gab es auf dem Band nur
Schreckens- und Schmerzensschreie zu hören.
„Also Konrad, wie du willst. Hier jetzt noch mal ganz rational, was wir haben“, sagte
Bertrams, „Wir haben eine männliche Leiche, 55 Jahre alt, Name war Bruckner. Er war
Archivar im Museum, hatte länger als üblich gearbeitet. Aus irgendeinem Grund flieht er vor
irgendjemandem oder irgendetwas in ein Treppenhaus. Dort muss es zum Kampf mit dem
oder den Tätern gekommen sein.“
„Oder dem Tier, wie du meinst!“, warf Wallner ein.
„Ich meine nicht, sondern ich schlussfolgere aus den Aufnahmen. Dass es sich um eine große
Katze handeln könnte, ergibt sich anhand des Einzelbildes, dass diesen Schluss durchaus
zuließe.“
„Schon gut, schon gut. Nur nicht aufregen. Weiter mit den Fakten, bitte.“, sagte Wallner.
„OK. Bruckner taucht blutüberströmt wieder im Museum auf, Arme und Hände zerkratzt,
klaffende Wunde im Gesicht. Er presst die Hände an die Brust, sackt zusammen, stirbt. Kurz
davor der schrille Pfeifton, den wir als Worte haben identifizieren können.“, führte Bertrams
sein Resümee zu Ende.
„Hm. Außer einem Toten mit seltsamen Verletzungen haben wir also gar nichts Rationales,
fürchte ich. Hoffentlich meldet irgendein Zirkus noch einen Puma vermisst, oder ähnliches.
Ansonsten werden wir den Fall wohl zu den Akten legen müssen.“
„Vergiss nicht die Worte, die wir haben. „Da Como“, klingt für mich wie ein Name. Vielleicht
sollten wir da mal ansetzen?“
„Klingt italienisch. Oder spanisch oder etwas in der Art. OK, lass uns nach diesem Koma –
Typen mal forschen.“, sagte Wallner.
„Da Como, nicht Koma. Aber das überlassen wir besser Templeton, es ist sein Fall. Und falls
Du nichts dagegen hast, würde ich die Geschichte von unserer redenden Riesenkatze gerne
noch jemandem weitergeben. Wer weiß, vielleicht könnte er uns einen Tipp geben.“, gab
Bertrams zu bedenken.
„Um Himmels willen, bist du wahnsinnig? Wem willst du denn eine solche Räuberpistole
aufbinden? Das glaubt uns ja doch keiner, nicht einmal ich ziehe es ernsthaft in Betracht!“,
presste Wallner entsetzt hervor.
©Dirk Eickenhorst 2008
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„Ich kenne da einen Kollegen in England. Du hast seinen Namen bestimmt schon in dem
einen oder anderen Zusammenhang gehört. Hatte damals öfter mit Willi Melchner zu tun,
bevor der…verschwand. Sein Name ist Driscoll. James Driscoll.“
„Der Geisterbulle? Komm schon, wer glaubt denn an so was? Gut, die Engländer hatten ja
schon immer ‚einen weg’, so von wegen „Ungeheuer von Loch Ness“ und so, aber hier in
Deutschland …na, ich weiß nicht. Aber wenn du meinst, es könnte uns dabei helfen, diesen
Fall schnell abzuschließen, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Vielleicht kann dieser GespensterCop unserem Mann ja ein paar Tipps geben. Zugegebenermaßen eilt diesem Engländer ja ein
gewisser Ruf voraus. Soll ja schon eine Menge Fälle gelöst haben, die als unlösbar galten.“
„Eben.“, antwortete Bertrams,
„Templeton klingt ebenfalls nach einem Engländer. Wer ist der Mann eigentlich?“, fragte
Wallner.
„Stimmt, du kennst ihn ja noch gar nicht. Ist vor gut vier Wochen zu uns gekommen. Hat sich
auf eigenen Wunsch von Mülheim an der Ruhr hierher versetzen lassen. Seine Eltern kamen
bei einem Autounfall beide ums Leben, und da wollte er wohl auch räumlichen Abstand
gewinnen. Ist sein erster eigener Fall hier bei uns, hat einen Ruf als gewissenhafter,
besonnener Bulle. Ist tatsächlich ein Sohn britischer Eltern. Sein Vater war Soldat in den
Wrexham-Barracks in Mülheim, bis zu seiner Pensionierung vor einigen Jahren. Seine Mutter
war meines Wissens Hausfrau. Warte, ich schau mal kurz in seine Akte, falls es dich
interessiert.“
„Sicher.“
Bertrams verlies kurz das Büro, kehrte aber bereits nach wenigen Sekunden zurück. Er war
ein sehr gut organisierter, ordentlicher Mensch, und hatte in seinem Büro, dass direkt an das
Wallners grenzte, seinen aufgeräumten Schreibtisch geöffnet und mit einem sicheren Griff in
die mittlere Schublade eine dünne Aktenmappe entnommen. Er schlug sie auf.
„Richard Templeton, genannt Rick, geboren in Coventry, Groß-Britannien am 26. April 1969.
Mit seinen Eltern 1970 nach Mülheim an der Ruhr gezogen, sein Vater David war Soldat,
Mutter Helen Hausfrau. Aufgewachsen in Deutschland. Nach Grund- und Realschule hat er
noch einige Runden im Gymnasium gedreht, und ein Einser-Abi hingelegt. Hat mit 20 die
Deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Danach Ausbildung bei der Polizei, gefolgt von
einer ganz normalen Karriere bis hin zum Kriminalkommissar. Ich kenne ihn schon eine ganze
Weile, komme auch ganz gut mit ihm klar. Habe ihm auf der Akademie einiges beigebracht.
Nach dem Tod seiner Eltern, sie starben im völlig ausgebrannten Auto, hat er sich hierher
versetzen lassen. Hat keine Frau, aber das wundert bei dem Job ja nicht. Das ist alles.“
„Hm, armer Junge. Egal, wie alt man ist, der Verlust der Eltern ist immer schmerzlich. Wie ist
es zu diesem Unfall gekommen? Wissen wir da was darüber? Ich frage aus reiner Neugier.“,
gab Bertrams zu.
„Ja, es stand in der WAZ19. Ein anderer Fahrer hat wohl beim Überholen auf einer
Landstraße nicht auf den Gegenverkehr geachtet. Um nicht einen Frontalzusammenstoß zu
verursachen, wichen die Templetons aus, und prallten an einen Baum am Straßenrand.
Hatten keine Chance, waren wahrscheinlich sofort tot. Der Wagen ist aber völlig
ausgebrannt, so dass die genaue Todesursache nicht zu ermitteln gewesen sein dürfte.“
„Tragisch. Nun gut, wir sollten uns wieder unserem Job widmen. Ich werde mal im Yard
anrufen, und unsere bisherigen Erkenntnisse meinem Freund dort schildern. Vielleicht kann
dieser Driscoll ja tatsächlich etwas Licht in die Sache bringen helfen. Ich setze Templeton
sofort auf diese „Da Como“- Sache an, vielleicht gibt’s da ja was Interessantes.“, sagte
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Westdeutsche Allgemeine Zeitung
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Der Hexenturm Roman
Bertrams.
€
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„Nein, Herr Bertrams, es tut mir leid. Mister Driscoll ist nicht im Yard zu erreichen. Er hat sich
ein paar Tage frei genommen, sein letzter Fall hat ihn wohl etwas zu schaffen gemacht. Ich
weiß nicht, ob er da gerne gestört werden möchte, er nimmt sich ja nur alle Jubeljahre mal
einen Tag Auszeit, müssen sie wissen. Aber warten Sie, soweit ich weiß, begleitet er einen
Bekannten auf einer Auslandsreise. Ich könnte ja ausnahmsweise mal nachsehen, da es sich
um einen polizeilichen Fall handelt,…warten sie doch bitte mal kurz, ja?“, bat die Dame am
Telefon.
„Gerne.“, entgegnete Bertrams. Drei Mal hatte er die Nummer des Yard gewählt, ehe er
endlich jemanden am Telefon hatte, der ihn mit der Abteilung verbinden konnte, in der
James Driscoll arbeitete. Es musste eine sehr kleine Abteilung sein, aber das wunderte ihn
nicht. Hier in Deutschland würde es eine Abteilung, die sich mit Übernatürlichem und
Unerklärlichem beschäftigt, gar nicht erst geben. Das entsprach so gar nicht der deutschen
Mentalität. Es gab ja für alles eine natürliche Erklärung. Aber er, Hans Bertrams, hatte eben
auch schon andere Erfahrungen gemacht. Er erinnerte sich noch an die Ereignisse anlässlich
der Hochzeit seines ehemaligen Kollegen Willi Melchner. Na ja, er war nicht direkt dabei
gewesen, so gut kannte er Willi nicht, aber es hielt sich nach wie vor hartnäckig das Gerücht,
dass ein Untoter am Tod der Braut beteiligt war. Er war damals als Beamter an den Tatort
gerufen worden, als alles bereits geschehen war. Driscoll war damals auch dabei gewesen.
Dort hatte er ihn kennen gelernt. Ein sehr charismatischer Cop, dachte Bertrams. Die Stimme
am Telefon meldete sich wieder zu Wort: „Herr Bertrams, sind sie noch dran? Gut. Ich habe
mal nachgesehen. James Driscoll müsste im Moment tatsächlich in Deutschland sein. In
Frankfurt, um genau zu sein. Was für ein Zufall, nicht wahr? Er hat uns eine Telefonnummer
hinterlassen, falls wir ihn in dringenden Fällen erreichen müssen. Haben sie etwas zum
Schreiben zur Hand?“, fragte die Sekretärin des Yard.
„Ja, schießen sie los!“, antwortete Bertrams.
„Also, die Nummer gehört der Sekretärin von einem gewissen Professor Komorra, einem
bekannten Parapsychologen aus Frankreich. Er ist mit Mister Driscoll befreundet, und
befindet sich auf einer Reise durch Deutschland, wo er einige Vorträge abhält. Die Sekretärin
heißt Chevalier, Nicole Chevalier. Die Nummer lautet…“
Bertrams notierte sich Namen und Nummer der Sekretärin. Komorra, nie gehört. Ein
ungewöhnlicher Name, selbst für einen Franzosen. Na ja, kann nichts schaden, es einmal zu
versuchen., dachte Hans Bertrams. „Vielen Dank, Miss…?“
„Simpson, Herr Bertrams, ich nannte ihnen meinen Namen bereits am Beginn unseres
Gesprächs!“, zickte die junge Engländerin ins Telefon.
Verdammt, ich werde alt und vergesslich!, schimpfte sich Bertrams in Gedanken, und sagte
dann laut in den Hörer „Tut, mir leid, Miss Simpson, und vielen Dank für die Information.“
Er legte auf.
€
„Templeton, sie fahren noch mal nach Jülich. Sie erhalten dort Verstärkung durch einen
Kollegen aus England. Es müsste sie doch freuen, mal einen Landsmann als Kollegen zu
haben. Driscoll ist sein Name. Ich habe ihm unsere Erkenntnisse mitgeteilt, und er hat es sich
nicht nehmen lassen, uns zu unterstützen. Eigentlich wollte ich ja nur, dass er ihnen einige
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Tipps am Telefon gibt, aber als er die Unterlagen und Aufnahmen gesehen hatte, ich hatte sie
per Email übermittelt, bestand er auf seiner Teilnahme an den Ermittlungen. Es macht ihnen
doch sicher nichts aus, oder, Templeton?“, sagte Hans Bertrams am Telefon zu mir. Er war
mein Chef bei der Aachener Kriminalpolizei. Ich war zwar erst seit ein paar Wochen in
Aachen, aber Hans kannte ich bereits viel länger. Er war während meiner Ausbildung öfters
an der Polizeiakademie als Dozent tätig gewesen, und damals habe ich ihn als
gewissenhaften und vorbildlichen Polizisten kennen gelernt. Ich würde ihn nicht direkt als
einen guten Freund bezeichnen, aber in dienstlicher Hinsicht war er doch so etwas wie ein
väterliches Vorbild für mich geworden. Als dann David und Helen, meine Eltern, bei einem
Unfall mit ihrem Wagen vor einigen Wochen starben, habe ich mich an ihn erinnert, und
nach einigen Telefonaten herausgefunden, dass er die Kripo in Aachen leitete. Da ich auch
räumlich Abstand von meiner bisherigen Heimatstadt Mülheim gewinnen wollte, dort
erinnerte mich alles an meine Eltern, habe ich meine Versetzung nach Aachen beantragt.
Man hatte sie mir zugestanden.
„Chef, bei allem Respekt; ich glaube nicht, dass ich in Jülich Verstärkung brauche. Ich komme
schon mit dem Fall klar. Ich muss nur herausfinden, wie der oder die Täter es geschafft
haben, das Tier unbemerkt in das Museum, und hinterher wieder heraus bekommen haben,
und um welche Art Tier es sich handelte. Wenn es sich nicht um eine vorgetäuschte Attacke
handelte. Es könnten ja schließlich auch ein oder mehrere menschliche Täter gewesen sein,
mit einer nur als pervers zu bezeichnenden Neigung, was die Wahl der Tatwaffe angeht. Und
außerdem ist dieser Driscoll kein Landsmann, wenn er Brite ist. Wie sie wissen, bin ich seit
meinem zwanzigsten Lebensjahr deutscher Staatsbürger. Das sind immerhin 14 Jahre, Herr
Bertrams.“ Ich war tatsächlich etwas gereizt. Es tat mir sofort leid, denn das hatte mein
Vorgesetzter nicht verdient.
„Wie dem auch sei, Rick, sie werden sich mit Driscoll noch einmal in Jülich umsehen.
Vielleicht finden sie ja etwas heraus. Und versuchen sie diesen „Da Como“ zu finden, oder
wenigstens herauszubekommen, um wen oder was es sich handelt. Mehr Informationen
haben wir zu der Person noch nicht, aber das ist ja jetzt ihr Job. Sie melden sich, wenn sie
etwas wissen. Bis dann, Rick, und toi, toi, toi für ihren ersten Fall.“ Mit diesen Worten legte er
auf, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich fuhr nach Hause, aß noch etwas, und machte mich
dann mit meinem Ford Mondeo auf den Weg nach Jülich.
Zum gleichen Zeitpunkt verabschiedete sich in Frankfurt am Main ein englischer
Polizeibeamter des Scotland Yard von seinem Freund Komorra, um einem deutschen
Polizisten britischer Abstammung bei den Ermittlungen an einem mysteriösen Todesfall in
einem Museum zu helfen. Nicole Chevalier war zuvor von einem deutschen Polizisten
Namens Bertrams kontaktiert worden, der ihr per Email kurz darauf einige Bilder, sowie Tonund Sounddateien gemailt hatte. Als James und sein Freund Komorra das Material sichteten,
verfinsterte sich der Blick Komorras. Er sah seinen Freund vom Yard besorgt an, und sagte:
„James, du solltest sofort dorthin fahren. Ich kann dir jetzt nicht sagen, wieso, aber ich spüre
es deutlich. Hinter diesem Fall steckt eine viel größere Sache als nur ein toter Archivar. Da
geht etwas vor. Etwas, dass auf jeden Fall verdammt böse ist. Sicher ist nur, dass dieser
Templeton mit dem, was ihn erwartet, völlig überfordert sein wird. Ich kann hier jetzt nicht
weg, aber du solltest ihm zur Seite stehen. Wenn einer Licht in diese Sache bringen kann,
dann du, James!“
„Ich fürchte, da hast du Recht, Professor. Wenn ich Verstärkung brauche, rufe ich euch an.
Also, bis bald. Auf Wiedersehen, Nicole.“, verabschiedete sich James Driscoll.
„Machs gut!“, sagte Nicole Chevalier, die nicht nur Komorras Sekretärin, sondern auch seine
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
Geliebte und Kampfgefährtin gegen die Mächte der Finsternis war. Komorra winkte nur kurz,
und widmete sich sogleich wieder der Vorbereitung seines Vortrags, den er am Abend halten
wollte. James stieg in seinen Bentley, und machte sich auf die weite Fahrt nach Jülich. Er
hatte gute 240 Kilometer Autobahn vor sich, als er in Frankfurt am Opelrondell auf die A648
auffuhr…
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Mittwoch, 17. April 1546, Jülicher Land
Nahezu zwei Monate hatte sich Catharina Elisabeth Schuif, die Hexe, nun bereits versteckt
und sich nur im Schutze der Dunkelheit aus ihrem Versteck heraus getraut. Sie hatte sich im
Wald in der Nähe des kleinen Ortes Müntz, gute sechs Kilometer entfernt von Jülich, eine
einfache Behausung hergerichtet. Bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, nach
Aachen zu ziehen, wollte sie sich noch ein gewisses Startkapital zulegen, um sich das Leben
in der Kaiserstadt Karls des Großen20 auch leisten zu können. Und außerdem hatte sie das
unbestimmte Gefühl, dass ihr noch eine Aufgabe in Jülich bevorstand, die sie noch
auszuführen hatte. Das war aber mehr eine Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl eben.
Außerdem hatte sie sich noch nicht getraut, die Propsteikirche in Jülich wieder zu besuchen,
und sie wollte die Kirche, die ihr so gut gefiel, noch mindestens einmal betreten. Seit dem
Tod des armen Jacop plagten sie Schuldgefühle, und sie würde sich gerne mit etwas
Weihwasser die Schuld vom Leib waschen. Denn obwohl sie eine Hexe war, hatte sie keinerlei
Probleme im Umgang mit christlichen Symbolen oder Ritualen. Zu Anfang hatte sie das sehr
verwundert, denn sie hatte gedacht, wenn sie sich mit Hexenpraktiken befasste, würde sie
zumindest allergisch auf Weihwasser oder das Kreuz reagieren, aber nichts dergleichen
geschah. Vielmehr wurde ihr mit der Zeit klar, dass sie nicht nur zur bösen, dunklen Seite
gehörte, sondern dass sie auf beiden Seiten des Glaubens wandelte. Sie glaubte nach wie vor
an Gott, und sie betete auch zu ihm. Gleichzeitig glaubte sie aber auch an Satan, den
obersten Fürsten der Höllenschlünde. Für sie war es nur eine logische Schlussfolgerung, dass
man nicht an das Gute glauben konnte, ohne auch an das Böse zu glauben. Und außerdem
praktizierte sie ihre Rituale und Beschwörungen nicht, um Menschen zu schaden. Bis auf die
Sache mit Jacop, und das tat ihr wirklich leid. Am liebsten wäre sie zur Beichte gegangen,
aber selbst in der Kirche von Müntz konnte sie sich nicht blicken lassen, und sie hatte sich
bislang noch nicht in einer Verkleidung an die Öffentlichkeit gewagt. Dies sollte sich nun
ändern. Denn Catharina brauchte dringend einige Kreuzer, um sich die Reise nach Aachen,
und eine Unterkunft in den ersten Tagen dort leisten zu können, bis sie als heilkundige Frau
irgendwo eine Anstellung finden würde.
Gestern hatte sie durch Zufall eine Gruppe von Holzfuhrleuten entdeckt, die ganz in der Nähe
auf einer Waldlichtung ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der Geruch gebratenen Wildes, und
die Schwaden verführerischen Dufts einer deftigen Gemüsesuppe zogen durch den Wald,
und erreichten bald auch die feine Nase der jungen Frau.
Hunger fraß sich wie Feuer durch ihre Eingeweide, denn sie hatte in den Letzten Wochen nur
von dem gelebt, was sie nachts aus den Gärten der umliegenden Gehöfte stehlen konnte.
Und das war nicht viel. Da es erst April war, gab die Natur ihr noch keine Nahrung her. Und
auf den Beeten der Bauern war auch noch nicht viel zu finden. Ihre Rettung war eine
Entdeckung, die sie ganz durch Zufall machte.
20
Karl der Große, 768-814 n.Chr., Kaiser aus dem Geschlecht der Karolinger
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Im Garten der Kirche von Müntz hatten nämlich die Frauen des Dorfes eine hübsche Pflanze
gesät, die erst wenige Jahre zuvor von spanischen Seefahrern aus Amerika eingeführt wurde.
In dem vor wenigen Jahrzehnten entdeckten Kontinent hatten die Eingeboren, primitive
Wilde, wie man hörte, diese Pflanze angebaut. Der Pfarrer der Gemeinde, ein gelehrter
Mann, der im fernen Sevilla geboren war, brachte die seltsamen, gold-gelben Knollen aus
seiner Heimat mit, und hatte sie den Frauen zum Pflanzen geschenkt. Man konnte mit ihnen
nicht viel anfangen, aber sie trugen wunderschöne Blüten, so dass sie von den Frauen zur
Verschönerung des Kirchengärtchens neben dem Totenacker angepflanzt wurden. Der
lateinische Name der Pflanze war Solanum Tuberosum21, aber der Padre nannte sie nur bei
ihrem in Sevilla üblichen Namen „Papa“. Es hieß, dass die Pflanze essbare Früchte trüge. Aber
als eine der Frauen im vergangenen Sommer eine der grünen Früchte dieser seltsamen
Pflanze aß, bekam sie fürchterliche Bauchschmerzen, und war im Anschluss daran fast drei
Tage krank. Vor zweieinhalb Wochen aber, als Catharina aus einem Beet in der Nähe einige
Zwiebeln gestohlen hatte, die gerade frischen Lauch trieben, machte sie ihre Entdeckung.
Der Küster der Dorfkirche hatte einige Sträucher zurückgeschnitten, und das
heruntergefallene Laub des letzten Jahres zusammen mit den geschnittenen Ästen und
Zweigen verbrannt. Neben dem Feuer aber war ein kleiner Haufen der Wurzelknollen des
Solanum Tuberosum aufgeschichtet. Die Frauen wussten, dass aus diesen Samenknollen, die
die Spanier „Papa“ nannten, die neue Blume erwuchs. Sie hatten sie dort aufgeschichtet, um
sie am nächsten Tag zu pflanzen. Einige der Knollen waren von dem Haufen in die noch heiße
Glut des erloschenen Feuers gerollt, und verbreiteten nun einen verführerischen Duft, den
Catharina noch nie zuvor gerochen hatte. Als er ihr zum ersten Mal in die Nase stieg, lief ihr
sogleich das Wasser im Munde zusammen, und ihr wurde schlagartig klar, dass nicht die
giftigen, grünen Früchte, sondern die unterirdisch wachsenden Wurzelverdickungen die
essbaren Teile der Pflanze waren! Heißhungrig hatte sie in dieser Nacht die Knollen
verschlungen, und fühlte sich danach zum ersten Mal seit Wochen richtig satt. In den darauf
folgenden Nächten genehmigte sie sich immer wieder mal einige der köstlichen Knollen. Sie
hatte sie auch mal roh probiert, aber das war nichts im Gegensatz zu einer gegarten „Papa“.
So überstand sie die Zeit bis zum heutigen Tage.
Nun aber wehte der Wind ihr die Düfte der Speisen in die Nase, die die Holzfuhrleute auf
ihrem Feuer hatten. Und die Fuhrleute kamen nicht aus der Gegend, sondern waren nur auf
der Durchreise. Dies bedeutete, dass sie Catharina nicht kannten. Selbst wenn die Männer in
der Stadt von der Hexe gehört haben sollten, da sie sie noch nie gesehen hatten, würden sie
sicher keinen Verdacht schöpfen. Catharina putzte sich so gut es ging heraus, brachte ihre
körperlichen Reize zur Geltung, und ging zu den Männern, die sich zu Rast niedergelassen
hatten. Sie wollten im Nahen Wald einige Eichen schlagen, um sie dann auf ihre Wagen zu
laden. Das Holz wollten sie dann in den umliegenden Orten an die Zimmerleute verkaufen.
Catharina wollte so verführerisch wie möglich erscheinen, und so träufelte sie sich ein wenig
Rosenöl auf, und flüsterte leise eine Beschwörungsformel. „Pectus divina pendere!“,
woraufhin ihr Busen genau das auch tat, denn er erhob sich, nein er schwebte ein wenig
höher, was ihr wahrlich das Aussehen einer Liebesgöttin verlieh. Ihre ohnehin schon
offensichtliche Schönheit machte sie in Verbindung mit dem kleinen „Push-up“-Zauber nur
noch unwiderstehlicher. Sicher würde sie bei den Männern leichtes Spiel haben…
„Na, was sehen meine wunden Augen?“, scherzte Wilhelm, der Anführer der Holzfuhrleute.
21
Solanum Tuberosum = Kartoffel, Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt, erst verbreitet angebaut als
Nutzpflanze ab ca.1600 n.Chr.
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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„Wenn das mal nicht das schönste Kind ist, dass mir in den letzten zwei Jahren begegnet ist!
Komm her, und leiste uns ein wenig Gesellschaft!“ Er hatte ein eindeutig zweideutiges
Gesicht aufgesetzt, während er das sagte. Die anderen Männer, es waren drei an der Zahl,
starrten Catharina an, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Man hätte meinen können,
ihnen würden die Augen aus dem Kopf quellen, so gebannt starrten sie auf ihren neckisch
auf und ab wippenden Busen, während sie unschuldig lächelnd auf die vier Männer zuging.
„Ihr lieben Fuhrleute, zeigt ein wenig Mitleid mit einer armen Magd, und gebt ihr ein wenig
zu Essen und zu Trinken. Ihr habt doch mehr, als ihr allein verzehren könnt. Vielleicht habt ihr
ja auch noch ein, zwei Kreuzer übrig für mich, damit ich mir ein paar warme Unterkleider
kaufen kann?“, säuselte Catharina zuckersüß. Und wie um zu beweisen, dass sie sich keine
Unterwäsche leisten konnte, bückte sie sich verführerisch lächelnd wie zufällig ein wenig
nach vorne, was den begeisterten Männern einen flüchtigen Blick auf ihre perfekten Brüste
freigab, die förmlich aus ihrem Kleid zu quellen schienen.
„Na…natürlich, schöne Magd!“, brachte Wilhelm krächzend hervor, der als Erster seine
Stimme wieder gefunden hatte. Er spürte deutlich, dass er sehr damit einverstanden war,
wenn die schöne junge Frau ein wenig bei ihnen blieb, um mit ihnen zu essen. Den Anblick all
dieser jugendlichen Pracht würde er sich sicher auch ein paar Kreuzer kosten lassen. Seine
Alte daheim konnte ihm jedenfalls solche Freuden nicht mehr schenken, jedenfalls hatte er
schon lange nichts mehr zwischen seinen Schenkeln verspürt, wenn er seine dicke Klara
nackt aus dem Zuber hatte steigen sehen. Und der Druck, der sich nun in seiner Hose
bemerkbar machte, sprach eine deutliche Sprache, die für alle Anwesenden zu erkennen war.
Wilhelm schoss das Blut in den Kopf, denn es war ihm etwas peinlich, seine Erregung so offen
zeigen zu müssen. Catharina fiel es zwar sofort auf, aber sie tat so, als habe sie nichts
gesehen. Sie setze sich zu den Männern, aß und kokettierte mit ihnen, und als sie satt war,
erbettelte sie sich mit aufreizenden Augenaufschlägen ein paar Kreuzer, und ging wieder.
Zuvor aber hatte sie den Männern noch den einen oder anderen Blick auf ihre weiblichen
Reize gegönnt. Dies tat sie natürlich nicht ohne Eigennutz, denn sie hatte fest vor, den
Männern auch am nächsten Tag einen Besuch abzustatten. Sie hatte beim Essen von Ihnen
erfahren, dass sie die nächsten drei, vier Tage damit zubringen würden, die Bäume zu
schlagen und vom Geäst zu befreien, die sie dann auf ihre Fuhrwerke laden wollten, um sie
zu verkaufen. Als sie ging, freute sich Catharina schon auf das Wildbret des nächsten Tages,
und wackelte noch ein wenig mehr mit ihrem Hinterteil, damit die Männer, deren Blicke sie
auf sich geheftet geradezu spüren konnte, sich auch besonders auf ihren morgigen Besuch
freuten.
Sie lächelte zufrieden.
Männer!, dachte sie schmunzelnd.
An den nächsten beiden Tagen besuchte Catharina die Fuhrleute zweimal am Tage, wobei sie
jeweils wieder ganz auf ihre weiblichen Reize setzte. Allerdings bemerkten die Männer, die
langsam aber sicher auch eine Gegenleistung für ihre Großzügigkeit erwarteten, dass sie
außer ein paar flüchtigen Blicken auf die jugendliche Pracht der vermeintlichen Magd nichts
zu erwarten hatten. Das machte sie ein wenig ärgerlich, und so beschlossen sie, der Frau
nichts mehr zu geben, wenn sie sich nicht bereit erklären sollte, ihnen als Gegenleistung
einen kleinen „Liebesdienst“ zu erweisen.
„Nein, Weib, es tut uns leid, aber Du kannst nicht mehr mit uns essen. Und wir haben unser
schwer verdientes Geld auch nicht zu verschenken. Du wirst es dir schon verdienen müssen,
wenn du weiter von uns profitieren willst. Was meint ihr, Männer?“, gab sich Wilhelm mal
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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wieder als Sprecher der Gruppe zu erkennen. Die Männer lachten schmutzig, so das
Catharina sofort klar war, was mit „verdienen“ gemeint war. Dennoch tat sie unschuldig, und
säuselte: „Herr Wilhelm, gerne will ich mir euer gutes Essen verdienen. Ich kann doch euer
Lager sauber halten, die Wäsche für euch waschen oder das Essen für Euch zubereiten, was
denkt ihr darüber? Wäre das in eurem Sinne?“
Wilhelm grunzte verächtlich, und wurde daraufhin sehr viel deutlicher.
„Weib, tu nicht so dumm. Du kannst uns nicht tagelang mit deinen Reizen anstacheln, und
dann mit den Diensten einer Hausmagd abspeisen wollen. Du wirst dir von nun an jeden
Bissen auf deinen Knien oder allen vieren verdienen, denn wir sind weit weg von unseren
Weibern. Und nachdem wir in den letzten Tagen deine Bedürfnisse befriedigt haben, wirst du
von nun an unsere befriedigen! Also, wie entscheidest Du dich?“, endete Wilhelm grinsend.
Er war sich sicher, die junge Frau würde sogleich ihr Kleid zu Boden sinken lassen, denn er
war davon überzeugt, dass sie auf das Essen und Geld angewiesen war. Außerdem gab sie
sich ja auch sonst sehr freizügig. So hatte er ganz deutlich gesehen, dass sie nichts unter dem
Rock ihres Kleides trug, als sie sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, und ihre Beine
umständlich übereinander schlug. Wieder spürte er den Stoff seiner Hose, die sich über
seiner anschwellenden Männlichkeit spannte. Voll sexueller Gier starrte er Catharina
triumphierend an. Jedoch, er sollte enttäuscht werden.
„Was fällt euch ein, unverschämtes Mannsbild!“, empörte sich die junge Hexe. „Ich bin eine
ehrenhafte junge Dame, und habe trotz meiner Armut eine gute Erziehung genossen. Eine
Eigenschaft, die euch offensichtlich abgängig ist. Ihr solltet euch schämen, so mit einer Frau
zu sprechen. Auf gar keinen Fall werde ich euch auf diese Art zu Diensten sein! Von euren
Eheweibern mögt ihr das verlangen können, von mir jedoch nicht! Und nun lebt wohl!“
Catharina war tatsächlich ein wenig empört über die Dreistigkeit der vier Männer. Das
schiere Entsetzen allerdings, das sie zur Schau stellte, war nur gespielt. Schließlich war es ihr
vollkommen bewusst, dass die Männer auf ein amouröses Abenteuer mit ihr aus waren.
Nach ihren eindeutigen Avancen wäre es auch ein Wunder gewesen, wenn die Männer sich
ihr nicht zu nähern versucht hätten. Die Tatsache aber, wie plump und phantasielos sie es
einforderten, verärgerte sie tatsächlich. Wäre der Wilhelm, ein grober, aber nicht hässlicher
Kerl von einem Mann, nur ein wenig erfinderischer und romantischer gewesen… aber so auf
keinen Fall!
Das war es dann wohl mit Wildbret und Bier fürs Erste, dachte Catharina etwas traurig.
Zurück zu den Knollen für die nächsten Tage also.
Sie drehte sich um und wollte gerade die Lichtung in Richtung ihres Versteckes verlassen, als
sie eine große Männerhand grob an ihrem Oberarm zerren spürte.
„Nicht so hastig, Magd! Du hast dein Essen nicht bezahlt!“
Es war Wilhelm. Er hatte sich anscheinend dazu entschieden, sich die Bezahlung, von der er
meinte, sie stünde ihm zu, mit Gewalt zu nehmen. Er packte sie fest an den Oberarmen,
drehte sie unsanft zu sich um, und versuchte sie auf den Mund zu küssen. Catharina drehte
ihren Kopf zur Seite, und versuchte, sich seinem festen Griff zu entwinden.
Er war zu stark. Sie schaffte es lediglich, ihm den Rücken zuzuwenden.
„Halt schon still, Wildkatze!“, blaffte Wilhelm, „Dann ergeht es dir besser. Du kannst ja gleich
wieder gehen.“ Er machte eine kurze Pause. Seine Kameraden sahen ihn fragend an.
„Nachdem du uns bedient hast. Einen nach dem Anderen!“, fügte er in einem kalten,
bedrohlichen Tonfall hinzu. Und dann begann er zu lachen. Seine Kameraden, die noch vor
Sekunden fragend dreinschauten, brachen in ein triumphierendes Gelächter aus. Einer von
ihnen knöpfte sich bereits das Wams auf, und kam auf Wilhelm und Catharina zu, die noch
immer vergeblich versuchte, sich seinem Griff zu entziehen. Wilhelm lockerte seinen Griff an
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Der Hexenturm Roman
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ihrem rechten Arm, und ließ los.
In Catharina keimte für den Bruchteil einer Sekunde die leise Hoffnung auf, Wilhelm wolle sie
nur einschüchtern, und ließe sie jetzt mit einem Schrecken davonkommen.
Und dann war der Sekundenbruchteil vorbei.
Wilhelm griff mit seiner Pranke in das Dekolleté der jungen Frau, und riss ihr mit einem
gewaltigen Ruck das Kleid vom Leib! Mit einem entsetzlich reißenden Geräusch wurde ihr
Kleid regelrecht entzwei gerissen, und Catharina stand splitternackt vor den Männern! Vor
Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so
erniedrigt gefühlt!
Sie hatte bewusst auf die Unterwäsche verzichtet, weil sie die Männer ja anheizen wollte, um
sich noch eine Mahlzeit und etwas Geld zu ergaunern. Sie hatte aber nie damit gerechnet,
dass die Männer so mit ihr umgehen würden, so unmenschlich und enthemmt. Und in
diesem Moment keimte in ihr die schreckliche Gewissheit, dass die vier Männer sie
vergewaltigen wollten!
„Ahh, so lieb ich das!“, stieß Wilhelm kehlig hervor, und Schweiß trat ihm vor Erregung auf
die Stirn. Catharina hatte vor lauter Ekel bereits die Augen zugekniffen, versuchte mit aller
Kraft, sich aus der unangenehmen Umklammerung zu befreien, als sie Wilhelm grobe Hand
an ihrer Brust fühlte, die ganz rau von Hornhaut war. Unsanft begann er ihre Brust zu kneten.
Catharina nahm all ihre Kraft zusammen, atmete tief ein, erfüllt von schrecklicher Angst, und
ruckte mit aller Kraft herum.
Es gelang ihr!
Nun stand sie Wilhelm von Gesicht zu Gesicht gegenüber. Nach einem kurzen Augenblick der
Verblüffung stieß er hervor: „Was nun, Weib? Willst du jetzt Vernunft annehmen und mir
geben, was mein ist, oder muss ich es mir mit Gewalt holen? Häh? Wärst nicht die Erste,
verdammte Hure!“ Sein Gesicht war dunkelrot von Anstrengung und Erregung.
„Aber für dich die letzte!“, stieß Catharina atemlos hervor, und rammte Wilhelm mit aller ihr
zur Verfügung stehenden Kraft ihr Knie in die Hoden!
Wilhelm hielt die Luft an, er begann regelrecht zu schielen, entließ die junge Frau aus seiner
Umklammerung, und brach in die Knie. Ihm fehlte sogar die Atemluft für einen
Schmerzensschrei, so gut hatte die Frau ihn getroffen. Diese Wendung hatte er niemals in
Betracht gezogen, aber das war ihm in diesem Moment vollkommen egal, denn seine Welt
bestand nur noch aus Schmerz, der ihm Sternchen sprühend vor den Augen tanzte.
Die anderen Männer blieben verdutzt stehen, Unfähig, sich zu entscheiden, was sie tun
sollten.
Sollten sie ihrem Anführer zu Hilfe eilen, oder die nackte Schönheit jagen, die so schnell sie
konnte auf den Waldrand zu rannte. Sie konnten es nicht, und blieben zunächst dumm
glotzend stehen. Die Blicke immer wieder zwischen Wilhelm und der flüchtenden Nackten
hin und her wandernd. Das ging so lange, bis Wilhelm seine Orientierung wieder zurück
gewann,
„Ihr Idioten! Eilt und holt mir die verdammte Schlampe zurück! Die mache ich kalt! Los doch,
ihr Schlappschwänze, worauf wartet ihr denn noch!?“ Er war außer sich vor Wut. Aber die
drei anderen rannten nicht hinter der Frau her. Sie war nicht mehr zu sehen.
Sobald Catharina die ersten Bäume des Waldes erreicht hatte, hatte sie sich aus ihrer
nackten Frauen- in ihre Katzengestalt geflüchtet, und war so schnell sie konnte in ihr Versteck
geeilt.
Sie war außer sich vor Wut, Entsetzen und Angst.
Ihr verdammten Schweine! Na wartet, euch zahle ich es noch heim!, dachte sie
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
wutentbrannt.
Dass es ihr nicht gelingen würde, konnte sie ja noch nicht ahnen…
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„Heinrich, Martin! Kommt her, verdammt! Helft mir, den Gurt fest zu zurren! Beeilung, ich
habe nicht den ganzen Tag Zeit!“, kommandierte Wilhelm seine Kameraden herum. Diese
beeilten sich, seiner Anweisung nachzukommen, denn seit dem Vorfall mit der jungen Frau
war mit ihm nicht mehr gut Kirschen essen. Die Schönheit hatte sich nicht mehr blicken
lassen, und die Männer gaben daran Wilhelm die Schuld, der sich wie immer viel zu grob
aufgeführt hatte. Aber das würden sie ihm nicht sagen, das wagten sie nicht. Sie wussten nur
zu gut, dass es schmerzhaft sein konnte, ihren Anführer zu kritisieren, und auf das Thema
war er momentan mehr als allergisch. Friedrich, der vierte der Männer, saß bereits auf dem
Bock des Wagens, um die Pferde anzutreiben, sobald der Gurt befestigt war. Sie hatten es
eilig, wieder weiter zu kommen. Dann würde sich Wilhelms Laune vielleicht wieder bessern.
Er würde sich im nächsten Ort an einer Dirne abreagieren, das stand für die Männer fest. So
gut kannten sie ihren Wilhelm. Und genau deshalb tat ihnen die Dirne bereits jetzt leid.
„So ist’s gut, Männer, es kann losgehen! Auf geht’s! Hoooh!“, rief Wilhelm, und gab dem
Pferd einen Klaps auf das Hinterteil. Friedrich ruckte an den Zügeln, auch er rief ein
„Hoooh!“, auf das die Tiere sogleich reagierten, und sich in die Riemen legten.
Nichts.
Nicht einen Meter bewegte sich der Wagen vorwärts. Die Pferde schnauften, stemmten sich
kraftvoll gegen die Last, aber sie schafften es nicht, den Wagen auch nur ein wenig zu
bewegen.
„Was soll das denn jetzt?“, fragte Wilhelm.
„Keinen Schimmer. Zu schwer kann die Kutsche nicht sein, wir hatten schon mehr geladen,
und da ging’s doch auch. Keine Ahnung, was los ist. Vielleicht sind die Tiere zu schwach?“,
schlug Martin vor.
„Unfug!“, entrüstete sich Friedrich, der in der Gruppe die Verantwortung für die Pferde trug.
„Die sind stark und ausgeruht, und ordentlich gefressen haben sie heute Morgen auch!“
„Ja, aber wohl zu viel, was? Und jetzt können sie nicht mehr, weil ihre Mägen prall sind vom
Fressen und Saufen! Sieh bloß zu, dass du die Schindmähren wieder auf Touren bringst, oder
ich schwöre dir, der Abdecker wird eine Verabredung mit ihnen haben!“, polterte Wilhelm.
Seit dieses verfluchte Miststück mich getreten hat, klappt aber auch nichts mehr!, dachte er
erbost. Man könnte meinen, sie habe uns verflucht., fügte er noch in Gedanken hinzu.
Er ahnte nicht, dass er der Wahrheit damit bereits ganz nahe gekommen war.
„Wenn ich es dir doch sage, Wilhelm, die Pferde sind vollkommen in Ordnung. Es kann nicht
an den Tieren liegen. Da gebe ich dir Brief und Siegel drauf.“
„Und woran bitte soll es dann sonst liegen? Die Räder des Wagens sind rund, also können sie
uns nicht im Wege sein. Der Bremshebel ist gelöst, und kann die Räder nicht blockieren.
Steine oder ein sonstiges Hindernis kann ich hier auch nicht entdecken. Also müssen es eben
doch die Tiere sein. Friedrich, gib ihnen mal ordentlich die Peitsche zu schmecken, dann
werden sie sich sicher genügend anstrengen, um den Wagen zu bewegen!“
Wilhelm war wieder mal zu Höchstform aufgelaufen. Wenn es jetzt nicht sehr bald eine
Lösung für das Problem gab, konnte niemand dafür garantieren, dass die armen Pferde, die
für die ganze Sache ja nun wirklich nicht die Verantwortung trugen, diese Fahrt überlebten.
Wenn Wilhelm einmal einen richtigen Wutausbruch bekam, dann verlor er vollends die
Kontrolle über sich. Er hatte einmal eine Dirne in einer Schenke derartig zugerichtet, dass der
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Wirt die Wachen des Herzogs rufen lassen wollte. Am nächsten Tag war die Dirne
verschwunden, und der Wirt hatte die Wachen nicht benachrichtigt. Niemand wusste, wie
Wilhelm es geschafft, die Sache zu bereinigen, aber entweder hatte er dem Wirt soviel
bezahlt, dass sein Schweigen ihm mehr einbrachte als die Dirne, oder er hatte den Wirt
derartig eingeschüchtert, dass er den Mund vor lauter Angst hielt. Beides konnten sich die
Männer, die mit Wilhelm nun schon seit Jahren auf den Holzfuhrwerken arbeiten, lebhaft
vorstellen. Ihm war wirklich alles zuzutrauen.
„Wage es nicht, meinen Pferden etwas anzutun. Du wirst sie noch ruinieren mit deiner
groben Art!“, beschwerte sich Friedrich, „Ich werde mal nachsehen, was da los ist mit dem
Wagen. Da muss man nur mal vernünftig nachschauen, dann findet man auch das Problem,
ihr werdet es sehen!“ Er sprang vom Wagen, und begann den Wagen langsam zu umrunden,
während er jeden Zentimeter haargenau unter die Lupe nahm.
„Pah!“, entfuhr es Wilhelm. „Pferde muss man nicht besser behandeln wie die Weiber. Wenn
die nicht spuren, bewirkt ein gezielter Klaps auf die richtige Stelle manchmal Wunder!“
„Ja, genau. So wie damals die Dirne in Düren, meinst du wohl?“ warf Martin ironisch ein.
Doch damit hatte er zu viel gewagt.
„Was fällt dir ein? Dämlicher Kerl! Na warte, dir werd ich die Hammelbeine lang ziehen!“.
Wutentbrannt stürmte Wilhelm auf den armen Martin ein, der der Gewalttätigkeit des
Anführers nichts entgegenzusetzen hatte. Aber das Schicksal musste es an diesem Tag gut
mit ihm gemeint haben, denn er musste nur zwei der fürchterlichen Fausthiebe einstecken,
die Wilhelm ihm zugedacht hatte. Er verlor zwei Schneidezähne und brach sich die Nase,
aber das war nichts gegen das, was ihn erwartet hätte, wenn nicht…
„He, Wilhelm! Lass Martin in Frieden und komm sofort mal her! Du wirst es nicht glauben!
Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würde es selbst nicht glauben! Hey,
nun lass endlich von ihm ab, ja? Hier ist die Ursache für unser Problem, und du verprügelst
unsere Helfer! Komm jetzt endlich her! Hier geht was nicht mit rechten Dingen zu, sage ich
dir“ Friedrich klang wirklich überzeugend, und so ließ Wilhelm tatsächlich widerwillig von
Martin ab, der sich vor Schmerzen gekrümmt auf den Boden wälzte.
„Was gibt es denn so Unheimliches zu sehen, dass du wie ein Weib zitternd dastehst. Du
wirst mir noch verweichli…“
Er verstummte auf der Stelle, als er sah, worauf Friedrich deutete. Das konnte doch nicht
möglich sein! Hier ging es wirklich nicht mit rechten Dingen zu, Friedrich hatte tatsächlich
Recht!“
„Was zum Teufel?“, fand er schließlich, nach einer kurzen Schrecksekunde die Sprache
wieder. „Hat einer von euch das da angebracht?“
Wilhelm nahm Friedrichs Entdeckung genauer unter die Lupe. Am rechten Hinterrad der
Kutsche war manipuliert worden. Auf den ersten Blick fiel es einem gar nicht wirklich auf,
aber wenn man genau hinsah, war es mehr als deutlich. Daher hatten sie den Unterschied
auch nicht sofort bemerkt, sondern erst jetzt, da sie gezielt danach gesucht hatten.
Das Rad hatte eine Speiche zu viel!
Zwischen zwei vollkommen normalen Speichen, die in der Radnabe verankert waren,
entsprang eine etwas dünnere, wie natürlich gewachsene Speiche. Es war allerdings nichts
an dieser Speiche auszumachen, was das Rad hätte blockieren können. Aber es war definitiv
das Einzige, das nicht normal an der Kutsche war, und an irgendwas musste es ja liegen, dass
der Wagen nicht mehr zu bewegen war.
„Wisst ihr, was ich glaube?“, warf Wilhelm in die Runde der erstaunt auf die überschüssige
Speiche starrenden Männer. „Das verdammte Weibsbild hat das da irgendwie angebracht.
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Die will sich an mir rächen, weil ich ihr ein wenig auf die Pelle gerückt bin.“
„Ein wenig ist gut, Willi, du hast ihr die Kleider vom Leib gerissen, und wolltest sie schänden,
erinnerst du dich?“
„Papperlapapp! Was auch immer, nun macht euch mal nicht in die Hosen! Was, wenn das
Weib am Ende eine Hexe war? In Jülich haben sie doch von so einem Weib geredet. Vielleicht
war sie das ja. Mir kommt es jetzt im Nachhinein jedenfalls etwas seltsam vor, dass sich ein
einsames Weib, noch dazu so ein Prachtexemplar, alleine im Wald herumtreibt. Und uns
ohne Unterrock schöne Augen macht!“
„Könnte was dran sein.“ Gab Martin kurzatmig seinen Senf dazu. Er hatte sich wieder
aufgerappelt, und hielt sich nun mit der rechten Hand einen Lappen vor sein blutiges
Gesicht.
„Schwachsinn!“ entfuhr es Heinrich, der bisher den Mund gehalten hatte. „Jetzt fangt mir
nicht auch noch mit diesem Hexenwahn an. Ihr klingt ja schon fast wie der bescheuerte
Küster in Jülich! Der ist mir letzte Tage ganz schön auf die Nerven gegangen, mit seinem
Hexengewäsch. Hat mir in der Schenke seine halbe Bibliothek vorgebetet, wenn ihr mich
fragt. Mir hat schon fast mein Bier nicht mehr geschmeckt!“
„Aber auch nur fast!“, warf Wilhelm schmunzelnd ein. „Du warst doch sturzbesoffen an dem
Abend, wenn ich mich recht entsinne!“
„Na, anders als im Suff war der Kerl ja auch nicht zu ertragen!“, lachte Heinrich. Die anderen
Männer fielen in sein Gelächter ein.
Wilhelm beruhigte sich als Erster wieder. Er ergriff wie immer die Initiative.
„So, Schluss mit lustig. Wir müssen weiter, und unsere Pferde können den Wagen nicht mehr
bewegen. Es ist aber alles in Ordnung, sowohl mit den Pferden als auch mit der Kutsche. Das
Einzige, was nicht normal ist, ist eine überzählige Speiche am rechten Hinterrad. Stimmt ihr
mir soweit zu?“
Die anderen nickten.
„Dann seid ihr bestimmt auch der Meinung, dass wir uns schleunigst von der Speiche
trennen sollten?“
Wilhelm wartete keine Antwort ab. Er ergriff eine der Holzfälleräxte, die auf dem Wagen
lagen, und schlug mit zwei gezielten Hieben die ungerade Speiche aus dem Rad. Es krachte
zweimal kurz, und weg war die Speiche.
„Habt ihr das gehört?“, sagte Friedrich, und machte einen eingeschüchterten
Gesichtsausdruck.
„Was denn? Meinst du das Krachen der Speiche, oder was?“, fragten die drei anderen
Männer, denen offensichtlich entgangen war, was Friedrich gehört hatte. Er sah besorgt aus,
und die sonst so rosige Farbe hatte seine Gesichtszüge verlassen. „Nein, ich meine den
Schrei!“, entfuhr es ihm atemlos.
„Schrei? Jetzt fängst du langsam wirklich an zu spinnen, Friedrich. Es hat keinen Schrei
gegeben, sonst hätten wir ihn doch auch gehört! Vielleicht hast du nur einen Vogel gehört,
der sich vor Wilhelms Axthieben erschreckt hat.“, gab Heinrich einen Erklärungsversuch von
sich.
„Oder du hast einen Vogel, und hörst ihn zwitschern!“, spottete Wilhelm. „Kommt jetzt, wir
haben nicht den ganzen Tag Zeit. Friedrich, hoch auf den Bock mit dir, und gib den Kleppern
die Sporen. Ich will sehen, ob wir jetzt von der Stelle kommen!“
Friedrich gehorchte, wie immer. Er stieg auf den Wagen, nahm die Zügel in die Hand, und zog
sie leicht an. Sofort setzten sich die Pferde in Bewegung, und die Kutsche bewegte sich! Mit
Leichtigkeit zogen die Tiere den schweren Wagen in Richtung Geleitweg.
Die Männer vergaßen bald darauf das Vorkommnis mit der Speiche, und abgesehen von
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
Friedrich, der immer wieder an den Schrei denken musste, dachten sie nicht mehr an diesen
Tag, nachdem er vergangen war. Er hätte schwören können, aus der Ferne eine
Frauenstimme gellend schreien gehört zu haben. Ein Schmerzensschrei, da war er sich sicher.
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Catharina Elisabeth Schuif, die manche Leute auch „die Hexe aus dem Gelderland“ nannten,
versteckte sich in den nächsten Tagen wieder in ihrer Behausung im Wald bei Müntz. Nachts
ging sie in den Ort, und suchte dort nach Nahrung. Die Solanumknollen, die sie ausgrub,
waren leider nicht mehr genießbar, da sie bereits ausgetrieben hatten, und in der Erde
verschrumpelten, je größer die Pflanzen über dem Boden wuchsen. Einem heimlichen
Beobachter wäre sicher die Schlinge aufgefallen, in der sie ihren an zwei Stellen gebrochenen
rechten Arm trug…
Samstag, 6. März 2004, Jülich
„So, Herr Driscoll, sie hätten dann Zimmer neun. Ich hoffe, es macht ihnen nichts aus, dass
wir mit der Einrichtung noch nicht ganz fertig sind?“, fragte der Betreiber des Hotels. Es war
ein junger Mann, schlank, mit kurz geschorenen, dunkelblonden Haaren. Er hatte den
Hotelbetrieb erst vor ein paar Tagen übernommen, da der vorherige Besitzer das Hotel
abgestoßen hatte, um sich nur noch auf sein Restaurant gegenüber zu konzentrieren.
„Nein, überhaupt nichts, danke. Ich werde ja ohnehin nur ein paar Tage in der Stadt sein, und
tagsüber sicher nicht oft hier im Hotel. Sie können also getrost renovieren, ohne Angst zu
haben, mich zu stören.“, antwortete James.
„Gut. Sie müssen wissen, ich habe das Hotel hier erst vor ein paar Tagen übernommen. Ich
hatte eigentlich nur das Bistro im Erdgeschoss gepachtet, aber als sich mir diese Gelegenheit
bot, habe ich sie beim Schopf gepackt. Es ist eins von nur zwei Hotels hier in der Stadt, da
werden sicher ein paar Euro mehr in die Kasse fließen. Auch wenn die Anzahl der
Übernachtungen sich in Grenzen hält. Ist eben nur ne Kleinstadt hier.“
„Ja ja, gut. Ich werde dann mal auf mein Zimmer gehen, und meine Tasche auspacken. Mister
Templeton, wollen sie mit auf das Zimmer kommen? Driscoll sah mich fragend an.
„Äh, nein danke. Ich glaube, ich genehmige mir im Lokal unten einen Kaffee. Ich könnte einen
gebrauchen, nach der Fahrt von Aachen bis hierher.“, antwortete ich. Das war nicht gelogen.
Ich fühlte mich tatsächlich etwas müde.
„Gut dann treffen wir uns in ein paar Minuten dort. Ich könnte ebenfalls eine Tasse Tee
vertragen. Bis gleich dann also.“ Driscoll nahm seine Tasche in die rechte Hand, der Hotelier
gab ihm den Zimmerschlüssel in die Linke. Der Schlüssel war an einem etwas
überdimensionierten Metallanhänger befestigt, in den die Ziffer „9“ eingraviert war. James
Driscoll, der Geisterjäger aus London, ging die Treppe hoch, zu seinem Zimmer. Ich wandte
mich in Richtung Ausgang, um an der Ecke des Marktplatzes das Bistro namens „Liebevoll“ zu
betreten. Hoffentlich bereiten die dort ihren Kaffee auch so zu, wie das Bistro heißt, dachte
ich im Stillen. Als Polizist ist man ja so Einiges gewohnt. Auch bei uns in der Aachener
Mordkommission gab es den berühmt-berüchtigten „Büro-Kaffee“. Ein Wunder, dass ich noch
kein Magengeschwür davongetragen hatte.
Keine fünf Minuten später, ich hatte gerade meinen Kaffee bekommen, trat Driscoll an
meinen Tisch heran, und setzte sich mir direkt gegenüber. Der Kaffee war tatsächlich
durchaus genießbar. Driscoll bestellte sich einen Tee, und wandte sich dann mir zu.
„So, sie sind also Rick Templeton. Engländer?“
„War ich mal, ja. Bin aber hier in Deutschland aufgewachsen, und mit 20 „übergelaufen“,
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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wenn sie so wollen.“
„Hm. Sie sehen also Deutschland als ihre Heimat an. Sie hätten es sicher schlimmer treffen
können, schätze ich mal. Wie dem auch sei, wir sollten uns jetzt wohl „unserem“ Fall
widmen. Sie können mich übrigens James nennen, wenn sie einverstanden sind. Das
erleichtert uns sicher die Zusammenarbeit etwas.“
„Äh, ja, natürlich. Nennen sie mich Rick, James.“, sagte ich. Der Mann hielt wohl nicht viel
von Smalltalk, kam gleich zur Sache. Das gefiel mir.
„Dann erzählen sie mir doch einfach der Reihe nach, um was es bei dem Fall geht.“, sagte
James.
„Hat sie denn meine Abteilung nicht vorab informiert, als man sie um ihre Mithilfe bat,
James? Man sagte mir, sie hatten ihre Hilfe zugesagt, nachdem man ihnen die Fakten
präsentiert hatte.“, gab ich ein wenig irritiert zurück.
„Selbstverständlich bin ich im Bilde, was die Fakten angeht. Es geht mir speziell um ihre Sicht
der Dinge, Rick. Sie haben die bisherigen Ermittlungen geführt, und kennen so eventuell
wichtige Details, die ihnen vielleicht noch gar nicht aufgefallen sind, und daher in den
Berichten nicht auftauchen.“, erklärte der Geisterjäger.
„Ah, verstehe. Nun gut, dann lehnen sie sich mal zurück, James. Es begann alles damit, dass
die Putzfrau des Museums…“
Ich erzählte ihm, was ich wusste, und er hörte aufmerksam zu. An der ein oder anderen stelle
fragte Driscoll nach, und ich hatte den Eindruck, einen vernünftigen Cop vor mir zu haben. Es
war mir unvorstellbar, wie sich ein so seriös wirkender Polizist in einer Abteilung betätigen
konnte, die sich mit Gespenstern und ähnlichen Horror-Quatsch beschäftigte.
Ich musste noch viel lernen…
„Nun gut, Rick. Danke erst mal für ihren ausführlichen Bericht. Eine Frage: Haben sie schon
etwas über „Da Como“ in Erfahrung gebracht? Handelt es sich um eine Person, oder
vielleicht eine Stadt oder eine Firma?“
„Nein, leider weiß ich in der Richtung noch gar nichts. Die Kollegen in Aachen haben sich
aber dahinter geklemmt. Sobald die etwas herausfinden, werden wir unterrichtet.“,
antwortete ich ihm.
„Aha, na gut. Dann sollten wir uns bis dahin etwas eingehender mit dem möglichen
Tathergang befassen. Was glauben sie, ist in dem Museum wirklich passiert, Rick?“, wandte
sich Driscoll erneut an mich.
„Wie meinen sie das, James? Ich habe ihnen die Fakten doch gerade erst dargelegt.“ Ich
verstand die Frage nicht. Sie ergab für mich keinen Sinn.
„Ich meine nicht die Fakten, Rick. Ich meine ihre persönliche Meinung. Wie denken sie, ist es
zum Tod des Archivars gekommen? Was hat ihn getötet?“
„Das ist leicht!“, gab ich zurück. „Er starb an einem Herzanfall. Er hatte sich erschreckt, zu
Tode sozusagen.“
„Gut, aber was hat ihn so erschreckt? Eine einfache Katze kann einen erwachsenen Mann
nicht zu Tode erschrecken, selbst wenn sie groß war. Selbst dann nicht, wenn der Mann
gesundheitlich angeschlagen war. Einbruchspuren gab es im Museum keine, ebenso wenig
wie Fingerabdrücke oder sonst etwas in der Art. Das ging ja auch aus ihrem Bericht hervor.“
Driscoll hatte damit meinen wunden Punkt getroffen. Ich wusste mir genau an der Stelle
auch keinen Rat. Ich glaubte nicht wirklich an die Katzennummer, schon gar nicht an eine
angeblich sprechende Riesenkatze, und es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sich Personen
in dem Museum aufhielten. Natürlich musste es so gewesen sein, aber es gab eben keine
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Beweise. Ich nahm einen Schluck von dem Kaffee.
„Was glauben sie denn, wie es passiert ist, James. Haben sie etwa eine andere Theorie als
ich?“, fragte ich ihn.
„In der Tat, die habe ich“, antwortete er sogleich. „Ich kann sie noch nicht konkretisieren,
aber einen gewissen Verdacht bezüglich des Tathergangs habe ich durchaus.“
“Dann raus mit der Sprache!“, drängte ich. Ich war ehrlich gespannt auf die Ansichten des
Engländers. Er hatte ja immerhin den Ruf als brillanter Polizist. Da wollte ich jetzt eben gerne
wissen, ob der gerechtfertigt war.
„Gut. Ich denke, dass sich Hans Bruckner tatsächlich zu Tode erschreckt hat. Weiterhin
glaube ich, dass es kein unglücklicher Zufall war. Er ist nicht allein zu Tode gekommen, weil er
eine große Katze gesehen hatte. Er wurde gejagt, verletzt und so derartig terrorisiert, dass
sein darauf folgender Herztod nur die natürliche Folge der Ereignisse war, deren Mittelpunkt
er darstellte. Eine kalkulierte, wenn nicht sogar minutiös geplante Folge, wie ich hinzufügen
möchte.“
Das überzeugte mich noch nicht.
„Das erklärt aber in keiner Weise, wer für die Verletzungen und die Todesangst des Opfers
verantwortlich zeichnete! Wer war der Täter? Oder die Täterin? Vielleicht waren es ja auch
mehrere Täter, wir wissen es ja nicht! Genau das ist doch das Problem an dem ganzen Fall,
James. Wir haben nach wie vor keinen Anhaltspunkt auf die Täter! Da hilft auch die
Erkenntnis nicht, dass der Herztod einkalkuliert oder gar gewollt war! Sie haben nicht gerade
den Nagel auf den Kopf getroffen, James, wenn ich mir diese Kritik erlauben darf!“ Ich
reagierte gereizt, weil mir die bisherigen Ausführungen Driscolls nichts sagten, dass ich nicht
schon wusste. An einen geplanten Mord an Bruckner glaubte ich inzwischen überhaupt nicht
mehr, meiner Meinung nach hatte er lediglich die Einbrecher gestört. Es musste so gewesen
sein. Und er hatte sich den Herztod eingehandelt, weil er der Belastung des Kampfes nicht
gewachsen war, den er zu durchstehen hatte, und in dessen Folge er die schaurigen
Verletzungen davongetragen hatte. Das sagte ich Driscoll auch. Der lächelte mich aber nur
an. Ich meinte, sogar eine gewisse Spur Belustigung in diesem Lächeln zu entdecken.
„Rick, sagt ihnen der Begriff „Xenomorph“22 etwas?“
„Nein, wieso?“, fragte ich. Ich wusste beim besten Willen nicht, was Driscoll mit dieser Frage
bezwecken wollte.
„Xenomorphe nennt man Wesen, welche sich in eine andere Form oder Gestalt wandeln
können. Das können Menschen sein, die diese Fähigkeit erhalten haben, auf welche Art auch
immer. Aber es kann sich durchaus auch um einen Dämon, oder eben um einen tierischen
Xenomorph handeln. Die prominenteste Gattung unter den Gestaltwandlern ist der
Lykantroph, der im Volksmund als „Werwolf“ bekannt ist. Ich könnte mit gut vorstellen, das
wir es hier mit einer wie auch immer gearteten Form einer solchen Gestaltwandlung zu tun
haben.“, schloss Driscoll seine Ausführungen.
„Das halte ich alles für sehr weit hergeholt, um ehrlich zu sein.“, wandte ich ein. „Ich könnte
mich vielleicht noch so gerade damit anfreunden, dass der Täter ein Mensch ist, der sich
einbildet, ein Raubtier zu sein, aber selbst das ist für mich schon starker Tobak. Nehmen sie
es mir nicht übel, James, aber ich glaube nicht an all diesen Hokus-Pokus von wegen Geister,
Dämonen, und was nicht noch alles. Ich bin der festen Überzeugung, es gibt für all die
Mordfälle, die sie der Geisterwelt zuschreiben, eine überaus irdische Begründung.“
„Wenn sie meinen, Rick. Wir werden sehen, wer von uns beiden Recht behält. Sie mit ihrem
Lykomanen, oder ich mit meinen Dämonen und Geistern.“, gab Driscoll zurück. Er wirkte nun
22
Xenomorph (geol.)= fremdgestaltig
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Der Hexenturm Roman
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doch ein wenig verschnupft.
„Ein Lüko-was?“, fragte ich. Ich hatte den Ausdruck noch nie in meinem Leben gehört, und
konnte ihn in diesem Moment keiner Bedeutung zuordnen.
„Lykomane. Ein Mensch, der sich einbildet, ein Raubtier zu sein. Ein Wolf, um genau zu sein.“
„Hm. Hatte ich noch nie gehört.“
„Macht ja nichts. Was halten sie davon, wenn wir uns das Museum noch einmal ansehen?
Ich kenne den Tatort ja bisher nur von Bildern und aus ihrem Bericht. Wie hieß das Museum
noch gleich?“, fragte James.
„Stadtgeschichtliches Museum.“, antwortete ich ihm.
„Nein, das meine ich nicht. Es war ein spezieller Ausdruck, irgendwas mit…“
„Hexen. Sie meinen den Hexenturm. Einer der Ausstellungsräume befindet sich in diesem
mittelalterlichen Turm. Jetzt sagen sie nur nicht, sie glauben es war eine Hexe, James!“,
scherzte ich.
„Wer weiß…“, sagte Driscoll. Er lächelte nicht, als er es aussprach.
In den folgenden zwei Stunden untersuchten James Driscoll und ich das gesamte
stadtgeschichtliche Museum, den Hexenturm, und sogar die Räumlichkeiten des
angrenzenden Kulturhauses, in dem auch die Stadtbibliothek untergebracht war. Es war
beeindruckend, in einer Kleinstadt wie Jülich eine solche Ansammlung von Kultur und
Geschichte in dieser Konzentration zu erleben. Darauf konnten die Stadtväter sich wirklich
etwas einbilden! Auch James Driscoll schien beeindruckt. Wären wir nicht auf der Suche nach
Hinweisen gewesen, die uns in unserem Fall weiterhelfen sollten, wir hätten sicher
stundenlang in den Räumen des Museums oder der Bücherei verweilen können. Leider ging
dies aber nicht. Wir waren schließlich hier, um Beweise für unsere Theorien zu finden, die
sich so sehr voneinander unterschieden.
„Ich schätze, wir können das hier erst einmal abbrechen, Rick. Wir sollten noch einmal im
Dunkeln hierher kommen.“, sagte Driscoll zu mir.
„Warum? Wir werden in der Dunkelheit kaum besser sehen als am Tag. Oder glauben sie nun
auch noch, in der Geisterstunde erscheinen von magischer Hand gezeichnet die
Fingerabdrücke des Täters im Museum?“, spottete ich.
„Jetzt werden sie unfair, Rick!“, beschwerte sich Driscoll.
„Tatsächlich ist es so, dass sich die Kräfte des Bösen eher im Schutze der Dunkelheit zu
bewegen pflegen, als am Tage. Und außerdem habe ich einen triftigen Grund daran zu
glauben, dass wir hier nachts fündig werden könnten.“
„So? Na, da bin ich aber mal gespannt, James. Sagen sie mir: Was macht sie so sicher, dass
wir im Dunkeln hier mehr entdecken werden als jetzt im Sonnenlicht?“
„Ganz einfach. Mein Kreuz hat sich erwärmt.“, sagte James knapp.
„Ihr Kreuz. Erwärmt? Was bitte hat ihr Rücken mit unserem Fall, geschweige denn mit
irgendwelchen Beweisen zu tun, die wir im Dunkeln besser finden sollen als am Tag? Und
wieso deutet ein warmer Rücken darauf hin? Das ist doch wirklich lächerlich, bei allem
Respekt, James!“ Langsam verlor ich die Geduld. Dieser Driscoll schien doch ein ziemlich
durchgeknallter Zeitgenosse zu sein. In diesem Moment schien mir sein guter Ruf gar nicht
mehr so gerechtfertigt.
„Nein Rick, nicht mein Rücken. Da missverstehen sie etwas. Ich trage ein Kreuz um den Hals,
ein silbernes, geweihtes Kreuz. Dieses Kreuz ist wenn sie so wollen, eine Art Waffe gegen das
Böse und die Mächte der Finsternis. Dass es sich hier in diesen Räumen erwärmt hat, zeigt
mir, dass es mit solchen Kräften in Berührung gekommen sein muss, zumindest aber mit
einigen Spuren einer Macht, die hier noch nachhallen.“, erklärte James Driscoll.
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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„So, ein Zauberkreuz? Das müssen sie mir aber mal genauer erklären, dass klingt für mich
alles zu phantastisch! Ich komme mir schon vor wie im „Herr der Ringe“23. Den habe ich als
Jugendlicher geradezu verschlungen. Warten sie, dass kriege ich noch zusammen!“ Und ich
zitierte: „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu
binden, im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.“
„Jetzt machen sie sich endgültig über mich lustig, Rick. Das ist nicht sehr fair. Denn ob sie es
nun glauben oder nicht, mein Silberkreuz hat diese Fähigkeiten tatsächlich!“ Jetzt war
Driscoll endgültig sauer. Das hatte ich natürlich auch nicht gewollt. Ich musste vollkommen
arrogant auf ihn wirken. Ich beschloss, ihm etwas entgegen zu kommen, und bat ihn, mir
etwas über sein Kreuz zu erzählen, dem er phantastische Fähigkeiten zutraute. Was für mich
allerdings ganz klar ins Reich der Sagen und Mythen gehörte. Das sagte ich ihm nun aber
besser nicht.
„Gut, Rick, wenn sie es wünschen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass ihr Interesse nicht
ganz echt ist. Dennoch werde ich ihnen einige Fakten zu meinem Kreuz erzählen, dass nur
eine meiner zahlreichen Waffen gegen die dunklen Mächte ist. Neben dem Kreuz gibt es
noch meine Dienstwaffe, die Beretta, welche in der Regel mit Silberkugeln bestückt ist.“
„Gegen Werwölfe, nehme ich an.“, unterbrach ich ihn.
„Unter anderem, ja. Dann gibt es da noch magischen Sand und einen goldenen Dolch, um
nur einige zu nennen. Und natürlich Weihwasser, dass ist immer recht nützlich. Aber darüber
wollte ich ihnen jetzt nichts erzählen, sie glauben es ja doch nicht, Rick. Zurück zu meinem
Kreuz.“
Er holte es unter seinem Hemd hervor, um es mir zu zeigen. Es war circa handtellergroß, und
hing an einer Kette. Auf ihm waren jede Menge Symbole eingraviert. Ich kannte nicht alle
davon, aber ich erkannte die christlichen Symbole Alpha und Omega, das „Aum“-Symbol und
die Initialen „JD“, was wohl für den Namen des Engländers stand. Auch waren an den vier
Enden des Kreuzes Buchstaben angebracht, die die Anfangsbuchstaben der Erzengel
darstellten. Dies erklärte mir James auf meine Nachfrage.
Weiter erzählte er: „Hergestellt wurde das Kreuz von einem alten jüdischen Priester in
dessen babylonischer Gefangenschaft. Seitdem war es immer wieder im Besitz von würdigen
Trägern. Einige dieser Träger waren König Salomo, der englische König Richard Löwenherz
und der Templerführer Hector de Valois. Die letzte Besitzerin des Kreuzes war Esmeralda
Zömassy, eine Zigeunerin, die als Hexe verfolgt wurde. Sie floh nach England, und so kam ich
in den Besitz des Kreuzes, als ich sie vor zwei üblen Schlägern rettete. Seither ist mir das
Kreuz zu einer unentbehrlichen Waffe geworden, ohne die ich heute hier nicht mit ihnen
reden könnte.“
„Hm. Wenn sie es sagen, James. Ich will diese Erzählung einfach mal so hinnehmen. Erwarten
sie bitte nicht zu viel von mir, James. Dies alles klingt zu phantastisch für mich, und deckt sich
nicht mit meinen Überzeugungen oder meinem Glauben, wenn sie so wollen. Aber wenn sie
meinen, wir können mit Hilfe des Kreuzes ein wenig weiter kommen in diesem Fall, dann bin
ich bereit, diesem Kreuz eine Chance zu geben.“, sagte ich. Mehr konnte ich ihm beim besten
Willen nicht zugestehen.
„Gut, dafür habe ich Verständnis. Wir treffen uns also gegen zweiundzwanzig Uhr hier am
Hexenturm wieder, wenn es ihnen Recht ist. Dann sehen wir weiter. Einverstanden?“
Ich bejahte dies, und so trennten sich unsere Wege für den Rest des Nachmittags. Driscoll
23
Der Herr der Ringe= Erfolgreiches Fantasy-Epos von J.R.R Tolkien, © der Buchfassung 1966 by George
Allen & Unwin Ltd., London
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
ging in sein Hotel, und ich begab mich auf die Suche nach einem Restaurant, in dem ich zu
Abend essen wollte. Mit Driscoll zu essen, kam mir nicht in den Sinn. Ich brauchte jetzt
erstmal einige Stunden Abstand von ihm und seinen phantastischen Geschichten und
Waffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie uns ein Silberkreuz bei einem verstorbenen
Archivar weiterhelfen sollte.
Ich sollte es bald erfahren…
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Samstag, 6. März 2004, 22.00 Uhr, Hexenturm Jülich
„Ah, da sind sie ja. Dann kann es ja losgehen. Ich habe mir den Schlüssel zum Hexenturm bei
Herrn Parse, dem Museumsleiter, besorgt. So können wir uns hier ganz ungestört bewegen.“,
sagte ich zu Driscoll.
„Gut. Dann los, wir sollten keine Zeit verlieren. Die Begegnung Bruckners mit seinem
Schicksal fand ja so ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt statt. Vielleicht haben wir ja Glück,
und finden hier doch noch eine Spur? Lassen sie uns hineingehen, Rick.“, entgegnete James
Driscoll.
Ich schloss die Tür zum Hexenturm auf, und wir betraten das dunkle, enge Treppenhaus.
Treppenhaus war eigentlich übertrieben, es handelte sich um eine Wendeltreppe, die direkt
durch den Turm hinauf in den Raum über dem ehemaligen Stadttor führte, der heute ein
Ausstellungsraum des Museums war. Die Treppe war nicht beleuchtet, und daher mussten
wir sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, um nicht durch einen unbeabsichtigten
Fehltritt das Gleichgewicht zu verlieren, und die Treppe wieder hinunter zu stürzen. Das es
keine Beleuchtung gab, war damit zu erklären, dass der Turm nur tagsüber geöffnet wurde,
und er bereits zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts erbaut wurde. Damals hätte man zur
Beleuchtung höchstens Pechfackeln benutzt, und die waren heutzutage etwas aus der Mode
gekommen. Der Ausstellungsraum hingegen hatte eine Stromversorgung. Die Leitungen
waren allerdings über dem Verputz der Wände verlegt, und erreichten den Turm durch die
Verbindungstür vom Kulturhaus her, das direkt an den Turm gebaut worden war. Ich nahm
an, dies geschah, da das Mauerwerk nicht beschädigt werden sollte. Das Gebäude stand
selbstverständlich unter Denkmalschutz. Leider war es uns aufgrund der völligen Dunkelheit
nicht möglich, die Blutspuren in Augenschein zu nehmen, die sich noch auf der Treppe
befanden. Hier hatte sich damals das Drama abgespielt, welches den verstorbenen
Stadtarchivar Hans Bruckner sein rechtes Auge gekostet hatte. Leider hatte man abgesehen
vom Blut des Opfers absolut nichts anderes gefunden. Keinerlei Hinweis auf den oder die
Täter also.
James und ich betraten den Ausstellungsraum. Es war dunkel, nur ein wenig Mondlicht
schien durch die kleinen Fenster in den Raum, und illuminierte einige der Ausstellungsstücke
in den Vitrinen. Der Kopf einer römischen Steinfigur blickte, vom Mondlicht scheinbar zu
unheimlichem Leben erweckt, in unsere Richtung. Da ich das Gesicht der Statuette nur aus
den Augenwinkeln wahrnahm, erschrak ich etwas. Driscoll bemerkte das leichte Zucken in
meinem Gesicht.
„Unheimlich, was ein wenig Licht mit unbewegten Gegenständen anrichten kann, nicht
wahr? Ich hätte mich auch fast erschreckt, als ich die Lichtreflexe auf der Figur gesehen
habe.“
„Aber nur fast, James. Ich habe mich tatsächlich erschreckt!“ Ich schämte mich fast etwas
wegen meiner Schreckhaftigkeit.
„Was soll’s?“, antwortete Driscoll. „Dann sind sie auch vorsichtig, und tappen nicht blindlings
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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in eine Falle.“
„Da haben sie auch wieder Recht, James. Dann brauche ich mich ja gar nicht so zu schämen.“,
gab ich lachend an ihn zurück. Auch er lächelte. Anscheinend hatte er es mir verziehen, dass
ich an seinen Ansichten zweifelte. Aber es war für mich nach wie vor absolut albern, das in
diesem Museum so etwas Abwegiges wie ein Gestaltwandler anzutreffen sein sollte. James
schien davon aber genauso überzeugt zu sein, wie ich davon überzeugt war, dass ein
abgerichtetes Tier oder einfach ein Mensch für die hier geschehene Gewalttat verantwortlich
zeichnete. Driscoll schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Kaltes Neonlicht erhellte flackernd
den Raum. Eins der Neonröhren war defekt.
„Psst, Rick! Hören sie!“, zischte James plötzlich. Ich hielt instinktiv den Atem an.
Nichts.
Oder…doch, jetzt hörte ich es auch!
Mir schlug das Herz regelrecht bis zum Hals, so dass ich in meinem Ohren deutlich hören
konnte, wie das Blut durch meine Adern rauschte! Ich hätte mich ohrfeigen können.
Anscheinend waren meine Nerven nicht so stark, wie ich es immer angenommen hatte. Ich
brauchte einen kurzen Moment, bis ich mich wieder völlig unter Kontrolle hatte, und das
Rauschen abebbte.
Dann, endlich, konnte ich differenzierter erkennen, um was für ein Geräusch es sich
handelte. Es war ein leiser, kratzender Ton, der aus dem Bereich hinter der zweiten Vitrine zu
kommen schien. Ich griff mit einer langsamen Bewegung in Richtung meiner Dienstwaffe, die
ich vorsichtshalber eingesteckt hatte. Sie hing griffbereit, jedoch gesichert in meinem
Schulterholster, dass ich dem Waffengürtel gegenüber bevorzugte. Ich mochte diesen
„Sheriff-Look“ nicht, den mache Polizeibeamte zur Schau trugen. Mein Ego brauchte
derartige Eskapaden nicht.
„Eine Frage, Rick: Was haben sie geladen in ihrer…“
„Walther P99, Kaliber 9mm x 19, 15 Schuss. Einfache Munition, warum fragen Sie?
„Weil ihnen diese Munition nicht viel nutzen wird, falls ich mit meiner Theorie Recht behalte.
Ich schlage daher vor, sie nehmen meine Waffe, und ich begnüge mich mit dem Schutz
meines Kreuzes.“, flüsterte Driscoll mir zu.
„Wieso sollte mir ihre Waffe mehr Schutz bieten als meine P99? Das müssen sie mir aber erst
mal erklären!“, sagte ich erstaunt. Ich war eigentlich von der Wirksamkeit meiner
Dienstpistole als zuverlässige Back-up-Waffe überzeugt.
„Ganz einfach. Ich habe geweihte Silberkugeln geladen. Die sind wirksam gegen
Lykantrohphe, im Gegensatz zu ihrer Munition, die ein solches Wesen höchstens für einige
Sekunden ausschalten, es aber nicht vernichten kann!“
„OK, James. Wenn sie es so wollen…“ Ich nahm seine Beretta entgegen. Ich glaubte nicht an
das, was er mir da erzählte, aber ich wollte mit ihm in einer so brenzligen Situation, wo es
unter Umständen auf sekundenschnelle Reaktionen ankam, keine Diskussionen führen. Die
Waffe war bereits geladen, ich betätigte den Sicherungshebel, und entsicherte die Waffe auf
diese Art.
Driscoll öffnete die beiden oberen Knöpfe seines schwarzen Baumwollhemdes, so dass das
Silberkreuz gut sichtbar war. Wir schlichen uns vorsichtig vor, in Richtung der Glasvitrine.
Das Kratzen war verstummt. Wir erreichten die Vitrine, und stellten uns zu beiden Seiten des
gläsernen Schrankes auf.
„Auf drei checken wir von beiden Seiten die Rückseite!“, flüsterte ich James zu. Er nickte
stumm, und nahm das untere Ende des Kreuzes in die rechte Hand, so dass er es wie einen
kleinen Schutzschild vor sich hielt.
„Eins, zwei, dr…“
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Weiter kam ich nicht.
Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich vor mir unzählige winzige schwarze Punkte, die sich
fast übergangslos in wurmartige Gebilde verwandelten. Wie kleine schwarze Schlangen, die
von tausend verschiedenen Stellen gleichzeitig auf einander zu rasten, um sich dann zu
vereinigen. Die Würmer prallten also aufeinander, es ergab aber keinerlei Geräusch, denn das
alles spielte sich völlig lautlos ab. Die sich schlängelnden Gebilde gaben ihre Individualität
auf, um sich zu einem einzigen Körper zu vereinigen. Und es entstand…eine riesige schwarze
Katze!
„Verdammt!“, entfuhr es mir. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Driscoll hatte Recht behalten!
Es gab die verdammte Riesenkatze tatsächlich!
In dieser Sekunde rasten mir tausend Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf, so tief
erschütterte mich das, was ich hier zu sehen bekam. Mein Weltbild brach wie ein Kartenhaus
in sich zusammen. Wenn es Katzenwesen gab, die auf so unheimliche Art und Weise aus dem
Nichts auftauchen konnten, dann gab es wohl auch die Geister, von deren Existenz Driscoll so
überzeugt war! Ich würde das Gefüge meiner Welt wohl erst einmal ordnen müssen, wenn
ich wieder die Zeit dazu hatte. Doch jetzt war es der ungünstigste Moment dafür, denn die
Katze, sie hatte eine Schulterhöhe von mindestens sechzig Zentimetern, duckte sich zum
Sprung, und entblößte dabei ihre weißen, messerscharfen Reißzähne.
Und dann sprang sie!
Direkt auf mich zu!
„Rick, verdammt, drücken sie ab!“, schrie Driscoll.
Die Starre, die der Schreck über den unheimlichen Anblick der Katze ausgelöst hatte, fiel von
mir ab.
Ich feuerte!
Mit einem lauten Knall löste sich das geweihte Silber von der Beretta, und flog blitzschnell,
für uns unsichtbar, in Richtung der katzenartigen Kreatur.
Sichtbar war hingegen der Aufprall der Kugel. Blut und schwarze Fellfetzen spritzten nach
allen Seiten! Die Katze wurde durch die Wucht des Aufpralls herumgerissen, und flog, alle
viere nach oben von sich gestreckt, hinter die Vitrine zurück, wo sie regungslos liegen blieb.
„Guter Schuss, Rick!“, lobte mich Driscoll. „Anscheinend haben wir die Kreatur erwischt. Wir
sollten sichergehen, dass sie vernichtet wurde.“
„Sichergehen? James, sie haben das Blut doch auch gesehen! Das kann die Katze nicht
überlebt haben. Und wenn es eines ihrer Lykantrophen- Monster gewesen sein sollte, dann
hat die Kugel es doch sicher vernichtet? Das haben sie mir doch so erklärt!“
„Geweihtes Silber hilft gegen vielerlei Kreaturen, gegen alle jedoch nicht, Rick. Und manches
Monster ist widerstandsfähiger, als man glaubt. Schauen wir doch einfach mal nach.“
Ich seufzte. Na gut, wenn es ihn glücklich macht, dachte ich. Ich hätte mir den Anblick einer
aus nächster Nähe erschossenen Katze gerne erspart, denn ich erwartete einen übel
zugerichteten Kadaver zu finden. Wir gingen also wieder auf die Vitrine zu, hinter die das Tier
durch den Schuss geschleudert worden war.
Es war Unglaublich!
Dort lag die Katze. Sie lag auf der Seite, in einer großen Blutlache, rings um sie herum lagen
kleine Fell- und Fleischfetzen herum, welche die Kugel aus dem Tierkörper gerissen hatte.
Das Tier atmete nicht. Die Kugel musste tief in seinen Körper eingedrungen sein, und nahezu
jedes lebenswichtige Organ durchschlagen haben. Mann sollte annehmen, dass ein solches
Tier endgültig tot war.
Nicht aber die Katze!
Zunächst bemerkte ich es noch gar nicht, aber bereits nach wenigen Sekunden geriet die
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Umgebung der Katze in geisterhafte Bewegung. Die Fell- und Fleischfetzen lösten sich in die
wurmartigen Gebilde auf, aus denen zuvor die Katze entstanden war!
Sie bewegten sich langsam über den Boden schlängelnd auf den vermeintlichen Tierkadaver
zu, und verschwanden in der klaffenden Wunde in der Brust des Tieres. Das Blut unter der
Kreatur zog sich scheinbar in den Körper zurück, so dass die Lache immer kleiner wurde, bis
sie verschwunden war! Und dann geschah es!
Der Körper des Tieres begann zu zittern, nein, zu vibrieren, und der Brustkasten der
unheimlichen Katze löste sich in hunderte eigenständige Wurmgebilde auf. Es war ein Ekel
erregendes Gewusel, das für mich keinen Sinn ergab. Dann aber wurde mir der Sinn der
Bewegung klar, als zwischen den Wurmgebilden ein metallenes, silbern glänzendes Etwas
erschien, und dann mit einem leisen „klack!“ zu Boden fiel. Die Kugel!
Die Katze hatte die Kugel selbständig aus ihrem Körper entfernt!
Und dann schloss sich die Wunde, nachdem die seltsam schlängelnden Gebilde sich wieder
in den Brustkorb der Katze zurückgezogen hatten.
Und die Kreatur öffnete die Augen, riss ihr Maul auf, bleckte die Zähne, und sprang mich
erneut an!
Völlig gelähmt durch den Anblick des soeben Geschehenen, war ich unfähig, erneut
abzudrücken. Die Katze flog mir regelrecht gegen die Brust, und ich spürte nur noch
brennenden Schmerz über meinen Oberkörper flammen. Ich konnte nur noch
krallenbewehrte Pranken vor meinem Körper erkennen, die wie eine Schiffschraube vor mir
zu rotieren schienen. Immer wieder drangen die Krallen durch meine Kleidung und meine
Haut, und richteten schmerzhafte Verletzungen an.
Dann ließ das Untier plötzlich fauchend von mir ab, und ich brach verletzt und vor Schmerzen
fast ohnmächtig in mich zusammen.
James hatte nach der Kreatur gerufen! Und das Geschöpf antwortete!
„Halt, Höllenvieh!“, rief Driscoll der Katze zu, und richtete sein Silberkreuz auf das Tier, dass
sich allerdings unbeeindruckt zeigte. Die Katze blieb stehen, wandte sich Driscoll mit
aufgerichtetem Nackenfell zu, und fauchte: „ Narr! Wass verssuchsst du mich mit deinem
Kreuz zu bannen? Ein einfachess chrisstlichess Ssymbol vermag mir nichtss anzuhaben! Jetzt
werde ich euch vernichten! Und dann werde ich hoffentlich wieder die Ruhe finden, die ich
biss zu meiner Erweckung durch diesen Vincenze Da Como genosssen habe!“
„Wirst Du nicht!“, gab Driscoll der Katze zu verstehen. „Denn es handelt sich nicht um ein
einfaches Symbol, sondern um meine Waffe gegen Kreaturen wie dich!“ Und dann sprach er
etwas, das ich aufgrund des lauten Fauchens der höllischen Kreatur und der immensen
Schmerzen, die meine Sinne benebelten, nicht verstehen konnte.
Aber die Wirkung dieser Worte war umso größer!
Jamess silbernes Kreuz umwehte augenblicklich ein glühende Aura, und Blitze zuckten daraus
hervor, die der Katze entgegenschlugen. Es war unglaublich!
Die Kreatur riss ungläubig die Augen auf, das Entsetzen war ihr buchstäblich in ihre seltsam
menschlich wirkenden, blauen Augen geschrieben. Dann traf sie der erste Blitz!
Mit einem lauten Fauchen, dass mehr einem Schmerzensschrei glich, wurde die Kreatur
zurückgeschleudert. Sie flog regelrecht durch den Raum, und krachte mit einem dumpfen
Aufschlag gegen die Wand hinter ihr.
Und dann geschah das Unmögliche!
Für einen kurzen Moment sahen wir wieder die vielen seltsamen Gebilde, die an Würmer
oder kleine Schlangen erinnerten, und dann fügten sie sich wieder zu einem Körper
zusammen. Aber es war nicht der Körper einer übergroßen Katze, als welche wir die Kreatur
bisher kannten, sondern direkt vor unseren Augen entstand ein Mensch!
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Oder zumindest das, was einmal ein Mensch gewesen sein musste. Es war eine Frau, deren
Alter nicht zu ermitteln war. Der Körper war leicht gekrümmt, und in einen wallenden
Umhang aus grobem grauem Stoff gehüllt. Unter der Kapuze, die die Kreatur sich über den
Kopf gezogen hatte, konnte man vage ein Gesicht erkennen. Es war das Gesicht einer Frau.
Aber etwas stimmte nicht mit diesem Gesicht. Es wirkte wie aus altem, irgendwie verkohltem
Holz geschnitzt, dunkel und starr. Und ein Teil des Gesichts war irgendwie verschwommen
oder gar nicht vorhanden. Es war durch die tief ins Gesicht gezogene Kapuze und die um die
Frau herum zuckenden Blitze nicht zu erkennen. Irgendwie erinnerte sie mich an eine Hexe
aus den Märchenbüchern, die ich als Kind vorgelesen bekam.
Und wieder traf einer der Blitze das unheimliche Wesen!
Die Frau schrie auf, ihr Körper wurde wie von Krämpfen hin und her gerissen. Für einen
kurzen Moment glaubte ich die Kreatur besiegt, kurz vor deren Vernichtung. Dann aber löste
sie sich ohne Vorwarnung auf ihre unvergleichliche Art und Weise einfach in Nichts auf.
Sie war verschwunden! Entkommen! Oder doch vernichtet?
„Rick, alles in Ordnung mit Ihnen?“, rief Driscoll, und eilte mir zu Hilfe. Er kniete sich zu mir,
und ich konnte noch gerade erkennen, dass er sehr verschwitzt und erschöpft war.
„Sie hatten Recht, James. Sie hatten die ganze Zeit über Recht! Verzeihen sie mir, dass ich
ihnen nicht glauben wollte.“ Nach diesen Worten fiel ich in Ohnmacht, daher weiß ich nicht,
ob Driscoll mir geantwortet hatte.
Freitag, 16. Mai 1547, Jülich
„Sie muss es sein, ich bin mir absolut sicher! Wer sollte sie sonst sein?“, schnaufte Johann
Küffer. Der Küster der Jülicher Propsteikirche saß einem jungen Handwerksburschen namens
Caspar Hartung gegenüber. Er war ziemlich angetrunken, was in den letzten Monaten öfters
einmal vorkam. Seit diese Hexe, diese Catharina Elisabeth aus dem Gelderland,
verschwunden war, hatte er sich regelrecht in einen Wahn hineingesteigert. Er sah an allen
Straßenecken, in jedem Schatten Hexenwesen lauern. Sie verfolgten ihn regelrecht. Er hatte
einmal, in einem nüchternen Moment, mit Carl Goddert über diese Sache gesprochen.
Dieser hatte seine Beobachtungen aber ziemlich rüde mit der Bemerkung abgetan, er solle
weniger Tief in den Becher schauen, dann würden die Hexen schon wieder verschwinden!
Dieser Bastard! Johann konnte es nicht begreifen. Dieser Goddert hatte doch mit eigenen
Augen den Beweis gesehen, dass es die Hexe wirklich gab! Aber dennoch beharrt dieser Narr
darauf, dass die Hexenverfolgung falsch sei! Solche Leute gehören genauso verurteilt wie die
Höllenwesen selbst! Sonst überrennt die Brut der Hölle dereinst noch unsere Welt!, dachte
Küffer, und wandte sich wieder dem Handwerksburschen zu, mit dem er sich seit einiger Zeit
unterhalten hatte.
„Sie könnte sonst wer sein, guter Küster!“, antwortete Caspar. Er war ein Handwerksbursche
auf Wanderschaft, und hatte noch einige Monate „auf der Walz“ vor sich, bevor er in seine
Heimat in Norddeutschland zurückkehren konnte, um in der Schreinerei seines Vaters zu
arbeiten. „Aber wenn ihr sichergehen wollt, ob die Frau, die ihr in Verdacht habt, wirklich
eine Hexe ist, dann habe ich einen Rat für Euch. In meiner Heimat hat der Bischof auf diese
Weise gleich zweiundzwanzig Frauen während einer Heiligen Messe der Hexerei überführen
können! Die Methode ist sozusagen todsicher!“
„Lasst hören, guter Mann, lasst hören!“ Küffer war begierig auf diesen Rat, das war ihm
deutlich anzusehen. Aus seinem Mundwinkel lief ihm ein kleines Rinnsal, das sowohl aus Bier
©Dirk Eickenhorst 2008
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als auch aus Speichel bestand. Mit seinen glasigen Augen durchbohrte er das Gesicht des
Handwerksburschen regelrecht, so als wolle er die Informationen, auf die er so scharf war,
allein mit seinen Blicken aus dem Kopf seines Gegenüber herausreißen. „So sprecht doch,
verdammt! Ich muss es wissen! Unbedingt! Wirt! Bringe er diesem guten Mann noch einen
Humpen vom feinsten Bräu!“ Bei jedem Wort sprühte Caspar Hartung eine kleine Welle
feinen Sprühregens aus Bier und Spucke entgegen. Er wich mit seinem Gesicht ein gutes
Stück nach hinten aus.
„Ja ja, schon gut! Ihr sollt es ja erfahren! So beruhigt euch doch wieder! Ihr fallt mir vor
Erregung sonst noch von eurem Stuhl!“ gab Caspar zurück.
„Gut. Nur verratet es mir endlich!“ hechelte Küffer.
Nun, wohlan denn. Hier also das Rezept des Bischofs. Wenn ihr also Gewissheit darüber
erlangen wollt, ob es in eurer Gemeinde eine oder gar mehrere Hexen gibt, dann geht wie
folgt vor: Legt während der heiligen Messe ein Kreuzfettmännche24 unter das Messbuch, und
nach dem Ende der Messe legt ihr das selbige unter die Tür der Kirche. Solange die Münze
dort zu liegen kommt, kann kein Hexenweib die heilige Stätte verlassen. So müsst ihr es
anstellen, Küster, das ist alles.“
„Was? So einfach?“, stammelte Küffer. „Dann will ich es bereits am Sonntag ausprobieren!“
Habt Dank, lieber Caspar. Nun will ich mich eilen, um eine passende Münze aus meinem
Sparbeutel zu suchen. Lebt wohl!“ Damit eilte Johann Küffer aus der Schenke in Richtung der
Kirche davon.
Habt Dank! Pah!, dachte Caspar. Lieber hätte ich etwas Geld, alter Geizkragen!
€
Am nächsten Sonntag, es war der 18. Mai 1547, probierte Johann Küffer den Plan des
Handwerksburschen aus. Er ging kurz vor der Messe in die Kirche, tat, was ein Küster zu tun
hatte, und „kontrollierte“ wie selbstverständlich, ob das Messbuch auch richtig auf seinem
Pult lag. Dabei ließ er ganz unauffällig eine kleine Münze unter das Buch gleiten. Einige
Minuten später begann die Messe, und Johann ließ seine Blicke über die versammelte
Gemeinde schweifen. Da! In der dritten Reihe, ziemlich weit links, da war das Weib wieder!
In einen groben, grauen Umhang gehüllt, die Kapuze weit in das Gesicht gezogen, saß etwas
gekrümmt die Frau, von der Johann Küffer in der Schenke gesprochen hatte! Er war sich
sicher; es musste die Hexe aus dem Gelderland sein!
Na warte, Weib!, dachte er. Heute werden wir dich zum zweiten Mal entlarven, und dann
sollst du endgültig brennen! Ein wahnsinniges Glitzern flammte in seinen Augen auf.
Eine gute Dreiviertelstunde später, die Messe war fast vorüber, hetzte Johann Küffer zum
Messbuch, und nahm die Münze darunter hervor. Der Pfarrer, der gerade die Kommunion an
die Gemeinde ausgab, blickte ärgerlich fragend zu ihm herüber. Dieses Verhalten war für den
Küster während der Messe unentschuldbar. Aber Johann war das vollkommen egal.
Besondere Situationen erfordern eben besondere Maßnahmen!, dachte er. Er flitzte mit der
Münze in der Hand zur Kirchentüre, und legte sie darunter. Dann baute er sich mit einem
Klingelbeutel25 in der Tür auf, wie er es am Ende der Messe immer tat. Dann konnte er den
Gläubigen, die die Kirche verließen, noch eine Spende abnehmen. Nach der Kommunion war
die Messe zu Ende, und die Bürger verließen einer nach dem anderen die Kirche. Als alle
gegangen waren, sah Johann sich in der Kirche noch einmal um.
24
25
Kreuzfettmännche= Bezeichnung für eine Münze dieser Zeit
Klingelbeutel= Behältnis zum Sammeln der Geldspenden
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Da!
In der dritten Reihe, am gleichen Platz wie vorher, saß eine in einen grauen Umhang gehüllte
Frau. Sie saß regungslos da, und machte überhaupt keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen.
Johann wurde es nun doch etwas mulmig; er war alleine mit der verhassten Hexe in der
Kirche!
Langsam ging Johann durch die Sitzreihen nach vorne, bis er im Mittelschiff der Kirche auf
Höhe der dritten Reihe angekommen war, in der die vermummte Gestalt saß.
„He, Weib, was sitzt du noch da?“, fragte er scheinheilig, so als hätte er keine Ahnung, aus
welchem Grund die Frau noch dort saß. Verdammte Hexe, jetzt habe ich den Beweis!, dachte
er hingegen. Er sprach zu Catharina: „Wartest du etwa noch auf jemanden? Es ist außer uns
beiden niemand mehr hier!“
„Nein, Küster, ich warte auf niemanden. Aber ich warte darauf, dass du das Hindernis
entfernst, welches unter der Schwelle der Kirchentüre gelegt wurde. Ich kann nämlich die
Kirche sonst nicht mehr verlassen!“ Sie klang völlig gelassen, keine Spur von Aggressivität lag
in ihrer Stimme. „Aber das weißt Du ja, du hast es ja selbst dorthin gelegt.“, setzte sie hinzu.
„Hah! Habe ich dich!“, rief Johann triumphierend aus. „Wie lange habe ich auf diesen
Moment gewartet! Endlich habe ich dich gefangen nehmen können!“ Er begann schon
wieder zu sabbern vor Erregung. „Ganz sicher werde ich das Hindernis noch nicht entfernen,
denn ich werde jetzt den Pfarrer bitten, einen Exorzismus an dir vorzunehmen, um dir deine
dämonischen Flausen ein für alle Mal aus deinem hübschen Weiberkopf auszutreiben! Oder
zumindest will ich mir die Genehmigung seiner Hochwürden einholen, euch der
Gerichtsbarkeit zu überstellen, seid ihr doch der Hexerei bereits überführt!“ Mit diesen
Worten eilte Johann in die Sakristei der Kirche, um den Pfarrer zu holen.
Keine zwei Minuten später, kehrte Johann mit zerknirschtem Gesichtsausdruck in die Kirche
zurück, ging zur Tür, und nahm die Münze darunter hervor.
Eine Schande!, sagte er in Gedanken zu sich, Jetzt sind Hochwürden selbst bereits vom
rechten Weg abgekommen! Was leben wir nur in einer Zeit? Noch nicht einmal eine Kirche ist
mehr vor dem Hexenvolk sicher, und wenn ein braver Küster eine solche Kreatur der Hölle
stellt, dann wird er dafür auch noch ausgescholten! Pah!
Johann war zutiefst enttäuscht. Er hatte dem Pfarrer mit vor Stolz geschwellter Brust erzählt,
was er getan hatte, und dass er nun die Hexe aus dem Gelderland, die Catharina Elisabeth
Schuif, endlich dingfest gemacht habe. Er bat um einen Exorzismus, oder wenigstens darum,
dass er die Frau gefangen nehmen lassen durfte. Der Pfarrer hatte sich den Bericht in aller
Ruhe angehört, und dann zu Johann gesagt: „Küffer! Was fällt ihnen nur ein! Sie nehmen es
sich heraus, in einem Tempel des Herrn einen Menschen gefangen zu nehmen? Und mit
welchen Methoden? Eine Münze unter einer Türe? Das klingt nach närrischem Aberglauben!
Aber da dieser Vorgang bei der Frau Wirkung zeigt, muss es ein Zauber sein! Und keiner, dem
Gott zustimmen würde, Johann! Die Kirche ist ein Ort der Zuflucht, ein Asyl den Verfolgten!
Nicht ein Kerker! Was habt ihr euch dabei nur gedacht, Johann Küffer? Wollt ihr unsere
Propsteikirche entweihen? Sputet euch, und lasst die arme Frau ihrer Wege gehen! Und kein
Wort mehr von dieser ganzen Hexengeschichte! Ihr könnt diese Frau verfolgen und
meinetwegen verhaften lassen, aber nicht in meiner Kirche! Und nun geht!“ der Pfarrer war
nun gar nicht mehr gelassen, und drehte Johann wutschnaubend den Rücken zu.
Johann verstand die Welt nicht mehr. Unfähig etwas zu sagen, ging er wortlos in die Kirche
zurück.
Als er die Münze entfernt hatte, erhob sich augenblicklich die vermummte Frau in der dritten
Reihe. Gelassen und sehr langsamen Schrittes ging sie auf den Ausgang der Kirche zu, und
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Der Hexenturm Roman
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erreichte kurz darauf Johann Küffer, der sich ängstlich und zitternd mit dem Rücken an die
Kirchentür drückte, und sich bekreuzigte.
„Eure Idee ist wohl nicht auf viel Gegenliebe gestoßen bei dem Herrn Pfarrer, was? Ich werde
nun gehen, Johann, aber nicht für lange. Wir treffen uns wieder, und dann unter anderen
Vorzeichen!“
Die Stimme der jungen Frau wurde immer durchdringender, und sie begann, die S- Laute
etwas mehr zu betonen, so dass es ein wenig nach einem Fauchen klang. Johann hätte
schwören können, dass die Zähne der Frau spitzer und etwas länger geworden waren,
während sie sprach.
„Ihr werdet noch an mich denken Johann! Ich verfluche euch und eure ganze verdammte
Stadt! Und für euch, Johann, hebe ich mir etwas Besonderes auf, das verspreche ich euch!“
„Hah! Geht nur einen Schritt aus der Kirche heraus, und ich bin an die Weisung des Pfarrers
nicht mehr gebunden! Und dann lasse ich euch verhaften!“ Johann war völlig fertig, teils vor
Wut, und teils vor Angst.
„Versucht es nur!“, sagte die Hexe gelassen, und löste sich mit einem leisen Lachen in
tausend kleine, schwarze Würmer auf, die sich nach nicht einmal einer Sekunde in Nichts
auflösten…
Knapp zehn Tage später, in der Nacht zum 27. Mai 1547, brannte die Stadt aus ungeklärten
Gründen fast völlig nieder. Die ganze Stadt war wie eine riesige, verkohlte Wunde in der
Landschaft. Und die Wunde, die die Stadt Jülich war, musste bluten. Hunderte Bürgerinnen
und Bürger fielen den Flammen zum Opfer, und kaum ein Haus stand mehr an seinem Platz.
Auch die Godderts, Hauffes und die alte Jungfer Schmitz verbrannten qualvoll im
flammenden Inferno. Die Kirche blieb von der Katastrophe verschont, und so überlebte auch
Johann Küffer den Brand. Aber von dieser schrecklichen Nacht der Flammen an lebte er in
Angst, und wartete auf die Rückkehr der Hexe.
„Und für euch hebe ich mir etwas Besonderes auf!“, hatte sie ihm versprochen…
Montag, 8. März 2004, Jülich
„So, Herr Templeton, das war’s dann auch schon. Der Verband kann jetzt für zwei, drei Tage
auf der Wunde bleiben. Dann sollten sie sich wieder bei uns oder besser bei ihrem Hausarzt
wegen eines Verbandwechsels melden. Die Wunde wird auch sicher noch ein paar Tage
wehtun. Aber ich verschreibe ihnen ein Präparat gegen die Schmerzen, und so sollten sie
sehr bald wieder fit sein. Sie sollten sich besser in der nächsten Zeit nicht mehr mit
Raubkatzen anlegen. Eine Frage, aus reiner Neugier: Arbeiten sie beim Zirkus?“, fragte der
behandelnde Arzt in der chirurgischen Abteilung des Jülicher Krankenhauses. „So was
ähnliches.“, antwortete ich dem Arzt, und ich konnte ein Schmunzeln um Driscolls
Mundwinkel erkennen. Ich hatte mich mit James Driscoll nach unserer Begegnung mit der
Gestaltwandlerin im Hexenturm ins Krankenhaus begeben, um meine Wunden behandeln zu
lassen. Die Katze, oder was immer es für eine Kreatur war, hatte meinen Brustkorb böse
zerkratzt. Die Verletzungen waren sehr schmerzhaft, aber zum Glück nicht besonders schwer.
Ich konnte bereits nach zwei Tagen das Krankenhaus wieder verlassen.
Vier Stunden später, ich war noch schnell nach Aachen gefahren, denn ich brauchte dringend
neue Kleidung, da die alte von der Katze völlig zerfetzt wurde, trafen wir uns wieder in
Driscolls Hotelzimmer in der „Alten Post“. Dort wartete der Engländer bereits auf mich. Er
teilte mir mit, dass die Aachener Polizei bei ihm angerufen habe, und mich hatte sprechen
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wollen. Da ich aber gerade selbst in Aachen war, bot Driscoll dem anrufenden Beamten an,
etwas ausrichten zu wollen, wenn ich zurückgekehrt sei. Der Beamte hatte dies aber
abgelehnt, und um meinen Rückruf gebeten. Ich wählte sofort die Nummer der
Mordkommission, denn ich wartete dringend auf Ergebnisse der Nachforschungen zu dem
Begriff „Da Como“.
„Kriminalpolizei Aachen, Schubert am Apparat, was kann ich für sie tun?“, tönte es aus dem
Hörer.
„Hallo Bertbert, stell mich doch bitte mal zu den Jungs bei der Mordkommission durch, ja?“,
bat ich Robert Schubert, den alle wegen der gleich klingenden Schlusssilben seines Namens
„Bertbert“ nannten.
„Ah, Rick, du bist´s. Warte, ich stell dich sofort durch. Machs gut!“ Bertbert schaltete mich
auf die Warteschleife, während er die Nummer der Kommission anwählte, um meinen Anruf
anzukündigen. Er war bei einer Schießerei mit ein paar Drogendealern in der Aachener
Innenstadt so schwer verletzt worden, dass er in den Innendienst versetzt wurde, da er dem
harten Dienst auf der Straße nicht mehr gewachsen war. Fahrstuhlmusik plärrte scheppernd
aus dem Hörer. Nach ein paar Sekunden knackte es kurz im Hörer, und ein Kollege meldete
sich.
„Hallo Rick, schön dass du anrufst. Wie geht es dir? Es hieß, eine Katze hätte dich übel
zugerichtet. Hattest wohl zu wenig Katzenfutter dabei, was?“, scherzte der Polizist. Ja ja,
Schadenfreude ist die schönste Freude, schoss es mir durch den Kopf.
„Lass den Quatsch, Tom, sag mir lieber, was ihr habt. Es geht um die „Da Como“- Sache,
richtig?“, kürzte ich den Small-Talk ab, und kam direkt zur Sache. Die ganze Geschichte zerrte
doch zu sehr an meinen Nerven. Ich wollte den Fall so schnell wie möglich abschließen, und
dann wieder mit ganz irdischen Fällen weitermachen. Oder einem Urlaub in der Sonne.
„Genau, Rick, darum geht’s. Warte, ich schnappe mir mal kurz die Akte, und lese Dir den
ganzen Kram vor.“
Es dauerte wieder ein paar Sekunden, bis Tom Schäfer die Akte geholt hatte, dann nahm er
den Hörer wieder zur Hand, und gab durch: „Vincenze Luciano Da Como, geboren 1947 in
Bologna, Italien. Studium der Archäologie, mittlerweile ein prominenter Vertreter seines
Fachs, ist Professor. Befasst sich wohl hauptsächlich mit okkulten Gegenständen, die er
ausgräbt. Zuletzt war er auf der Suche nach einem so genannten „Hexenstein von Turin“, der
unter dem 1498 erbauten Dom in Turin liegen soll. Aber er ist seit dem Beginn der
Ausgrabungen verschwunden. Jedenfalls wurde er vor gut drei Monaten von seiner
Sekretärin bei der italienischen Polizei vermisst gemeldet. Laut ihren Aussagen soll dieser
Hexenstein wohl magische Kräfte besitzen. Irgend so eine bescheuerte alte Überlieferung soll
wohl besagen, dass derjenige, der den Stein besitzt, magische Fähigkeiten erhält.“
Ich hatte die Lautsprechtaste am Telefon gedrückt, damit Driscoll den Anruf mit verfolgen
konnte. Er fragte sofort: „Welche Fähigkeiten? Das würde mich mal interessieren!“
„Rick, wer war das? Bist du nicht alleine am Apparat? Du weißt doch, dass alle Angaben, die
wir dir machen, streng vertraulich zu behandeln sind!“
„Ja, selbstverständlich, Tom. Das war James Driscoll, ein Kollege aus London. Wir bearbeiten
den Fall gemeinsam. Nun mach schon, beantworte bitte seine Frage, OK?“
Tom murmelte etwas von wegen „verrückte Engländer“ und „so ein Hexenquark, total
bescheuert“, und berichtete dann laut weiter:
„Also, es heißt wohl in irgendwelchen alten Texten, dass derjenige, der diesen Stein trägt, die
Möglichkeit hat, Hexenwesen zu sich zu rufen oder von den Toten zu erwecken, und sie sich
zu Dienern zu machen. Er kann aber wohl auch dazu verwendet werden, Hexen und andere
„Wesen der Hölle“ zu bannen oder zu vernichten. Fragt mich jetzt bloß nicht, wie das gehen
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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soll. Das steht hier nämlich nicht. Weiter wird berichtet, der Träger des Steins könnte so
etwas wie Unsterblichkeit erlangen, in dem er die Wesen, die er mit Hilfe des Steins
beherrscht, dazu zwingt, Menschen zu töten und deren Lebensenergie auf den Steinträger zu
übertragen. Das war’s. Ziemlich lächerliches Zeug, wenn ihr mich fragt. Dieser Da Como
beschäftigt sich mit Märchenscheiß, und wahrscheinlich verdient er sich noch ne goldene
Nase damit! Na, was soll’s. OK Rick, das war’s. Dann ermittelt mal schön weiter. Und lasst
euch nicht von der bösen Hexe in den Ofen stoßen!“
Gelächter war im Hintergrund zu hören, offensichtlich hatte die gesamte Aachener
Mordkommission das Gespräch mit verfolgt.
„Lustig, Tom, echt witzig!“, antwortete ich, und legte auf.
„Nun, das erklärt dann ja so einiges!“, sagte Driscoll.
„Was denn bitte? Also für mich ergibt die ganze Sache noch immer keinerlei Sinn!“ gab ich
zurück.
„überlegen sie doch mal, Rick. Dieser Vincenze Da Como suchte nach dem Hexenstein, und
dann, ganz plötzlich, verschwand er von der Bildfläche. Und dann wird hier in Jülich ein
Museumsmitarbeiter in einem Gebäude namens Hexenturm von einer Katze getötet. Aber
nicht von einer gewöhnlichen Katze, sondern von einer Frau, die sich in eine Katze wandeln
kann. Einer Hexe, Rick! Das ist das ganze Geheimnis! Vincenze Da Como hat die Hexe wieder
zum Leben erweckt, mit Hilfe des Steins! Wahrscheinlich war diese Hexe einmal hier im
Hexenturm eingesperrt gewesen, oder wurde sogar hier getötet. Sie selbst haben mir doch
berichtet, dass der Turm als Gefängnis und Folterstätte für Hexen verwendet wurde!“
„Ja, das ist korrekt. Aber warum Jülich? Da Como ist doch in Italien verschwunden!“, fragte
ich.
„Ich nehme an, der Archäologe will tatsächlich durch den Stein eine Art der Unsterblichkeit
erlangen. Und da wird er eben alle Hexen, von denen er zweifelsohne durch seine berufliche
Erfahrung weiß, erwecken und zu seinen Dienern machen wollen. Der Archivar musste
vermutlich nur aus einem Grund sein Leben lassen; damit das von Da Como verlängert
werden konnte.“
Das leuchtete mir ein.
„Aber dann haben wir jetzt ein Problem: Wir können den Fall nur hier in Deutschland
bearbeiten, James. Wir werden schon Probleme bekommen, wenn wir überregional
ermitteln wollen. Andere Polizeieinheiten werden ihre Zuständigkeit einfordern, und in
Italien können wir schon gar nichts ausrichten!“
„Da werden sie Recht haben, Rick. Leider. Sie können vermutlich nur einen Bericht über das
schreiben, was hier in Jülich vorgefallen ist. Ich kann aber nach Italien fahren. Ich habe schon
oft im Auftrag des Yard international ermittelt. Ich nehme ebenfalls an, unsere
Zusammenarbeit wird hier vorerst enden.“
„Schade.“, antwortete ich. Und ich meinte es auch so. Da ich ohnehin meine Einstellung zu
allem Übersinnlichen zu überdenken hatte, hätte ich gerne mehr von James Erfahrungen
profitiert. Die Begegnung mit dem Wesen im Hexenturm hatte mir die Augen geöffnet. Hatte
ich bis dahin alle Berichte über Geistererscheinungen und ähnliches für Phantasterei
gehalten, war ich nun zumindest dazu bereit, eine übersinnliche Ursache in Betracht zu
ziehen. Und diese Katze könnte tatsächlich eine Hexe gewesen sein! Vielleicht hatte sie zu
Lebzeiten die Fähigkeit erlernt, die Kräfte der Katzen zu nutzen. Und nun, nachdem sie
bereits Jahrhunderte tot war, war sie durch einen so genannten Hexenstein dazu gezwungen
worden, ihre Fähigkeiten in den Dienst eines italienischen Wissenschaftlers zu stellen. Und
genau da endete der Fall für mich. Nach Italien konnte ich nicht. Ich würde nun vermutlich
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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nur noch einen Bericht schreiben können, und den Fall dann ad acta legen. Aber was sollte
ich denn in den Bericht schreiben? „Archivar Bruckner starb, weil sich ihm eine Hexe in Form
einer großen sprechenden Katze in den Weg stellte, an einem Herzinfarkt?“ Das würde wohl
mit meiner Versetzung in den Streifendienst enden. Wenn ich Glück hatte.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was am Ende wirklich in den Bericht stand.
Es würde wohl bei einem einfachen Herzinfarkt bleiben. Die Verletzungen würden mit einem
Sturz auf der engen Wendeltreppe erklärt werden, und damit wäre der Fall nicht mehr Sache
der Mordkommission, und ginge zu den Akten.
Das Böse hat triumphiert!, ging es mir durch den Kopf.
In diesem Moment kam der Anruf.
„Templeton, hören Sie? Hier spricht die Jülicher Polizei! Wir haben Driscolls Telefonnummer
im Hotel von ihren Kollegen in Aachen erhalten. Begeben sie sich umgehend zum Museum in
der Zitadelle! Ein Mord ist dort geschehen! Beeilen sie sich!“
Mittwoch, 14. Januar 1553, Jülich
„Gestehst du jetzt, Catharina Elisabeth Schuif, dich gegen den Herrn versündigt, und dem
Satan zugewandt zu haben? Dass du im Bunde mit den Mächten der Finsternis stehst, und
mit deren Hilfe Hexenwerk wider deine Mitmenschen gerichtet hast?“, fragte Theodor von
Bergen, erster Commissario des Jülicher Haupt- und Criminalgerichts die Hexe aus dem
Gelderland.
„Nein!“, schrie Catharina unter Schmerzen, denn der Assistent des Commissario hatte die
Streckbank, auf der die Hexe lag, wieder etwas straffer gekurbelt.
„Ich stehe weder mit dem Satan im Bunde, noch habe ich jemals Hexenwerk gegen
irgendjemanden angewendet! Ich gebe zu, einige erlernte Fähigkeiten zum Wohle meiner
Mitmenschen eingesetzt zu haben, die ihr vielleicht als Hexerei abtun würdet. Aber es ist
nichts weiter als ein wenig Kräuterzauber, und selbst Könige haben Pflanzenkundige schon
als persönliche Berater eingesetzt! Waren die auch alle Hexer?“
„Still, Weib!“, brüllte von Bergen, und sagte, an den Assistenten gewandt, „Noch zwei Finger
breit werden ihr nicht schaden, ich komme in einer halben Stunde zurück. Und dann wird das
Weib vielleicht doch noch gestehen wollen! Gebt ihr einen Schluck Wasser, ich möchte nicht,
dass sie uns noch verdurstet, schließlich wollen wir zuvor noch ihr Geständnis
dokumentieren!“ Mit diesen Worten drehte er sich um, und verließ die Folterkammer.
Seit gut vier Jahren saß die Frau nun schon im neuen Gefängnis des Jülicher Haupt- und
Criminalgerichts gefangen. Sie wurde im Wald in der Nähe des Örtchens Müntz aufgegriffen,
als sie mit gestohlenem Gemüse in ihrem Umhang zu einer primitiven Hütte zurückkehren
wollte, in der sie sich anscheinend häuslich eingerichtet hatte. Gefangen genommen wurde
sie aber nicht nur wegen des Diebstahls, sondern aufgrund der Zeugenaussagen zweier hoch
angesehener Herren der Stadt Jülich. Der Küster der Propsteikirche, Johann Küffer, berichtete
davon, die Frau bereits einmal in der Kirche festgehalten zu haben. Als er sie dann auf
Geheiß des Pfarrers freilassen musste, schwor diese Rache an den Menschen der Stadt. Und
kaum zehn Tage später lag die gesamte Stadt in Schutt und Asche. Der Pfarrer bestätigte die
Aussagen des Küsters, wenn auch widerwillig. Catharina Elisabeth Schuif wurde daraufhin
des Diebstahls, der Brandstiftung und Hexerei beschuldigt, und ein Inquisitor wurde
angefordert. Allerdings war der Herzog strikt gegen einen Hexenprozess in seiner Stadt, und
schickte den Inquisitor wieder fort. Da die Macht des Herzogs aber nicht bis hinter die
Gefängnismauern reichte, wurde Catharina des Diebstahls und der Brandstiftung angeklagt,
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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und nach lächerlich kurzer Verhandlung ins Gefängnis gesperrt. Drei Jahre saß sie in einem
zugigen Loch eines ehemaligen Wachhauses der herzoglichen Garden, bis die Stadt wieder
soweit aufgebaut war, dass sie ein neues Gefängnis erhielt. Der berühmte Architekt
Alessandro Pasqualini, der im italienischen Bologna geboren wurde, hatte vor einigen Jahren
damit begonnen, die völlig niedergebrannte Stadt wieder aufbauen zu lassen, und hatte sie
nach dem Vorbild einer italienischen Idealstadt im Stil der Renaissance konzipiert. Diese
Idealstadt hätte nie gebaut werden können, wenn das bis dahin mittelalterliche Jülich nicht
fast vollkommen abgebrannt wäre. Es gab Gerüchte, nicht die Hexe habe die Stadt
angezündet, sondern es sei auf Geheiß des Herzogs geschehen.
Und natürlich hätte es den Wiederaufbau in dieser Form ohne den berühmten Architekten
aus Italien auch nie gegeben. Den Kontakt zu dem Städteplaner hatte Herzog Wilhelm V. nur
herstellen können, weil er im Jahre 1546 die Nichte Kaiser Karls V. geheiratet hatte. Diese
Nichte, Maria von Habsburg, band den Herzog an das Haus der Habsburger, und dadurch
erhielten die vereinigten Herzogtümer Zugriff auf die moderne italienische
Befestigungstechnik. Und damit auch die Verbindung zu dem berühmten Architekten,
welcher im Jahre 1549 dann mit dem Wiederaufbau begann. Er errichtete rund um die Stadt
ein Bastionärsystem26.
Aus Stein und Erdmaterial erbaute er die Stadtbefestigung. Üblicherweise wurden die Städte
der Renaissance von einem Bollwerk umgeben, dass auf einem Polygon27 als Grundform
basierte, und aus Kurtinen28 und Bastionen29 bestand. Um dem Beschuss durch feindliche
Kanonenkugeln besser standhalten zu können, wurden die Mauern in tiefe Gräben so weit
eingesenkt, dass gerade noch eine höhere Schussposition gegenüber dem Angreifer erhalten
blieb. Für das noch mittelalterliche Jülich, auf einer schmalen Landzunge im engen Rurtal
gelegen, änderte Pasqualini das regelmäßige Fünfeck als Grundfigur ab, so dass bei gleichen
Seitenlängen ein gestauchtes Fünfeck entstand. Die Nordostecke dieses neuen
Befestigungspolygons wurde mit einer Zitadelle ausgestattet. Die übrigen vier Ecken versah
er mit vier „Stadtbastionen“.
Durch diese umfangreiche Veränderung der Verteidigungsanlagen wurde die mittelalterliche
Stadtmauer mit ihren Stadttoren überflüssig. Große Teile der Stadtmauer wurden nach und
nach abgerissen, und deren Steine für den Bau von Häusern verwendet. Das Rurtor blieb
stehen, und wurde von nun an als neues Gefängnis und auch als Folterkammer des Jülicher
Haupt- und Criminalgerichts genutzt. Und als die Hexe aus dem Gelderland in diesem
Gefängnis eingekerkert wurde, erhielt das alte Stadttor den neuen Namen „Hexenturm“.
Eine halbe Stunde später erschien Theodor von Bergen wieder in der Folterkammer des
Hexenturms.
„Und? Hat das Weib endlich Vernunft angenommen?“
„Nein, Commissario. Heute genauso wenig wie die anderen Male.“, antwortete der
Wachmann.
„Verdammt. Na ja, dann ist es genug für heute. Bringt sie in ihre Zelle zurück. Heute gibt es
nichts zu Essen für Dich, Hexenweib!“ Commissario von Bergen drehte sich auf dem Absatz
um und rauschte aus dem Raum.
Darauf hatte Catharina gewartet!
26
Bastionärsystem= am konsequentesten durchdachter Typus von Befestigungsanlagen Mitte des 16.
Jahrhunderts, in Italien entwickelt
27
Polygon= regelmäßiges Vieleck
28
Kurtine= gerade Mauerabschnitte
29
Bastionen= Pfeilförmige Bollwerke
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Der Hexenturm Roman
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Sie war bereits so oft in die Folterkammer des Turms geführt worden, dass sie die Anzahl der
„Foltersitzungen“ gar nicht mehr zu zählen wusste. Und auch bei den Wachleuten war in den
letzten Monaten eine gewisse Routine eingekehrt. Und heute hatten die beiden
Wachmänner sie aus ihrer Zelle in die Folterkammer gebracht, ohne ihr die schweren Ketten
anzulegen, wie sie es sonst taten. Und zum ersten Mal seit über drei Jahren war der
Commissario nicht dabei, als sie in ihre Zelle zurückgebracht wurde.
Das war die Gelegenheit!
Nicht gefesselt, und nur zwei lächerlich unachtsame Wachmänner!
Natürlich hätte Catharina die ganze Zeit über ihre Kräfte einsetzen können, aber durch die
andauernde Folter wäre sie zu schwach gewesen, sich aus den Ketten zu befreien, dann drei
Menschen zu überwältigen und aus den Mauern des Turms zu entfliehen. Aber nun musste
sie sich um die Ketten keine Sorgen mehr machen, und die beiden Wachmänner waren
ebenfalls sehr unachtsam. Sie würde einfach all ihre Kräfte zusammennehmen, sich
„auflösen“, und auf direktem Wege in irgendeine Scheune flüchten. Dort würde sie auf den
Einbruch der Dunkelheit warten, um dann im Schutze ihrer Tiergestalt nach Aachen zu
ziehen. Vorher aber wollte sie dem verhassten Küster einen kleinen Besuch abstatten.
Sie ging zwischen den beiden Wachleuten. Kurz bevor der Gang zu ihrer Zelle nach links
abbog, ließ sich Catharina zwei Schritte zurückfallen, so dass die beiden bewaffneten Männer
vor ihr in den Gang abbogen. Sie ging nicht hinter ihnen her, sondern verwandelte ihre
Hände.
In die Pranken einer menschengroßen Katze!
Die Männer bemerkten, dass Catharina ihnen nicht mehr folgte, und drehten sich instinktiv
um, um nachzusehen. Das war ein tödlicher Fehler! Die Männer kamen nicht einmal mehr
dazu, ihre Waffen zu ziehen. Sie konnten nur noch mit verständnislos aufgerissenen Augen
mit ansehen, wie die Frau mit gewaltiger Kraft die dolchartigen Krallen ihrer RaubkatzenPranken durch die Kleidung in ihre Brustkörbe trieb. Knochen barsten mit einem seltsamen
Geräusch, so als ob junge Äste von einem Baum abgebrochen würden. Dunkles, warmes Blut
schoss schwallartig aus den Körpern der beiden Männer, und ergoss sich über Catharinas
Arme, ihren Umhang und über den Steinboden des Hexenturmes.
Und als die Männer tot zusammenbrachen, stand Catharina über ihnen, die noch
schlagenden Herzen der Wachmänner in ihren blutverschmierten Händen!
Die Jahre der Gefangenschaft hatten alle Menschlichkeit und Skrupel von der einst so
moralisch denkenden Hexe abfallen lassen.
Und jetzt, da sie frei war, sann sie auf Rache!
Und sie hatte noch ein Versprechen einzulösen!
Und so machte sich die Hexe auf den Weg zum Küster der Propsteikirche. Sie flüsterte einen
alten lateinischen Spruch, und entmaterialisierte sich.
€
Was war das?, dachte Johann Küffer, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Soeben hatte er
noch fest geschlafen, und von Kurtisanen30 aus dem Orient geträumt. Und nun saß er
aufrecht in seinem Bett, und horchte in die Nacht. Es war stockdunkel in seinem
Schlafzimmer, und die nächste erreichbare Kerze stand auf einem Tisch, unerreichbare drei
Meter vom Bett entfernt.
„Wer ist da?“, fragte Johann ängstlich in die Dunkelheit. Seine Stimme zitterte.
30
Kurtisane= Geliebte eines Adligen/ Halbweltdame
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Nichts zu hören.
Ich muss mich geirrt haben, sagte Johann in Gedanken zu sich. Oder in meinen wundervollen
Traum mit den prallen Weibern hat sich ein Alptraum geschlichen, sann er. Dann legte er sich
laut gähnend wieder hin, zog sein Laken hoch bis ans Kinn, und drehte sich auf die Seite.
In diesem Moment zerbarst das Schlafzimmerfenster!
Während Johann sich mit schreckgeweiteten Augen aufrichtete, und vor lauter Panik einen
schrillen Schrei ausstieß, prasselten die Scherben der Fensterscheibe auf den Boden des
Schlafzimmers, und verursachten einen infernalischen Lärm.
„Verdammt, was soll das?“, schrie Johann gegen das Scheppern des Glases an. „Wenn das ein
Lausbubenstreich sein soll, dann wird es euer letzter sein! Niemand wirft Steine nach Johann
Küffers Fenster!“
Johann glaubte selbst nicht an einen Kinderstreich, hier war wohl der Wunsch Vater des
Gedanken.
Und in der nächsten Sekunde erhielt Johann die Antwort auf seine Frage.
Es waren keine Kinder.
Es waren Katzen!
Mindestens zwanzig der krallenbewehrten Tiere sprangen laut fauchend, mit hellgrün
leuchtenden Augen und gefletschten Fangzähnen durch das Fenster in Johanns Schlafzimmer.
Er sah nur die Augen und die Zähne, und es versetzte ihn in einen Zustand äußerster Panik.
Jetzt nur nicht durchdrehen!, ermahnte er sich selbst, und versuchte, seine Gedanken zu
ordnen. Das fiel ihm sehr schwer, denn ein Gedanke versuchte pausenlos, alle anderen aus
seinem Bewusstsein zu verdrängen: Weglaufen!, schoss es ihm immer wieder durch den
Kopf. Aber das war gar nicht möglich! Er konnte, abgesehen von den fürchterlichen Augen
und Zähnen, nichts sehen. Die Tür befand sich hinter der fauchenden Wand, so dass sie als
Fluchtweg vorerst ausschied. Durch das Fenster passte er nicht hindurch, es war zu klein.
Was tun? Er musste sich einen Überblick über die Situation verschaffen, dass wurde ihm
plötzlich klar.
Die Kerze!
Er atmete tief ein, nahm all seinen Mut zusammen, und schritt zügig in Richtung des Tisches.
Sehen konnte er nahezu nichts, aber er lebte bereits so lange in diesen Räumen, dass er sie
mit geschlossenen Augen durchschreiten konnte. Er war bis auf zwei Schritte an den Tisch
herangekommen, als es begann.
Zuerst war es ihm gar nicht so bewusst geworden, er erfasste es nur aus den Augenwinkeln.
Es kam Bewegung in die Katzenmeute. Die meisten der grün leuchtenden Augen bewegten
sich etwas nach hinten, von ihm weg. Vier der Tiere kamen aber auf ihn zu, fauchten
drohend, und fletschten wieder die spitzen Zähne, die wie aus sich selbst heraus leuchteten.
Johann registrierte ganz nebenbei, dass sich etwas oberhalb der vielen Reißzähne noch ein
weiteres Raubtiergebiss befand, etwas größer als die anderen. Aber es leuchteten keine
grünen Augen darüber. In diesem Moment erreichte Johann den Tisch. Er stieß leicht
dagegen.
Wie auf ein Kommando stürzten sich plötzlich die Katzen auf ihn!
Er spürte, wie die Tiere ihre Krallen in die nackten Waden seiner Unterschenkel schlugen.
Schmerz flammte auf, der Johann fast den Verstand zu nehmen drohte. Er schloss die Augen,
sein Gesicht nahm einen verzerrten Ausdruck an, und er biss die Zähne so fest zusammen,
dass einer seiner Backenzähne mit einem leisen Knirschen zerbrach. Der Zahn war ohnehin
kariös und morsch gewesen, aber diese Erkenntnis nutzte Johann nun auch nichts mehr. Zu
den brennenden Schmerzen, die die frischen Risswunden an seinen Beinen verursachten,
kamen nun auch noch Zahnschmerzen hinzu. Immer wieder schlugen die vier Katzen, es
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
61
waren normale Katzen, keine riesigen Kreaturen, ihre Krallen in Johanns Körper. Er
mobilisierte all seine Willenskräfte, und ignorierte die Schmerzen so gut er konnte. Er ergriff
die Kerze, zog sie über die Tischplatte auf sich zu, und tastete den Tisch nach den
Schwefelhölzern ab, die hier irgendwo liegen mussten. Unablässig fuhren die Krallen der
Tiere durch seine Beine, und Johann spürte das warme Blut an ihnen herab laufen. Er konnte
die einzelnen Hiebe der Katzen schon gar nicht mehr auseinander halten, seine Beine
bestanden für ihn nur noch aus Feuer, brennendem Schmerz in seiner reinsten Form.
Da! Die Schwefelhölzer! Gott sei Dank!, dachte Johann. Hastig griff er nach einem der Hölzer,
und riss es auf der rauen Oberfläche der Tischplatte an. Die Flamme flackerte auf, und im
ersten Moment war Johann von der plötzlichen Helligkeit etwas geblendet. Aus
zusammengekniffen Augen erkannte er gerade noch, wie etwas Graues, Getigertes auf ihn
zugeflogen kam. Am vorderen Ende des grau getigerten Etwas befanden sich zahlreiche
Klauen und Zähne, und Johann war schlagartig klar, dass es jetzt um sein Gesicht ging!
Er war nicht bereit, sich von den Raubtieren, die in sein Schlafzimmer eingedrungen waren,
sein Gesicht zerkratzen zu lassen. Aus einem Reflex heraus schlug er nach der
heranfliegenden Katze, und traf sie mit der Hand, die das Schwefelholz hielt, am Kopf.
Das brennende Hölzchen bohrte sich mit einem schmatzenden Geräusch in ein Auge der
Katze, und erlosch, während es darin verschwand. Durch die Wucht des Schlages wurde das
Tier herumgeschleudert, und flog in hohem Bogen an Johann vorbei in Richtung Tischkante.
Es knackte trocken und deutlich hörbar, und dann fiel die Katze mit gebrochener Wirbelsäule
zu Boden. Leise Miauend blieb sie dort regungslos liegen.
Johann, von seiner eigenen Kraft überrascht, witterte Morgenluft. Er riss sich zusammen,
griff schnell nach einem weiteren Schwefelholz, entzündete es und hielt die Flamme an die
Kerze. Licht durchflutete den Raum. Triumphierend warf Johann den Kopf in den Nacken, und
rief: “Hah! Jetzt geht’s euch Viechern an den Kragen! Und dann schnappe ich mir den Kerl,
der euch auf mich gehetzt hat!“
Mit neu gewonnenem Selbstvertrauen drehte sich Johann um. Er hielt die Kerze vor seinen
Körper, und ließ die Helligkeit der Kerzenflamme durch den Raum in Richtung der übrigen
Katzen kriechen. Und als er die Tiere sah, verließ ihn sein Selbstvertrauen schlagartig wieder.
Und wich panischer Angst!
„Nur zzu!“, fauchte eine der Katzen, und dann war es dem Küster klar. Das größere
Katzengebiss, das in der Dunkelheit geleuchtet hatte, gehörte dieser verdammten Kreatur,
dieser Hexe in Katzengestalt! Er hatte nur deswegen keine grün leuchtenden Katzenaugen
über den Zähnen leuchten sehen, weil die Augen der großen Katze die eines Menschen
waren! Blaue Augen!
„Catharina Elisabeth Schuif!“, entfuhr es dem entsetzten Küster. „Was willst du von mir?“
„Dass weißt du nicht?“, fragte die Katze ihn, und bewegte sich auf ihren leisen Pfoten auf den
verängstigten Mann zu.
„Habe ich Dir nicht verssprochen, dasss ich mir für dich etwass ganz Bessonderess aufheben
würde? Nun, ich pflege meine Verssprechen einzuhalten, und desshalb bin ich hier. Und ich
habe einige meiner kleinen Freunde mitgebracht. Und wir werden viel Spasss zussammen
haben, Johann.“, fauchte die Kreatur.
“Ssehr viel Spasss. Aber ich fürchte, für dich wird ess dass letzte Vergnügen deiness Lebenss
ssein, mit unss zu sspielen!“
Nachdem die Hexe in Tiergestalt den Satz geendet hatte, spannte sie ihre Muskeln an, duckte
sich zum Sprung, und stieß sich kraftvoll mit den Hinterbeinen vom Boden ab. Im Sprung riss
sie die Vorderbeine hoch, und fuhr die zentimeterlangen, messerscharfen Krallen aus. Als sie
Johanns Gesicht in Reichweite hatte, schlug sie zu.
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
62
Der Küster hatte keine Chance, auszuweichen. Alles geschah viel zu schnell für ihn. Die
Klauen der höllischen Kreatur fuhren wie Skalpelle durch sein Gesicht, und hinterließen eine
Spur der Zerstörung.
Beide Augen wurden ihm im Bruchteil einer Sekunde genommen!
Mit einem Geräusch, als hätte man eine faule Traube zertreten, platzten seine Augäpfel, und
gaben die Flüssigkeit in ihrem Innern frei. Blut schoss in Strömen aus mehreren tiefen
Schnittwunden an seinem Gesicht hinab, und lief ihm auch in die vor Schmerzen
pulsierenden Augenhöhlen hinein, in denen bis vor kurzem noch seine Augen ihren Platz
hatten.
Der Schmerz war nicht auszuhalten!
Nach Leibeskräften schreiend taumelte Johann durch den Raum, und fast flehte er eine
Ohnmacht herbei, nur damit er diesen Schmerz nicht mehr ertragen musste. Aber sein
Verstand, der eigentlich nur noch im Hintergrund seines Bewusstseins seinen Dienst tat,
erklärte ihm, dass er jetzt nicht ohnmächtig werden durfte, da er sich noch gegen dieses
Monster und seine Katzen erwehren musste. Damit er nicht sein Leben in dieser Nacht in
seinem Schlafzimmer ließ.
Das Leben lassen! Sterben! Ja, das ist es!, fuhr es Johann durch den Kopf.
Und obwohl er große Angst vor dem Tod und dem hatte, was danach kommen mochte,
sehnte er sich den Tod regelrecht herbei. Keine Schmerzen mehr! Nie wieder!, schrie es in
seinem Innern.
Und dann übertönte sein Verstand seine Angst und den Wunsch nach Schmerzfreiheit.
Er taumelte weiter durch den Raum, die Arme wild um sich her fuchtelnd. Er suchte nach
einem Halt, einem Ausgang aus dieser Hölle, die einmal sein Schlafzimmer gewesen war.
Aber er fand nichts. Nichts außer einem schweren Gegenstand, den er durch Ertasten
zunächst gar nicht erkannte. Der Gegenstand war unerträglich heiß, und so konnte Johann
ihn nur antippen, und auf diese Art versuchen, herauszufinden, worum es sich handelte.
Der Ofendeckel!, wurde es ihm schlagartig klar.
Und er witterte eine kleine Chance!
Er hörte durch das Inferno der Schmerzen, dass sein gesamtes Sein auszufüllen drohte, dass
die Katzen sich zu einem neuen, letzten Angriff auf ihn formierten.
Er entschloss sich, von jetzt an keine Schmerzen mehr zu spüren, und packte mit beiden
Händen fest den glühend heißen Ofendeckel, und hob ihn vom Ofen ab. Es funktionierte! Er
spürte kaum Schmerzen! Sein Wille hatte gegen seine Nerven triumphiert! In diesem
Glauben schwang Johann den schweren eisernen Ofendeckel hin und her, und merkte nicht,
dass er nur deshalb keine Schmerzen mehr in seinen Händen spürte, weil sie mit dem
glühenden Metall regelrecht verschmolzen, und die Nerven in den Händen nicht mehr
existierten. Und sie verbrannten, während er den Deckel schwang.
Und dann endete der Kampf!
Johann wusste nicht wieso, aber plötzlich war es vorbei. Die Katzen waren verschwunden. Er
war ganz alleine in seinem Schlafzimmer. Allein mit seinen unerträglichen Schmerzen. Er
hatte es kaum wahrgenommen, aber er musste wohl den Ofendeckel nach einer der Katzen
geschleudert haben.
Und er hatte getroffen! Er hatte den Schlag und das Aufheulen der Katze gehört!
Jedenfalls waren die Katzen jetzt weg.
Sicher sind sie geflohen. Jetzt muss ich nur noch Hilfe finden!, dachte Johann. Es waren seine
letzten Gedanken, bevor er die Besinnung verlor.
Und er erwachte nicht mehr. Aus leeren Augenhöhlen blutend, lag der sterbende Küster auf
dem Boden vor seinem Tisch im Schlafzimmer. Aus den Stümpfen am Ende seiner Unterarme
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
strömte dunkelrotes Blut schwallartig hervor, und bildete eine Lache rund um den Körper des
Mannes. In einer Ecke des Zimmers lag ein eiserner Ofendeckel, an dem seltsam verkohlte
Gebilde festgebacken waren, die erst auf den zweiten Blick als Hände zu erkennen waren…
Montag, 8. März 2004, Jülich
63
James und ich erreichten das Museum „Festung Zitadelle“ wenige Minuten nach dem Anruf
aus Aachen. Tatsächlich war dort ein Todesfall zu beklagen. Eine junge Frau, eine Touristin,
war ums Leben gekommen. Ob es sich allerdings um einen Mord oder einen Unfall handelte,
war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Als James und ich am Tatort eintrafen, stellte sich die
Situation so dar: Franziska König, eine 23-jährige Studentin aus Köln, besuchte mit Freunden
den Jülicher Brückenkopfpark31. Im Eintrittspreis des Parks war der Eintritt in das Museum
der Zitadelle enthalten, und Franziska hatte die Gelegenheit genutzt, ihren Wissensdurst im
Museum zu stillen. Ihre Freunde hatten dazu allerdings keine Lust gehabt, und so hatten
diese sich die Zeit in einem nahen Eiscafe vertrieben. Das Eiscafe hatte bereits seit Februar
wieder geöffnet, und so konnten die Freunde sich bereits so früh im Jahr das beste
italienische Eis der Stadt schmecken lassen. Ein Genuss, den die jungen Laute bald bereuen
sollten, denn sie machten sich große Vorwürfe, nachdem sie vom Tod der Freundin erfahren
hatten. Als Franziska nicht zur verabredeten Zeit im Eiscafe erschien, hatten sie sich auf den
Weg zum Museum gemacht. Der Mann am Kassenhäuschen hatte nach einer längeren
Diskussion einen Angestellten des Museums auf die Suche nach der jungen Frau geschickt,
nachdem auch eine Durchsage über die Lautsprecher kein Ergebnis brachte. Der Angestellte
fand die bedauernswerte Frau in einem der unterirdischen Ausstellungsräume. Der Raum
war in früheren Zeiten als Küche des herzoglichen Schlosses genutzt worden. Und dort lag
die junge Frau. Es war nur dem Zufall zu verdanken, und der Tatsache, dass es ein
Montagnachmittag war, dass die Leiche nicht von anderen Museumsbesuchern gefunden
wurde. Der Angestellte hatte sich mehrmals übergeben müssen, und es war ihm nicht zu
verdenken. Der Körper der jungen Frau war übel zugerichtet worden. Der Bauch war
aufgeschlitzt, und die inneren Organe waren im Umkreis von mehreren Metern um die
Leiche herum verteilt worden. Das Herz wurde nicht gefunden. Die Augen waren der 23jährigen Studentin ausgekratzt worden, und ebenfalls unauffindbar. Identifiziert wurde die
junge Kölnerin anhand ihres Personalausweises, den sie bei sich trug, und durch die Angaben
der Freunde, die die Kleidung beschreiben konnten, die die junge Frau getragen hatte. Eine
direkte Identifizierung der Leiche hatte man den jungen Leuten erspart. Selbst uns
Polizeibeamten, die wir ja bereits den einen oder anderen Toten zu sehen bekommen hatten,
verursachte der Anblick Übelkeit. Die Leiche wurde ins Gerichtsmedizinische Institut
gebracht, um die Todesursache hieb- und stichfest zu ermitteln. War es ein Mord oder ein
bedauernswerter Unfall? Hatte ein entlaufenes Raubtier die Frau getötet? Vielleicht ein
Kampfhund? Oder war ein wahnsinniger Killer in Jülich auf der Suche nach einem Opfer auf
die junge Kölnerin getroffen? Die Obduktion des Leichnams sollte uns Gewissheit bringen.
Während wir auf das Ergebnis der Leichenschau warten mussten, sahen James und ich uns in
den unterirdischen Museumsräumen um. Das Gemäuer stammte aus der gleichen
Zeitepoche wie der Hexenturm, und so hatten wir uns bereits unsere eigene Version des
Tathergangs zusammengestellt. James und ich waren mittlerweile fest davon überzeugt, es
31
Brückenkopfpark= Ehem. Landesgartenschau (1998), heute Stadtgarten, wurde um einen napoleonischen
Brückenkopf herum angelegt
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
64
hier mit derselben Gestaltwandlerin zu tun zu haben, die mich schon im Hexenturm verletzt
hatte. Am Abend kam dann endlich der Anruf des Gerichtsmediziners, der uns die Ergebnisse
der Untersuchungen an der Leiche von Franziska König mitteilte.
Bei den Verletzungen handelte es sich eindeutig um Riss- und Bisswunden, wie sie von
größeren Raubtieren verursacht werden. Anhand der Form der Bisswunden ließ sich mit
hoher Wahrscheinlichkeit als Verursacher ein katzenartiges Tier ermitteln. Das war für mich
der Beweis.
Nicht so für den Gerichtsmediziner, der eine andere Todesursache annahm.
„Verstümmelungen, hervorgerufen durch nicht handelsübliche Stich- und Schneidwerkzeuge.
Die Art und Schwere der Verletzungen, sowie das Fehlen einzelner Organe lassen auf einen
psychisch erkrankten Täter schließen.“, besagte der Bericht.
Ich hatte eine kleine Diskussion mit dem Möchtegern- Quincy, der tatsächlich die Theorie
vertrat, ein verrückter Killer hätte mit irgendwelchen selbst gebastelten Waffen, zum Beispiel
einem übergroßen Katzengebiss aus Metall, die Frau regelrecht abgeschlachtet. Als
Hauptargument führte er das völlige Fehlen von Fell- oder Speichelspuren ins Feld. Und dem
hatte ich natürlich nur wenig entgegenzusetzen, denn es war ja auch höchst
unwahrscheinlich, dass ein Raubtier beim Zerfleischen seines Opfers keine Spuren wie Haare
oder Speichel auf ihm zurückließ.
Was hätte ich dem Mann erzählen sollen? Dass es sich um eine Geistergestalt handelte, um
eine Xenomorphe, wie James Driscoll sie genannt hatte? Um ein Wesen aus einer anderen
Zeit, an die fünfhundert Jahre alt, dass irgendwie die Zeiten überdauert hatte, und jetzt in
der Gestalt einer übergroßen Katze mit Menschenaugen auf mörderischen Touren durch
Jülich zog?
Man würde mich schlichtweg für verrückt erklären. Und so nahm ich die
Ermittlungsergebnisse des Gerichtsmediziners einfach als gegeben hin, und vermied eine
weitere Diskussion. Ich berichtete James in wenigen Sätzen von meinem Gespräch mit dem
Pathologen.
„Machen sie sich nichts daraus, Rick.“, sagte James. „Er hat nicht unsere Erfahrungen in
diesem Fall, daher sind seine Schlussfolgerungen für ihn die einzig logischen. Aber wir wissen
mehr, Rick, wir haben mit eigenen Augen gesehen, um was für ein Wesen es sich hier
handelt. Ich nehme an, dass die „Katzenfrau“ zu ihren Lebzeiten eine Zauberkundige war,
eine Art Druidin oder auch Hexe. Sie ist vermutlich schon damals in der Lage gewesen, ihre
Gestalt zu wechseln. Es gibt einige Überlieferungen über ähnliche Fälle aus dem Mittelalter,
aus denen hervorgeht, dass Hexen mit Dämonen einen Bund eingingen, der es ihnen
ermöglichte, die Gestalt zu wechseln. Eine regelrechte Symbiose32, so könnten sie es sich
vorstellen. Ich nehme an, dass sich „unsere“ Katze kurz vor ihrem Tod im Mittelalter in ihre
dämonische Katzenform geflüchtet hat. Der menschliche Körper war gestorben, die Katze
lebte weiter. Dass würde erklären, warum uns die menschliche Gestalt der Kreatur im
Hexenturm so mumienartig und unwirklich erschien. Die Katze hat irgendwie die Zeiten
überdauert, versteckt im oder unter dem Hexenturm. Und erst jetzt ist sie durch den
Hexenstein des italienischen Archäologen wiedererweckt worden. Sie wird vermutlich
verwirrt sein, und nicht mit ihrer Situation klarkommen. Sie muss wahrscheinlich gegen ihren
Willen die Morde verüben, um diesem Vincenze da Como die Lebensenergie ihrer Opfer zu
verschaffen. Wie auch immer das funktionieren soll.“, schloss James Driscoll seine langen
Ausführungen.
„Ja, da gebe ich Dir recht, James.“, antwortete ich. „Wir sollten uns ein wenig im Museum
32
Symbiose= Das Zusammenleben verschiedener Organismen zu gegenseitigem Nutzen
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
65
umsehen, da ich annehme, dass die Kreatur sich noch hier aufhält. Kann es nicht sein, dass
sich die Katze oder Hexe, oder um was es sich auch handelt, an die Gebäude hält, die sie aus
ihren Lebzeiten kennt?“
„Da könntest du recht haben, Rick, es erscheint auch mir wahrscheinlich. Dann lass uns mal
losgehen. Wir fangen am Besten in der alten Schlossküche an, wo die Leiche der Franziska
König gefunden wurde. Diesmal nimmst du am Besten sofort die Beretta an Dich, wir müssen
auf alles gefasst sein!“, sagte James, und warf mir seine Waffe zu. Ich entsicherte die Waffe,
die mit Silberkugeln bestückt war, und ließ sie in meinem Schulterholster verschwinden.
„Was soll mir die Waffe eigentlich bringen, James? Beim letzten Mal ist die Kugel doch aus
der Katze heraus gefallen, nachdem sie ihren Würmertrick angewendet hatte? Die Kugel
hatte nichts angerichtet!“ Ich war wirklich sehr skeptisch, was die Wirksamkeit der Waffe
anging.
„Versuchen sie, den Kopf zu treffen, einen besseren Rat kann ich ihnen nicht geben, Rick. Bei
Werwölfen hilft das ganz gut, sie können sich zwar von fast jeder Verletzung wieder erholen,
aber nicht von Kopfschüssen, wenn das Gehirn massiv geschädigt wird. Und wenn es die
Katze nicht vernichtet, so verschafft es uns einen zeitlichen Vorteil, den wir dann nutzen
können!“
Das leuchtete mir ein.
„Also los. Schnappen wir uns die verdammte Killerkatze!“, sagte ich bestimmt.
Wir gingen los.
Und wir mussten nicht lange suchen.
Schon wenige Räume weiter bemerkte James Driscoll einen Schatten, der sich in immer
gleichem Abstand von uns bewegte. Die Hexe folgte uns!
Der Geisterjäger aus England knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes auf, um das
silberne Kreuz frei zu legen, das schon einmal die Katze in die Flucht geschlagen hatte. Ich zog
die Beretta.
„Zeig dich, Kreatur!“, rief ich. Und die Katze reagierte!
„Gerne“, fauchte der Schatten, und verdichtete sich zu der uns bekannten Katzengestalt.
Aber damit nicht genug. Fast übergangslos veränderte die Gestalt sich weiter, wurde größer,
zog sich regelrecht in die Länge. Der Schwanz der Katze zog sich wie selbstverständlich in den
Körper der Gestalt zurück, und stattdessen erschien der Umriss eines langen Umhangs vor
unseren Augen. Das Katzenprofil des Kopfes veränderte sich ebenfalls, und nahm immer
menschlichere Züge an. Und nach einigen Sekunden stand die Frau mit dem grauen Umhang
vor uns, die Kapuze verdeckte wie schon im Hexenturm die Gesichtszüge, und was man
erkennen konnte, wirkte wie aus dunklem, verkohlten Holz geschnitzt.
„Jetzt habe ich mich euch gezeigt! Und, was wollt ihr jetzt unternehmen?, sagte die Hexe in
einem Tonfall, der uns sofort klarmachte, dass sie sich uns haushoch überlegen fühlte.
„Dich vernichten, wenn es uns gelingt!“, warf ich der Hexe entgegen, und richtete zum
Beweis James Beretta auf das Gesicht der Gestalt.
„Hah!“, platzte es aus der Hexe heraus, „Mich vernichten? Wie wollt ihr das anstellen? Mit
euren lächerlichen tragbaren Kanonen? Damit habt ihr doch bereits versagt! Oder wollt ihr
mich wieder mit eurem blitzenden Kreuz erschrecken? Lächerlich!“ Sie verhöhnte uns
regelrecht.
„Warum tötest du unschuldige Menschen?“, versuchte ich es mit einer Frage. Bevor es zum
unausweichlichen Kampf zwischen uns kam, wollte ich zumindest noch ein paar
Informationen von der höllischen Frau.
„Weil ich es will!“, kreischte sie zurück. Dabei fiel mir auf, dass mit der Katzengestalt auch das
Fauchen und Zischen aus ihrer Stimme gewichen war.
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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„Und weil du es musst!“, warf James der Hexe vor.
„Was wisst ihr schon, sterbliche Menschen!“ Ihr Tonfall hatte plötzlich einen hysterischen
Unterton, offenbar hatte James mit seiner Bemerkung ins Schwarze getroffen.
“Wenn du so selbständig handeln kannst, warum tötest du dann wahllos Menschen, die du
nicht kennst, und die dir nichts getan haben? Das ergibt doch gar keinen Sinn!“, rief ich aus.
„Weil ich es muss. Soweit gebe ich dir Recht, Mensch. Aber es ist mir auch ein Vergnügen.
Gestatte mir, mich dir vorzustellen; ich bin Catharina Elisabeth Schuif, oder vielmehr, ich war
es. Vor langer Zeit zumindest. Als ich noch ein Mensch war, kannte man mich als „Hexe aus
dem Gelderland“ in Jülich, und ich hatte ein gutes Leben hier. Bis ich diesen verdammten
Bauern getroffen habe, der den Bürgern den Schinken stahl. Ich wurde von meinem Dämon,
mit dem ich im Pakt stand und noch stehe, angewiesen, ihn den Bürgern auszuliefern, und
das tat ich auch. Und das war der Anfang von meinem Ende als Mensch! Ich wurde gefangen
und gefoltert, aber ich konnte noch einmal entkommen, ehe ich in einem letzten Kampf ums
Leben kam. Das heißt, meine menschliche Hälfte starb. Nicht die dämonische Seite meines
Seins, diese lebte weiter. Und in ihr ein Rest meiner menschlichen Seele, ein Fragment der
Catharina Elisabeth von einst. Ich konnte mich sogar weiterhin in eine fast menschliche
Gestalt verwandeln, aber da diese vollkommen entstellt war, musste ich sie vermummen. Ihr
seht es ja selbst. Ich flüchtete mich damals in das Rurtor, das die Leute nach mir Hexenturm
getauft hatten, und verwendete meine Fähigkeiten, um mich zu verstecken. Ich löste mich
auf, und versteckte mich im Mauerwerk, um darauf zu warten, dass mich mein Dämon
rettete, mit dem ich im Pakt stand. Aber offensichtlich hat sich die verdammte Höllenbestie
nicht an unsere Verabredung gehalten, oder ist vielleicht sogar getötet worden, denn ich
wurde nicht befreit oder gerettet oder etwas in der Art. Erst vor wenigen Tagen vernahm ich
den Ruf einer Macht, der ich nichts entgegen zu setzen hatte. Ich wurde aus meiner
entstofflichten Form gezwungen, und als ich mich in meiner Katzengestalt im Hexenturm
wieder fand, begegnete ich diesem Mann, der aus lauter Angst vor mir starb. Aber wäre er
nicht von selbst gestorben, ich hätte ihn ohnehin getötet. Diese Macht geht von einem
Talisman aus, einem mächtigen Gegenstand irgendwo in der Nähe! Diese Macht zwang mich,
den Mann zu töten, brach regelrecht meinen Willen. Ich habe erfahren, dass ein Mann
namens Vincenze da Como hinter der Sache steckt, und dass er mit dem Stein, den er
gefunden hatte, Macht über mich und andere Hexen, Dämonen, Geister und so weiter
ausüben kann. Er will mit Hilfe der Lebensenergie, die in den Opfern seiner Mordgehilfen,
also auch mir, steckt, ein ewiges Leben erlangen! Und als Gegenleistung für meine Dienste
versprach er mir, meinen Dämon zu finden, damit dieser mich aus seinem Pakt entlässt.
Damit ich endlich sterben kann. Nun wisst ihr genug.“, sagte die Hexe.
Und fügte eine Sekunde später hinzu: „Genug, um sterben zu müssen!“
Nachdem sie ihre Ansprache beendet hatte, veränderte sich die Frauengestalt wieder. Aus
ihren Händen wurden im Bruchteil einer Sekunde klauenbewehrte Pranken, und sie sprang
so blitzschnell auf uns zu, dass es James und mir vollkommen unmöglich war, darauf zu
reagieren. Die Hexe erreichte James, und führte einen gewaltigen Hieb gegen seine Brust
aus, an der das Kreuz hing. Stoff zerriss mit einem ratschenden Ton, und ich konnte James
schmerzerfüllt schreien hören. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich aus den Augenwinkeln
gerade noch die Gestalt aus dem Raum fliehen, während James auf die Knie gesunken war,
und sich mit beiden Händen die Brust hielt.
“Rick, nehmen sie das Kreuz und machen sie dem Spuk ein Ende!“ Seine Stimme war brüchig,
vom Schmerz entstellt.
„Ist alles in Ordnung mit ihnen, James? Sind sie schwer verletzt? Ich kann sie doch jetzt nicht
allein lassen!“
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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„Doch können sie! Müssen sie! Die Wunden sind nicht tief, nur sehr schmerzhaft. Und ich
habe das Kreuz verloren! Die verdammte Hexe hat es mir doch glatt von der Brust weg
geschlagen! Finden sie es, und vernichten sie die Kreatur! Das Kreuz ist bereits aktiviert, also
wird es ihnen beistehen, wenn es nötig ist!“ Dann stöhnte Driscoll auf, und sank noch ein
wenig mehr in sich zusammen. Die Schmerzen mussten gewaltig sein.
„Gut. Aber rufen sie sich einen Arzt, bevor sie hier noch verbluten!“, rief ich James zu, und
gab ihm mein Handy. Ich entdeckte das Kreuz keine zwei Meter entfernt auf dem Boden,
ergriff es, und setze der Hexe nach…
Donnerstag, 15. Januar 1553, Jülich
„Sehen sie, Commissario!“, sagte der Wachmann, und hob das Tuch ein Stück an. Er trug die
gleiche herzogliche Uniform wie die beiden Wachleute des Gefängnisses, die gestern auf
abscheuliche Art und Weise ihr Leben lassen mussten. Theodor von Bergen, der
Commissario, fand kaum Mitleid mit den Beiden. Sicher, er wünschte niemandem einen
solchen Tod, aber die Beiden waren ja selber Schuld an ihrem Schicksal! Er hatte eine klare
Anweisung gegeben, die gefangene Frau niemals ohne Ketten außerhalb ihrer Zelle zu lassen.
Und sie vor allen Dingen nie aus den Augen zu lassen! Und diese beiden Dummköpfe hatten
alle diesbezüglichen Befehle missachtet, und hatten mit dem Leben dafür bezahlt. Er
widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem, was sich unter dem Tuch befand, dass der
Uniformierte für ihn angehoben hatte. Es bot sich ihm ein schrecklicher Anblick!
Eine Frau lag dort seltsam verdreht auf dem Boden. Ihr Gesicht war nicht mehr als ein
solches zu erkennen, es war vollkommen zerschmettert. Dort, wo sich einmal die
Sinnesorgane der Frau befunden hatten, existierte nur noch ein Konglomerat33 aus Fleisch,
Knochen und Blut, dem jeglicher menschlicher Wesenszug abging. Den beiden
bedauernswerten Hausfrauen, die die Leiche am frühen Morgen in der Gosse vor dem
Hexenturm fanden, war die Frau unbekannt. Das hatte die Befragung ergeben, und es passte
Theodor van Bergen auch gut in sein Konzept. Da das Gesicht der in seinen Augen
überführten Hexe nicht zu identifizieren war, hatten die Frauen die Catharina Elisabeth Schuif
natürlich nicht erkennen können. Van Bergen hingegen erkannte sofort anhand der Kleidung,
dass es sich um die Frau aus dem Geldrischen handeln musste, er hatte sie ja erst gestern
verhört. Und nun konnte er praktischerweise auch ohne ein Geständnis die Beerdigung
seiner Gefangenen anordnen. Ihr plötzlicher Tod sparte ihm viel Zeit und die unangenehme
Rechtfertigung vor dem Herzog. Dieser hätte einer Hinrichtung sicher nicht zugestimmt. Ein
zufriedener Ausdruck schlich sich in die Züge des Commissario.
„Was mag ihr geschehen sein, Herr van Bergen. Was denkt ihr?“, fragte der uniformierte
Wachmann, und ließ das Tuch wieder auf die Leiche der Hexe zurücksinken, um ihren
zerschmetterten Schädel vor den neugierigen Blicken der Stadtbevölkerung zu verbergen, die
sich um den Ort des Geschehens versammelt hatten, um nur ja nichts zu verpassen.
“Ich habe keine Ahnung, mein Lieber. Und was kümmert es mich? Die Frau ist tot, ich kann
ihr nicht mehr helfen. Sicher ist es eine Bettlerin, die in der Gosse geschlafen hat, oder einen
Rausch auskurieren wollte. Vielleicht ist ihr eine Kutsche in der Dunkelheit über das Gesicht
gefahren. Wie auch immer, dies hier fällt wohl mehr in die Zuständigkeit eines Totengräbers
denn in die Meinige. Sorgt dafür, dass dieser Leichnam verschwindet, und schickt endlich die
Schaulustigen fort!“
33
Konglomerat= Zusammenballung, Gemisch (lat.)
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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“Ja, Commissario! Sofort!“, antwortete der Wachmann.
Van Bergen ging in Richtung des Haupt- und Criminalgerichts, und grinste. Er hatte den
Wachmann belogen, er wusste sehr wohl, was der Frau zugestoßen war. Zumindest war er
sich ziemlich sicher, es zu wissen, denn er hatte bereits früher am Tag die Leiche des Küsters
begutachten müssen. Die Haushälterin des Pfarrers fand den Mann in seinem Schlafzimmer,
ohne Augen und ohne Hände. Er musste wohl verblutet sein, darauf wies die gigantische
Blutlache hin, die sich auf dem Boden um den Mann gebildet hatte. Die Hände, oder was
davon übrig war, klebten an einem Ofendeckel. Sie mussten wohl daran festgebacken sein,
als der arme Küster in seiner Todesangst nach der erstbesten Waffe griff, die er erreichen
konnte. Und da ist seine Wahl wohl auf eine glühenden Ofendeckel gefallen. Eine schlechte
Wahl, dachte Theodor van Bergen, und betrat seine Schreibstube im Criminalgericht. Na ja,
wenigstens haben wir hier in Jülich jetzt wieder Ruhe vor Hexen! Er grinste zufrieden.
Montag, 8.März 2004, Jülich
Ich war der Gestalt aus dem Museum gefolgt, und hatte mich hastig nach ihr umgesehen.
Aber da war nichts! Ich war verzweifelt. Ich konnte die Hexe, oder was diese Frau auch
immer war, diesmal nicht davonkommen lassen. Sie hatte James Driscoll ziemlich übel
erwischt, so wie sie mich auch schon einmal verletzt hatte. Und sie hatte getötet!
Das musste jetzt ein Ende haben!
Da ich die Kreatur nirgendwo in den Innenhöfen der Zitadelle entdecken konnte, entschloss
ich mich, in Richtung des Hexenturms weiterzusuchen, denn ich war davon überzeugt, dass
die geheimnisvolle Frau, die sich uns als Catharina Elisabeth Schuif vorgestellt hatte, sich auf
ihr bekannten Wegen bewegen würde. Und vielleicht wollte sie wieder in ihr Versteck im
Mauerwerk des Turms flüchten. Ich rannte also so schnell ich konnte aus der Zitadelle
heraus, überquerte die Brücke, die den Wassergraben der Festung überspannte, auf den
Schlossplatz zu. So nannte man in Jülich eine kleine Parkanlage mitten in der Innenstadt. Ich
rannte in die Kölnstraße, von dort aus über den Marktplatz, und erreichte auf diesem Weg
die so genannte Kleine Rurstraße. An deren Ende stand das ehemalige Stadttor der Jülicher,
der Hexenturm. Ich war schon vollkommen außer Atem, und hatte erbärmliches
Seitenstechen.
Und dann sah ich sie!
Die Gestalt rannte tatsächlich auf den Turm zu! „Stehen bleiben, Polizei!“, rief ich instinktiv,
obwohl mir vollkommen klar war, dass dieser Befehl nicht befolgt werden würde. Und die
Gestalt blieb auch nicht stehen. Ich hatte keine Wahl.
Ich riss die Beretta hoch, und zielte, so gut es in der dunklen Umgebung ging. Die Laternen in
der Straße gaben nicht viel Licht ab, und die Schaufenster der nahen Apotheke waren um
diese Uhrzeit nicht beleuchtet. Offensichtlich hatte an diesem Tag eine andere Apotheke
Notdienst. Weshalb die Jülicher ein so imposantes mittelalterliches Bauwerk wie den
Hexenturm nachts nicht beleuchteten, ging mir nicht in den Sinn. Es würde doch viel besser
aussehen, und außerdem bezeichnete man allgemein den Turm als Wahrzeichen der Stadt.
Das Licht hätte mir in diesem Moment jedenfalls eine große Hilfe sein können. Es musste also
auch so gehen, im Dunkeln. Ich rief der Ordnung halber noch schnell „Stehen bleiben oder
ich mache von der Schusswaffe Gebrauch!“, aber natürlich ohne Erfolg.
Ich schoss!
Krachend peitschte die Kugel aus dem Lauf der Waffe, überbrückte die Distanz zu der
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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flüchtenden Hexe, und schlug in ihren Rücken auf Höhe der Schulterblätter ein. Die Gestalt
wurde von den Beinen gerissen, und fiel zu Boden. Mit einigen schnellen Schritten erreichte
ich sie.
“Narr!“, schrie die Gestalt mir entgegen. „Das hast du doch schon einmal versucht! Dieses
Mal sollst du es nicht überleben!“
Und in diesem Moment ging in ihrem Gesicht eine Veränderung vor!
Der lippenlose, wie aus Holz geschnitzt wirkende Mund der Hexe wölbte sich seltsam vor,
und ich erkannte, dass in ihrem Mund die faulen Zahnstümpfe den schneeweißen, spitzen
Zähnen einer Raubkatze wichen. Sie wollte mich also mit ihren Klauen und Zähnen zur
Strecke bringen!
Ich musste ihr zuvorkommen. Die Kugel aus gewehtem Silber, die in ihrem Rücken steckte,
würde sie sicher nicht lange aufhalten. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm ich das
Silberne Kreuz von Driscoll in die Hand, und rammte es der Kreatur mit dem längeren Ende in
das offene Katzenmaul.
Und dann passierte das Unglaubliche!
Flammen schlugen aus dem Maul, und Blitze sprühten zu Hunderten über den gesamten
Körper der Frau, die wie verrückt schrie.
Das wird alle Jülicher auf einmal wecken!, dachte ich. Hoffentlich sah niemand, was sich
wirklich hier abspielte. Für meinen Verstand war es ja schon fast unerträglich, aber für so
manchen einfachen Bürger mochte das, was er hier zu sehen bekam, zu viel sein. Die Hexe
schrie ohrenbetäubend, und stieß die verschiedensten Flüche gegen mich aus. Die Blitze aus
dem geweihten Kreuz des Geisterjägers entzündeten den Umhang der Hexe, und schon kurz
darauf brannte sie lichterloh, um dann mit einem seltsam gedämpften Knall zu explodieren.
Rund um mich herum rieselten kleine Aschenflocken herab. Mehr war von der Hexe nicht
übrig geblieben.
Dieses Mal hatte das Silberkreuz seine volle Wirkung gezeigt.
Die Bedrohung durch die Hexe gab es nicht mehr. Ich hörte, wie in der unmittelbaren Nähe
ein Fenster geöffnet wurde. Eine schläfrige Männerstimme erklang. „Verdammt noch mal,
was soll der Lärm zu nachtschlafender Zeit? Macht euer Feuerwerk gefälligst zu Silvester, und
nicht im März. Verdammte Bande!“ Dann schlug der Mann das Fenster zu. Aus der
Entfernung klang noch ein „Ruhe!“ auf. Völlig außer Atem bückte ich mich, holte das
Silberkreuz unter einem Häufchen Asche hervor, und ging in Richtung Zitadelle davon. Ich
wollte mich jetzt erst mal um James kümmern. Der Notarzt müsste ihn ja auch bald
erreichen…
Montag, 15. März 2004, Aachen
„Ah, Herr Templeton, da sind sie ja! Wir haben schon auf sie gewartet. Nehmen sie Platz, wir
haben etwas mit ihnen zu besprechen.“ Mit einem freundlichen Lächeln wies mir Konrad
Wallner, mein Chef in der Aachener Mordkommission, einen Sitzplatz vor seinem
Schreibtisch zu. Hans Bertrams hatte bereits Platz genommen, und machte ein ernstes
Gesicht. „Danke!“, gab ich zurück, und setzte mich.
Nach den Ereignissen der letzten Tage hatte ich mir erst mal den Rest der Woche frei
genommen. Ich musste mich dringend etwas von den körperlichen, aber auch den
psychischen Strapazen erholen. Ich musste mir mein gesamtes Weltbild neu ordnen. Zu
akzeptieren, dass eine Frau im 16. Jahrhundert sich in eine Katzengestalt verwandeln konnte,
war die eine Sache. Aber dass die gleiche Frau mich fast fünfhundert Jahre später verletzen
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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konnte, und gleich mehrere Morde begangen hatte, das war etwas völlig anderes. Ich
freundete mich mit dem Gedanken an, dass es hinter dem Sichtbaren, dem vermeintlich
Normalen noch etwas anderes geben konnte, ja musste! Geister und Dämonen, Hexen,
Werwölfe und Vampire, all dies existierte tatsächlich!
James Driscoll, der Geisterjäger aus London, hatte mir in den letzten Tagen sehr dabei
geholfen, meine Weltanschauung wieder in eine erträgliche Bahn zu lenken. Ich muss schon
sagen, dass ich von seinen Erfahrungen profitiert habe. Jetzt fühlte ich mich jedenfalls wieder
sicher genug, um mich im Alltag den Anforderungen zu stellen, die die Arbeit in einer
Mordkommission an mich stellen würde.
James war gestern wieder nach London aufgebrochen. Die Auslandsreise seines Freundes
Komorra war beendet, und daher reiste er ihm nicht mehr nach. Ich schätze, Driscoll
brauchte auch einen kleinen Erholungsurlaub, denn die Wunden auf seiner Brust waren
genäht worden und mussten nun erst einmal völlig verheilen. Nach seiner Abreise hatte ich
das seltsame Gefühl, ihn schon sehr bald wieder zu sehen…
„Rick? Hören sie mich?“, sagte Wallner fragend, und riss mich aus meinen Gedanken.
„Entschuldigung, Chef, ich war kurz „abwesend“, Bitte wiederholen sie noch einmal ihre
Frage.“
„Gut, Templeton. Es war weniger eine Frage, als eine Anweisung. Wir haben ihren Bericht zu
dem Fall in Jülich erhalten und… Nun, wir haben ihn etwas, sagen wir mal, modifiziert.
Andernfalls können wir hier dicht machen. Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht,
Templeton? Eine sprechende Katze? Haben sie zu tief in Horrorbüchern geschmökert, oder
hat sie dieser spleenige Engländer, dieser angebliche Geisterjäger, zu diesem Quatsch
überredet? Na, wie dem auch sei, der Bericht ist jetzt deutlich glaubwürdiger. Ein entweder
abgerichtetes oder schlicht entlaufenes Raubtier, vermutlich katzenartig, hat im
Stadtgeschichtlichen Museum sowie im Museum der Zitadelle jeweils einen Menschen
angefallen und getötet. Das Tier konnte nicht ausfindig gemacht werden, auf einen
eventuellen Halter gibt es keinerlei Hinweise. Tragisch, aber nichts für die Mordkommission.
Der Fall wird abgeschlossen. Unterschreiben sie diesen Bericht bitte, Rick.“ Wallner schob das
Blatt Papier über den Tisch auf mich zu, und hielt mir mit der anderen Hand einen
Kugelschreiber entgegen. Hans Bertrams sah peinlich berührt zur Seite.
In mir kochte es! Was fiel meinem Chef ein? Er ignorierte völlig die Tatsachen! Mein Bericht
entsprach vom ersten bis zum letzten Wort der Wahrheit!
„Nein, Herr Wallner, tut mir leid. Sie haben meinen Bericht bereits erhalten. Ich habe diesem
nichts hinzu zu fügen! Ich werde diesen Bericht nicht unterschreiben, da er nicht den
Tatsachen und dem entspricht, was ich zusammen mit James Driscoll ermittelt habe!“ Ich
schob ihm das Papier zurück.
Wallner stand auf, und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. Sein Gesicht
hatte eine rote Färbung angenommen.
„Gut, wie sie wollen, Templeton. Ich habe mir das schon gedacht. Hans hatte mir von ihrem
Dickkopf ja bereits erzählt. Für den Fall, dass sie den Bericht nicht unterschreiben, bleibt mir
leider nur eines zu tun. Ich weiß, dass mein Freund Hans Bertrams hiermit nicht
einverstanden ist, aber ich halte es als Leiter der Mordkommission für meine Pflicht. Rick
Templeton, ich entbinde sie hiermit von ihren Aufgaben bei der Aachener Mordkommission!
Sie sind bis auf weiteres beurlaubt! Wir lassen sie wissen, wie wir weiter mit ihnen verfahren
werden. Ich lasse meine Abteilung nicht zu einer Gruppe von Märchenonkeln verkommen.
Sie können gehen! Guten Tag.“
Wallner setzte sich.
Ich war außer mir!
©Dirk Eickenhorst 2008
Der Hexenturm Roman
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Beurlaubt! Das war ein nettes Wort für „gekündigt“! Man hatte mich rausgeschmissen, weil
ich meinen Job getan hatte, und die Wahrheit gesagt hatte. Unfassbar! Ich war so erregt,
dass es in diesem Moment kaum einen Sinn ergab, eine Diskussion zu beginnen. Daher stand
ich auf, gab ein gefasstes „Guten Tag!“ zum Besten, drehte mich um und verlies den Raum.
Ich wollte nur noch nach Hause. Ich ging zügig in Richtung des Treppenhauses.
„Rick, bleib stehen! Einen Moment noch!“ Hans Bertrams kam mir nachgelaufen. Ich blieb
kurz stehen. Schließlich war Bertrams so etwas wie ein Freund für mich.
„Was gibt’s denn noch? Ich möchte nach Hause!“, sagte ich etwas gereizt.
„Du kannst sofort nach Hause. Ich muss Dir nur noch dringend etwas sagen. Wallner weiß
davon nichts, und es sollte auch dabei bleiben, hörst du?“
„OK, schiess los. Was gibt’s?“ Hans war offensichtlich aufgeregt, und das machte mich etwas
neugierig.
„Also: Ich habe eine Mitteilung aus Berlin bekommen. Dein Kollege Driscoll ist vom Scotland
Yard beauftragt worden, nah Turin zu reisen, und sich dort nach einem gewissen Vincenze da
Como umzusehen. Und halt dich fest; du wirst versetzt! Das BKA hat von ganz oben aus
festgelegt, dass du einer Abteilung beim Interpol überstellt wirst! Und wenn ich das richtig
verstanden habe, dann sollst du zunächst herausfinden, ob dieser italienische Archäologe,
dieser da Como, sich nicht eventuell doch in Deutschland aufhält!
Rick, du bist jetzt ein internationaler Ermittler! Ist das nicht Klasse?“
Hans schien sich ehrlich für mich zu freuen.
„Was?“, stieß ich hervor. „Mann, das ist zuviel für mich. Erst werde ich gefeuert, dann
befördert, was denn nun?“ Ich war baff.
„Entschuldige, Hans, aber ich möchte mich jetzt nicht weiter unterhalten. Ich muss das alles
erstmal verdauen. Ich melde mich bei dir, OK?“
Ich ließ Bertrams stehen, und ging aus dem Gebäude zu meinem Ford, setzte mich hinein,
und startete den Motor. Ich schaltete den CD-Player ein und spielte Frank Sinatras „I´m
gonna live till i die“34.
Ich würde also weiter nach Vincenze da Como fahnden. Und eventuell wieder auf
irgendwelche Kreaturen aus der Hölle treffen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich freuen
oder fürchten sollte, als ich nach Hause fuhr…
ENDE
Geschrieben von April bis zum 20. Mai 2004 in Jülich
Redigierte Fassung vom 26. März 2008
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I live till i die= Ich werde leben bis ich sterbe
©Dirk Eickenhorst 2008