Der Hexenturm Roman
Transcription
Der Hexenturm Roman
Der Hexenturm Roman (Zum Teil basierend auf historischen Fakten ohne Anspruch auf geschichtliche oder chronologische Korrektheit) Sonntag, 3.Februar 1546, Jülich 1 Der Mann drückte sich in den Schatten, den die Hauswand hinter seinem Rücken warf. Warum musste der Mond auch ausgerechnet heute so helles Licht auf die Stadt werfen! Er hatte entfernte Schritte gehört, und er hoffte, dass es sich nicht um den Nachtwächter handelte, der in der Stadt des Nachts seine Runden ging. Er hoffte, nein, er betete zu Gott im Himmel, dass es sich nur um einen betrunkenen Knecht handelte, der randvoll mit Bier von der nahen Schenke zu seinem Bett unterwegs war. Die Schritte näherten sich, wurden lauter, man konnte den Klang der Schuhe hören, wie sie auf dem festen Lehmboden auftraten, und hin und wieder vernahm man auch das leise Platschen, wenn der nächtliche Spaziergänger in eine Pfütze trat. Der Mann drückte sich noch ein wenig fester in den Schatten der Mauer. Schweiß stand ihm trotz der kalten Witterung auf der Stirn. Aber dieses Mal war das Glück auf seiner Seite. Die Schritte wurden nun wieder leiser, und entfernten sich in Richtung zur Propsteikirche hin, und verstummten dann vollends. Es war wieder völlig still in der Stadt. Der Mann atmete erleichtert auf. Der Mann hieß Jacop. Er war ein Dieb. Nicht die üble Sorte Dieb natürlich, wie die solchen, die in der Nähe der Geleitstraßen1 ihr Unwesen trieben und plündernd und mordend durch die Lande zogen. Jacop verabscheute Gewalt. Und er war nicht ganz freiwillig zum Dieb geworden. Er stahl aus purer Not, und er nahm seinen „Opfern“ auch keine Wertgegenstände ab, er stahl nie Geld. Nur Lebensmittel für sich und seine Familie. Heute stahl er Fleisch, da die Rauchfänge der wohlhabenden Bürger in diesen Tagen voller wunderbarer Fleischstücke hingen. Jacop lief allein beim Gedanken an das Fleisch das Wasser im Mund zusammen, und er rieb sich unbewusst die rußgeschwärzten Hände, und freute sich schon auf seine Beute, die er in dieser Nacht zu machen hoffte. Er hatte sich sein Gesicht und die Hände mit Ruß eingerieben, um im Schutze der Dunkelheit möglichst unsichtbar zu bleiben. Drei Fleischbrocken befanden sich nun schon in dem groben Leinensack, den sich Jacop auf den Rücken gebunden hatte, aber ein oder zwei weitere Stücke würde er noch brauchen, um seine Familie satt zu bekommen. Und so schlich er sich leise durch die Dunkelheit, und sein Ziel war der Rauchfang der Eheleute Carl und Anna Goddert. Die hatten immer genug zu essen, reich wie sie waren. Ganz im Gegensatz zu Jacop. Er war bettelarm. Das war nicht immer so. Noch vor drei Jahren, also im Jahre des Herrn 1543, war Jacop ein Bauer, der im nahen Gelderland in dem kleinen Ort Ammerzoden bei Utrecht einen bescheidenen Hof bewirtschaftete. Hof war vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, es handelte sich eigentlich mehr um eine Lehmhütte mit Strohdach als Wohnstatt, und einen hölzernen Stall, der das Vieh beherbergte. Er stand damals unter seinem Lehnsherrn, dem Herzog Wilhelm V. von Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg, und er war zufrieden mit seinem Leben im Herzogtum. Die Abgaben, die er an seinen Lehnsherren abzutreten verpflichtet war, hielten sich in Grenzen, und der Hof warf genug ab, um ihm und seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Seine Familie, das waren seine Frau Magdalena und seine vier Kinder, Josef, Gabriel, Willibrord und Franziska. Seine Söhne, sie waren fünf, drei und zwei Jahre alt, und trotz der bitteren Armut kerngesund, und Franziska, sein Nesthäkchen, seine Prinzessin und 1 bewachte Handelsstrassen ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman Augenstern. Sie war erst vier Monate alt. Wenigstens für sie musste er noch nicht stehlen. Ihr genügte, was Magdalena in ihren wundervollen Brüsten trug. Damals, vor drei Jahren, als Jacop noch in Ammerzoden im Schutze des Kastells Ammersoyen seinen Hof betrieb, hätte er sich niemals vorstellen können, dieses kleine Paradies verlassen zu müssen. Aber es kam alles anders. 2 Sein Herr, Herzog Wilhelm V. von Jülich, konnte trotz all seiner Macht die Ansprüche auf seine geldrischen Besitztümer nicht halten. Kaiser Karl V., ein Habsburger, meldete ebenfalls Ansprüche auf Geldern an, und in der fürchterlichen Schlacht um Düren Anno 1543 errang der Kaiser einen eindeutigen Sieg über den Herzog. Dieser war nun gezwungen, den „Vertrag von Venlo“ zu unterzeichnen, in welchem er seine geldrischen Ansprüche vollständig an Kaiser Karl übertragen musste, und so kam es zum Kniefall des Herzogs vor dem Kaiser. Damit war für Jacop und seine Familie das ruhige Bauernleben vorbei, denn schon kurz nach der Schlacht von Düren machten sich die Habsburger im Gelderland breit, und sein wundervoller Hof wurde mitsamt Haus und Tieren annektiert und einer Habsburgersippe zugesprochen. Jacop wurde mit seiner Frau Magdalena und seinen damals noch zwei Kindern Josef und Gabriel vertrieben. Wie Vieh wurden sie behandelt, man prügelte sie mit Stöcken von ihrem Land, und sie mussten sich der Übermacht der neuen Besitzer ergeben und fliehen. Jacop wollte sich zu seinem Herrn, dem Herzog, nach Jülich begeben, um dort um ein neues Lehen zu bitten, und so machte sich die junge Familie auf den beschwerlichen Weg in die Hauptstadt des Herzogtums. Da zu dieser Zeit, im Winter 1543/44, arktische Temperaturen über die Natur herrschten, konnte die Familie nur bei Tage über Land ziehen, wenn durch das Sonnenlicht wenigstens etwas Wärme auf Ihre Gesichter fiel. Jacop verlor in diesem Winter zwei Finger seiner linken Hand an die Kälte, da er einen Handschuh verlor, als er seine Familie in einem verzweifelten Kampf auf Leben und Tod gegen einen Bären verteidigen musste. Er hatte Erfolg, der Bär war wahrscheinlich durch Wilderer aus seinem Winterschlaf gerissen worden, und war so schwach, dass er schon nach wenigen Minuten von ihnen abließ und sich trollte. Aber sein Handschuh war nicht mehr zu gebrauchen, und so musste die Hand frieren. Die Nächte verbrachte die junge Familie damals in den Ställen der ansässigen Bauersleute, und manchmal bekamen sie von den Besitzern sogar etwas Brot und Suppe, um den größten Hunger zu stillen. In Jülich angekommen, stieß Jacop allerdings bei seinem ehemaligen Lehnsherrn auf taube Ohren. Man wollte ihm kein Lehen überlassen, das Land wäre bereits vollständig aufgeteilt und vergeben, so hieß es. Er bekam selbstverständlich niemals den Herzog persönlich zu sehen, sondern musste sich mit den teilweise sehr arroganten Beamten des Herzogtums herumärgern. Jacop erhielt nichts weiter als die Erlaubnis, sich vor den Stadttoren eine Hütte zu bauen, wo er mit seiner Familie leben durfte. Aber immerhin stellte man ihm in Aussicht, am Bau der neuen Festung mitzuarbeiten, wenn diese dann erbaut würde. Das war wenigstens etwas, auf das zu Warten sich lohnte. Man würde ihn gut dafür entlohnen, teilte ihm ein Beamter des Herzogs mit. Der Haken an der Sache war, dass niemand sagen konnte, wann der Bau der Festung beginnen würde. Der Herzog habe den berühmten Architekten Alessandro Pasqualini, der aus Bologna im fernen Italien kam und der ein Adliger war, dafür gewinnen können, die Festung, eine Zitadelle im Stil der Renaissance, zu planen und zu erbauen. Damit war Jacop nun nicht mehr Bauer, sondern einer von vielen Armen, die vor den Toren der Stadt hausen mussten. Und er war nun dazu verdammt, den vorbeiziehenden Händlern ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 3 etwas Brot und Geld abzubetteln. Da er aber eine Familie zu ernähren hatte, Magdalena ging damals mit Willibrord schwanger, reichte das Erbettelte an allen Ecken und Enden nicht. Und so sah sich Jacop schon bald gezwungen, für den Unterhalt, nein, das nackte Überleben seiner Familie zu stehlen. Er versuchte es mit der täglichen Beichte in der Jülicher Propsteikirche wieder gut zu machen, zumindest was ihn und seinen obersten Herrn, Gott im Himmel, anging. Den wohlhabenden Bürgern, die er bestahl, und er bestahl nur wohlhabende Bürger, nie die ärmeren, tat ein wenig Fleisch oder Gemüse nicht wirklich weh. Und heute hatte er Fleisch gestohlen. Geräuchertes Fleisch. Wieder schoss ihm das Wasser in den Mund, und sein Magen vermeldete Hunger. Bald, ja bald würde es wieder etwas zu essen geben, nur noch etwas Fleisch aus dem Rauchfang der Eheleute Goddert würde er sich nehmen. Er hatte das Haus erreicht, alles war ruhig und dunkel. Nirgendwo war der Schein einer Kerze oder Talglampe zu sehen, oder etwas zu hören. Die Godderts schliefen also! Sehr gut! Jacop hatte mittlerweile einige Erfahrung mit dem Stehlen, und so war die Tür des Hauses für ihn kein Hindernis. Er betrat leise die Kammer. Jetzt nur keine unbedachte Bewegung, ermahnte er sich in Gedanken, denn an die Wohnkammer des kleinen bürgerlichen Hauses grenzte direkt die Schlafkammer, in der er die Godderts atmen hörte. Wobei „atmen“ eine ziemliche Untertreibung darstellte. Carl Goddert schnarchte, als würde er einen Baum zersägen wollen. Hoffentlich wacht die alte Anna nicht auf, dann bin ich geliefert, dachte Jacop. Aber offensichtlich war die Frau an das Sägen ihres Mannes gewohnt, denn sie rührte sich nicht in ihrem Bett. Jacop schlich auf leisen Sohlen an dem Ehepaar vorbei zur Küchentür, hob den einfachen Holzriegel an und öffnete die Tür. In diesem Augenblick rutschte Jacop buchstäblich das Herz in die Hose, als die Türe mit einem lauten Knarren aufsprang. Jetzt ist es aus!, dachte er und suchte verzweifelt nach einer Deckung, in der er sich vor den Ehepaar verbergen konnte, aber in der Dunkelheit konnte er nichts entdecken, was ihm Schutz geboten oder die Flucht ermöglicht hätte, denn es gab nur einen Ausgang. Und der führte direkt an dem Bett der beiden Godderts vorbei! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, er konnte das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Blutes laut und deutlich hören. Jacop wagte nicht zu atmen, und so machte sich langsam eine ungesunde, rotblaue Farbe in seinem Gesicht breit. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, denn Carl Goddert hatte in dem Moment mit dem Schnarchen aufgehört, als die Tür begann, ihr Konzert zu veranstalten. Jetzt steht er gleich auf, und dann entdeckt er mich!, dachte Jacop, und sah sich in Gedanken bereits in Ketten liegend auf dem Weg in den Kerker. Aber dann, nach unendlich scheinenden Sekunden, setzte sich lautstark das Sägewerk wieder in Gang, und Frau Goddert drehte sich im Bett laut seufzend auf die andere Seite, so dass sie Jacop jetzt sogar den Rücken zugewandt hielt. Dabei verrutschte die Bettdecke, und Jacop erhaschte einen Blick auf ein entblößtes Hinterteil, welches im fahlen Mondlicht wie ein weiterer, zweigeteilter Mond leuchtete. Der Mond ist aufgegangen, sang Jacob lautlos, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, besann sich jedoch sofort wieder, und wandte sich unendlich erleichtert dem eigentlichen Grund seines Besuches zu. In der Küche war es für ihn ein Leichtes, den Rauchfang auszumachen, obwohl es so dunkel war, dass er überhaupt nichts sehen konnte. Die Küche hatte keine Fenster. Dennoch konnte er sich am Geruch der geräucherten Schinken orientieren, und so tastete er sich vorsichtig dem verlockenden Duft des würzigen Fleisches entgegen, und streckte seine Hand aus. Er ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 4 bekam den ersten Schinken zu fassen, und befühlte die fettige Oberfläche. Der Schinken war mit Schmalz eingerieben, damit er in der Luft des Rauchfanges frisch blieb, und nicht einfach nur vertrocknete. Der Schinken fühlte sich großartig an, und wieder stieg in Jacops Magen dieses brennende Gefühl des Heißhungers auf. Aber diesen Schinken würde er nicht stehlen. Er war zu groß, und auch zu schwer. Er würde ihn nicht tragen können, und vermutlich würde er noch nicht einmal mehr in den Leinensack passen, den er auf dem Rücken trug. Also tastete er weiter, und er fand tatsächlich zwei kleine, handliche Fleischbrocken, die er von ihren Haken löste, und vorsichtig in dem Sack verschwinden ließ, den er zuvor an dem ledernen Trageriemen auf seinen Bauch gedreht hatte, um ihn zu öffnen. Mit langsamen Bewegungen, immer darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen, schulterte er den nun prall gefüllten Sack wieder, und schlich auf Zehenspitzen auf die Haustür zu. Die Küchentür ließ er diesmal unberührt, da er befürchtete, noch einmal würde sein Herz einen solchen Schrecken wohl nicht überstehen. Er trat nach draußen in die Schwärze der Nacht, und… Genau in diesem Augenblick sprang ihm eine riesige schwatze Katze laut kreischend entgegen! „Heilige Mutter Gottes, verdammt noch eins!“, entfuhr es Jacop, und sein Herz tat einen riesigen Sprung, so dass er dachte, es würde zerspringen. Laut Fauchend zeigte ihm die verdammte Katze, die eigentlich für eine Katze viel zu groß war, da sie locker die Größe einer Ziege hatte, ihre Fangzähne, die im fahlen Mondlicht weiß leuchteten. „Verschwinde, Biest, Du weckst noch alles auf!“, zischte Jacop der Kreatur mit rasendem Puls entgegen, und gab Fersengeld. Er hatte keinerlei Lust, von den Bürgern der Stadt beim Stehlen erwischt zu werden, und so rannte er laut keuchend und kreidebleich vor Schreck auf das Stadttor zu, in Richtung zu seiner Hütte… Die Katze hörte augenblicklich auf zu fauchen, und lief langsam hinter Jacop her… Donnerstag, 26. Februar 2004, Jülich „Also, dann bis Morgen früh. Und mach nicht zu lange, Hans, wir können den Rest doch Morgen auch noch gemeinsam erledigen.“ „Ja ja, bis Morgen. Gute Nacht.“, sagte Hans Bruckner gedankenverloren, und beachtete seinen Vorgesetzten kaum, als dieser das Museum verlies. Hans Bruckner war Archivar und seit über zwanzig Jahren Angestellter der Stadt Jülich. Herr Perse, sein Chef, war der Leiter des stadtgeschichtlichen Museums der Stadt Jülich. Das Museum war bereits einhundert Jahre alt, und zeigte für gewöhnlich eine Ausstellung mit Exponaten aus der langen Geschichte der Stadt, die bis auf die Römerzeit zurückreichte. Hans Bruckner hatte den ganzen Tag daran gearbeitet, die Exponate für eine neue Ausstellung zu erfassen, sie zu katalogisieren und dann in den Vitrinen zu arrangieren, wobei er jedes Teil mit einem winzigen Schildchen mit einer Nummer darauf versah. An die Seitenwand einer jeden Vitrine würde er dann später Schilder mit Erläuterungen zu den einzelnen Ausstellungstücken anbringen, so dass Besucher der Ausstellung neben dem bloßen Anblick der Gegenstände auch fundierte Kenntnisse ihrer Geschichte erwerben konnten. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 5 Gerade positionierte er eine altrömische Fibel2 in einer Vitrine, und stellte eine winzige „2“ direkt davor. Es war bereits nach zehn Uhr abends, und Hans verspürte langsam aber sicher eine starke Müdigkeit, und beschloss, bald Feierabend zu machen. Er hatte schon seit acht Uhr morgens ununterbrochen gearbeitet, und sein Vorgesetzter hatte nicht weniger geschuftet, um die Ausstellung für die Morgen angesetzte Eröffnung vorzubereiten. „Na ja, Morgen früh ist ja auch noch etwas Zeit“, sagte er leise zu sich, und schloss die Glastür der Vitrine. Er beschloss, noch einen kurzen Kontrollgang durch die Räume des Museums zu machen, bevor er nach Hause ging, denn er war sehr gewissenhaft, und wollte sichergehen, dass er nicht versehentlich jemanden einschloss, oder ein Licht brennen ließ. Und so ging Hans Bruckner, der erst vorgestern seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, leise vor sich hin summend durch die Räume des Museums, und sah sich aufmerksam um. Er befand sich in dem Teil des Museums, der zum vor einigen Jahren neu erbauten „Kulturhaus am Hexenturm“ gehörte, und ging langsam auf die Verbindungstür zu, die das Kulturhaus selbst mit dem „Hexenturm“ verband. Der Turm war ursprünglich im Jahre 1330 als Stadttor erbaut worden und Bestandteil einer mittelalterlichen Befestigungsanlage, und war unter dem Namen „Rurtor“ bekannt. Erst als der berühmte Architekt Alessandro Pasqualini 1553 damit begann, die einige Jahre zuvor fast vollständig niedergebrannte Stadt im Renaissance-Stil wieder aufzubauen und mit Bastionen3 zu versehen, wurde die mittelalterliche Befestigung der Stadt unwichtig, und musste weitgehend weichen. Das Rurtor aber wurde als Turm stehen gelassen, und fortan als Gefängnis und Folterstätte des Haupt- und Criminalgrerichts des Herzogtums genutzt. Da in dieser Zeit der Hexenglaube noch weit verbreitet war, bekam der Turm bald den Namen „Hexenturm“, nachdem man „Frauen, die etwas können“ dort gefoltert und eingekerkert hatte. Der „Hexenturm“ hatte während seiner Nutzung als Stadttor vier Verteidigungsebenen, einschließlich des flachen, zinnenbewehrten Daches. An seinem von stadteinwärts gesehen rechten Turm gab es einen Aborterker4. Hans wurde von einem Geräusch jäh aus seinen Gedanken gerissen. Ein leises Kratzen hinter der geschlossenen Verbindungstür hatte seine Aufmerksamkeit erregt. „Hallo, ist dort jemand? Wir haben schon lange geschlossen!“ Als er diesen Satz kaum zu Ende ausgesprochen hatte, hätte er sich am liebsten sofort selbst geohrfeigt. Wir haben schon lange geschlossen. Es ist nach zehn, es kann niemand mehr im Museum sein! Die Türen sind seit sechzehn Uhr zu!, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Aber irgendwo her musste das Kratzen ja gekommen sein, und so blieb Hans Bruckner vorsichtig. Er steckte erst einmal den Schlüssel in das Schloss der Tür, drehte ihn zweimal um und öffnete langsam und vorsichtig die Tür, nur ein winziges Stück. Er sah hindurch. Nichts. Keine Geräusche, keine Bewegungen. Der Raum sah aus wie immer, zumindest der kleine Teil, den er durch den Türspalt erkennen konnte, und nichts wies darauf hin, dass hier etwas anders sein könnte als sonst. Aber Hans fühlte sich unwohl. Er hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, das hier etwas nicht stimmte. Er hätte nicht sagen können, was dies war, aber das Gefühl war unbestreitbar vorhanden. Es war unangenehm. Und er fühlte sich beobachtet. Er konnte förmlich fremde Augen auf sich lasten spüren, obwohl er wirklich nichts Ungewöhnliches mit seinen Sinnen 2 Spange aus Metall, die Kleidungsstücke zusammen hält Verteidigungsstellungen 4 Ein kleiner Vorsprung an der Außenmauer mit Öffnung im Boden, der als Toilette diente. 3 ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 6 wahrnahm. Er steckte vorsichtig den Kopf durch die einen Spalt breit geöffnete Verbindungstür und sah sich um. Immer noch nichts. Er öffnete die Tür nun vollends, und ging langsam in den Raum hinein, der als Ausstellungsraum diente. Es war der Raum über dem eigentlichen Durchgang des ehemaligen Stadttores, und hatte an der West- sowie Ostseite jeweils zwei kleine Fenster. An der Nord- und Südseite des Raumes gab es Durchgänge zu den Treppen. Durch unglaublich enge Wendeltreppen aus Stein ging es nach oben in die beiden Türme, wo sich früher in jedem Turm jeweils eine Kerkerzelle befunden hatte. Diese waren fensterlos, nur mit Schießscharten ausgestattet. Heutzutage standen sie leer und waren für Besucher nicht zugänglich. Nach unten führte nur im Nordturm eine Treppe, wo es stadtseitig einen Ausgang zur Straße gab. Die Treppe im Südturm war nicht zugänglich, dort konnte also niemand sein. Da! Wieder dieses Kratzen. Hinter der zweiten Vitrine! „Hallo? Hören Sie, ich weiß, dass sie da sind, ich kann sie hören!“, sagte Hans mit zitternder Stimme in die Dunkelheit. Licht wollte er nicht einschalten, er wäre sich sonst feige vorgekommen. Als Antwort erhielt er nur ein wiederholtes, leises Kratzen an der Wand, und es begann, ihm unheimlich zu werden. Sein Herz schlug etwas wilder. „Verdammt, wer ist denn da? Hier gibt es nichts wirklich wertvolles, falls sie hier eingebrochen sind, hören sie? Außerdem ist die Ausstellung Videoüberwacht! Kommen sie schon, geben sie sich zu erkennen!“, rief Hans mit vor Angst zitternder Stimme in die Dunkelheit. Und dann setzte er noch hinzu: “Ich kann sie sehen!“. Das allerdings war gelogen, denn er sah eigentlich überhaupt nichts. Jetzt war das Geräusch verschwunden. Er ging langsam auf die gegenüberliegende Tür zu, die zum Aufgang in den ehemaligen Kerkerturm führte. Als er die zweite Vitrine auf der rechten Seite erreichte, beschlich ihn wieder dieses seltsame Gefühl. „Du wirst beobachtet, alter Junge“, sagte er leise zu sich selbst, und in Gedanken fügte er hinzu: Nur durch wen verdammt noch mal? Ein Schatten! Hans wurde schlagartig kreidebleich, das Blut wich aus seinem Gesicht, und sein Herz setzte für einige Augenblicke aus. Etwas hatte sich bewegt! Dort im Schatten. Er konnte es nicht genau erkennen, aber es erschien ihm fast, als käme eine Schemenhafte Gestalt aus der Mauer heraus gekrochen! Hans Bruckner wusste, dass es nicht sein konnte, die Dunkelheit und das Schattenspiel des einfallenden Mondlichts musste seinen Augen einen Streich spielen, aber das war seinem Pulsschlag egal. Der beschleunigte auf ungesund hohe Werte und raste mit seinem Atem um die Wette, der stoßweise und viel zu flach aus seinem Mund gepresst wurde. „Verdammte Scheiße, wer ist da? Hören sie mit dem Mist auf, ich habe keine Lust auf solche Spielchen!“, rief er, und langsam schlich sich in die mittlerweile panische Angst auch ein wenig Wut. „Purrrr!“ Was war das, verdammt noch mal?, raste es durch Hans´ Gehirn. Eine Katze? Er hatte eindeutig eine Katze schnurren gehört! Aber der Schatten, der sich da wie in Zeitlupe aus der Dunkelheit schälte, konnte niemals eine Katze sein! Der Schemen, der tatsächlich aus der Wand heraus zu kriechen schien, war mindestens sechzig Zentimeter hoch, für eine Katze viel zu groß! Er spürte plötzlich diese Enge in seinem Oberleib, und das Brennen hinter seinem ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 7 Brustbein machte ihm schmerzhaft bewusst, dass sich die verdammte Angina Pectoris5 wieder meldete. Scheisse, bitte nicht jetzt!, flehte Hans in Gedanken, Jetzt nur keinen Herzkasper kriegen, alter Junge! S´ist nur´n verdammtes Katzenvieh, bestimmt aus dem Kulturhaus übers Dach geklettert und durch eine Schiessscharte hereingekommen. Kein Grund zur Panik, schön ruhig durchatmen!, versuchte er sich zu beruhigen, indem er wie besessen seine Gedanken auf die Hoffnung zu fokussieren versuchte, es wäre eigentlich alles in Ordnung, und ihm stünde tatsächlich nur eine Katze gegenüber. Und dann war das Wesen aus dem Schatten herausgetreten, und Hans wünschte sich nichts sehnlicher als sein NitroSpray6, denn die Enge in seiner Brust nahm ihm fast vollständig den Atem, und es begann ihn schwindlig zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Wesen an, das da ganz ruhig vor ihm stand. Ein Wesen, eine andere Bezeichnung fiel Hans im Moment nicht ein für das, was er vor sich sah. Von der Statur her war es tatsächlich eine Katze, daran bestand kein Zweifel, aber das war es auch schon mit der Normalität. Das Tier war mindestens so groß wie eine junge Ziege, und ob es sich wirklich nur um ein Tier handelte, darüber war er sich gar nicht mehr sicher. Das Vieh hatte blaue Menschenaugen! Es schockierte ihn zutiefst, und er befürchtete, den Verstand zu verlieren. So etwas konnte es doch nicht geben! Es ging ihm über den Verstand. Unfähig, sich auch nur ein wenig zu rühren, starrte er in die Fratze der Riesenkatze, die seinen Blick erwiderte, aus absolut menschlich wirkenden Augen, mit runden Pupillen und hellblau leuchtender Iris. Und…die Katze grinste! Sie bleckte nicht nur die Zähne, welche für sich allein ihm schon genug Angst für einen mittleren Herzanfall gemacht hätten, nein, die blauen Menschenaugen unterstützten diesen Eindruck eines höhnischen Grinsens noch! Hans spürte, wie seine Beine begannen, zu zittern. Das Pochen seines Herzens hatte Ausmaße angenommen, die er nicht lange würde überstehen können, dessen war er sich sicher. Er hatte vor einem guten Dreivierteljahr einen leichten Vorderwandinfarkt erlitten, und seitdem öfters Probleme mit seinem Kreislauf gehabt. Daher hatte ihm sein Hausarzt mehrere Tabletten verordnet, unter anderem Beta-Blocker, die er seitdem täglich einnehmen musste. Und das Nitro-Spray, welches durch seine gefäßerweiternde Wirkung die Symptome seiner immer wiederkehrenden Angina Pectoris zu bekämpfen half, lag in seinem Schreibtisch im Büro. Im Kulturhaus! Das Kulturhaus! Dorthin musste er fliehen, bevor das Katzenmonster ihn durch seinen bloßen Anblick in den Herztod trieb! Seine Bewegungsunfähigkeit fiel schlagartig von ihm ab, und wich einem panischen Aktionismus, welcher seinen Puls allerdings zu noch extremeren Werten beschleunigte. Dies bemerkte Hans in seiner Todesangst nicht. Er spurtete in Richtung des Treppenabgangs zum Ausgang am Nordturm, rannte die enge Wendeltreppe hinunter. Das er besser einfach durch die Verbindungstür zurück hätte laufen können, dass fiel ihm nicht ein, und das war einzig der kopflosen Panik zuzuschreiben, die ihn befallen hatte. Unten an der Türe angekommen, fiel ihm auf, dass er den Schlüssel nicht bei sich trug. Sackgasse! Hans biss sich auf die Unterlippe, so fest, dass es blutete. Er spürte die warme Nässe auf sein Kinn herunter laufen, und nahm den metallischen Geschmack auf seiner Zunge wahr. Er drehte sich gehetzt um, wollte die Treppe wieder hinauf. Die Katze! Sie war ihm gefolgt, ganz ruhig, und stand nun einige Stufen weiter oben, und starrte ihn an. Ihre furchtbaren, kalten Menschenaugen waren gleichauf mit den seinen. Das Vieh grinste immer noch! 5 6 „Brustenge“, Symptom der koronaren Herzkrankheit Medikament gegen Angina Pectoris ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 8 Hans blieb einen kurzen Moment stehen, völlig außer Atem, mit rasendem, schmerzendem Herzen, und er bemerkte wieder dieses Schwindelgefühl, dass ihm die Besinnung zu rauben drohte. Alles drehte sich, und er hatte Schwierigkeiten, seinen Blick auf das Monster zu konzentrieren. In diesem Moment sprang ihn das Tier an. Mit einem gewaltigen Prankenhieb seiner rechten, klauenbewehrten Vorderpfote riss das Katzenvieh ihm eine Furche durch sein Gesicht, die sofort ein brennendes Schmerzinferno in seinem Gesicht auslöste. Er schlug mit einem verzweifelten Aufschrei die Hände schützend vor das in unsäglichem Schmerz aufflammende Gebiet, doch es war bereits zu spät. Das Tier hatte ihm eine tiefe Rissverletzung zugefügt, aus der es sehr stark blutete. Die Wunde reichte von seiner linken Stirnseite schräg nach unten über die Nasenwurzel, das rechte Auge und über die rechte Wange bis hin zum Ohr. Hans bemerkte sofort, dass etwas mit dem Auge nicht in Ordnung war, denn er konnte nichts sehen. Er schob es in seinem Schockzustand, der ihm durch die erhöhte Adrenalinausschüttung die größten Qualen vorerst ersparte, auf das viele Blut, das ihm ins Auge gelaufen war. Dass er kein rechtes Auge mehr besaß, merkte er nicht. Wild um sich schlagend kämpfte er sich wieder die Wendeltreppe hinauf, musste mehrfach die Zähne und Klauen der wild fauchenden Riesenkatze abwehren, was ihm weitere tiefe Risse in beiden Armen verschaffte, und er schaffte es irgendwie wieder in den Ausstellungsraum hinauf. Nur wenige Schritte trennten ihn noch von der vermeintlich rettenden Verbindungstür in das Kulturhaus, als ihn die Katze mit einem Riesensatz übersprang, sich blitzartig drehte, die Muskeln spannte, um ihm wieder ins Gesicht zu springen. Die Wucht des Aufpralls brachte Hans aus dem Gleichgewicht. Er taumelte rückwärts, während die Katze von ihm abließ, und er fiel auf sein Gesäß, was ihm sein Steißbein sogleich mit einem dumpfen Schmerzerlebnis dankte. Und so saß er jetzt da, durch zweieinhalb Meter und eine Riesenkatze von der Verbindungstür getrennt, und blickte in die unheimlichen blauen Augen des Tieres. Alles drehte sich, die Schmerzen schwollen an. Sein Gesicht und seine Arme brannten lichterloh, und sein Puls war für ihn bereits nicht mehr fühlbar, so schnell schlug sein Herz. Er hatte dass Gefühl, sein Brustkorb müsse explodieren, und sein Blut rauschte mit infernalischem Getöse durch seine Ohren. Sein linker Arm wurde taub. Und in diesem Moment geschah das Unglaubliche! Die Katze öffnete ihr Maul… und sprach! „Du wirsst verrdammt ssein…“, krächzte es verzerrt aus dem Tiermaul, und fauchend verkündete das Katzenwesen weiter: “Deine Sseele gehört zu Vincenze da Como, dem Herrrn dess Ssteinss, und ihm wird ssie fürderhin dienen!“ Hans spürte, wie sein Herz immer wieder einen Schlag ausließ, und seine Atmung kam ihm auf einmal viel zu flach vor. Er schaffte es aber nicht, auch nur ein wenig tiefer zu atmen, es gelang ihm einfach nicht. Der Schmerz in seiner Brust schwoll wieder an, und ihm wurde bewusst, was dies bedeutete. Er würde einen Herzinfarkt erleiden, und er hatte keine Chance, daran noch vorbeizukommen! Hoffentlich packe ich das, dachte er voller Panik, Hoffentlich überlebe ich diesen Mist hier, und er begann verzweifelt zu weinen, saß einem sprechenden, riesigen Katzenvieh gegenüber, auf einem Auge blind, schwer verletzt und dem Herztod nahe. Er dachte voller Angst noch einmal an seine Frau, sagte in Gedanken ein letztes Mal Ich liebe Dich. Und dann geschah es erneut! Die Katze sprang! Aber dieses Mal verletzte sie Hans nicht. Während sie auf ihn zuflog, zerfaserte ihre Gestalt ganz seltsam, so dass es aussah, als würde sie sich in eine Vielzahl von Würmern verwandeln, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 9 die auseinander stoben, nur um sich dann einen Bruchteil einer Sekunde später wieder zusammen zu fügen…In eine menschliche Gestalt! Hans nahm nicht mehr wahr, dass ihn eine hundertstel Sekunde lang eine Frau angrinste, mit zerfurchten, fast hölzern wirkenden Gesichtszügen. Sie war am ehesten mit den Hexen aus den Märchen der Gebrüder Grimm zu vergleichen. Im nächsten Augenblick allerdings war von der Frau, der Hexe, nichts mehr wahrzunehmen. Sie hatte sich einfach wieder in die wurmartigen Gebilde zerfasert, und sich dann übergangslos in Nichts aufgelöst… Hans Bruckner bekam davon nichts mehr mit. Zusammengesunken saß er mit blutenden Wunden an Gesicht und Armen im Ausstellungsraum des Hexenturms. Sein Herz flimmerte noch ganze acht Minuten, bevor es endgültig aussetzte. Zu Atmen hatte Hans schon vor zwei Minuten aufgehört. Und dann starb er. Sonntag, 3. Februar 1546, Jülicher Land Vor zwei Minuten ungefähr hatte Jacop das Stadttor hinter sich gelassen. Jetzt bereits vollkommen außer Atem, erreichte er den Übergang über die Rur. Noch ein paar Minuten wollte er im Schutze der Dunkelheit weiterlaufen, um sich dann ein, vielleicht zwei Stunden im Wald zu verstecken, bis er sicher war, dass ihm niemand gefolgt war. Der Schreck saß ihm zwar immer noch in den Gliedern, aber er war wieder in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Dieses verdammte Katzenvieh!, dachte er bei sich. Das Tier hatte ihn derart erschreckt, dass er sich zu lautstarken Flüchen hatte hinreißen lassen. Er ärgerte sich über so viel Unprofessionalität, und schwor sich in Gedanken, nie wieder so unbedacht zu handeln. Aber die Katze war auch zu unheimlich gewesen. Er hätte schwören können, mit den Augen des Tieres stimmte etwas nicht. Irgendwie wirkten sie nicht wie die Augen einer Katze. Wenn er sich recht erinnerte, waren die Pupillen in den Augen des Tieres nicht hochkant stehende Ellipsoide, sondern es handelte sich um runde Pupillen! Wie bei einem Menschen! Und blau waren diese Augen, leuchtend blau! Welche Laune der Natur mochte diese Kreatur wohl geschaffen haben? Jacop war sich sicher, Der Herrgott hatte mit diesem Tier nichts zu schaffen. Aber das war jetzt unwichtig. Jacop musste sich ein Versteck suchen, in dem er die nächsten zwei Stunden ausharren konnte, um den etwaigen Verfolgern zu entgehen, die auf seiner Fährte waren. Oder zumindest sein mussten, denn bei dem Lärm, den er bei seiner Flucht, erschrocken fluchend durch die unheimliche Katze, verursacht hatte, war es mehr als unwahrscheinlich, dass niemand ihn bemerkt hatte… Schon nach kurzem Suchen entdeckte Jacop die ideale Zuflucht. Ein Erdloch, umwachsen von einem schulterhoch gewachsenen, dornenbewehrten Gestrüpp, nahm ihn auf, und sogleich war er für seine Umwelt unsichtbar. Hier findet mich bestimmt niemand, dachte er zufrieden bei sich. In spätestens zweieinhalb Stunden bin ich wieder zu Haus bei Weib und Kindern, und dann gibt es erst einmal einen kleinen Festschmaus! Zuversicht machte sich in der Gedankenwelt des versteckten Diebes breit, und so harrte er in dem Erdloch der Dinge, die da kommen mochten. Und die Dinge kamen. In Form einer großen, schwarzen Katze! „Ich ssehe dich, Sstroclch, und Du wirsst mir nicht entgehen!“, zischte plötzlich eine verzerrte, kaum an eine menschliche Stimme erinnernde Lautfolge an Jacops Ohr. Das ist doch nicht möglich!, dachte er bei sich, Wie um alles in der Welt kann mich jemand hier entdeckt haben? Ich bin bestimmt nicht zu sehen! Die Sträucher sind absolut dicht, nichts ist von außen zu sehen! Angsterfüllt und gehetzt sah sich Jacop die Sträucher um ihn herum an. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 10 Nichts. Nicht die kleinste Lücke, durch die er etwas hätte erkennen können, was sich außerhalb seines Erdloches abspielte. Sicher handelt es sich um einen Täuschungsversuch seiner Häscher, die ihn nun verfolgten. Sicher können sie mich nicht finden, und hoffen, ich falle auf ihre Finte herein!, dachte Jacop. Ich muss nur weiter stillhalten, dann geschieht mir nichts! „Ja, halt nur sstill, kleiner Dieb, sso isstss recht. Und ssieh mal nach oben, wenn ess dir nichtss aussmacht, Purrrr!“, erklang es wieder mit dieser unwirklichen, fauchenden Stimme direkt über ihm, gefolgt von einem Schnurren, dass so gar nicht behaglich klang. Jacop rutschte das Herz buchstäblich in die Hose. Langsam hob er den Kopf, mit vor Angst zugekniffenen Augen, und er hoffte inständig, nichts zu entdecken, wenn er sie öffnete. Es konnte doch nicht sein! Niemals war er erwischt worden, und er hatte ja auch niemals etwas wirklich Schlechtes getan. Das bisschen Essen, dass er denjenigen nahm, die ohnehin im Überfluss besaßen, dass konnte ihm doch nicht derartige Schwierigkeiten machen. Herrgott im Himmel, ich flehe dich an, lass es nur eine Finte sein!, schickte er ein Stoßgebet gen Himmel, und öffnete nun langsam die Augen. „Keine Menschenseele!“, entfuhr es ihm in Flüsterlautstärke, und sogleich hielt er die Luft an, als er sich der Dummheit gewahr wurde, die er so gerade wieder einmal begangen hatte. Idiot, schollt er sich selbst in Gedanken, Wieso musst Du immer in genau den Augenblicken laut werden, in denen du die Klappe halten solltest? Du verhältst Dich eher wie ein Narr als wie ein Dieb! „Weil du ein Idiot bisst!“, fauchte es aus dem Geäst der Bäume über ihm! Jacop´s Herz machte einen Sprung. Wie war das möglich? Er war sich sicher, keine Menschenseele über sich ausgemacht zu haben! Wieder hob er seinen Blick, um etwas Menschliches in den Bäumen zu entdecken, und nun wurde ihm sein Irrtum schlagartig klar: Er hatte in den Bäumen gar nichts Menschliches entdecken können, weil in ihnen nichts Menschliches war! Aber die schreckliche Katze, die mit den kalten blauen Menschenaugen, starrte ihn mit gefletschten Zähnen an! Sie hockte, durch die Dunkelheit geschützt, in einer Astgabelung, und es waren lediglich die Augen und die scheußlichen Zähne zu sehen. „Herrgott verdammich!, entfuhr es Jacop, und er sprang wie vom wilden Affen gebissen auf, und versuchte der Kreatur zu entkommen. Er rannte ohne Rücksicht auf seine Kleider schnurgerade nach vorne, und durchbrach das Gestrüpp, wobei er sich einige Risse sowohl in seiner Kleidung als auch an Gesicht und Händen zuzog. Mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in den Augen rannte er auf die Brücke zu und versuchte wieder in Richtung seiner Hütte zu fliehen. Ihm war es egal, ob er von Bewohnern der Stadt gesucht wurde oder nicht, er wollte nur weg von dieser Höllenkreatur, denn was anderes kann eine Katze sein, die sich der menschlichen Sprache bedient? So etwas durfte es doch gar nicht geben! Außer Atem, sowohl vor Schreck als auch durch die Anstrengung der letzten Minuten, erreichte Jacop die Brücke. Gehetzt blickte er über seine Schulter hinter sich, und was er aus den Augenwinkeln dort zu sehen bekam, ließ ihn stolpern und hinfallen. Er drehte sich auf den Rücken und schaute mit schreckgeweiteten Augen auf das Schauspiel, das sich ihm bot. Die schwarze Katze löste sich auf! Sie verwandelte sich vor Jacops Augen in eine Legion unheimlicher Würmer, die auseinander stoben, nur um im nächsten Augenblick wieder aufeinander zu zu fliegen. Und plötzlich erschien dort, wo Bruchteile von Sekunden zuvor noch die Katze war, eine Frauengestalt! „Jungfrau Maria, beschütze mich!“. Rief Jacop verzweifelt. In Augenblicken solcher Panik rief Jacop seit seiner Begegnung mit dem Bären immer die Jungfrau Maria zu Hilfe, denn damals hatte sie ihm seiner Meinung nach das Leben gerettet. Er wollte sich hochrappeln und weiter vor der Frauengestalt fliehen, denn sie musste mit dem Teufel persönlich im unheiligen Bunde stehen, soviel stand für ihn fest. Aber er konnte einfach seine Blicke nicht vor ihr ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 11 lassen. Die Frau, nein, die Hexe, denn es musste eine sein, war von mittlere Größe, und schlank gebaut. Jedenfalls nach dem, was man von ihr in dem weiten Umhang erkennen konnte. Der Umhang war in Hüfthöhe mit einem Gürtel gebunden, und das allein offenbarte einen eher zierlichen Wuchs. Sie bewegte sich nun mit federnden, schnellen Schritte auf Jacop zu, also musste sie zudem recht jung sein. Dies stand aber in krassem Gegensatz zu dem, was Jacop nun zu sehen bekam: Die Hexe schritt noch ein wenig näher an ihn heran, und blieb stehen. Und in genau diesem Augenblick trat der Mond hinter einer Wolke hervor und schickte sein Licht auf das Gesicht der Frau! Jacops Atem stockte. Dieses Gesicht! Es konnte nicht sein! Es sah nicht aus wie das Gesicht einer jungen Frau, nicht einmal wie dasjenige eines alten Weibes. Die Haut hatte einen braunen, fast grauen Farbton, und es war derartig von Falten zerfurcht, dass es mehr an Holz denn an Haut erinnerte. Einzig die leuchtenden, kalten blauen Augen bewiesen Jacop, dass in diesem Körper so etwas wie Leben hausen mochte. Aber es konnte kein von Gott geschaffenes Leben sein, da war Jacop sich sicher. Hier hatte der Antichrist seine Klauen im Spiel! In diesem Augenblick kehrte wieder Leben in seine Beine zurück. Er sprang auf, und begann zu rennen. Verzweifelt wollte Jacop vor dieser Kreatur fliehen, und ein Blick zurück bewies ihm, dass es noch Hoffnung für ihn gab. Die Hexe folgte ihm nicht! Stattdessen begann sie, unverständliches Zeug zu murmeln, um schließlich laut mit auf Jacop gerichteten Händen auszurufen: „Consisto!7“ Im selben Augenblick, in dem die Hexe ihre Beschwörung mit dem lauten Ausspruch geendet hatte, wurden Jacops Gliedmaßen steif. Er blieb wie angewurzelt stehen. Verdammt, was geschieht hier mit mir?, dachte er verzweifelt. Er versuchte verzweifelt, unter Aufbietung all seiner Kräfte, sich weiter von der Stelle zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Er stand wie angewurzelt da, konnte keinen Schritt mehr tun. Er konnte Atmen, er konnte Blinzeln, aber das war es auch schon. Na toll, dachte er, und wie geht es jetzt weiter? Ihm war klar, dass er verhext, ja verflucht sein musste, aber zu welchem Zweck, das war ihm noch nicht klar. „Lass mich dir auf die Sprünge helfen“, ertönte die nun gar nicht mehr verzerrte Stimme der Hexe. „Du hast gestohlen, ich habe dich gesehen, und nun musst Du für deine Sünden büßen!“ Mit diesen Worten wandte sich die Hexe zum gehen, und ließ Jacop allein mit sich und dem Diebesgut zurück an der Brücke stehen. Er konnte sich noch immer keinen Millimeter bewegen, und so stand er nun da. Er konnte das schallende Lachen der Hexe noch lange hören, während sie sich in Richtung Stadttor entfernte, und der Duft geräucherten Schinkens wehte ihm um die Nase. „Verfluchtes Fleisch!“, entfuhr es ihm. Eine Träne der Verzweiflung rann ihm über die rechte Wange… € „Seht nur, da kommt dieses Weib wieder daher. Was sie wohl wieder kaufen will? Und wovon, so frage ich mich? Was meint ihr dazu, werter Herr Goddert? Woher hat diese Hexe das ganze Geld?“ „Ich weiß nicht recht, werte Jungfer Schiffer“, antwortete Carl Goddert wahrheitsgemäß der alten Frau Schiffer, die sowohl eine alte Jungfer als auch ein berüchtigtes, stadtweit bekanntes Klatschweib war. „Vielleicht verdient sie ja mit dem Mischen ihrer Kräutersalben und Tees doch genug, um davon ihren Unterhalt zu bestreiten. Man sagt, sie könne die Zukunft aus der Hand eines Jeden lesen. Vielleicht erhält sie dafür ja auch ein paar Kreuzer. 7 Consisto (latein.)= Stehen bleiben! ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 12 Was geht es uns an? Lassen wir die Catharina doch in Ruhe.“ „Catharina?“, fauchte die Alte angewidert zurück. „Nennt ihr das unheilige Weib nun schon beim Taufnamen? Passt auf, liebster Goddert, passt auf, nicht dass euch das Weib bereits verflucht hat… Sie muss eine Hexe sein, bei dem was sie so alles kann. Bedenkt, niemand hier in Jülich weiß, woher das Frauenzimmer stammt, sie könnte direkt aus dem Reich des Teufels zu uns gekommen sein!“ Hastig bekreuzigte die Alte sich, als fürchte sie ein Unheil auf sich zukommen. „Unsinn, jedermann weiß doch, dass Catharina Elisabeth Schuif eine ehrbare Frau aus dem Gelderlande ist, die der Heilkunde und anderer ganz und gar irdischer Künste befähigt ist. Unterlasst bitte solch törichte Andeutungen. Was, wenn über euch solch ehrverletzende Dinge in die Welt gesetzt würden?“ Goddert konnte das Geschwätz dieser alten Schachtel noch nie leiden, und außerdem fand er die junge, attraktive Frau aus dem Gelderland anziehend. Das durfte allerdings seine Frau Anna nicht erfahren, sonst war es mit der Ruhe in den eigenen vier Wänden erst mal wieder vorbei, so wie damals, als er der Magd des Herzogs nachgestiegen war. Wochenlang hatte sie ihm das Essen so gewürzt, dass es erbärmlich schmeckte, und abends im Bett, wenn er sich seiner Frau nähern wollte… Allein bei dem Gedanken daran meinte er ein Echo des Schmerzes zu spüren, den er damals zwischen seinen Beinen verspürte. Als sie ihm mit aller Kraft ihr Knie in die „edleren“ Körperteile rammte. „Und sie ist doch eine verdammte Hexe, ich sage es euch!“, zeterte die alte Schiffer, und verdrückte sich in Richtung einer Gruppe anderer Frauen, die ebenfalls den Markt besuchten. Dort würde man ihren Warnungen und Befürchtungen bezüglich der „Hexe aus dem Gelderland“ schon mehr Interesse entgegenbringen… Ach, halt doch die Klappe, dachte Carl Goddert bei sich. Er hielt nichts von dem Geschwätz der Weiber, und von Hexen und solcherlei Humbug schon gar nichts. Er konnte nie verstehen, warum die ansonsten doch so ehrbare, heilige katholische Kirche sich zu solchen Verrücktheiten wie der Hexenverfolgung herablassen konnte. Kein Wunder, dass es der Luther satt hat, und eine reformierte Kirche gründet, dachte er. Immer, wenn eine Frau etwas kann, das sich nicht jede dahergelaufene Magd erklären kann, wird gleich eine Hexe aus der armen Frau gemacht. Überall im Land hörte man von den Hexenjagden, der Verbrennung der Frauen auf dem Scheiterhaufen, wenn sie nach unmenschlicher Folter ihre „Hexerei“ gestanden hatten. Pah, dachte Goddert, Geständnis! Bei den Foltermethoden gesteht doch ein jeder alles! Nur, um weiterer Folter zu entgehen! Was beweist das schon? Carl Goddert jedenfalls war froh, dass der Hexenwahn in Jülich nie so recht Fuß fassen konnte. Vielleicht lag es daran, dass diese Stadt klein war, und ihre Einwohner hauptsächlich Bedienstete der ansässigen Herzogsfamilie. So richtig schwere Armut herrschte in Jülich nicht, jedenfalls nicht innerhalb der Stadttore. Diejenigen, welche außerhalb der Mauern hausten, mochten aufgrund ihrer bitteren Armut und dem damit einhergehenden Mangel an Bildung zu Aberglauben neigen, aber die so genannte angesehene Bevölkerung Jülichs hatte mit solcherlei Hirngespinsten mehrheitlich sicher nichts im Sinn. Und natürlich trug der Leibarzt des Herzogs, der angesehene Herr Johannes Wierus8, in gewisser Weise zur Aufgeklärtheit des Jülicher Volkes bei, denn er kämpfte schon lange mit guten und wissenschaftlichen Argumenten gegen den Hexenwahn an, sehr zum Ärgernis der Kirche, der es eigentlich immer sehr gelegen kam, für alles nicht so leicht erklärbare die Hexerei verantwortlich zu machen. Dieser Johannes Wierus arbeitete seit Jahren bereits an einem 8 Johannes Weier (Wierus) 1516-1588, Leibarzt am Hofe Herzog Wilhelms ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 13 Buch, das den Titel „De praestigiis Daemonum9“ tragen sollte. Von Seiten der Kirche wurde ihm lediglich mitgeteilt, dass sein Buch einem Affront gegen die guten gläubigen Bürger der Stadt gleichkäme, und man sehr davon überzeugt sei, dass sein Buch, wenn es denn erscheinen sollte, sehr schnell wieder auf dem Index landen würde. Den Bürgern der Stadt war dies mehrheitlich ziemlich egal, denn nicht einmal ein Viertel der Jülicher konnte Lesen, geschweige denn Schreiben. Und so kannten die wenigsten die humanistischen Ansichten des hochintelligenten Arztes. Nicht so Carl Goddert. Er hatte bereits in vielen Gesprächen mit eben jenem Wierus erfahren, wie es sich mit der Hexerei wirklich verhielt. „Carl“, so sagte Johannes Wierus eines Abends im Jahre des Herrn 1544 zu seinem Freund Goddert, “ich will ja gar nicht die Existenz des Teufels und des Teufelspaktes bestreiten, aber ich bin der Meinung, dass wir die der Hexerei beschuldigten Frauen ihrer Verantwortung entbinden sollten. Ich erkläre diese Frauen für einfältig und töricht! Diese Weibsbilder bilden sich ihre Gräueltaten lediglich in ihrer Phantasie ein, und bedürfen wahrlich eher eines Arztes, wie ich einer bin, als sie der Folter und des Scheiterhaufens bedürfen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Satan höchstpersönlich den Menschen diesen ganzen Unfug der Hexenlehre vorgaukelt, damit sie durch die Hexenprozesse, die ich für die grausame Ermordung unschuldiger Menschen halte, gegen die Gebote Gottes verstoßen!“ Carl Goddert war seit diesem Abend von der Richtigkeit der Lehre des Arztes überzeugt. Umso mehr erregte es ihn nun, dass die Waschweiber der Stadt ausgerechnet die schöne Catharina zur Hexe erklären wollten. € Wie jede Woche, so betrat Catharina Elisabeth Schuif, die Frau aus dem Gelderland, die von den alten Weibern der Stadt auch immer wieder als die „Hexe aus dem Gelderland“ bezeichnet wurde, die Stadt durch das Rurtor. Sie wusste, dass man hinter ihrem Rücken schlecht über sie redete, dass man sie als Hexe bezeichnete, aber das war ihr egal. Die Leute hatten ja Recht! Sie war eine Hexe! Eine sehr gute noch obendrein! Aber natürlich war es ihr lieber, die Leute hielten es für ein unheimliches Gerücht, dass niemand offen vor ihr auszusprechen wagte. Sie hatte keine Lust, auf einem Scheiterhaufen zu enden, wie so viele ihrer Schwestern dieser Tage. Aber heute war ein besonderer Tag. Sie wusste nicht warum, aber vor zwei Nächten war sie plötzlich aufgewacht, und sie wusste, wohin sie zu gehen hatte. Ein telepathischer Auftrag, von wem oder was wusste sie nicht, brachte sie dazu, einen armen Mann, der in einer Lehmhütte vor der Stadt mit seiner Familie ein armseliges Leben fristete, zu beobachten. Und so fand sie heraus, dass der Mann stahl. Er nahm nicht viel, nur Lebensmittel, und er nahm nur den Reichen, aber es war dennoch Diebstahl. Normalerweise wäre es Catharina vollkommen egal gewesen, denn sie nahm es mit den Gesetzen selber nicht so genau. Aber die telepathischen Botschaften der letzten Nächte verlangten von ihr, diesen Mann der Jülicher Bevölkerung als Dieb zu präsentieren. Und es kam ihr nicht in den Sinn, diese Botschaften einfach zu missachten, und den armen Mann in Frieden zu lassen. Es war ihr schließlich bewusst, dass sie eines Tages einen Preis für ihre Hexenfähigkeiten zu zahlen hatte, und sie wollte auf ihrer Rechnung keinesfalls einen missachteten Auftrag stehen sehen. Die dunklen Mächte sind von solchen Dingen nämlich nicht gerade angetan, und auf 9 „De praestigiis Daemonum et incantationibus ac Veneficiis“, zu Deutsch: “Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Gifftbereytern/Schwartzkünstlern/Hexen und Unholden”, erschienen 1563 ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 14 eine Bestrafung durch die Dämonen der Hölle wollte sie dankend verzichten. Eher würde sie sich der Inquisition10 freiwillig stellen! Und so hatte sie den Mann, sein Name war Jacop, in der letzten Nacht in ihrer Katzengestalt begleitet, hatte seine armseligen Raubzüge beobachtet, und auf den richtigen Moment gewartet, ihn gehörig zu erschrecken. Gerade, als er mit zwei frisch gestohlenen Schinken das Haus der Godderts verlies, hatte sie ihn angefaucht, und natürlich hatte der arme Tropf sich vor Schreck fast in sein Wams gemacht und Fersengeld gegeben. Im Wald nahe der Brücke, fast direkt am Fluss, hatte sie ihn aus einem Erdloch getrieben, in dem er sich versteckt hatte, und ihn mit einem gekonnten Fluch „stehen lassen“. Der arme Kerl stand dort jetzt immer noch im Wald, mit dem gestohlenen Fleisch im Leinensack auf dem Rücken, und konnte sich keinen Finger breit rühren. Und nun war sie in die Stadt gekommen, um die wilde Meute auf ihn zu hetzen. Sicher waren schon alle außer sich vor Zorn, wegen des gestohlenen Fleisches. Der arme Mann tat ihr ehrlich leid, aber Auftrag war Auftrag, da konnte sie nichts machen. Normalerweise nutzte Catharina ihre Fähigkeiten nur zu ihren eigenen Gunsten, und schadete anderen damit nicht. Abgesehen von eben solchen kleinen Befehlen, die sie auf telephatischem Weg erreichten, und die sie immer sofort ausführte. Catharina ging in die Mitte des Marktplatzes, und begann ohne Umschweife laut zu rufen: „Ihr guten Leute! Eilt herbei! Ich habe euch von einem hinterhältigen Diebstahl zu berichten, der einige von euch bitter traf in der vergangenen Nacht! Ihr wurdet hinterlistig um euer Hab und Gut gebracht!“ Zunächst schien es ihr so, als würden die Leute auf dem Markt sie nicht hören, denn im ersten Augenblick sah es so aus, als ob die Stadtbewohner sie ignorierten, und ihren eigenen Geschäften weiter nachgingen. Daher versuchte sie es erneut, rief wieder die Menschen zusammen, und erzählte, drei Familien seien in der vergangenen Nacht bestohlen worden, und sie wisse, wer diese drei Familien seien. Nun zeigten sich erste Reaktionen bei den Menschen. „Wer wurde denn bestohlen?“, rief ihr Carl Goddert zu, der sich diese Gelegenheit, mit Catharina ins Gespräch zu kommen, nicht entgehen lassen wollte. „Ihr, Herr Goddert, gehört auch zu den Opfern des feigen Diebes, der Nächtens euer Haus heimsuchte!“ „Hört euch dieses dumme Geschwätz an!“, keifte die alte Schiffer quer über den Marktplatz. „Wie soll die verrückte Schuif denn wissen, wer bestohlen wurde, wenn sie es nicht selbst getan hat?“ Zustimmendes Gemurmel von den anderen Frauen, die sich am Gemüsestand um die Schiffer versammelt hatten, um ein Schwätzchen zu halten. „Hütet eure Zungen!“, sagte Goddert bestimmt, “die Frau Schuif wird schon einen Grund haben, einen solchen Verdacht zu äußern. Vielleicht hat sie ja etwas Verdächtiges beobachtet?“ „Jawohl, das habe ich“, antwortete Catharina schnell, dankbar für Godderts Hilfestellung. „Ich habe zufällig gesehen, wie in der vergangenen Nacht ein Mann in die Häuser der Familien Hauffe, Schiffer und Goddert eindrang, und sich des Fleisches bemächtigte, das sich in den Rauchfängen befand. Ich bin ihm nachgegangen, um herauszufinden, wo er sein Heim hat. Aber leider hat er mich entdeckt und ist entflohen!“ „Seht ihr, da habt ihrs! Es gibt eine plausible Erklärung für ihr Wissen um die angeblichen Diebstähle! Und ihr verdächtigt die Catharina gleich, nur weil ihr sie nicht ausstehen könnt. 10 Inquisition= Untersuchung (hier) der katholischen Kirche ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 15 Ihr solltet euch schämen!“, fuhr Goddert die tratschenden Weiber an. „Pah! Selbst gestohlen hat sie! Versucht nur, die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben, damit man sie nicht am Ende noch erwischt! Oder glaubt ihr allen Ernstes, dass ein ausgewachsener Mann, der noch dazu angeblich ein Dieb ist, sich von einer dahergelaufenen Dirne aus dem Gelderland in die Flucht schlagen lässt? Lügenmärchen sind es, sonst nichts!“ „Halt jetzt den Mund, aber sofort!“, donnerte Goddert. „Wie kannst du es wagen, eine ehrbare Frau in aller Öffentlichkeit als Dirne zu beschimpfen? Schämen solltest du dich!“ „Schämen sollte sich doch wohl die verdammte geldrische Hexe! Ich gehe jetzt nachsehen, ob es stimmt, dass ich bestohlen wurde. Und wenn es wirklich zutrifft, dann werden wir das Weibsbild der Gerichtsbarkeit überantworten. Und dann werden wir ja sehen, ob sie eine Hexe ist oder nicht!“ Mit hochrotem Kopf machte sich die Alte auf den Weg zu ihrem Haus, das direkt am Marktplatz gelegen war. Dann blieb sie noch einmal kurz stehen, drehte sich um, und sagte: „ Johann Küffer, sofort nimmst Du dieses Weibsbild, ach was sage ich, diese Hexe in Gewahrsam! Sie ist des Diebstahl verdächtig!“ Johann, der eigentlich nur der Küster der Propsteikirche war, aber immer schon dazu neigte, seine Kompetenzen zu überschreiten, rief nur ein knappes „Ja, Frau Schiffer!“, und schnappte sich Catharina. Unsanft packte er sie am Arm, so dass sie vor Schmerz aufstöhnte. „Stell dich nicht so an, unheilige Kuh!“, blaffte Johann. Auch er war wie die Schiffer felsenfest davon überzeugt, dass Catharina eine Hexe war. Ginge es nach ihm, würde sie noch heute auf dem Scheiterhaufen brennen. Und mit ihr am Besten das ganze Gesindel, dass sich nicht zumindest einmal die Woche in der Kirche blicken ließ. Für ihn war die Hälfte der Menschheit gottloses Pack, und gehörte ausgemerzt. Aber in dieser Stadt ist man ja als ehrbarer Christ kraft Gesetzes nicht mehr in der Lage, für Zucht und Ordnung zu sorgen, dachte Johann, und alles nur, weil dieser Herzog, dieser Wilhelm, so ein verdammter Freigeist ist. Eifert diesem verrückten Humanismus nach. Pah! Er selbst schätzte eher Leute wie Heinrich Insitoris und Jakop Sprenger. Das waren Männer nach seinem Geschmack. Er hatte deren Buch „Malleus maleficarum“ schon mindestens zwanzig Mal gelesen, ja geradezu verschlungen. „Malleus maleficarum“, der „UnholdinnenHammer“, den alle aber nur den „Hexen-Hammer“ nannten. In diesem Buch, dass nach Johanns Meinung auch der Herrgott persönlich geschrieben haben könnte, brachten die Autoren erstmals nur Frauen mit der Hexerei in Verbindung, ganz im Gegensatz zur päpstlichen „Hexenbulle“, die Papst Innozenz VIII. am 5. Dezember im Jahre des Herrn 1484 unterzeichnet hatte. Damals legte der spätere Autor des Hexenhammers, Heinrich Insitoris, dem Papst ein selbstverfasstes Schreiben vor, welches mit den Worten „Summis desiderantes affectibus“11 begann. Mit seiner Unterschrift bestätigte der Papst Insitoris die Existenz der „verderbenden Hexen“, und warf damit eine bisher gültige kirchliche Lehrmeinung (Canon episcopi) über den Haufen. Viele Menschen waren der Meinung, der Papst sei sich überhaupt nicht im Klaren gewesen, was er da eigentlich unterschrieben hatte, aber das war nur Gewäsch für Johann. Mit der Bulle in der Hand war es Insitoris damals gelungen, seine bis dahin eher mühsame Hexenjagd auf eine breitere Basis zu stellen. Dem Herrgott ein Dank dafür!, dachte Johann bei sich. In den letzten 62 Jahren seit Veröffentlichung der Hexenbulle waren unzählige dieser unseligen Frauen einer in Johanns Augen hochverdienten Strafe zugeführt worden. Nur hier in Jülich war dies ein wenig anders. 11 „Mit unserem sehnlichsten Wunsche…“- Anfangstext der Hexenbulle 1484 ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 16 Wurden andernorts Frauen nach kurzen Prozessen auf den Scheiterhaufen geführt, nur weil sie zum Beispiel einen Mann falsch angesehen hatten, so galt der Glaube an die Hexerei am Hofe Herzog Wilhelms weithin als Aberglaube, zumindest aber die Verfolgung der Frauen als altmodische Scharlatanerie. Nicht so für Johann. Er hielt es da mit dem „Hexenhammer“. Und sein profundes Wissen, dass natürlich nur aus diesem Buch stammte, tat er auch jedem kund, ob derjenige dies nun wollte oder auch nicht. „Herzog Wilhelm macht einen großen Fehler mit seinem Unglauben! Im „Malleus maleficarum“ steht geschrieben, ich zitiere: Allein das Leugnen des Hexenglaubens ist als verwerfliche Ketzerei anzusehen und daher jede Kritik an der Hexenverfolgung selbstmörderisch. Alle Menschen, die die Meinung vertreten, es gäbe keine Dämonen und Hexen, sondern dass die Menschen ihre Irrtümer auf selbsterdachte Gestalten schieben, haben als Ketzer zu gelten!“ Solche und ähnliche Reden schwang der Küster oft in der Stadt. Und mit dieser Meinung stand Johann Küffer in Jülich nicht alleine da. Neben der alten Schiffer und ihren Freundinnen gab es noch zahlreiche Bürger in der Stadt, die dem Hexenglauben etwas abgewinnen konnten. Hauptsächlich handelte es sich bei diesen Leuten um arme, ungebildete Menschen, die aus lauter Bequemlichkeit lieber gleich alles glaubten, was man ihnen von der Kanzel predigte, als selbständig zu denken. Nur traute sich fast niemand von ihnen, dies öffentlich zuzugeben, da die Stadt nun mal von einem Herzog regiert wurde, der von all dem nichts hielt. Und die Annehmlichkeiten des Lebens in einer so gut befestigten Stadt wie Jülich wollte keiner der Bürger freiwillig wieder aufgeben. „Lasst mich gehen, werter Küster Küffer, ihr müsst nicht auf die Jungfer Schiffer hören! Habt doch ein Nachsehen mit mir! Ich habe nicht gestohlen, so glaubt mir doch. Aber ich weiß, wer bestohlen wurde und von wem!“, flehte Catharina den Küster an. „Still, Weib! Ich muss der Frau Schiffer nicht gehorchen, da hast du wohl Recht! Aber ich will es gern tun, denn auch ich glaube eher an deine Schuld als an deine Lügengeschichten! Warte nur ab, wenn tatsächlich das Fleisch fehlt, werden wir hier kurzen Prozess mit dir machen, Herzog hin oder her!“ „Das dürft ihr nicht, und ihr wisst es! Der Herzog wird euch bestrafen lassen!“ „Pah!“, blaffte Johann die verängstigte Frau an. „Wegen einer Hexe? Da kann uns der Herzog nicht bestrafen wollen. Wir werden Jülich von euch Gesindel reinigen, und dann wird selbst der Herzog seinen bisherigen Irrglauben einsehen und uns unterstützen! Und jetzt schweig, bevor ich dir das Maul stopfe!“, herrschte Johann die junge Frau an und verstärkte seinen Griff um ihre Oberarme, so dass ihr Gesicht einen schmerzverzerrten Ausdruck annahm. Sie würde noch Tage später blaue Flecken davon zurückbehalten. Geschieht ihr nur recht, dachte Johann zufrieden, und drückte noch ein wenig fester zu. Diese Hexe! Glaubt sie doch tatsächlich, ich würde der Schiffer gehorchen! Auf ein Weib hören! Ich, Johann Küffer, der Küster der Propsteikirche, und auf die Worte eines Weibes etwas geben! Unglaublich!, dachte Johann, während er, Catharina in einem schraubstockfesten Griff gepackt, auf die Rückkehr der Schiffer wartete. Johann würde nie etwas auf die Worte einer Frau geben. Das ließ sein Frauenbild gar nicht zu. Und nach diesem Frauenbild, welches Heinrich Insitoris nicht unmaßgeblich mitgestaltet hatte, war die Frau sowohl biologisch als auch metaphysisch12 minderwertig. Für Johann ging dies natürlich aus 12 Metaphysisch= jede mögliche Erfahrung überschreitend ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 17 der Genesis13 hervor, nach der sie aus einer krummen Rippe Adams geformt wurde. Das heißt, aus einer Brustrippe, die sowohl gekrümmt als auch dem Mann entgegen geneigt war. Aus diesem Mangel resultierte nach Johanns Ansicht auch, dass das Weib seine Unvollkommenheit in biologischer und rationaler Hinsicht mit Lüge, Hinterlist und Habgier auszugleichen versuchte. All dies passte in seiner Gedankenwelt auf Catharina Elisabeth Schuif, die für ihn nur die Hexe aus dem Gelderland war. Johann zitierte in der Schenke, wenn er unter den betrunkenen Männern ein offenes Ohr fand, gerne Cato14, Seneca15 und Tullius16 mit den Worten: „Weint ein Weib, so sinnt es gewiss auf listige Tücke.“ Oder: “Zwei Arten von Tränen sind in den Augen der Weiber, die einen für wahren Schmerz, die anderen für Hinterlist; sinnt das Weib allein, dann sinnt es Böses.“ Besonders oft bekam man von Johann auch zu hören: „Die Weiber treibt zu allen Schandtaten nur eine Begierde: Denn aller Weiberlaster Grund ist die Habsucht!“ Letztendlich war es für Johann auch kein Wunder, dass die Weiber zumindest seiner Meinung nach einen geringeren Glauben hatten als die Männer. Er hatte einmal einen Text gelesen, der ihn zutiefst faszinierte, und während er noch mit der jungen Hexe Catharina am Arm auf die Rückkehr der alten Schiffer wartete, (Wann kommt das Weib denn endlich zurück? Sie wollte doch nach fehlendem Fleisch sehen, nicht es aufessen!), rief er sich diesen Text noch einmal ins Gedächtnis: Dass die Frau von Natur aus einen geringeren Glauben hat und sie in allen Kräften der Seele, des Leibes und des Verstandes mangelhaft ist, geht aus dem Schöpfungsbericht hervor, da Eva an den Worten Gottes zweifelte und Adam verführte. Ein weiteres Indiz ist die Etymologie17 des lateinischen Begriffes für Frau; das Wort ‚Femina’ kommt von’ fe’ und ‚minus’, wobei’ fe’ abgeleitet wird von’ fides’, und ‚Glaube’ heißt, während ‚minus’ ‚weniger’ bedeutet. Demnach bedeutet’ femina’ „Die weniger Glauben hat“. Und damit war für Johann bewiesen, dass Frauen von Natur aus schlecht, und somit allesamt der Hexerei zumindest verdächtig waren. “He, da kommt die Schiffer! Jetzt kannst Du was erleben, verdammte Hexe!“, entfuhr es dem Küster. In Gedanken schichtete er schon eigenhändig einen hübschen Scheiterhaufen für Catharina auf… € „Packt die Diebin“, brüllten die Schiffer, während sie mit tiefrotem Kopf auf ihren dicken Beinen auf den Marktplatz zu stampfte. „Der beste Schinken wurde mir gestohlen, mein Rauchfang ist leer!“ „Siehst du, verdammtes Weib, was habe ich dir gesagt? Wir kriegen dich, und brennen sollst du! Jetzt ist endlich die Zeit gekommen, dem lächerlichen Humanismus des Herzogs zu entsagen, und sich auf die Lehren der Kirche und somit die der Inquisition zurück zu besinnen!“ zischte Johann Küffer triumphierend in Catharinas Ohren, während er versuchte, seinen Griff um ihre Oberarme noch ein wenig zu festigen, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. „Auch die Godderts und Hauffes vermissen ihre Schinken! Und die Schuif hat ihre Tat selbst zugegeben! Denn sie war ja die einzige, die es gewusst hat!“ Die Stimme der Schiffer nahm langsam einen hysterischen Tonfall an, während ihr vor lauter Brüllerei die Augen wie frisch 13 Genesis= Schaffungsakt Marcus Portius Cato (234-149 v.Chr.) römischer Feldherr, Redner, Historiker und Fachschriftsteller 15 Lucius Annaeus Seneca (~4 v.Chr.-65 n.Chr), römischer Staatsmann, Dichter und Philiosoph 16 Marcus Tullius Cicero (106 v.Chr.-43 v.Chr,), römischer Politiker, Philosoph, Konsul, Gegner von Cäsar 17 Etymologie= Herkunft, Geschichte und Grundbedeutung eines Wortes 14 ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 18 geschälte Kartoffeln aus ihrem puterroten Gesicht zu quellen drohten. „Packt das Weib! Und dann ab mit ihr zum Criminalgericht des Herzogs!“ „Papperlapapp!“, rief der Küster, “Wir sollten sie gleich zum Kirchplatz schaffen, und dem Herrgott zum Gefallen auf den Scheiterhaufen stellen!“ „Nein, Küffer, das geht nicht. Zuvor müssen wir ihr einen Prozess machen, sonst versündigen wir uns! Lasst sie uns zum Gericht bringen, und dann verlangen wir einfach alle einen Inquisitor, und dann sehen wir weiter! Los jetzt, kommt alle mit. Bringen wir das Weib fort!“, rief ein Mann aus der Menge, die sich mittlerweile um Johann Küffer und die Hexe versammelt hatte. Es war Herr Hauffe, einer der bestohlenen Bürger. Er hatte eine Heugabel in der linken Hand, und stocherte damit in der Luft herum, während er sprach. Viele der ringsum versammelten Menschen hatten Knüppel oder Heugabeln bei sich, zwei sogar eine brennende Fackel in der Hand. Und der Köhler der Stadt trug sogar eine Axt über seiner Schulter. Catharina wurde klar, dass es eng für sie wurde. Die aufgebrachte Menge hielt sie nun für die Diebin, und da sich die Emotionen hochschaukelten, war es nicht sicher, ob sie lebendig beim Gericht ankam. Und außerdem hatte sie auch gar nicht vor, sich zum Gericht bringen zu lassen. Sie musste eine Entscheidung treffen. Entweder ließ sie sich von der Meute zum Gerichtsgebäude schleppen, und lief Gefahr, der Hexerei bezichtigt zu werden, was einen Inquisitor auf den Plan rufen würde. Und das könnte tödlich für Catharina enden. Oder sie würde des Diebstahls angeklagt, und auch darauf hatte sie keinerlei Lust. Auf Diebstahl standen im Jahre 1546 nämlich Strafen, die alles andere als angenehm waren. Das fing an mit „an den Pranger stellen“ und Kerkerhaft, reichte von „Strafen zu Haut und Haar“, also Haare oder sogar Ohren abschneiden und Hände abhacken, bis hin zu den so genannten „peinlichen Strafen“18, die Catharina dem Scheiterhaufen keinesfalls vorzog. Eine andere Möglichkeit wäre die Flucht nach vorn. Sie könnte sich mit Hilfe ihrer geheimen Kräfte mühelos aus der brutalen Umklammerung des Küsters befreien, und somit ihre wahre Identität als Hexe preisgeben. Dann allerdings müsste sie die Stadt verlassen, denn man würde sie zweifelsohne jagen, und verbrennen, wenn man sie erwischte. Wie man es drehte und wendete, der nächtliche Gedankenbefehl, dem sie zu folgen verdammt war, brachte ihr nichts Gutes ein. Sie entschied sich dafür, lieber ein neues Leben in einem anderen Ort zu beginnen, als es in Jülich auszuhauchen. Sicherlich gab es in Aachen, der alten Kaiserstadt, einen Platz, an dem eine junge, talentierte Hexe ein paar Kreuzer hier und da verdienen konnte. Dort würde sie es versuchen. Sie musste sich zuvor nur noch etwas Geld und Proviant für die Reise organisieren, und der Propsteikirche würde sie auch noch einen Besuch abstatten. Das man einen dunklen Glauben hat, bedeutet ja schließlich nicht, dass man keinen hat!, dachte sie bitter. Ich werde wohl verkleidet in die Kirche gehen müssen. Aber nun galt es, sich dieser verrückten Schar dem Hexenwahn anheim gefallener Bürger zu entledigen. Und der beste Moment dafür schien ihr genau jetzt gekommen… € Johann Küffer, der Küster der Propsteikirche, empfand diesen Moment als einen Moment des größten Triumphes. Er hatte die verdammte Hexe aus dem Gelderland gepackt, schleifte sie nun begleitet von der halben Bürgerschaft zum Haupt- und Criminalgericht der Stadt, wo sie 18 „Peinliche“ Strafen des Mittelalters waren Todesstrafen wie Erhängen, Enthaupten, Verbrennen und Rädern ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 19 der Kerker oder hoffentlich Schlimmeres erwartete. Und genau in diesem Moment geschah es! Und aus größtem Triumph wurde innerhalb einiger Augenblicke blankes Entsetzen… Johann verspürte plötzlich ein leichtes Kribbeln an seinen Händen, mit denen er die Hexe regelrecht in einem Schraubstock hielt, welcher nur aus seinen zehn Fingern bestand. Das Kribbeln wurde stärker, und als er auf seine Hände blickte, blieb ihm augenblicklich die Luft weg. Die Arme der Frau bewegten sich! Und sie bewegten sich nicht etwa auf eine normale Art und Weise, die mit dem Zusammenspiel von Knochen, Gelenken, Muskeln und Sehnen zu erklären war, nein, hier ging eindeutig etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hexerei!, fuhr es dem Küster durch den Kopf. Das verdammte Weib ist tatsächlich eine leibhaftige Braut des Satans! Und sie führt in meinem Griff ihre schwarze Kunst aus! Entsetzt und mit vor Schreck geweiteten Augen beobachtete Johann, was da vor sich ging, und vergaß dabei völlig, weiterzugehen, so dass er ins Stolpern geriet, und um ein Haar gestürzt wäre! Aber zum Glück konnte er sich noch gerade fangen, sonst wäre ihm die Hexe womöglich noch…entwischt! Fassungslos starrte Johann auf seine Hände. Leer! Die Hexe hatte sich befreit! Aber er hatte seinen Griff nicht eine Sekunde lang gelockert! Wie war das möglich? Im gleichen Moment erhielt er die Antwort auf seine Frage. Direkt vor ihm, allerdings außer Reichweite seiner Arme, begann die Luft zu flimmern, und innerhalb von Sekunden erschien Catharina Elisabeth Schuif aus dem Nichts vor ihm! Zunächst sah es so aus, als würden tausende kleiner, schwarzer Würmer aus einem Loch irgendwo in der Luft in diese Welt eindringen, dann formierten sie sich, und vereinigten sich miteinander, so dass sie den Körper der Hexe aus Geldern bildeten. Dabei streiften einige diese „Würmer“ seinen linken Arm, und sofort verspürte er wieder dieses seltsame Kribbeln auf der Haut, wie er es kurz zuvor bei Catharinas Armen erlebt hatte. Jetzt war es ihm klar! Die Hexe konnte fliehen, weil sie sich in Nichts aufgelöst hatte! Das war die Bewegung, die er wahrgenommen hatte, bevor er stolperte! „Halt, Bürger der Stadt!“, ertönte laut donnernd die Stimme der Hexe. Sie schwebte nun über dem Boden, und erhob sich in die Luft, nur soweit, dass keiner der entsetzen Bürger sie erreichen konnte. „Ihr Narren! Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich einfach so gefangen nehmen? Nun, so habt ihr falsch gedacht! Ja, seht nur her, ihr hattet recht, ich bin tatsächlich eine Hexe! Aber ich habe bislang keinem von euch auch nur ein Haar gekrümmt. Und das kann auch so bleiben. Ich bin keine böse Hexe, sondern verwende meine Fähigkeiten nur zu meinem und dem Vorteil aller, die mir ein paar Kreuzer dafür zahlen. Ihr braucht mich nicht zu fürchten. Also, warum können wir nicht noch einmal das Ganze überdenken, und diese alberne Hexenjagd beenden? Carl Goddert, ihr glaubt mir doch, oder? Ich habe immer gespürt, dass ihr mich mögt, mehr als die anderen! So tretet doch für mich ein, in Gottes Namen!“ „Halte den Herrn aus deinem dreckigen Hexenmaul, Kreatur des Teufels!“, keifte die Schiffer, und sofort fielen sie und viele der Anwesenden in einen Chorus ein, und skandierten Parolen wie „Verbrennt die Hexe!“, „Packt sie!“ und „Auf den Scheiterhaufen mit der Satansbraut!“, und Catharina wurde klar, dass ihr Versuch, doch noch in Jülich bleiben zu können, kläglich gescheitert war. Sie bekam noch mit, wie Carl Goddert, der es kaum fassen konnte, dass die schöne Catharina nun doch eine Hexe war, und somit all seine Überzeugungen ins Wanken gerieten, mit Schreckgeweiteten Augen dastand, und ein seltsam röchelndes „Herr im ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 20 Himmel!“ rief, um dann in Ohnmacht zu fallen. Und nicht nur er. Auch einige Frauen verabschiedeten sich offenbar lieber in die Ohnmacht, als der Hexe dabei zuzusehen, wie sie sich verwandelte. Mitten in der Luft, direkt über den Köpfen der Leute, verwandelte sich Catharina in eine Katze! Das heißt, ihr Kopf tat es. Der Körper blieb, wie er war, der wohlgerundete Corpus einer schönen jungen Frau, aber der Kopf war jetzt der einer Katze in Größe eines menschlichen Kopfes! Die Kreatur bleckte ihre spitzen, weißen Zähne, und sprach fauchend zu den sich verängstigt duckenden Menschen. „Ihr habt ess ja nicht anderss gewollt! Jetzt werde ich euch verlasssen müsssen! Aber vorher ssollt ihr noch erfahren, dass ich tatssächlich nicht die Verantwortung trage für den Diebsstahl, wesssen ihr mich bezichtigt. Geht hinauss auss der Sstadt, und überquert den Flusss, und euch wird ein Licht aufgehen! Ich habe den wahren Dieb dort sstehen gelasssen! Er kann euch nicht entfliehen!“ Nachdem sie ihre kurze Ansprache geendet hatte, zerfaserte sich ihre Gestalt wieder in tausende kleiner schwarzer Würmer, um dann im Bruchteil einer Sekunde im Nichts zu entschwinden. Catharina Elisabeth Schuif war den Jülichern, und damit ihrem sicheren Tod, noch einmal entgangen… Johann Küffer erholte sich als Erster von dem Schrecken, den er und die vielen Anderen in den letzten paar Augenblicken erlebt hatten. Es ging ihm nicht in den Kopf. Wie konnte so eine Kreatur unter Gottes Himmel existieren? Die Frau musste direkt aus der Hölle zu ihnen nach Jülich gekommen sein, und ganz bestimmt nicht aus dem Geldrischen. Dessen war sich Johann gewiss. Aber was soll’s? Nun war die Hexe weg, und es herrschte vorerst wieder Ruhe in Jülich. So bald würde sich diese Hexe bestimmt nicht wieder in die Stadt trauen, jetzt, da ihre wahre Natur allen offenbar geworden ist. Und was das Beste ist; der Herzog kann von nun an seine lächerlichen humanistischen Ansichten haben, so lang er es will, aber das Volk von Jülich wird er damit nicht mehr einlullen können! Endlich ist den Hexenprozessen auch in Jülich der Weg geebnet!, dachte Johann zufrieden. Und als allererstes nehme ich mir diese nervige alte Fettel vor, die Jungfer Schiffer! So zufrieden wie in diesem Augenblick hatte der grimmige Küster Johann Küffer noch nie in seinem Leben gegrinst. Er würde auch nie wieder dazu kommen, aber das wusste er natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht… „Los, Leute, ihr habt es gehört! Gehen wir aus der Stadt, und sehen nach, ob es stimmt, was die Hexe gesagt hat. Suchen wir den Dieb!“, rief er. „Ach, es wird bloß eine Lüge sein. Ihr habt doch alle selbst gesehen, dass sie eine Kreatur aus der Hölle ist, der kann man doch keinen Glauben schenken. Sicher hat sie das Fleisch bereits verschlungen, und nun will sie uns alle in eine Falle locken, um auch uns zu verschlingen!“, erwiderte ein Mann aus der Menge mit ängstlicher Stimme. Küffer sah nicht, wer es war. „Blödsinn! Das macht doch keinen Sinn!“, rief er zurück. „Wenn sie uns etwas hätte antun wollen, dann hätte sie es doch bereits tun können. Nein, da liegt ihr falsch! Sie wollte unerkannt unter uns leben, davon bin ich jetzt überzeugt. Aber jetzt, da wir ihr wahres Gesicht kennen, kann sie das Risiko nicht mehr eingehen, hier zu bleiben. Sie wird nie wiederkehren, davon bin ich überzeugt. Wir würden sie auf den Scheiterhaufen binden, und dass weiß sie auch! Sie wird vermutlich die Wahrheit gesagt haben, und den wahren Dieb ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 21 tatsächlich dort zurückgelassen haben! Und den sollten wir uns jetzt wirklich langsam vorknöpfen, bevor er noch seine Fesseln losbekommt und uns auch noch entwischt, wie schon die Catharina zuvor!“ Und mit diesen Worten schritt der Küster energisch auf das Rurtor zu, in Richtung des Flusses mit dem Namen Rur. „Jawohl, da hat er recht!“, stimmte die Schiffer zu, „Wir sollten uns sputen! Ich habe wirklich keine Lust, nach der ganzen Aufregung und all dem Schrecken, den wir heute erlitten haben, ohne die Genugtuung schlafen gehen zu müssen, wenigsten den Dieb dingfest gemacht zu haben! Und ich sage euch, wir sollten uns nicht erst die Mühe machen, ihn zum Criminalgericht zu schleifen! Wir sollten ihn an Ort und Stelle bestrafen, so wie es einem Dieb gebührt!“, und mit diesen Worten machte auch sie sich auf den Weg in Richtung Rur. Und die ganze Meute folgte ihr und dem Küster, und viele von ihnen fuchtelten wild mit Keulen, Stöcken, Fackeln, einer Axt und einigen Heugabeln herum, und immer wieder ertönte der Ruf “Peinliche Strafe für den Dieb! Bestraft ihn mit dem Tode!“ € Jacop hatte die ganze Nacht hindurch am Wegrand gestanden, ganz in der Nähe der Rur am Waldrand. Und noch immer konnte er sich keinen Finger breit rühren! Er verstand einfach nicht, wie so etwas möglich sein konnte. Er war verflucht worden, das war ihm schon klar, aber er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, wie so etwas funktionieren sollte. Da musste wirklich eine Macht aus dem Reich der Schatten, wenn nicht der Teufel höchstselbst seine Finger im Spiel haben. Wer weiß, vielleicht war ja die Hexe, das Katzenungetüm, der Teufel selbst? Oder vielleicht war er, Jacop, auch einfach gestorben? Ja, das könnte sein! Ich bin in dem Moment gestorben, als mich die Katze erschreckt hat, als ich mit dem vermaledeiten Schinken das Haus der Godderts verlassen habe! Ich bin gestorben, und alles was danach geschehen ist, ist nur Einbildung, meine persönliche Strafe! Meine eigene Hölle! Ich bin tot und muss nun in Ewigkeit hier stehen! Was könnte schlimmer sein? Jacop fiel es nicht ein. Noch nicht. Dann sah er sie. Es waren sicher hundert Menschen, und einige schienen ihm mit Gegenständen zu winken, die er nicht erkennen konnte. Gott sei Dank!, dachte er. Endlich kommt mich jemand aus dieser misslichen Lage befreien! Er würde sicher einige Zeit brauchen, den Menschen zu erklären, wie er an das Fleisch in seinem Leinensack gekommen war. Aber er hatte ja nur aus Not gestohlen! Sicher zeigte man Verständnis und bestrafte ihn nur ganz milde. Vielleicht schnitt man ihm ein Ohr ab, aber was war schon ein Ohr? Er hatte ja zwei davon, und hören konnte man auch mit einem Ohr. Aber weshalb kommen denn so viele Leute auf einmal? Vielleicht sind sie ja gar nicht wegen mir hier? Vielleicht sind es Händler, die vom Markt kommen. Besser, ich mache mal auf mich aufmerksam, damit sie mich nicht noch übersehen, und ich hier noch länger herumstehen muss!, dachte Jacop, und holte tief Luft, um den Leuten zuzurufen. Aber er brachte nicht mehr als ein leises unartikuliertes Pfeifen hervor! Er konnte nicht sprechen! Plötzlich befiel Jacop eine unbestimmte Angst. Was, wenn er doch noch nicht gestorben war? Was, wenn die vielen Menschen, die dort in der Ferne auftauchten, doch nach ihm suchten? Was, wenn diese Menschen wussten, dass er gestohlen hatte, ein Dieb war? Was, wenn er kein Wort herausbekam, und er ihnen nicht ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman erklären konnte, was geschehen war? Was würden sie wohl mit ihm machen? Er wollte es sich lieber nicht vorstellen. Aber das musste er ja auch gar nicht. Er erlebte es bald am eigenen Leib. 22 Als die Menschenmenge etwas näher an ihn herangekommen war, konnte Jacop erkennen, was für Gegenstände es waren, die die Leute mit sich trugen, und mit denen sie herumfuchtelten. Und es gefiel ihm überhaupt nicht! Diese Leute werden mich nicht befreien, ganz im Gegenteil!, wurde Jacop plötzlich klar. Diese Menschen werden mich gefangen nehmen, und dann wird man mich dem Richter vorführen! Und dann ist es aus mit dem Stehlen, aus mit dem ruhigen Familienleben, aus mit meiner Zukunft hier in Jülich. Die Arbeit an der Zitadelle kann ich dann ja wohl auch vergessen, dachte Jacop niedergeschlagen. Und dann sah er erstmals die Gesichter der Leute, die immer näher kamen. Wutentbrannt waren sie! Schweiß rann ihm von der Stirn, und das Einzige, was sich an seinem Körper regte, waren seine Augen, die vor Schreck geweitet auf die Meute starrten, die auf ihn zukam, unfähig, sich zu schließen, diese Bedrohung aus dem Bewusstsein zu verbannen! Jacop wollte nun nicht mehr nach den Leuten rufen, er wollte sich viel lieber vor ihnen verstecken. Aber so sehr er sich auch bemühte, er blieb genau an der Stelle stehen, an der er die ganze Nacht bereits gestanden hatte. Er konnte nicht einmal umfallen! Er hatte es in der vergangenen Nacht mehrfach versucht, war jedoch jedes Mal gescheitert, obwohl er so müde war, das er sich buchstäblich nicht mehr auf den Beinen hatte halten können. Aber seine Beine gehorchten nun nicht mehr seinem Willen, sondern dem der Frau, die sich vor seinen Augen verwandelt hatte. Von einer Katze zu einer Frau! Jacop begann aus lauter Verzweiflung zu weinen. Aber abgesehen von der einen Träne, die aus seinem rechten Auge lief, war davon für einen Außenstehenden nichts zu bemerken. Und dann sahen sie ihn. „Da ist er!“, hörte er die Stimme eines Mannes rufen, und kurz darauf war die Gruppe auch schon bei ihm. Sie blieben rings um ihn herum stehen, und sahen ihn aus hasserfüllten Augen an. Wenigsten etwas, dachte Jacop, sie verprügeln mich nicht gleich. Vielleicht komme ich doch noch halbwegs glimpflich davon. Aber diese leise Hoffnung verflog sofort wieder wie ein Atemwölkchen an einem kalten Abend, als Johann Küffer, der Küster der Propsteikirche, das Wort an sich riss. „Was ist mit dir, elender Dieb? Warum gibst du kein Fersengeld? Gefesselt bist du ja nicht! Die Hexe sagte uns, sie hätte dich hier zurückgelassen. Damit hatte sie ja Recht. Aber warum bist du hier geblieben? Los, sprich!“, herrschte er Jacop an, und wandte sich dann an die Frau Schiffer und den Herrn Hauffe: „Los, durchsucht den Sack auf seinem Rücken, ob der Schinken darin ist! Wir müssen sichergehen, dass dieser Mann der gesuchte Dieb ist! So macht schon!“ „Also ich fasse ihn nicht an! Wer weiß, mit welchem Fluch sie ihn belegt hat?“, sagte die Schiffer, „vielleicht geht der Fluch auf uns über, wenn wir ihn berühren?“ „Dann steche ich ihn eben einfach mit meiner Gabel!“, schlug Hauffe vor, der sich in der Meute plötzlich ganz mutig fühlte. „Dann sehen wir ja, was passiert!“ Hauffe nahm all seinen Mut zusammen, was man seinem Gesichtsausdruck deutlich entnehmen konnte, und trieb dem armen Jacop einen Zinken seiner Heugabel in die Seite. Es herrschte absolute Stille, da alle wie gebannt auf das starrten, was sich ihnen darbot. Mehr als das leise Reißen des Wamses war nicht zu vernehmen, und mehr als einen kleinen Sturzbach dunkelroten Blutes, begleitet von einem leise schmatzenden Geräusch wahr auch nicht wahrzunehmen, als Hauffe die Spitze seiner Heugabel wieder aus dem Körper des ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 23 Armen Jacop zog. Er schrie nicht, er verzog nicht einmal das Gesicht. Zumindest nicht für die Leute um ihn herum. Jacop hingegen hätte am liebsten laut aufgeschrien. Entsetzlicher Schmerz durchfuhr ihn von der Hüfte aus, wo ihn die Gabel verletzt hatte, brandete durch den ganzen Körper, aber zu seiner Enttäuschung wurde er nicht durch eine erlösende Ohnmacht von den Schmerzen befreit. Er konnte das Blut warm an seinem Körper herunter fließen fühlen, aber er konnte weder schreien, noch konnte er eine Hand auf die Wunde pressen oder vor diesen Wahnsinnigen fliehen! Ihn mit der Heugabel zu stechen! Welcher Idiot kam denn auf so eine Idee? Aber das war erst der Anfang. „Er kann uns nichts tun, das seht ihr doch! Ich habe ihn verletzt, aber er reagiert nicht einmal, er blutet einfach nur! Schiffer, schneide ihm mit deinem Messer den Sack vom Rücken, ich halte ihn mit meiner Gabel in Schach!“, sagte Hauffe, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, stach er seine Heugabel einige Male in Jacops Richtung, ohne ihn allerdings zu berühren. Die alte Jungfer Schiffer, die immer ihr Gemüsemesser im der Tasche ihres Kittels trug, nahm es heraus, trat vorsichtig auf Jacop zu, der immer noch nichts Anderes tat als zu bluten, und schnitt ziemlich unsanft den Tragegurt seines Leinensackes durch. Dies tat sie nicht, indem sie den Gurt etwas anhob und dann durchtrennte, sondern sie setzte das Messer einfach auf Jacops Rücken auf, und schnitt mit viel zu viel Druck durch den Gurt, und somit auch durch Wams, die Haut und das Fleisch seines Rückens hindurch. Der Gurt riss, und der prall mit Schinken gefüllte Sack fiel mit einem lauten Plumpsen in den Dreck zu Jacops Füßen, und zurück blieb ihm nur eine drei Zentimeter tiefe Schnittwunde dort, wo soeben noch der Gurt des Sackes gewesen war. Der Schmerz war unerträglich, aber wieder wollte sich keine Ohnmacht einstellen, die Jacop wenigstens den Schmerz hätte ertragen lassen. Jetzt haben sie mich endgültig!, dachte er. Nun ist es aus! Er wollte am liebsten einfach weggehen, all dies hinter sich lassen, die vielen Leute, die Schmerzen, den Schinken, den er die ganze Nacht nur riechen, aber nicht schmecken konnte. Er wollte nur nach Hause zu seiner geliebten Magdalena, zu seinen Kindern, zu Josef, zu Gabriel, zu Willibrord und seinem geliebten Augenstern, der kleinen Franziska. Aber so sehr er auch flehte und hoffte, er konnte sich nicht einen Hauch weit bewegen. Er war noch nicht einmal in der Lage, seinen Schmerz laut herauszuschreien, und es drohte ihm den Verstand zu rauben. Aber auch diese Gnade war ihm nicht vergönnt. Jacop war gefangen in einer Angst- und hasserfüllten Meute von Menschen, die jegliche Moral- und Rechtsempfindung hinter sich gelassen hatte, die in ihrem Hexenwahn nun einen verfluchten Dieb enttarnt hatten, und ihm sicher ans Leder wollten! Hoffentlich reicht ihnen der zurückerhaltene Schinken, und sie lassen mich mit meinem Wunden hier zurück! Dann findet mich Magdalena vielleicht hier, denn sie wird mich bereits suchen. Gott gebe es, dass sie mich in Frieden lassen! Aber Gott gab an diesem Tag nicht mehr. „Der Schinken! Er ist es! Es ist alles da, und absolut unversehrt!“, rief Küster Küffer, der sich den Sack geschnappt und den Inhalt überprüft hatte. „Der Dieb ist überführt, wie die Hexe es vorhergesagt hat! Jetzt lasst uns den Unhold seiner gerechten Strafe zuführen! ‚Stiehlt er Korn in der Nacht, so hänge ihn, stiehlt er Korn am ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 24 Tage, so enthaupte ihn!’, zitierte Küffer eines seiner geliebten Bücher. „Er hat in der Nacht gestohlen, also sollten wir ihn hängen, aber selbst die Heugabel hat ihn nicht in die Flucht geschlagen, verflucht wie er nun mal ist. Also schlage ich vor, wir gehen sicher und enthaupten ihn an Ort und Stelle, schließlich habe wir den Diebstahl am Tage aufgedeckt, dann geht das schon in Ordnung!“ „Auf keinen Fall!“, fiel Carl Goddert ein. „Das können wir nicht tun! Er mag ein Dieb sein, aber er ist auch das Opfer von Catharina Schuif, dieser, dieser, …na dieser Hexe eben!“ Es fiel Goddert sichtlich schwer, einzugestehen, dass seine heiß geliebte Catharina eine Hexe war. „Er ist verflucht, so dass er sich nicht rühren kann, und er ist durch unsere Hand bereits zweimal verletzt worden! Ist das nicht Strafe genug für ein paar lausige Stücke Schweinefleisch? Überlassen wir ihn hier seinem Schicksal!“, sprach Goddert hastig, und wie um die makabere Stimmung dieser ganzen Szenerie noch zu unterstreichen, ließ sich in genau diesem Moment eine große schwarze Krähe laut krächzend auf Jacops erstarrtem Arm nieder, hüpfte den Arm hinauf bis zur Schulter, und riss mit ihrem scharfen Schnabel ein kleines Stückchen blutiges, rotes Fleisch aus der Schnittwunde an Jacops Rücken, um es dann gierig zu verschlingen. „Hinfort!“, schrie Küffer die Krähe an, und schlug mit einem Knüppel nach dem Tier, das laut krächzend davonflog. „Verdammt seid ihr alle! Wollt ihr euch alle versündigen, indem ihr Hexenwerk zulasst? Ich sage, wir entledigen uns dieser Pestilenz, in dem wir sie radikal ausmerzen! Die Hexe sind wir nun los, aber ihr Werk steht hier vor uns und verhöhnt unseren Herrn, Gott im Himmel! Ich sage, runter mit seinem Kopf, oder noch besser, wie es einem Dieb gebührt; lasst ihn uns Radbrechen! Du, Köhler, du hast doch noch dein altes Wagenrad im Hof, das mit der schadhaften Nabe! Geh es holen! Wir schlagen ihn auf deinem Rad an den Galgen! Dann sollen ihn dort die Krähen fressen, und wir können endlich alle wieder beruhigt schlafen!“ „Nein, das könnt ihr nicht tun!“, unternahm Goddert noch einen letzten verzweifelten Vorstoß gegen den völlig ekstatischen Küster. „Es ist Sünde! Wenn wir ihn töten, sind wir nicht besser als Seinesgleichen! Er muss vor Gericht gestellt werden! Ich flehe euch an, so seid doch Vernünftig!“ Aber es nutzte nichts. Godderts Appell an die Vernunft und Moral seiner Mitbürger verhallte ungehört, und so packte die aufgebrachte Menge den armen Jacop, und schleppte ihn, der er steif wie ein Stock war, zum Galgenpfahl vor dem Rurtor. Der Köhler hatte inzwischen sein altes Wagenrad herbeigeholt, und so begann Jacops letztes Martyrium. € Jacop wünschte sich wirklich nichts sehnlicher, als endlich das Bewusstsein zu verlieren. Der Schmerz, den seine Verletzungen an Hüfte und Rücken ihm verursachten, raubte ihm nahezu den Verstand. Der Stich mit der Heugabel musste ein Organ in seinem Körper verletzt haben, denn es brannte wie Feuer tief in seinen Eingeweiden. Man wollte ihn an das Wagenrad binden, um ihn dann am Galgenpfahl, dreieinhalb Meter in der Höhe, festzubinden. Zuerst band ihm Küffer höchstselbst, der ach so fromme Küster der Propsteikirche, den linken Arm an das Rad. Als er dann versuchte, gleiches mit dem rechten Arm zu tun, stieß die Kraft Küffers an ihre Grenzen, denn Jacop war steif wie ein Stock, und hart wie versteinert. Es gelang dem Küster nicht, den rechten Arm auch zu binden. „Köhler, gib mir deine Axt. Es wird Zeit, dass der Fluch von dieser armen Seele genommen wird, die nun sicher bereits in der Hölle schmort. Es heißt nicht umsonst „Rad-brechen“!“ ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman Mit diesen Worten nahm sich Johann Küffer die Axt, drehte das stumpfe Ende so, dass es nach vorne zeigte, holte weit aus, und rief laut „Im Namen des Vaters...“, und ließ das stumpfe Ende der Axt auf Jacops linken, bereits angebundenen Arm krachen.“ 25 Jacop hörte seinen linken Oberarmknochen brechen, und sofort durchflutete unvorstellbarer Schmerz sein gesamtes Bewusstsein. „Lass mich sterben, lieber Gott, bitte!“, wollte er schreien, aber wieder verließ nur ein leise zischendes Pfeifen seine starren Lippen. Oder wenigstens in Ohnmacht fallen!, fügte er verzweifelt in Gedanken hinzu. Aber dieses Glück hatte Jacop in diesem Leben nicht mehr. Der wie wahnsinnig geifernde Küster brüllte aus Leibeskräften ein donnerndes „…des Sohnes!...“, während er wieder die stumpfe Seite der Axt auf den rechten Oberarmknochen des armen Diebes schlug. Als er ihm danach mit wuchtigen Hieben beide Oberschenkel zerschlug, schrie er wie von Sinnen „…und des Heiligen Geistes!“ Noch nicht einmal der Schmerz blieb Jacop erspart, den er erlitt, als ihm der wahnsinnige Küster in seinem Blutrausch mit einem lauten „Amen!“ das Rückgrat in Höhe des Bauchnabels zertrümmerte. Ganze neunzehn Stunden hing Jacop noch an das Rad gebunden am Galgenpfahl, und musste alles ertragen, was das Spektrum des Schmerzes in seinem Körper für ihn bereithielt. Und doch konnte niemand, der ihn da an das Rad gefesselt sah, auch nur erahnen, was er durchmachte, denn er verzog nicht eine Miene. Auch nicht, als er seine arme Frau Magdalena mit den vier Kindern weinend vor seinem Pfahl stehen sah. Auch dann nicht, als er sie aus der Stadt in die Ferne ziehen sah, wo sie sich einen neuen Platz zum Leben suchen mussten. Und auch dann nicht, als sich unter ihm am Galgenpfahl eine große schwarze Katze niederließ, und zu ihm hochsah. Er bildete sich ein, die Katze sprechen zu hören. „Ess tut mir leid, Jacop!“ schien sie zu fauchen. Und kurz, bevor sein Herz zum letzten Mal schlug, war ihm, als ob aus den seltsam menschlichen Augen des Tieres einige Tränen auf den staubigen Boden am Fuße des Galgens herabfielen… Freitag, 27. Februar 2004, Jülich, Stadtgeschichtliches Museum „Da, Herr Templeton, schauen sie. Das ist Fatime Metinoglu, unsere Raumpflegerin. Sie kommt jeden zweiten Morgen gegen neun Uhr, und reinigt die Ausstellungsräume. Eine zuverlässige und nervenstarke Frau… eigentlich. Sie sehen es ja selbst…“, sagte der Leiter des Museums, ein Mann namens Parse. Er deutete auf den kleinen schwarz-weißen Monitor auf seinem Schreibtisch, auf dem die Aufnahmen abgespielt wurden, die die Überwachungskameras des stadtgeschichtlichen Museums in den letzten zwölf Stunden aufgezeichnet hatten. Auf dem altertümlichen Bildschirm war zu erkennen, wie die in einen hellblauen Kittel gekleidete Fatime Metinoglu, die Putzfrau des Museums, eine metallene Zwischentür von außen öffnete. Die Tür diente offenbar nicht nur zur Trennung zweier Räume, sondern auch dem Brandschutz. Fatime betrat in der Aufzeichnung gerade mit ihrem Putzwägelchen, auf dem sie ihre Arbeitsutensilien transportierte, den Raum. Dabei bewegte sie sich rückwärts, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 26 und zog ihren Putzwagen hinter sich her. Dann nahm sie einen Staubwedel aus Kunstfasern von dem Wagen, drehte sich um, und… ließ den Staubwedel fallen, riss Augen und Mund weit auf, schlug die Hände vors Gesicht, und fiel rücklings in Ohnmacht, wobei sie ihren Wagen umriss. Ein Eimer mit Wasser ergoss sich über den Museumsboden. Eine dünne Schicht Seifenschaum verteilte sich wie Neuschnee auf dem Linoleum. Das Bild fror ein. Herr Parse hatte die Wiedergabe der Aufnahme unterbrochen, indem er auf der Fernbedienung des Abspielgerätes die Pausentaste betätigte. Den Schrei der Frau und den Lärm des fallenden Wagens hörte man nicht, da kein Ton wiedergegeben wurde. Ich betrachtete die Szenerie noch einmal eingehend. Da lag die bedauernswerte Reinemachefrau rücklings auf dem Boden, Arme und Beine in ihrer Ohnmacht wie ein Käfer in die Luft gestreckt. Vor ihr saß ein Mann auf dem Boden, etwas in sich zusammengesunken, und starrte sie an. Und er tat dies mit einem vor Schreck geweiteten Auge, als habe er ein Gespenst gesehen! Das Gespenst war aber nicht Frau Metinoglu gewesen, sondern eine unbekannte Person. Der Mann, der dort saß, lebte nicht mehr. Der Mann hieß Hans Bruckner, ein langjähriger Mitarbeiter des Museums, wie mir Herr Parse geschildert hatte, während er mir die seltsamen Aufnahmen der letzten Nacht vorführte. Die Bilder ergaben für mich keinen Sinn. Laut der Aussage der Kollegen von der Spurensicherung hatte der Mann vermutlich einen Herzinfarkt erlitten. Eine natürliche Todesursache also. Das deckte sich auch mit dem, was ich auf den Aufzeichnungen zu sehen bekam. Dennoch musste ich bei dem Toten Archivar, der nur fünfundfünfzig Jahre alt geworden war, von einem Gewaltverbrechen ausgehen! Und genau das gab mir ein Rätsel auf. Der Mann hatte unzählige mehr oder weniger tiefe Kratzwunden an den Unterarmen und Händen, so als hätte er sich gegen ein großes Raubtier zur Wehr setzen müssen. Und erst das Gesicht! Der Anblick war wirklich grauenhaft, und auch bei mir hatte er einen leichten Würgereiz verursacht, obwohl ich als Kriminalkommissar schon einiges zu sehen bekam, und somit als abgehärtet gelten dürfte. Ich konnte nur zu gut verstehen, dass die arme Putzfrau aus den Latschen gekippt war! Die riesige Wunde reichte von der linken Stirnseite bis schräg nach unten über seine Nasenwurzel, deren Knochen unter all dem getrockneten Blut blass hervorstand. Weiter führte die Spur der Zerstörung durch das Gebiet seines Gesichtes, an dem sich einmal das rechte Auge befunden haben musste. Dort war aber nichts weiter zu sehen als rohes Fleisch und getrocknetes Blut! Die Wunde führte noch quer über die Wange bis hin zum Ohr. Aber obgleich diese Wunde fürchterlich war, und dem armen Mann unerträgliche Schmerzen bereitet haben musste, als Todesursache schied sie aus. Der Mann hatte sich höchstwahrscheinlich ganz einfach zu Tode erschreckt. Gewissheit darüber würde ich nach der Obduktion haben. Inzwischen hatten die Jungs von der Spurensicherung ihren Job getan, und die Leiche war auf dem Weg in das Gerichtsmedizinische Institut. Ich ließ die Aufnahmen der Überwachungskameras noch einmal vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Zunächst konnte man gar nichts erkennen, es war vollkommen dunkel. Dann öffnete sich die Verbindungstür, die die Ausstellungsräume vom angrenzenden Kulturhaus trennten, einen Spalt breit, und gab einen Blick auf das Gesicht von Hans Bruckner frei, der seine Nase vorsichtig durch die Tür steckte. Dann, nach kurzem Zögern, öffnete sich die Tür vollständig, und Bruckner trat ein. Leider ließ er das Licht ausgeschaltet, so dass kaum etwas zu erkennen war. Gott sei Dank hatte er das Licht im Nebenraum brennen lassen, so dass die durch die Tür hereinfallende Helligkeit wenigstens etwas Licht ins Dunkel brachte. Der Mann ging ein paar Schritte in den Raum hinein, blieb dann plötzlich stehen, und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Da an den Überwachungsmonitor kein Lautsprecher angeschlossen war, konnte man leider nichts hören. Herr Parse, der Leiter des Museums, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 27 machte mir allerdings die Hoffnung, doch noch zu erfahren, was der Mann gesprochen hatte, denn er erklärte mir nicht ohne einen gewissen Stolz, dass sein Museum über eine hochmoderne Überwachungsanlage verfügte. Angesichts des altertümlichen schwarz-weißen Monitors hätte ich dies nicht zu hoffen gewagt. Aber Parse erklärte mir, im Gegensatz zu den üblichen Systemen, die noch ohne Ton arbeiteten, und die nur Einzelbilder ca. alle zehn Sekunden schossen, nahm sein Überwachungssystem sehr wohl den Ton mit auf, wenn auch in schlechter Qualität, da nur ein kleines Mikrophon direkt neben der Kameralinse an der Decke angebracht war. Die Kamera allerdings lieferte bewegte Bilder mit einer Bildwiederholrate von fünfzehn Bildern pro Sekunde, was der Qualität handelsüblicher Zeichentrickfilme entspräche. Als er dies sagte, wünschte ich mir, ich hätte gerade auch nur einen Trickfilm gesehen, leider entsprach das gefilmte Material aber der schaurigen Realität! Weiter führte Parse aus, anders als sonst üblich würde das Material nicht auf ein EndlosVideoband, sondern auf eine Computerfestplatte gespeichert, was die Qualität der Bilder und die mögliche Höchstdauer der Aufzeichnung wohl erheblich steigerte. Mir war das vollkommen egal, Hauptsache, es ergaben sich daraus für mich Hinweise, die mir bei der Aufklärung dieses Todesfalles halfen. „Ich lasse ihnen eine CD mit den betreffenden Aufnahmen brennen, die können sie dann gleich mitnehmen.“, sagte Parse. Ich bejahte dies, und widmete meine Gedanken wieder den Aufnahmen, die vor meinem geistigen Auge Form annahmen. Bruckner hatte also irgendetwas in den Raum hinein gesagt, aber wohl keine Antwort erhalten. Er ging noch ein, zwei Schritte weiter in den Raum, blieb wiederum stehen, und was dann geschah, war leider dem Auge aufgrund der Dunkelheit verborgen. Mist! Hätte er doch bloß das Licht eingeschaltet! Dann, plötzlich, drehte sich Hans Bruckner auf der Stelle um und rannte los. Aber er rannte nicht zur Verbindungstür zurück, sondern in ein enges, gewundenes Treppenhaus, so dass er meinen Blicken entschwand. Was hatte ihn dazu getrieben? Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, einen Schatten zu sehen, der Hans Bruckner folgte, aber das musste entweder meine Einbildung oder ein Lichtreflex auf der Kameralinse gewesen sein. Es musste sich, wenn überhaupt, um einen flüchtigen Schatten gehandelt haben, der für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war. Dann passierte einige Zeit gar nichts. Bis… …Ja, bis Hans Bruckner wie von der Tarantel gestochen, mit wild rudernden Armen wieder ins Bild gestürmt kam! Er rannte bis fast genau zu der Stelle, von der er zuvor losgestürmt war, blieb wie angewurzelt stehen, und drehte sich um. Es war deutlich zu erkennen, dass seine Arme nun verletzt waren, denn jetzt wo er sie nicht mehr unkontrolliert in der Luft rudern ließ, sondern sich beide Hände auf den Brustkorb presste, war deutlich zu sehen, dass seine Hemdsärmel zerfetzt und blutig waren. Außerdem hatte er eine riesige Wunde im Gesicht, die auf dem kleinen Bildschirm aber eigentlich nur als dunkle Fläche auszumachen war. Und dann weitete sich plötzlich das eine noch sichtbare Auge Bruckners, er riss den Mund auf wie zu einem Schrei… und dann erschlafften seine Gesichtszüge. Er fiel um. Er fiel aber nicht der Länge nach hin, sondern sackte mehr in sich zusammen, fiel auf sein Gesäß, und sein Gesicht neigte sich etwas der Brust entgegen. Die Arme hingen nur schlaff herab. Dann bewegte sich Hans Bruckner nicht mehr. Er war entweder bereits tot, oder zumindest bewusstlos. Und wieder hatte ich den Eindruck, im dem Moment, kurz bevor Bruckner umkippte, einen Schatten wahrgenommen zu haben. Aber das war natürlich Blödsinn. Ja, und dann war auf dem Band nichts mehr zu sehen, bis die Putzfrau auf der Bildfläche erschien. Es war mir schleierhaft. Bruckner war schwer verletzt worden, wenn auch nicht tödlich, und der oder die Täter hatten offensichtlich Wert darauf gelegt, es wie den Angriff eines Tieres aussehen zu lassen. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, wieso jemand so ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 28 etwas inszenieren sollte. Denn ein Angriff durch ein Tier schied meines Erachtens aus. Erstens hätten bei den Verletzungen an Bruckners Körper Spuren des angreifenden Tieres, wie zum Beispiel Haare oder eine abgebrochene Kralle oder zumindest Hautschuppen vorgefunden werden müssen, was aber nicht der Fall war. Sicherheit darüber würde aber erst die Obduktion der Leiche ergeben. Und zweitens: Wie hätte das Tier wieder verschwinden sollen? Alle Türen nach außen waren verschlossen, und Bruckner hatte den Schlüssel an seinem Platz am Schlüsselbrett in seinem Büro gelassen, wo ich ihn auch noch vorgefunden hatte. Ich ging vielmehr davon aus, dass der oder die Täter ihn mit einem Messer oder einem ähnlich scharfen Gegenstand verletzt hatten. Als Motiv konnte ich mir zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen bestenfalls einen Einbruchdiebstahl vorstellen. Die Diebe wurden von Bruckner überrascht, als er seinen letzten Rundgang machte. Und das war sein Verhängnis. Dafür sprach, dass das Museum gewöhnlich bereits um sechzehn Uhr schloss, so dass sich die mutmaßlichen Einbrecher recht sicher gefühlt haben mussten, als sie gegen zweiundzwanzig Uhr ihren Einbruch durchführten. Dagegen sprach, dass weder ein Türschloss oder eine Vitrine beschädigt oder aufgebrochen war. Laut Aussage von Herrn Marc Parse fehlte zudem nicht ein Teil aus der Ausstellung. Hier kam ich nicht weiter. Im Museum gab es für mich nichts mehr zu tun. Ich nahm die CD an mich, die der Museumsdirektor für mich hatte anfertigen lassen, und verabschiedete mich. Es waren im gesamten Museum weder Hinweise auf den Einbruch, noch irgendwelche Indizienbeweise wie Fingerabdrücke oder Fußspuren zu finden. Alle Türschlösser waren unversehrt, die Außentüren verschlossen gewesen. Entweder hatten sich der oder die Täter bereits nachmittags im Museum einschließen lassen, oder, und auch das konnte nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, der oder die Täter hatten Schlüssel zum Museum. Somit waren selbst die Mitarbeiter des Museums verdächtig. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass Herr Parse etwas mit dem Tod des Herrn Bruckner zu schaffen hatte, und ich hatte einiges an Erfahrung und Menschenkenntnis in meinen Dienstjahren bei der Kripo angeeignet. Ich setzte mich also in meinen Dienstwagen, einen recht neuen silbernen Ford Mondeo, und verließ Jülich in Richtung der Autobahnauffahrt zur A44 in Richtung Aachen. Einige Stunden später, In den Räumen der Kriminalpolizei Aachen „Eine Katze, sagst du? Wie kann eine Katze einen ausgewachsenen Mann töten? Das ergibt doch keinen Sinn! Und woher soll denn die Stimme gekommen sein? Du wirst mir ja nicht allen Ernstes erzählen wollen, die Katze hätte geredet, oder?“, sagte Konrad Wallner, Leiter der Mordkommission Aachen. Er sprach mit seinem Kollegen, Hans Bertrams. Beide Beamte gingen auf die sechzig zu, und arbeiteten bereits seit Ewigkeiten für die Mordkommission. Wallner war ein etwas zu korpulenter Mann von eins siebzig Größe, während Bertrams trotz seines fortgeschrittenen Alters ein drahtiger Kerl war, der noch zweimal im Jahr einen Marathon lief. „Konrad, wenn ich es dir doch sage. Wie lange kennen wir uns jetzt schon?“ „So um die dreißig Jahre?“ „Eben. Und ungefähr genauso lange arbeiten wir beide jetzt in ein und derselben Abteilung. Wenn ich dir also sage, auf den verfluchten Aufnahmen ist eine Katze zu sehen, und dass das Vieh gesprochen hat, dann ist das eben so! Ich verstehe es ja auch nicht, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen! Außerdem hat das Vieh den Mann ja nicht getötet. Er ist nicht an den Folgen der Verletzungen, sondern an einem Herzinfarkt gestorben. Da aber die ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 29 Verletzungen darauf schließen lassen, dass es sich zumindest um einen Mordversuch gehandelt haben könnte, bleiben wir an der Sache dran.“ „Mann, ehrlich, du solltest dringend deine Augen untersuchen lassen!“, entgegnete Wallner seinem Kollegen kopfschüttelnd. „Das sind doch alles Hirngespinste. Wir beide sind jetzt tatsächlich seit fast drei Jahrzehnten bei der Polizei. Da sollte man doch annehmen, uns kann nichts mehr überraschen. Daher schlage ich vor, wir gehen das Ganze noch mal durch, diesmal aber bitte völlig rational, und nichts von diesem Katzen-Monster-Scheiß! Kriegen wir das hin?“ „Wie du meinst, dann eben noch mal.“ Bertrams seufzte. Die beiden hatten sich die Aufnahmen, die ihnen Rick Templeton, ein Kommissar der Abteilung, vorgelegt hatte, schon mehrfach angesehen. Der junge Beamte kam mit den Aufnahmen nicht klar, und hatte seinen Vorgesetzten Bertrams um einen Ratschlag gebeten. Die beiden verband ein sehr gutes, wenn auch rein dienstliches Verhältnis. Beruflich gesehen, könnte man Bertrams als Ricks väterlichen Freund bezeichnen. Und er würde seinem Untergebenen nur zu gerne eine Erklärung für die Aufnahmen liefern. Wenn, ja wenn er eine Erklärung dafür hätte! Er selbst kam mit den Aufnahmen nicht zurecht, und hatte daher seinen alten Freund Konrad Wallner dazu geholt. Aber auch nach dem achten Mal waren die beiden keinen Schritt weiter gekommen. So oft hatten sich die beiden Polizisten nun das Material bereits angesehen, dass ihnen Templeton vorgelegt hatte. Es war eine CD mit Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Jülicher Museum, in dem der Archivar ums Leben gekommen war. Auf den Aufnahmen war nicht viel zu sehen, außer eben dem Archivar, der erst in einen Raum kam, dann plötzlich in ein Treppenhaus rannte, wieder zurückkam, jetzt allerdings schlimm zugerichtet, dann schrie, und in sich zusammensackte und schließlich starb. Wie es zu den Verletzungen des Mannes kam, war auf den Aufnahmen leider nicht zu sehen. Das Verrückte an der ganzen Sache war aber erst durch eine Beobachtung ans Licht gekommen, die der ermittelnde Beamte, Rick Templeton, gemacht hatte. Dieser hatte auf den Aufzeichnungen einen Schatten bemerkt. Und die Jungs in der technischen Abteilung hatten sich daraufhin etwas eingehender mit der CD aus dem Museum befasst. Und hier begann der Fall phantastisch zu werden. Auf den Filmaufnahmen war tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde ein flüchtiger Schatten zu erkennen, den man leicht für eine Reflektion oder etwas Ähnliches hätte halten können. Aber auf dem Ausdruck, den einer der technischen Mitarbeiter von dem Einzelbild mit dem Schatten angefertigt hatte, sah die Sache etwas anders aus. Dort war, verwaschen zwar, aber deutlich genug, um es mit einiger Gewissheit sagen zu können, der Umriss einer Katze zu erkennen! Allerdings war das Tier mit Sicherheit keine gewöhnliche Hauskatze; es hatte eine geschätzte Schulterhöhe von sechzig Zentimetern, und war somit deutlich größer als jede Katze, die frei herumlaufen dürfte. Zudem war die Katze, oder was immer für ein Tier es auch war, nur auf diesem einen Einzelbild zu erkennen. Auf der gesamten restlichen Aufnahme war von ihr allerhöchstens ein flüchtiger grauschwarzer Schleier zu erkennen. Entweder handelte es sich gar nicht um eine Katze, sondern nur um einen Zufall, einen Schattenwurf. Vielleicht fiel Licht durch eines der kleinen Fenster des Ausstellungsraums, und es entstand der Schatten, der auf dem Bild nur einer Katze ähnlich sah. Oder das Tier war so verdammt schnell durchs Bild gefegt, dass man es mit einer normalen Kamera nicht hatte auf Film bannen können. Die Theorie von der riesigen schwarzen Katze hätte allerdings wunderbar auf die Verletzungen des Verstorbenen gepasst. Aber woher sollte das Tier stammen? Da es in Jülich einen Zoo gab, wurde dort natürlich sofort nachgefragt, ob es dort ein schwarzes katzenartiges Tier gab, das entkommen sein könnte. Aber leider brachte das die Ermittlungen keinen Schritt weiter. Dort gab es zwar Raubkatzen in der fraglichen Größe, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 30 aber es handelte sich dabei um Luchse, und die waren nicht schwarz. Außerdem fehlte keines der Tiere. Und da gab es noch etwas, was den beiden Kriminalbeamten Wallner und Bertrams Kopfzerbrechen bereitete. Die Aufnahme aus dem Museum hatte eine Tonspur. Und tatsächlich war auch etwas darauf zu hören! Nur wäre es den Beamten nie aufgefallen, hätte Templeton nicht die Sache mit dem Schatten erwähnt. Denn als die Aufnahme langsamer abgespielt wurde, um den Schatten zu identifizieren, fiel den Technikern ein schriller Pfeifton auf, für den es zunächst keine Erklärung gab. Diesen Ton spielten sie dann immer wieder etwas langsamer ab, jedes Mal aber blieb es bei dem Pfeifen, mehr war nicht zu hören. Gerade, als man aufgeben wollte, etwas aus dem Ton herauszuholen, passierte es! Einer der Techniker stieß durch Zufall an einen Knopf am Abspielgerät, wodurch die Aufnahme mit besonders langsamer Geschwindigkeit abgespielt wurde. Und jetzt waren eindeutig Worte zu hören! Und da es sich nicht direkt um eine menschliche Stimme zu handeln schien, sondern mehr um ein wie auch immer artikuliertes Fauchen, hatte Hans Bertrams die Theorie von der sprechenden Riesenkatze ins Spiel gebracht. Es war leider fast nichts von dem zu verstehen, was die Aufnahme zu Tage gefördert hatte, lediglich ein Paar Satzfetzen waren eindeutig als Sprache zu erkennen. Und die Worte waren: „…verdammt sein…Seele…da Como…Stein…“, und das Wort „dienen“. Ansonsten gab es auf dem Band nur Schreckens- und Schmerzensschreie zu hören. „Also Konrad, wie du willst. Hier jetzt noch mal ganz rational, was wir haben“, sagte Bertrams, „Wir haben eine männliche Leiche, 55 Jahre alt, Name war Bruckner. Er war Archivar im Museum, hatte länger als üblich gearbeitet. Aus irgendeinem Grund flieht er vor irgendjemandem oder irgendetwas in ein Treppenhaus. Dort muss es zum Kampf mit dem oder den Tätern gekommen sein.“ „Oder dem Tier, wie du meinst!“, warf Wallner ein. „Ich meine nicht, sondern ich schlussfolgere aus den Aufnahmen. Dass es sich um eine große Katze handeln könnte, ergibt sich anhand des Einzelbildes, dass diesen Schluss durchaus zuließe.“ „Schon gut, schon gut. Nur nicht aufregen. Weiter mit den Fakten, bitte.“, sagte Wallner. „OK. Bruckner taucht blutüberströmt wieder im Museum auf, Arme und Hände zerkratzt, klaffende Wunde im Gesicht. Er presst die Hände an die Brust, sackt zusammen, stirbt. Kurz davor der schrille Pfeifton, den wir als Worte haben identifizieren können.“, führte Bertrams sein Resümee zu Ende. „Hm. Außer einem Toten mit seltsamen Verletzungen haben wir also gar nichts Rationales, fürchte ich. Hoffentlich meldet irgendein Zirkus noch einen Puma vermisst, oder ähnliches. Ansonsten werden wir den Fall wohl zu den Akten legen müssen.“ „Vergiss nicht die Worte, die wir haben. „Da Como“, klingt für mich wie ein Name. Vielleicht sollten wir da mal ansetzen?“ „Klingt italienisch. Oder spanisch oder etwas in der Art. OK, lass uns nach diesem Koma – Typen mal forschen.“, sagte Wallner. „Da Como, nicht Koma. Aber das überlassen wir besser Templeton, es ist sein Fall. Und falls Du nichts dagegen hast, würde ich die Geschichte von unserer redenden Riesenkatze gerne noch jemandem weitergeben. Wer weiß, vielleicht könnte er uns einen Tipp geben.“, gab Bertrams zu bedenken. „Um Himmels willen, bist du wahnsinnig? Wem willst du denn eine solche Räuberpistole aufbinden? Das glaubt uns ja doch keiner, nicht einmal ich ziehe es ernsthaft in Betracht!“, presste Wallner entsetzt hervor. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 31 „Ich kenne da einen Kollegen in England. Du hast seinen Namen bestimmt schon in dem einen oder anderen Zusammenhang gehört. Hatte damals öfter mit Willi Melchner zu tun, bevor der…verschwand. Sein Name ist Driscoll. James Driscoll.“ „Der Geisterbulle? Komm schon, wer glaubt denn an so was? Gut, die Engländer hatten ja schon immer ‚einen weg’, so von wegen „Ungeheuer von Loch Ness“ und so, aber hier in Deutschland …na, ich weiß nicht. Aber wenn du meinst, es könnte uns dabei helfen, diesen Fall schnell abzuschließen, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Vielleicht kann dieser GespensterCop unserem Mann ja ein paar Tipps geben. Zugegebenermaßen eilt diesem Engländer ja ein gewisser Ruf voraus. Soll ja schon eine Menge Fälle gelöst haben, die als unlösbar galten.“ „Eben.“, antwortete Bertrams, „Templeton klingt ebenfalls nach einem Engländer. Wer ist der Mann eigentlich?“, fragte Wallner. „Stimmt, du kennst ihn ja noch gar nicht. Ist vor gut vier Wochen zu uns gekommen. Hat sich auf eigenen Wunsch von Mülheim an der Ruhr hierher versetzen lassen. Seine Eltern kamen bei einem Autounfall beide ums Leben, und da wollte er wohl auch räumlichen Abstand gewinnen. Ist sein erster eigener Fall hier bei uns, hat einen Ruf als gewissenhafter, besonnener Bulle. Ist tatsächlich ein Sohn britischer Eltern. Sein Vater war Soldat in den Wrexham-Barracks in Mülheim, bis zu seiner Pensionierung vor einigen Jahren. Seine Mutter war meines Wissens Hausfrau. Warte, ich schau mal kurz in seine Akte, falls es dich interessiert.“ „Sicher.“ Bertrams verlies kurz das Büro, kehrte aber bereits nach wenigen Sekunden zurück. Er war ein sehr gut organisierter, ordentlicher Mensch, und hatte in seinem Büro, dass direkt an das Wallners grenzte, seinen aufgeräumten Schreibtisch geöffnet und mit einem sicheren Griff in die mittlere Schublade eine dünne Aktenmappe entnommen. Er schlug sie auf. „Richard Templeton, genannt Rick, geboren in Coventry, Groß-Britannien am 26. April 1969. Mit seinen Eltern 1970 nach Mülheim an der Ruhr gezogen, sein Vater David war Soldat, Mutter Helen Hausfrau. Aufgewachsen in Deutschland. Nach Grund- und Realschule hat er noch einige Runden im Gymnasium gedreht, und ein Einser-Abi hingelegt. Hat mit 20 die Deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Danach Ausbildung bei der Polizei, gefolgt von einer ganz normalen Karriere bis hin zum Kriminalkommissar. Ich kenne ihn schon eine ganze Weile, komme auch ganz gut mit ihm klar. Habe ihm auf der Akademie einiges beigebracht. Nach dem Tod seiner Eltern, sie starben im völlig ausgebrannten Auto, hat er sich hierher versetzen lassen. Hat keine Frau, aber das wundert bei dem Job ja nicht. Das ist alles.“ „Hm, armer Junge. Egal, wie alt man ist, der Verlust der Eltern ist immer schmerzlich. Wie ist es zu diesem Unfall gekommen? Wissen wir da was darüber? Ich frage aus reiner Neugier.“, gab Bertrams zu. „Ja, es stand in der WAZ19. Ein anderer Fahrer hat wohl beim Überholen auf einer Landstraße nicht auf den Gegenverkehr geachtet. Um nicht einen Frontalzusammenstoß zu verursachen, wichen die Templetons aus, und prallten an einen Baum am Straßenrand. Hatten keine Chance, waren wahrscheinlich sofort tot. Der Wagen ist aber völlig ausgebrannt, so dass die genaue Todesursache nicht zu ermitteln gewesen sein dürfte.“ „Tragisch. Nun gut, wir sollten uns wieder unserem Job widmen. Ich werde mal im Yard anrufen, und unsere bisherigen Erkenntnisse meinem Freund dort schildern. Vielleicht kann dieser Driscoll ja tatsächlich etwas Licht in die Sache bringen helfen. Ich setze Templeton sofort auf diese „Da Como“- Sache an, vielleicht gibt’s da ja was Interessantes.“, sagte 19 Westdeutsche Allgemeine Zeitung ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman Bertrams. € 32 „Nein, Herr Bertrams, es tut mir leid. Mister Driscoll ist nicht im Yard zu erreichen. Er hat sich ein paar Tage frei genommen, sein letzter Fall hat ihn wohl etwas zu schaffen gemacht. Ich weiß nicht, ob er da gerne gestört werden möchte, er nimmt sich ja nur alle Jubeljahre mal einen Tag Auszeit, müssen sie wissen. Aber warten Sie, soweit ich weiß, begleitet er einen Bekannten auf einer Auslandsreise. Ich könnte ja ausnahmsweise mal nachsehen, da es sich um einen polizeilichen Fall handelt,…warten sie doch bitte mal kurz, ja?“, bat die Dame am Telefon. „Gerne.“, entgegnete Bertrams. Drei Mal hatte er die Nummer des Yard gewählt, ehe er endlich jemanden am Telefon hatte, der ihn mit der Abteilung verbinden konnte, in der James Driscoll arbeitete. Es musste eine sehr kleine Abteilung sein, aber das wunderte ihn nicht. Hier in Deutschland würde es eine Abteilung, die sich mit Übernatürlichem und Unerklärlichem beschäftigt, gar nicht erst geben. Das entsprach so gar nicht der deutschen Mentalität. Es gab ja für alles eine natürliche Erklärung. Aber er, Hans Bertrams, hatte eben auch schon andere Erfahrungen gemacht. Er erinnerte sich noch an die Ereignisse anlässlich der Hochzeit seines ehemaligen Kollegen Willi Melchner. Na ja, er war nicht direkt dabei gewesen, so gut kannte er Willi nicht, aber es hielt sich nach wie vor hartnäckig das Gerücht, dass ein Untoter am Tod der Braut beteiligt war. Er war damals als Beamter an den Tatort gerufen worden, als alles bereits geschehen war. Driscoll war damals auch dabei gewesen. Dort hatte er ihn kennen gelernt. Ein sehr charismatischer Cop, dachte Bertrams. Die Stimme am Telefon meldete sich wieder zu Wort: „Herr Bertrams, sind sie noch dran? Gut. Ich habe mal nachgesehen. James Driscoll müsste im Moment tatsächlich in Deutschland sein. In Frankfurt, um genau zu sein. Was für ein Zufall, nicht wahr? Er hat uns eine Telefonnummer hinterlassen, falls wir ihn in dringenden Fällen erreichen müssen. Haben sie etwas zum Schreiben zur Hand?“, fragte die Sekretärin des Yard. „Ja, schießen sie los!“, antwortete Bertrams. „Also, die Nummer gehört der Sekretärin von einem gewissen Professor Komorra, einem bekannten Parapsychologen aus Frankreich. Er ist mit Mister Driscoll befreundet, und befindet sich auf einer Reise durch Deutschland, wo er einige Vorträge abhält. Die Sekretärin heißt Chevalier, Nicole Chevalier. Die Nummer lautet…“ Bertrams notierte sich Namen und Nummer der Sekretärin. Komorra, nie gehört. Ein ungewöhnlicher Name, selbst für einen Franzosen. Na ja, kann nichts schaden, es einmal zu versuchen., dachte Hans Bertrams. „Vielen Dank, Miss…?“ „Simpson, Herr Bertrams, ich nannte ihnen meinen Namen bereits am Beginn unseres Gesprächs!“, zickte die junge Engländerin ins Telefon. Verdammt, ich werde alt und vergesslich!, schimpfte sich Bertrams in Gedanken, und sagte dann laut in den Hörer „Tut, mir leid, Miss Simpson, und vielen Dank für die Information.“ Er legte auf. € „Templeton, sie fahren noch mal nach Jülich. Sie erhalten dort Verstärkung durch einen Kollegen aus England. Es müsste sie doch freuen, mal einen Landsmann als Kollegen zu haben. Driscoll ist sein Name. Ich habe ihm unsere Erkenntnisse mitgeteilt, und er hat es sich nicht nehmen lassen, uns zu unterstützen. Eigentlich wollte ich ja nur, dass er ihnen einige ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 33 Tipps am Telefon gibt, aber als er die Unterlagen und Aufnahmen gesehen hatte, ich hatte sie per Email übermittelt, bestand er auf seiner Teilnahme an den Ermittlungen. Es macht ihnen doch sicher nichts aus, oder, Templeton?“, sagte Hans Bertrams am Telefon zu mir. Er war mein Chef bei der Aachener Kriminalpolizei. Ich war zwar erst seit ein paar Wochen in Aachen, aber Hans kannte ich bereits viel länger. Er war während meiner Ausbildung öfters an der Polizeiakademie als Dozent tätig gewesen, und damals habe ich ihn als gewissenhaften und vorbildlichen Polizisten kennen gelernt. Ich würde ihn nicht direkt als einen guten Freund bezeichnen, aber in dienstlicher Hinsicht war er doch so etwas wie ein väterliches Vorbild für mich geworden. Als dann David und Helen, meine Eltern, bei einem Unfall mit ihrem Wagen vor einigen Wochen starben, habe ich mich an ihn erinnert, und nach einigen Telefonaten herausgefunden, dass er die Kripo in Aachen leitete. Da ich auch räumlich Abstand von meiner bisherigen Heimatstadt Mülheim gewinnen wollte, dort erinnerte mich alles an meine Eltern, habe ich meine Versetzung nach Aachen beantragt. Man hatte sie mir zugestanden. „Chef, bei allem Respekt; ich glaube nicht, dass ich in Jülich Verstärkung brauche. Ich komme schon mit dem Fall klar. Ich muss nur herausfinden, wie der oder die Täter es geschafft haben, das Tier unbemerkt in das Museum, und hinterher wieder heraus bekommen haben, und um welche Art Tier es sich handelte. Wenn es sich nicht um eine vorgetäuschte Attacke handelte. Es könnten ja schließlich auch ein oder mehrere menschliche Täter gewesen sein, mit einer nur als pervers zu bezeichnenden Neigung, was die Wahl der Tatwaffe angeht. Und außerdem ist dieser Driscoll kein Landsmann, wenn er Brite ist. Wie sie wissen, bin ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr deutscher Staatsbürger. Das sind immerhin 14 Jahre, Herr Bertrams.“ Ich war tatsächlich etwas gereizt. Es tat mir sofort leid, denn das hatte mein Vorgesetzter nicht verdient. „Wie dem auch sei, Rick, sie werden sich mit Driscoll noch einmal in Jülich umsehen. Vielleicht finden sie ja etwas heraus. Und versuchen sie diesen „Da Como“ zu finden, oder wenigstens herauszubekommen, um wen oder was es sich handelt. Mehr Informationen haben wir zu der Person noch nicht, aber das ist ja jetzt ihr Job. Sie melden sich, wenn sie etwas wissen. Bis dann, Rick, und toi, toi, toi für ihren ersten Fall.“ Mit diesen Worten legte er auf, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich fuhr nach Hause, aß noch etwas, und machte mich dann mit meinem Ford Mondeo auf den Weg nach Jülich. Zum gleichen Zeitpunkt verabschiedete sich in Frankfurt am Main ein englischer Polizeibeamter des Scotland Yard von seinem Freund Komorra, um einem deutschen Polizisten britischer Abstammung bei den Ermittlungen an einem mysteriösen Todesfall in einem Museum zu helfen. Nicole Chevalier war zuvor von einem deutschen Polizisten Namens Bertrams kontaktiert worden, der ihr per Email kurz darauf einige Bilder, sowie Tonund Sounddateien gemailt hatte. Als James und sein Freund Komorra das Material sichteten, verfinsterte sich der Blick Komorras. Er sah seinen Freund vom Yard besorgt an, und sagte: „James, du solltest sofort dorthin fahren. Ich kann dir jetzt nicht sagen, wieso, aber ich spüre es deutlich. Hinter diesem Fall steckt eine viel größere Sache als nur ein toter Archivar. Da geht etwas vor. Etwas, dass auf jeden Fall verdammt böse ist. Sicher ist nur, dass dieser Templeton mit dem, was ihn erwartet, völlig überfordert sein wird. Ich kann hier jetzt nicht weg, aber du solltest ihm zur Seite stehen. Wenn einer Licht in diese Sache bringen kann, dann du, James!“ „Ich fürchte, da hast du Recht, Professor. Wenn ich Verstärkung brauche, rufe ich euch an. Also, bis bald. Auf Wiedersehen, Nicole.“, verabschiedete sich James Driscoll. „Machs gut!“, sagte Nicole Chevalier, die nicht nur Komorras Sekretärin, sondern auch seine ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman Geliebte und Kampfgefährtin gegen die Mächte der Finsternis war. Komorra winkte nur kurz, und widmete sich sogleich wieder der Vorbereitung seines Vortrags, den er am Abend halten wollte. James stieg in seinen Bentley, und machte sich auf die weite Fahrt nach Jülich. Er hatte gute 240 Kilometer Autobahn vor sich, als er in Frankfurt am Opelrondell auf die A648 auffuhr… 34 Mittwoch, 17. April 1546, Jülicher Land Nahezu zwei Monate hatte sich Catharina Elisabeth Schuif, die Hexe, nun bereits versteckt und sich nur im Schutze der Dunkelheit aus ihrem Versteck heraus getraut. Sie hatte sich im Wald in der Nähe des kleinen Ortes Müntz, gute sechs Kilometer entfernt von Jülich, eine einfache Behausung hergerichtet. Bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, nach Aachen zu ziehen, wollte sie sich noch ein gewisses Startkapital zulegen, um sich das Leben in der Kaiserstadt Karls des Großen20 auch leisten zu können. Und außerdem hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass ihr noch eine Aufgabe in Jülich bevorstand, die sie noch auszuführen hatte. Das war aber mehr eine Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl eben. Außerdem hatte sie sich noch nicht getraut, die Propsteikirche in Jülich wieder zu besuchen, und sie wollte die Kirche, die ihr so gut gefiel, noch mindestens einmal betreten. Seit dem Tod des armen Jacop plagten sie Schuldgefühle, und sie würde sich gerne mit etwas Weihwasser die Schuld vom Leib waschen. Denn obwohl sie eine Hexe war, hatte sie keinerlei Probleme im Umgang mit christlichen Symbolen oder Ritualen. Zu Anfang hatte sie das sehr verwundert, denn sie hatte gedacht, wenn sie sich mit Hexenpraktiken befasste, würde sie zumindest allergisch auf Weihwasser oder das Kreuz reagieren, aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr wurde ihr mit der Zeit klar, dass sie nicht nur zur bösen, dunklen Seite gehörte, sondern dass sie auf beiden Seiten des Glaubens wandelte. Sie glaubte nach wie vor an Gott, und sie betete auch zu ihm. Gleichzeitig glaubte sie aber auch an Satan, den obersten Fürsten der Höllenschlünde. Für sie war es nur eine logische Schlussfolgerung, dass man nicht an das Gute glauben konnte, ohne auch an das Böse zu glauben. Und außerdem praktizierte sie ihre Rituale und Beschwörungen nicht, um Menschen zu schaden. Bis auf die Sache mit Jacop, und das tat ihr wirklich leid. Am liebsten wäre sie zur Beichte gegangen, aber selbst in der Kirche von Müntz konnte sie sich nicht blicken lassen, und sie hatte sich bislang noch nicht in einer Verkleidung an die Öffentlichkeit gewagt. Dies sollte sich nun ändern. Denn Catharina brauchte dringend einige Kreuzer, um sich die Reise nach Aachen, und eine Unterkunft in den ersten Tagen dort leisten zu können, bis sie als heilkundige Frau irgendwo eine Anstellung finden würde. Gestern hatte sie durch Zufall eine Gruppe von Holzfuhrleuten entdeckt, die ganz in der Nähe auf einer Waldlichtung ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der Geruch gebratenen Wildes, und die Schwaden verführerischen Dufts einer deftigen Gemüsesuppe zogen durch den Wald, und erreichten bald auch die feine Nase der jungen Frau. Hunger fraß sich wie Feuer durch ihre Eingeweide, denn sie hatte in den Letzten Wochen nur von dem gelebt, was sie nachts aus den Gärten der umliegenden Gehöfte stehlen konnte. Und das war nicht viel. Da es erst April war, gab die Natur ihr noch keine Nahrung her. Und auf den Beeten der Bauern war auch noch nicht viel zu finden. Ihre Rettung war eine Entdeckung, die sie ganz durch Zufall machte. 20 Karl der Große, 768-814 n.Chr., Kaiser aus dem Geschlecht der Karolinger ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 35 Im Garten der Kirche von Müntz hatten nämlich die Frauen des Dorfes eine hübsche Pflanze gesät, die erst wenige Jahre zuvor von spanischen Seefahrern aus Amerika eingeführt wurde. In dem vor wenigen Jahrzehnten entdeckten Kontinent hatten die Eingeboren, primitive Wilde, wie man hörte, diese Pflanze angebaut. Der Pfarrer der Gemeinde, ein gelehrter Mann, der im fernen Sevilla geboren war, brachte die seltsamen, gold-gelben Knollen aus seiner Heimat mit, und hatte sie den Frauen zum Pflanzen geschenkt. Man konnte mit ihnen nicht viel anfangen, aber sie trugen wunderschöne Blüten, so dass sie von den Frauen zur Verschönerung des Kirchengärtchens neben dem Totenacker angepflanzt wurden. Der lateinische Name der Pflanze war Solanum Tuberosum21, aber der Padre nannte sie nur bei ihrem in Sevilla üblichen Namen „Papa“. Es hieß, dass die Pflanze essbare Früchte trüge. Aber als eine der Frauen im vergangenen Sommer eine der grünen Früchte dieser seltsamen Pflanze aß, bekam sie fürchterliche Bauchschmerzen, und war im Anschluss daran fast drei Tage krank. Vor zweieinhalb Wochen aber, als Catharina aus einem Beet in der Nähe einige Zwiebeln gestohlen hatte, die gerade frischen Lauch trieben, machte sie ihre Entdeckung. Der Küster der Dorfkirche hatte einige Sträucher zurückgeschnitten, und das heruntergefallene Laub des letzten Jahres zusammen mit den geschnittenen Ästen und Zweigen verbrannt. Neben dem Feuer aber war ein kleiner Haufen der Wurzelknollen des Solanum Tuberosum aufgeschichtet. Die Frauen wussten, dass aus diesen Samenknollen, die die Spanier „Papa“ nannten, die neue Blume erwuchs. Sie hatten sie dort aufgeschichtet, um sie am nächsten Tag zu pflanzen. Einige der Knollen waren von dem Haufen in die noch heiße Glut des erloschenen Feuers gerollt, und verbreiteten nun einen verführerischen Duft, den Catharina noch nie zuvor gerochen hatte. Als er ihr zum ersten Mal in die Nase stieg, lief ihr sogleich das Wasser im Munde zusammen, und ihr wurde schlagartig klar, dass nicht die giftigen, grünen Früchte, sondern die unterirdisch wachsenden Wurzelverdickungen die essbaren Teile der Pflanze waren! Heißhungrig hatte sie in dieser Nacht die Knollen verschlungen, und fühlte sich danach zum ersten Mal seit Wochen richtig satt. In den darauf folgenden Nächten genehmigte sie sich immer wieder mal einige der köstlichen Knollen. Sie hatte sie auch mal roh probiert, aber das war nichts im Gegensatz zu einer gegarten „Papa“. So überstand sie die Zeit bis zum heutigen Tage. Nun aber wehte der Wind ihr die Düfte der Speisen in die Nase, die die Holzfuhrleute auf ihrem Feuer hatten. Und die Fuhrleute kamen nicht aus der Gegend, sondern waren nur auf der Durchreise. Dies bedeutete, dass sie Catharina nicht kannten. Selbst wenn die Männer in der Stadt von der Hexe gehört haben sollten, da sie sie noch nie gesehen hatten, würden sie sicher keinen Verdacht schöpfen. Catharina putzte sich so gut es ging heraus, brachte ihre körperlichen Reize zur Geltung, und ging zu den Männern, die sich zu Rast niedergelassen hatten. Sie wollten im Nahen Wald einige Eichen schlagen, um sie dann auf ihre Wagen zu laden. Das Holz wollten sie dann in den umliegenden Orten an die Zimmerleute verkaufen. Catharina wollte so verführerisch wie möglich erscheinen, und so träufelte sie sich ein wenig Rosenöl auf, und flüsterte leise eine Beschwörungsformel. „Pectus divina pendere!“, woraufhin ihr Busen genau das auch tat, denn er erhob sich, nein er schwebte ein wenig höher, was ihr wahrlich das Aussehen einer Liebesgöttin verlieh. Ihre ohnehin schon offensichtliche Schönheit machte sie in Verbindung mit dem kleinen „Push-up“-Zauber nur noch unwiderstehlicher. Sicher würde sie bei den Männern leichtes Spiel haben… „Na, was sehen meine wunden Augen?“, scherzte Wilhelm, der Anführer der Holzfuhrleute. 21 Solanum Tuberosum = Kartoffel, Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt, erst verbreitet angebaut als Nutzpflanze ab ca.1600 n.Chr. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 36 „Wenn das mal nicht das schönste Kind ist, dass mir in den letzten zwei Jahren begegnet ist! Komm her, und leiste uns ein wenig Gesellschaft!“ Er hatte ein eindeutig zweideutiges Gesicht aufgesetzt, während er das sagte. Die anderen Männer, es waren drei an der Zahl, starrten Catharina an, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Man hätte meinen können, ihnen würden die Augen aus dem Kopf quellen, so gebannt starrten sie auf ihren neckisch auf und ab wippenden Busen, während sie unschuldig lächelnd auf die vier Männer zuging. „Ihr lieben Fuhrleute, zeigt ein wenig Mitleid mit einer armen Magd, und gebt ihr ein wenig zu Essen und zu Trinken. Ihr habt doch mehr, als ihr allein verzehren könnt. Vielleicht habt ihr ja auch noch ein, zwei Kreuzer übrig für mich, damit ich mir ein paar warme Unterkleider kaufen kann?“, säuselte Catharina zuckersüß. Und wie um zu beweisen, dass sie sich keine Unterwäsche leisten konnte, bückte sie sich verführerisch lächelnd wie zufällig ein wenig nach vorne, was den begeisterten Männern einen flüchtigen Blick auf ihre perfekten Brüste freigab, die förmlich aus ihrem Kleid zu quellen schienen. „Na…natürlich, schöne Magd!“, brachte Wilhelm krächzend hervor, der als Erster seine Stimme wieder gefunden hatte. Er spürte deutlich, dass er sehr damit einverstanden war, wenn die schöne junge Frau ein wenig bei ihnen blieb, um mit ihnen zu essen. Den Anblick all dieser jugendlichen Pracht würde er sich sicher auch ein paar Kreuzer kosten lassen. Seine Alte daheim konnte ihm jedenfalls solche Freuden nicht mehr schenken, jedenfalls hatte er schon lange nichts mehr zwischen seinen Schenkeln verspürt, wenn er seine dicke Klara nackt aus dem Zuber hatte steigen sehen. Und der Druck, der sich nun in seiner Hose bemerkbar machte, sprach eine deutliche Sprache, die für alle Anwesenden zu erkennen war. Wilhelm schoss das Blut in den Kopf, denn es war ihm etwas peinlich, seine Erregung so offen zeigen zu müssen. Catharina fiel es zwar sofort auf, aber sie tat so, als habe sie nichts gesehen. Sie setze sich zu den Männern, aß und kokettierte mit ihnen, und als sie satt war, erbettelte sie sich mit aufreizenden Augenaufschlägen ein paar Kreuzer, und ging wieder. Zuvor aber hatte sie den Männern noch den einen oder anderen Blick auf ihre weiblichen Reize gegönnt. Dies tat sie natürlich nicht ohne Eigennutz, denn sie hatte fest vor, den Männern auch am nächsten Tag einen Besuch abzustatten. Sie hatte beim Essen von Ihnen erfahren, dass sie die nächsten drei, vier Tage damit zubringen würden, die Bäume zu schlagen und vom Geäst zu befreien, die sie dann auf ihre Fuhrwerke laden wollten, um sie zu verkaufen. Als sie ging, freute sich Catharina schon auf das Wildbret des nächsten Tages, und wackelte noch ein wenig mehr mit ihrem Hinterteil, damit die Männer, deren Blicke sie auf sich geheftet geradezu spüren konnte, sich auch besonders auf ihren morgigen Besuch freuten. Sie lächelte zufrieden. Männer!, dachte sie schmunzelnd. An den nächsten beiden Tagen besuchte Catharina die Fuhrleute zweimal am Tage, wobei sie jeweils wieder ganz auf ihre weiblichen Reize setzte. Allerdings bemerkten die Männer, die langsam aber sicher auch eine Gegenleistung für ihre Großzügigkeit erwarteten, dass sie außer ein paar flüchtigen Blicken auf die jugendliche Pracht der vermeintlichen Magd nichts zu erwarten hatten. Das machte sie ein wenig ärgerlich, und so beschlossen sie, der Frau nichts mehr zu geben, wenn sie sich nicht bereit erklären sollte, ihnen als Gegenleistung einen kleinen „Liebesdienst“ zu erweisen. „Nein, Weib, es tut uns leid, aber Du kannst nicht mehr mit uns essen. Und wir haben unser schwer verdientes Geld auch nicht zu verschenken. Du wirst es dir schon verdienen müssen, wenn du weiter von uns profitieren willst. Was meint ihr, Männer?“, gab sich Wilhelm mal ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 37 wieder als Sprecher der Gruppe zu erkennen. Die Männer lachten schmutzig, so das Catharina sofort klar war, was mit „verdienen“ gemeint war. Dennoch tat sie unschuldig, und säuselte: „Herr Wilhelm, gerne will ich mir euer gutes Essen verdienen. Ich kann doch euer Lager sauber halten, die Wäsche für euch waschen oder das Essen für Euch zubereiten, was denkt ihr darüber? Wäre das in eurem Sinne?“ Wilhelm grunzte verächtlich, und wurde daraufhin sehr viel deutlicher. „Weib, tu nicht so dumm. Du kannst uns nicht tagelang mit deinen Reizen anstacheln, und dann mit den Diensten einer Hausmagd abspeisen wollen. Du wirst dir von nun an jeden Bissen auf deinen Knien oder allen vieren verdienen, denn wir sind weit weg von unseren Weibern. Und nachdem wir in den letzten Tagen deine Bedürfnisse befriedigt haben, wirst du von nun an unsere befriedigen! Also, wie entscheidest Du dich?“, endete Wilhelm grinsend. Er war sich sicher, die junge Frau würde sogleich ihr Kleid zu Boden sinken lassen, denn er war davon überzeugt, dass sie auf das Essen und Geld angewiesen war. Außerdem gab sie sich ja auch sonst sehr freizügig. So hatte er ganz deutlich gesehen, dass sie nichts unter dem Rock ihres Kleides trug, als sie sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, und ihre Beine umständlich übereinander schlug. Wieder spürte er den Stoff seiner Hose, die sich über seiner anschwellenden Männlichkeit spannte. Voll sexueller Gier starrte er Catharina triumphierend an. Jedoch, er sollte enttäuscht werden. „Was fällt euch ein, unverschämtes Mannsbild!“, empörte sich die junge Hexe. „Ich bin eine ehrenhafte junge Dame, und habe trotz meiner Armut eine gute Erziehung genossen. Eine Eigenschaft, die euch offensichtlich abgängig ist. Ihr solltet euch schämen, so mit einer Frau zu sprechen. Auf gar keinen Fall werde ich euch auf diese Art zu Diensten sein! Von euren Eheweibern mögt ihr das verlangen können, von mir jedoch nicht! Und nun lebt wohl!“ Catharina war tatsächlich ein wenig empört über die Dreistigkeit der vier Männer. Das schiere Entsetzen allerdings, das sie zur Schau stellte, war nur gespielt. Schließlich war es ihr vollkommen bewusst, dass die Männer auf ein amouröses Abenteuer mit ihr aus waren. Nach ihren eindeutigen Avancen wäre es auch ein Wunder gewesen, wenn die Männer sich ihr nicht zu nähern versucht hätten. Die Tatsache aber, wie plump und phantasielos sie es einforderten, verärgerte sie tatsächlich. Wäre der Wilhelm, ein grober, aber nicht hässlicher Kerl von einem Mann, nur ein wenig erfinderischer und romantischer gewesen… aber so auf keinen Fall! Das war es dann wohl mit Wildbret und Bier fürs Erste, dachte Catharina etwas traurig. Zurück zu den Knollen für die nächsten Tage also. Sie drehte sich um und wollte gerade die Lichtung in Richtung ihres Versteckes verlassen, als sie eine große Männerhand grob an ihrem Oberarm zerren spürte. „Nicht so hastig, Magd! Du hast dein Essen nicht bezahlt!“ Es war Wilhelm. Er hatte sich anscheinend dazu entschieden, sich die Bezahlung, von der er meinte, sie stünde ihm zu, mit Gewalt zu nehmen. Er packte sie fest an den Oberarmen, drehte sie unsanft zu sich um, und versuchte sie auf den Mund zu küssen. Catharina drehte ihren Kopf zur Seite, und versuchte, sich seinem festen Griff zu entwinden. Er war zu stark. Sie schaffte es lediglich, ihm den Rücken zuzuwenden. „Halt schon still, Wildkatze!“, blaffte Wilhelm, „Dann ergeht es dir besser. Du kannst ja gleich wieder gehen.“ Er machte eine kurze Pause. Seine Kameraden sahen ihn fragend an. „Nachdem du uns bedient hast. Einen nach dem Anderen!“, fügte er in einem kalten, bedrohlichen Tonfall hinzu. Und dann begann er zu lachen. Seine Kameraden, die noch vor Sekunden fragend dreinschauten, brachen in ein triumphierendes Gelächter aus. Einer von ihnen knöpfte sich bereits das Wams auf, und kam auf Wilhelm und Catharina zu, die noch immer vergeblich versuchte, sich seinem Griff zu entziehen. Wilhelm lockerte seinen Griff an ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 38 ihrem rechten Arm, und ließ los. In Catharina keimte für den Bruchteil einer Sekunde die leise Hoffnung auf, Wilhelm wolle sie nur einschüchtern, und ließe sie jetzt mit einem Schrecken davonkommen. Und dann war der Sekundenbruchteil vorbei. Wilhelm griff mit seiner Pranke in das Dekolleté der jungen Frau, und riss ihr mit einem gewaltigen Ruck das Kleid vom Leib! Mit einem entsetzlich reißenden Geräusch wurde ihr Kleid regelrecht entzwei gerissen, und Catharina stand splitternackt vor den Männern! Vor Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so erniedrigt gefühlt! Sie hatte bewusst auf die Unterwäsche verzichtet, weil sie die Männer ja anheizen wollte, um sich noch eine Mahlzeit und etwas Geld zu ergaunern. Sie hatte aber nie damit gerechnet, dass die Männer so mit ihr umgehen würden, so unmenschlich und enthemmt. Und in diesem Moment keimte in ihr die schreckliche Gewissheit, dass die vier Männer sie vergewaltigen wollten! „Ahh, so lieb ich das!“, stieß Wilhelm kehlig hervor, und Schweiß trat ihm vor Erregung auf die Stirn. Catharina hatte vor lauter Ekel bereits die Augen zugekniffen, versuchte mit aller Kraft, sich aus der unangenehmen Umklammerung zu befreien, als sie Wilhelm grobe Hand an ihrer Brust fühlte, die ganz rau von Hornhaut war. Unsanft begann er ihre Brust zu kneten. Catharina nahm all ihre Kraft zusammen, atmete tief ein, erfüllt von schrecklicher Angst, und ruckte mit aller Kraft herum. Es gelang ihr! Nun stand sie Wilhelm von Gesicht zu Gesicht gegenüber. Nach einem kurzen Augenblick der Verblüffung stieß er hervor: „Was nun, Weib? Willst du jetzt Vernunft annehmen und mir geben, was mein ist, oder muss ich es mir mit Gewalt holen? Häh? Wärst nicht die Erste, verdammte Hure!“ Sein Gesicht war dunkelrot von Anstrengung und Erregung. „Aber für dich die letzte!“, stieß Catharina atemlos hervor, und rammte Wilhelm mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft ihr Knie in die Hoden! Wilhelm hielt die Luft an, er begann regelrecht zu schielen, entließ die junge Frau aus seiner Umklammerung, und brach in die Knie. Ihm fehlte sogar die Atemluft für einen Schmerzensschrei, so gut hatte die Frau ihn getroffen. Diese Wendung hatte er niemals in Betracht gezogen, aber das war ihm in diesem Moment vollkommen egal, denn seine Welt bestand nur noch aus Schmerz, der ihm Sternchen sprühend vor den Augen tanzte. Die anderen Männer blieben verdutzt stehen, Unfähig, sich zu entscheiden, was sie tun sollten. Sollten sie ihrem Anführer zu Hilfe eilen, oder die nackte Schönheit jagen, die so schnell sie konnte auf den Waldrand zu rannte. Sie konnten es nicht, und blieben zunächst dumm glotzend stehen. Die Blicke immer wieder zwischen Wilhelm und der flüchtenden Nackten hin und her wandernd. Das ging so lange, bis Wilhelm seine Orientierung wieder zurück gewann, „Ihr Idioten! Eilt und holt mir die verdammte Schlampe zurück! Die mache ich kalt! Los doch, ihr Schlappschwänze, worauf wartet ihr denn noch!?“ Er war außer sich vor Wut. Aber die drei anderen rannten nicht hinter der Frau her. Sie war nicht mehr zu sehen. Sobald Catharina die ersten Bäume des Waldes erreicht hatte, hatte sie sich aus ihrer nackten Frauen- in ihre Katzengestalt geflüchtet, und war so schnell sie konnte in ihr Versteck geeilt. Sie war außer sich vor Wut, Entsetzen und Angst. Ihr verdammten Schweine! Na wartet, euch zahle ich es noch heim!, dachte sie ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman wutentbrannt. Dass es ihr nicht gelingen würde, konnte sie ja noch nicht ahnen… € 39 „Heinrich, Martin! Kommt her, verdammt! Helft mir, den Gurt fest zu zurren! Beeilung, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“, kommandierte Wilhelm seine Kameraden herum. Diese beeilten sich, seiner Anweisung nachzukommen, denn seit dem Vorfall mit der jungen Frau war mit ihm nicht mehr gut Kirschen essen. Die Schönheit hatte sich nicht mehr blicken lassen, und die Männer gaben daran Wilhelm die Schuld, der sich wie immer viel zu grob aufgeführt hatte. Aber das würden sie ihm nicht sagen, das wagten sie nicht. Sie wussten nur zu gut, dass es schmerzhaft sein konnte, ihren Anführer zu kritisieren, und auf das Thema war er momentan mehr als allergisch. Friedrich, der vierte der Männer, saß bereits auf dem Bock des Wagens, um die Pferde anzutreiben, sobald der Gurt befestigt war. Sie hatten es eilig, wieder weiter zu kommen. Dann würde sich Wilhelms Laune vielleicht wieder bessern. Er würde sich im nächsten Ort an einer Dirne abreagieren, das stand für die Männer fest. So gut kannten sie ihren Wilhelm. Und genau deshalb tat ihnen die Dirne bereits jetzt leid. „So ist’s gut, Männer, es kann losgehen! Auf geht’s! Hoooh!“, rief Wilhelm, und gab dem Pferd einen Klaps auf das Hinterteil. Friedrich ruckte an den Zügeln, auch er rief ein „Hoooh!“, auf das die Tiere sogleich reagierten, und sich in die Riemen legten. Nichts. Nicht einen Meter bewegte sich der Wagen vorwärts. Die Pferde schnauften, stemmten sich kraftvoll gegen die Last, aber sie schafften es nicht, den Wagen auch nur ein wenig zu bewegen. „Was soll das denn jetzt?“, fragte Wilhelm. „Keinen Schimmer. Zu schwer kann die Kutsche nicht sein, wir hatten schon mehr geladen, und da ging’s doch auch. Keine Ahnung, was los ist. Vielleicht sind die Tiere zu schwach?“, schlug Martin vor. „Unfug!“, entrüstete sich Friedrich, der in der Gruppe die Verantwortung für die Pferde trug. „Die sind stark und ausgeruht, und ordentlich gefressen haben sie heute Morgen auch!“ „Ja, aber wohl zu viel, was? Und jetzt können sie nicht mehr, weil ihre Mägen prall sind vom Fressen und Saufen! Sieh bloß zu, dass du die Schindmähren wieder auf Touren bringst, oder ich schwöre dir, der Abdecker wird eine Verabredung mit ihnen haben!“, polterte Wilhelm. Seit dieses verfluchte Miststück mich getreten hat, klappt aber auch nichts mehr!, dachte er erbost. Man könnte meinen, sie habe uns verflucht., fügte er noch in Gedanken hinzu. Er ahnte nicht, dass er der Wahrheit damit bereits ganz nahe gekommen war. „Wenn ich es dir doch sage, Wilhelm, die Pferde sind vollkommen in Ordnung. Es kann nicht an den Tieren liegen. Da gebe ich dir Brief und Siegel drauf.“ „Und woran bitte soll es dann sonst liegen? Die Räder des Wagens sind rund, also können sie uns nicht im Wege sein. Der Bremshebel ist gelöst, und kann die Räder nicht blockieren. Steine oder ein sonstiges Hindernis kann ich hier auch nicht entdecken. Also müssen es eben doch die Tiere sein. Friedrich, gib ihnen mal ordentlich die Peitsche zu schmecken, dann werden sie sich sicher genügend anstrengen, um den Wagen zu bewegen!“ Wilhelm war wieder mal zu Höchstform aufgelaufen. Wenn es jetzt nicht sehr bald eine Lösung für das Problem gab, konnte niemand dafür garantieren, dass die armen Pferde, die für die ganze Sache ja nun wirklich nicht die Verantwortung trugen, diese Fahrt überlebten. Wenn Wilhelm einmal einen richtigen Wutausbruch bekam, dann verlor er vollends die Kontrolle über sich. Er hatte einmal eine Dirne in einer Schenke derartig zugerichtet, dass der ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 40 Wirt die Wachen des Herzogs rufen lassen wollte. Am nächsten Tag war die Dirne verschwunden, und der Wirt hatte die Wachen nicht benachrichtigt. Niemand wusste, wie Wilhelm es geschafft, die Sache zu bereinigen, aber entweder hatte er dem Wirt soviel bezahlt, dass sein Schweigen ihm mehr einbrachte als die Dirne, oder er hatte den Wirt derartig eingeschüchtert, dass er den Mund vor lauter Angst hielt. Beides konnten sich die Männer, die mit Wilhelm nun schon seit Jahren auf den Holzfuhrwerken arbeiten, lebhaft vorstellen. Ihm war wirklich alles zuzutrauen. „Wage es nicht, meinen Pferden etwas anzutun. Du wirst sie noch ruinieren mit deiner groben Art!“, beschwerte sich Friedrich, „Ich werde mal nachsehen, was da los ist mit dem Wagen. Da muss man nur mal vernünftig nachschauen, dann findet man auch das Problem, ihr werdet es sehen!“ Er sprang vom Wagen, und begann den Wagen langsam zu umrunden, während er jeden Zentimeter haargenau unter die Lupe nahm. „Pah!“, entfuhr es Wilhelm. „Pferde muss man nicht besser behandeln wie die Weiber. Wenn die nicht spuren, bewirkt ein gezielter Klaps auf die richtige Stelle manchmal Wunder!“ „Ja, genau. So wie damals die Dirne in Düren, meinst du wohl?“ warf Martin ironisch ein. Doch damit hatte er zu viel gewagt. „Was fällt dir ein? Dämlicher Kerl! Na warte, dir werd ich die Hammelbeine lang ziehen!“. Wutentbrannt stürmte Wilhelm auf den armen Martin ein, der der Gewalttätigkeit des Anführers nichts entgegenzusetzen hatte. Aber das Schicksal musste es an diesem Tag gut mit ihm gemeint haben, denn er musste nur zwei der fürchterlichen Fausthiebe einstecken, die Wilhelm ihm zugedacht hatte. Er verlor zwei Schneidezähne und brach sich die Nase, aber das war nichts gegen das, was ihn erwartet hätte, wenn nicht… „He, Wilhelm! Lass Martin in Frieden und komm sofort mal her! Du wirst es nicht glauben! Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würde es selbst nicht glauben! Hey, nun lass endlich von ihm ab, ja? Hier ist die Ursache für unser Problem, und du verprügelst unsere Helfer! Komm jetzt endlich her! Hier geht was nicht mit rechten Dingen zu, sage ich dir“ Friedrich klang wirklich überzeugend, und so ließ Wilhelm tatsächlich widerwillig von Martin ab, der sich vor Schmerzen gekrümmt auf den Boden wälzte. „Was gibt es denn so Unheimliches zu sehen, dass du wie ein Weib zitternd dastehst. Du wirst mir noch verweichli…“ Er verstummte auf der Stelle, als er sah, worauf Friedrich deutete. Das konnte doch nicht möglich sein! Hier ging es wirklich nicht mit rechten Dingen zu, Friedrich hatte tatsächlich Recht!“ „Was zum Teufel?“, fand er schließlich, nach einer kurzen Schrecksekunde die Sprache wieder. „Hat einer von euch das da angebracht?“ Wilhelm nahm Friedrichs Entdeckung genauer unter die Lupe. Am rechten Hinterrad der Kutsche war manipuliert worden. Auf den ersten Blick fiel es einem gar nicht wirklich auf, aber wenn man genau hinsah, war es mehr als deutlich. Daher hatten sie den Unterschied auch nicht sofort bemerkt, sondern erst jetzt, da sie gezielt danach gesucht hatten. Das Rad hatte eine Speiche zu viel! Zwischen zwei vollkommen normalen Speichen, die in der Radnabe verankert waren, entsprang eine etwas dünnere, wie natürlich gewachsene Speiche. Es war allerdings nichts an dieser Speiche auszumachen, was das Rad hätte blockieren können. Aber es war definitiv das Einzige, das nicht normal an der Kutsche war, und an irgendwas musste es ja liegen, dass der Wagen nicht mehr zu bewegen war. „Wisst ihr, was ich glaube?“, warf Wilhelm in die Runde der erstaunt auf die überschüssige Speiche starrenden Männer. „Das verdammte Weibsbild hat das da irgendwie angebracht. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 41 Die will sich an mir rächen, weil ich ihr ein wenig auf die Pelle gerückt bin.“ „Ein wenig ist gut, Willi, du hast ihr die Kleider vom Leib gerissen, und wolltest sie schänden, erinnerst du dich?“ „Papperlapapp! Was auch immer, nun macht euch mal nicht in die Hosen! Was, wenn das Weib am Ende eine Hexe war? In Jülich haben sie doch von so einem Weib geredet. Vielleicht war sie das ja. Mir kommt es jetzt im Nachhinein jedenfalls etwas seltsam vor, dass sich ein einsames Weib, noch dazu so ein Prachtexemplar, alleine im Wald herumtreibt. Und uns ohne Unterrock schöne Augen macht!“ „Könnte was dran sein.“ Gab Martin kurzatmig seinen Senf dazu. Er hatte sich wieder aufgerappelt, und hielt sich nun mit der rechten Hand einen Lappen vor sein blutiges Gesicht. „Schwachsinn!“ entfuhr es Heinrich, der bisher den Mund gehalten hatte. „Jetzt fangt mir nicht auch noch mit diesem Hexenwahn an. Ihr klingt ja schon fast wie der bescheuerte Küster in Jülich! Der ist mir letzte Tage ganz schön auf die Nerven gegangen, mit seinem Hexengewäsch. Hat mir in der Schenke seine halbe Bibliothek vorgebetet, wenn ihr mich fragt. Mir hat schon fast mein Bier nicht mehr geschmeckt!“ „Aber auch nur fast!“, warf Wilhelm schmunzelnd ein. „Du warst doch sturzbesoffen an dem Abend, wenn ich mich recht entsinne!“ „Na, anders als im Suff war der Kerl ja auch nicht zu ertragen!“, lachte Heinrich. Die anderen Männer fielen in sein Gelächter ein. Wilhelm beruhigte sich als Erster wieder. Er ergriff wie immer die Initiative. „So, Schluss mit lustig. Wir müssen weiter, und unsere Pferde können den Wagen nicht mehr bewegen. Es ist aber alles in Ordnung, sowohl mit den Pferden als auch mit der Kutsche. Das Einzige, was nicht normal ist, ist eine überzählige Speiche am rechten Hinterrad. Stimmt ihr mir soweit zu?“ Die anderen nickten. „Dann seid ihr bestimmt auch der Meinung, dass wir uns schleunigst von der Speiche trennen sollten?“ Wilhelm wartete keine Antwort ab. Er ergriff eine der Holzfälleräxte, die auf dem Wagen lagen, und schlug mit zwei gezielten Hieben die ungerade Speiche aus dem Rad. Es krachte zweimal kurz, und weg war die Speiche. „Habt ihr das gehört?“, sagte Friedrich, und machte einen eingeschüchterten Gesichtsausdruck. „Was denn? Meinst du das Krachen der Speiche, oder was?“, fragten die drei anderen Männer, denen offensichtlich entgangen war, was Friedrich gehört hatte. Er sah besorgt aus, und die sonst so rosige Farbe hatte seine Gesichtszüge verlassen. „Nein, ich meine den Schrei!“, entfuhr es ihm atemlos. „Schrei? Jetzt fängst du langsam wirklich an zu spinnen, Friedrich. Es hat keinen Schrei gegeben, sonst hätten wir ihn doch auch gehört! Vielleicht hast du nur einen Vogel gehört, der sich vor Wilhelms Axthieben erschreckt hat.“, gab Heinrich einen Erklärungsversuch von sich. „Oder du hast einen Vogel, und hörst ihn zwitschern!“, spottete Wilhelm. „Kommt jetzt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Friedrich, hoch auf den Bock mit dir, und gib den Kleppern die Sporen. Ich will sehen, ob wir jetzt von der Stelle kommen!“ Friedrich gehorchte, wie immer. Er stieg auf den Wagen, nahm die Zügel in die Hand, und zog sie leicht an. Sofort setzten sich die Pferde in Bewegung, und die Kutsche bewegte sich! Mit Leichtigkeit zogen die Tiere den schweren Wagen in Richtung Geleitweg. Die Männer vergaßen bald darauf das Vorkommnis mit der Speiche, und abgesehen von ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman Friedrich, der immer wieder an den Schrei denken musste, dachten sie nicht mehr an diesen Tag, nachdem er vergangen war. Er hätte schwören können, aus der Ferne eine Frauenstimme gellend schreien gehört zu haben. Ein Schmerzensschrei, da war er sich sicher. 42 Catharina Elisabeth Schuif, die manche Leute auch „die Hexe aus dem Gelderland“ nannten, versteckte sich in den nächsten Tagen wieder in ihrer Behausung im Wald bei Müntz. Nachts ging sie in den Ort, und suchte dort nach Nahrung. Die Solanumknollen, die sie ausgrub, waren leider nicht mehr genießbar, da sie bereits ausgetrieben hatten, und in der Erde verschrumpelten, je größer die Pflanzen über dem Boden wuchsen. Einem heimlichen Beobachter wäre sicher die Schlinge aufgefallen, in der sie ihren an zwei Stellen gebrochenen rechten Arm trug… Samstag, 6. März 2004, Jülich „So, Herr Driscoll, sie hätten dann Zimmer neun. Ich hoffe, es macht ihnen nichts aus, dass wir mit der Einrichtung noch nicht ganz fertig sind?“, fragte der Betreiber des Hotels. Es war ein junger Mann, schlank, mit kurz geschorenen, dunkelblonden Haaren. Er hatte den Hotelbetrieb erst vor ein paar Tagen übernommen, da der vorherige Besitzer das Hotel abgestoßen hatte, um sich nur noch auf sein Restaurant gegenüber zu konzentrieren. „Nein, überhaupt nichts, danke. Ich werde ja ohnehin nur ein paar Tage in der Stadt sein, und tagsüber sicher nicht oft hier im Hotel. Sie können also getrost renovieren, ohne Angst zu haben, mich zu stören.“, antwortete James. „Gut. Sie müssen wissen, ich habe das Hotel hier erst vor ein paar Tagen übernommen. Ich hatte eigentlich nur das Bistro im Erdgeschoss gepachtet, aber als sich mir diese Gelegenheit bot, habe ich sie beim Schopf gepackt. Es ist eins von nur zwei Hotels hier in der Stadt, da werden sicher ein paar Euro mehr in die Kasse fließen. Auch wenn die Anzahl der Übernachtungen sich in Grenzen hält. Ist eben nur ne Kleinstadt hier.“ „Ja ja, gut. Ich werde dann mal auf mein Zimmer gehen, und meine Tasche auspacken. Mister Templeton, wollen sie mit auf das Zimmer kommen? Driscoll sah mich fragend an. „Äh, nein danke. Ich glaube, ich genehmige mir im Lokal unten einen Kaffee. Ich könnte einen gebrauchen, nach der Fahrt von Aachen bis hierher.“, antwortete ich. Das war nicht gelogen. Ich fühlte mich tatsächlich etwas müde. „Gut dann treffen wir uns in ein paar Minuten dort. Ich könnte ebenfalls eine Tasse Tee vertragen. Bis gleich dann also.“ Driscoll nahm seine Tasche in die rechte Hand, der Hotelier gab ihm den Zimmerschlüssel in die Linke. Der Schlüssel war an einem etwas überdimensionierten Metallanhänger befestigt, in den die Ziffer „9“ eingraviert war. James Driscoll, der Geisterjäger aus London, ging die Treppe hoch, zu seinem Zimmer. Ich wandte mich in Richtung Ausgang, um an der Ecke des Marktplatzes das Bistro namens „Liebevoll“ zu betreten. Hoffentlich bereiten die dort ihren Kaffee auch so zu, wie das Bistro heißt, dachte ich im Stillen. Als Polizist ist man ja so Einiges gewohnt. Auch bei uns in der Aachener Mordkommission gab es den berühmt-berüchtigten „Büro-Kaffee“. Ein Wunder, dass ich noch kein Magengeschwür davongetragen hatte. Keine fünf Minuten später, ich hatte gerade meinen Kaffee bekommen, trat Driscoll an meinen Tisch heran, und setzte sich mir direkt gegenüber. Der Kaffee war tatsächlich durchaus genießbar. Driscoll bestellte sich einen Tee, und wandte sich dann mir zu. „So, sie sind also Rick Templeton. Engländer?“ „War ich mal, ja. Bin aber hier in Deutschland aufgewachsen, und mit 20 „übergelaufen“, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 43 wenn sie so wollen.“ „Hm. Sie sehen also Deutschland als ihre Heimat an. Sie hätten es sicher schlimmer treffen können, schätze ich mal. Wie dem auch sei, wir sollten uns jetzt wohl „unserem“ Fall widmen. Sie können mich übrigens James nennen, wenn sie einverstanden sind. Das erleichtert uns sicher die Zusammenarbeit etwas.“ „Äh, ja, natürlich. Nennen sie mich Rick, James.“, sagte ich. Der Mann hielt wohl nicht viel von Smalltalk, kam gleich zur Sache. Das gefiel mir. „Dann erzählen sie mir doch einfach der Reihe nach, um was es bei dem Fall geht.“, sagte James. „Hat sie denn meine Abteilung nicht vorab informiert, als man sie um ihre Mithilfe bat, James? Man sagte mir, sie hatten ihre Hilfe zugesagt, nachdem man ihnen die Fakten präsentiert hatte.“, gab ich ein wenig irritiert zurück. „Selbstverständlich bin ich im Bilde, was die Fakten angeht. Es geht mir speziell um ihre Sicht der Dinge, Rick. Sie haben die bisherigen Ermittlungen geführt, und kennen so eventuell wichtige Details, die ihnen vielleicht noch gar nicht aufgefallen sind, und daher in den Berichten nicht auftauchen.“, erklärte der Geisterjäger. „Ah, verstehe. Nun gut, dann lehnen sie sich mal zurück, James. Es begann alles damit, dass die Putzfrau des Museums…“ Ich erzählte ihm, was ich wusste, und er hörte aufmerksam zu. An der ein oder anderen stelle fragte Driscoll nach, und ich hatte den Eindruck, einen vernünftigen Cop vor mir zu haben. Es war mir unvorstellbar, wie sich ein so seriös wirkender Polizist in einer Abteilung betätigen konnte, die sich mit Gespenstern und ähnlichen Horror-Quatsch beschäftigte. Ich musste noch viel lernen… „Nun gut, Rick. Danke erst mal für ihren ausführlichen Bericht. Eine Frage: Haben sie schon etwas über „Da Como“ in Erfahrung gebracht? Handelt es sich um eine Person, oder vielleicht eine Stadt oder eine Firma?“ „Nein, leider weiß ich in der Richtung noch gar nichts. Die Kollegen in Aachen haben sich aber dahinter geklemmt. Sobald die etwas herausfinden, werden wir unterrichtet.“, antwortete ich ihm. „Aha, na gut. Dann sollten wir uns bis dahin etwas eingehender mit dem möglichen Tathergang befassen. Was glauben sie, ist in dem Museum wirklich passiert, Rick?“, wandte sich Driscoll erneut an mich. „Wie meinen sie das, James? Ich habe ihnen die Fakten doch gerade erst dargelegt.“ Ich verstand die Frage nicht. Sie ergab für mich keinen Sinn. „Ich meine nicht die Fakten, Rick. Ich meine ihre persönliche Meinung. Wie denken sie, ist es zum Tod des Archivars gekommen? Was hat ihn getötet?“ „Das ist leicht!“, gab ich zurück. „Er starb an einem Herzanfall. Er hatte sich erschreckt, zu Tode sozusagen.“ „Gut, aber was hat ihn so erschreckt? Eine einfache Katze kann einen erwachsenen Mann nicht zu Tode erschrecken, selbst wenn sie groß war. Selbst dann nicht, wenn der Mann gesundheitlich angeschlagen war. Einbruchspuren gab es im Museum keine, ebenso wenig wie Fingerabdrücke oder sonst etwas in der Art. Das ging ja auch aus ihrem Bericht hervor.“ Driscoll hatte damit meinen wunden Punkt getroffen. Ich wusste mir genau an der Stelle auch keinen Rat. Ich glaubte nicht wirklich an die Katzennummer, schon gar nicht an eine angeblich sprechende Riesenkatze, und es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sich Personen in dem Museum aufhielten. Natürlich musste es so gewesen sein, aber es gab eben keine ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 44 Beweise. Ich nahm einen Schluck von dem Kaffee. „Was glauben sie denn, wie es passiert ist, James. Haben sie etwa eine andere Theorie als ich?“, fragte ich ihn. „In der Tat, die habe ich“, antwortete er sogleich. „Ich kann sie noch nicht konkretisieren, aber einen gewissen Verdacht bezüglich des Tathergangs habe ich durchaus.“ “Dann raus mit der Sprache!“, drängte ich. Ich war ehrlich gespannt auf die Ansichten des Engländers. Er hatte ja immerhin den Ruf als brillanter Polizist. Da wollte ich jetzt eben gerne wissen, ob der gerechtfertigt war. „Gut. Ich denke, dass sich Hans Bruckner tatsächlich zu Tode erschreckt hat. Weiterhin glaube ich, dass es kein unglücklicher Zufall war. Er ist nicht allein zu Tode gekommen, weil er eine große Katze gesehen hatte. Er wurde gejagt, verletzt und so derartig terrorisiert, dass sein darauf folgender Herztod nur die natürliche Folge der Ereignisse war, deren Mittelpunkt er darstellte. Eine kalkulierte, wenn nicht sogar minutiös geplante Folge, wie ich hinzufügen möchte.“ Das überzeugte mich noch nicht. „Das erklärt aber in keiner Weise, wer für die Verletzungen und die Todesangst des Opfers verantwortlich zeichnete! Wer war der Täter? Oder die Täterin? Vielleicht waren es ja auch mehrere Täter, wir wissen es ja nicht! Genau das ist doch das Problem an dem ganzen Fall, James. Wir haben nach wie vor keinen Anhaltspunkt auf die Täter! Da hilft auch die Erkenntnis nicht, dass der Herztod einkalkuliert oder gar gewollt war! Sie haben nicht gerade den Nagel auf den Kopf getroffen, James, wenn ich mir diese Kritik erlauben darf!“ Ich reagierte gereizt, weil mir die bisherigen Ausführungen Driscolls nichts sagten, dass ich nicht schon wusste. An einen geplanten Mord an Bruckner glaubte ich inzwischen überhaupt nicht mehr, meiner Meinung nach hatte er lediglich die Einbrecher gestört. Es musste so gewesen sein. Und er hatte sich den Herztod eingehandelt, weil er der Belastung des Kampfes nicht gewachsen war, den er zu durchstehen hatte, und in dessen Folge er die schaurigen Verletzungen davongetragen hatte. Das sagte ich Driscoll auch. Der lächelte mich aber nur an. Ich meinte, sogar eine gewisse Spur Belustigung in diesem Lächeln zu entdecken. „Rick, sagt ihnen der Begriff „Xenomorph“22 etwas?“ „Nein, wieso?“, fragte ich. Ich wusste beim besten Willen nicht, was Driscoll mit dieser Frage bezwecken wollte. „Xenomorphe nennt man Wesen, welche sich in eine andere Form oder Gestalt wandeln können. Das können Menschen sein, die diese Fähigkeit erhalten haben, auf welche Art auch immer. Aber es kann sich durchaus auch um einen Dämon, oder eben um einen tierischen Xenomorph handeln. Die prominenteste Gattung unter den Gestaltwandlern ist der Lykantroph, der im Volksmund als „Werwolf“ bekannt ist. Ich könnte mit gut vorstellen, das wir es hier mit einer wie auch immer gearteten Form einer solchen Gestaltwandlung zu tun haben.“, schloss Driscoll seine Ausführungen. „Das halte ich alles für sehr weit hergeholt, um ehrlich zu sein.“, wandte ich ein. „Ich könnte mich vielleicht noch so gerade damit anfreunden, dass der Täter ein Mensch ist, der sich einbildet, ein Raubtier zu sein, aber selbst das ist für mich schon starker Tobak. Nehmen sie es mir nicht übel, James, aber ich glaube nicht an all diesen Hokus-Pokus von wegen Geister, Dämonen, und was nicht noch alles. Ich bin der festen Überzeugung, es gibt für all die Mordfälle, die sie der Geisterwelt zuschreiben, eine überaus irdische Begründung.“ „Wenn sie meinen, Rick. Wir werden sehen, wer von uns beiden Recht behält. Sie mit ihrem Lykomanen, oder ich mit meinen Dämonen und Geistern.“, gab Driscoll zurück. Er wirkte nun 22 Xenomorph (geol.)= fremdgestaltig ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 45 doch ein wenig verschnupft. „Ein Lüko-was?“, fragte ich. Ich hatte den Ausdruck noch nie in meinem Leben gehört, und konnte ihn in diesem Moment keiner Bedeutung zuordnen. „Lykomane. Ein Mensch, der sich einbildet, ein Raubtier zu sein. Ein Wolf, um genau zu sein.“ „Hm. Hatte ich noch nie gehört.“ „Macht ja nichts. Was halten sie davon, wenn wir uns das Museum noch einmal ansehen? Ich kenne den Tatort ja bisher nur von Bildern und aus ihrem Bericht. Wie hieß das Museum noch gleich?“, fragte James. „Stadtgeschichtliches Museum.“, antwortete ich ihm. „Nein, das meine ich nicht. Es war ein spezieller Ausdruck, irgendwas mit…“ „Hexen. Sie meinen den Hexenturm. Einer der Ausstellungsräume befindet sich in diesem mittelalterlichen Turm. Jetzt sagen sie nur nicht, sie glauben es war eine Hexe, James!“, scherzte ich. „Wer weiß…“, sagte Driscoll. Er lächelte nicht, als er es aussprach. In den folgenden zwei Stunden untersuchten James Driscoll und ich das gesamte stadtgeschichtliche Museum, den Hexenturm, und sogar die Räumlichkeiten des angrenzenden Kulturhauses, in dem auch die Stadtbibliothek untergebracht war. Es war beeindruckend, in einer Kleinstadt wie Jülich eine solche Ansammlung von Kultur und Geschichte in dieser Konzentration zu erleben. Darauf konnten die Stadtväter sich wirklich etwas einbilden! Auch James Driscoll schien beeindruckt. Wären wir nicht auf der Suche nach Hinweisen gewesen, die uns in unserem Fall weiterhelfen sollten, wir hätten sicher stundenlang in den Räumen des Museums oder der Bücherei verweilen können. Leider ging dies aber nicht. Wir waren schließlich hier, um Beweise für unsere Theorien zu finden, die sich so sehr voneinander unterschieden. „Ich schätze, wir können das hier erst einmal abbrechen, Rick. Wir sollten noch einmal im Dunkeln hierher kommen.“, sagte Driscoll zu mir. „Warum? Wir werden in der Dunkelheit kaum besser sehen als am Tag. Oder glauben sie nun auch noch, in der Geisterstunde erscheinen von magischer Hand gezeichnet die Fingerabdrücke des Täters im Museum?“, spottete ich. „Jetzt werden sie unfair, Rick!“, beschwerte sich Driscoll. „Tatsächlich ist es so, dass sich die Kräfte des Bösen eher im Schutze der Dunkelheit zu bewegen pflegen, als am Tage. Und außerdem habe ich einen triftigen Grund daran zu glauben, dass wir hier nachts fündig werden könnten.“ „So? Na, da bin ich aber mal gespannt, James. Sagen sie mir: Was macht sie so sicher, dass wir im Dunkeln hier mehr entdecken werden als jetzt im Sonnenlicht?“ „Ganz einfach. Mein Kreuz hat sich erwärmt.“, sagte James knapp. „Ihr Kreuz. Erwärmt? Was bitte hat ihr Rücken mit unserem Fall, geschweige denn mit irgendwelchen Beweisen zu tun, die wir im Dunkeln besser finden sollen als am Tag? Und wieso deutet ein warmer Rücken darauf hin? Das ist doch wirklich lächerlich, bei allem Respekt, James!“ Langsam verlor ich die Geduld. Dieser Driscoll schien doch ein ziemlich durchgeknallter Zeitgenosse zu sein. In diesem Moment schien mir sein guter Ruf gar nicht mehr so gerechtfertigt. „Nein Rick, nicht mein Rücken. Da missverstehen sie etwas. Ich trage ein Kreuz um den Hals, ein silbernes, geweihtes Kreuz. Dieses Kreuz ist wenn sie so wollen, eine Art Waffe gegen das Böse und die Mächte der Finsternis. Dass es sich hier in diesen Räumen erwärmt hat, zeigt mir, dass es mit solchen Kräften in Berührung gekommen sein muss, zumindest aber mit einigen Spuren einer Macht, die hier noch nachhallen.“, erklärte James Driscoll. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 46 „So, ein Zauberkreuz? Das müssen sie mir aber mal genauer erklären, dass klingt für mich alles zu phantastisch! Ich komme mir schon vor wie im „Herr der Ringe“23. Den habe ich als Jugendlicher geradezu verschlungen. Warten sie, dass kriege ich noch zusammen!“ Und ich zitierte: „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden, im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.“ „Jetzt machen sie sich endgültig über mich lustig, Rick. Das ist nicht sehr fair. Denn ob sie es nun glauben oder nicht, mein Silberkreuz hat diese Fähigkeiten tatsächlich!“ Jetzt war Driscoll endgültig sauer. Das hatte ich natürlich auch nicht gewollt. Ich musste vollkommen arrogant auf ihn wirken. Ich beschloss, ihm etwas entgegen zu kommen, und bat ihn, mir etwas über sein Kreuz zu erzählen, dem er phantastische Fähigkeiten zutraute. Was für mich allerdings ganz klar ins Reich der Sagen und Mythen gehörte. Das sagte ich ihm nun aber besser nicht. „Gut, Rick, wenn sie es wünschen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass ihr Interesse nicht ganz echt ist. Dennoch werde ich ihnen einige Fakten zu meinem Kreuz erzählen, dass nur eine meiner zahlreichen Waffen gegen die dunklen Mächte ist. Neben dem Kreuz gibt es noch meine Dienstwaffe, die Beretta, welche in der Regel mit Silberkugeln bestückt ist.“ „Gegen Werwölfe, nehme ich an.“, unterbrach ich ihn. „Unter anderem, ja. Dann gibt es da noch magischen Sand und einen goldenen Dolch, um nur einige zu nennen. Und natürlich Weihwasser, dass ist immer recht nützlich. Aber darüber wollte ich ihnen jetzt nichts erzählen, sie glauben es ja doch nicht, Rick. Zurück zu meinem Kreuz.“ Er holte es unter seinem Hemd hervor, um es mir zu zeigen. Es war circa handtellergroß, und hing an einer Kette. Auf ihm waren jede Menge Symbole eingraviert. Ich kannte nicht alle davon, aber ich erkannte die christlichen Symbole Alpha und Omega, das „Aum“-Symbol und die Initialen „JD“, was wohl für den Namen des Engländers stand. Auch waren an den vier Enden des Kreuzes Buchstaben angebracht, die die Anfangsbuchstaben der Erzengel darstellten. Dies erklärte mir James auf meine Nachfrage. Weiter erzählte er: „Hergestellt wurde das Kreuz von einem alten jüdischen Priester in dessen babylonischer Gefangenschaft. Seitdem war es immer wieder im Besitz von würdigen Trägern. Einige dieser Träger waren König Salomo, der englische König Richard Löwenherz und der Templerführer Hector de Valois. Die letzte Besitzerin des Kreuzes war Esmeralda Zömassy, eine Zigeunerin, die als Hexe verfolgt wurde. Sie floh nach England, und so kam ich in den Besitz des Kreuzes, als ich sie vor zwei üblen Schlägern rettete. Seither ist mir das Kreuz zu einer unentbehrlichen Waffe geworden, ohne die ich heute hier nicht mit ihnen reden könnte.“ „Hm. Wenn sie es sagen, James. Ich will diese Erzählung einfach mal so hinnehmen. Erwarten sie bitte nicht zu viel von mir, James. Dies alles klingt zu phantastisch für mich, und deckt sich nicht mit meinen Überzeugungen oder meinem Glauben, wenn sie so wollen. Aber wenn sie meinen, wir können mit Hilfe des Kreuzes ein wenig weiter kommen in diesem Fall, dann bin ich bereit, diesem Kreuz eine Chance zu geben.“, sagte ich. Mehr konnte ich ihm beim besten Willen nicht zugestehen. „Gut, dafür habe ich Verständnis. Wir treffen uns also gegen zweiundzwanzig Uhr hier am Hexenturm wieder, wenn es ihnen Recht ist. Dann sehen wir weiter. Einverstanden?“ Ich bejahte dies, und so trennten sich unsere Wege für den Rest des Nachmittags. Driscoll 23 Der Herr der Ringe= Erfolgreiches Fantasy-Epos von J.R.R Tolkien, © der Buchfassung 1966 by George Allen & Unwin Ltd., London ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman ging in sein Hotel, und ich begab mich auf die Suche nach einem Restaurant, in dem ich zu Abend essen wollte. Mit Driscoll zu essen, kam mir nicht in den Sinn. Ich brauchte jetzt erstmal einige Stunden Abstand von ihm und seinen phantastischen Geschichten und Waffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie uns ein Silberkreuz bei einem verstorbenen Archivar weiterhelfen sollte. Ich sollte es bald erfahren… 47 Samstag, 6. März 2004, 22.00 Uhr, Hexenturm Jülich „Ah, da sind sie ja. Dann kann es ja losgehen. Ich habe mir den Schlüssel zum Hexenturm bei Herrn Parse, dem Museumsleiter, besorgt. So können wir uns hier ganz ungestört bewegen.“, sagte ich zu Driscoll. „Gut. Dann los, wir sollten keine Zeit verlieren. Die Begegnung Bruckners mit seinem Schicksal fand ja so ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt statt. Vielleicht haben wir ja Glück, und finden hier doch noch eine Spur? Lassen sie uns hineingehen, Rick.“, entgegnete James Driscoll. Ich schloss die Tür zum Hexenturm auf, und wir betraten das dunkle, enge Treppenhaus. Treppenhaus war eigentlich übertrieben, es handelte sich um eine Wendeltreppe, die direkt durch den Turm hinauf in den Raum über dem ehemaligen Stadttor führte, der heute ein Ausstellungsraum des Museums war. Die Treppe war nicht beleuchtet, und daher mussten wir sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, um nicht durch einen unbeabsichtigten Fehltritt das Gleichgewicht zu verlieren, und die Treppe wieder hinunter zu stürzen. Das es keine Beleuchtung gab, war damit zu erklären, dass der Turm nur tagsüber geöffnet wurde, und er bereits zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts erbaut wurde. Damals hätte man zur Beleuchtung höchstens Pechfackeln benutzt, und die waren heutzutage etwas aus der Mode gekommen. Der Ausstellungsraum hingegen hatte eine Stromversorgung. Die Leitungen waren allerdings über dem Verputz der Wände verlegt, und erreichten den Turm durch die Verbindungstür vom Kulturhaus her, das direkt an den Turm gebaut worden war. Ich nahm an, dies geschah, da das Mauerwerk nicht beschädigt werden sollte. Das Gebäude stand selbstverständlich unter Denkmalschutz. Leider war es uns aufgrund der völligen Dunkelheit nicht möglich, die Blutspuren in Augenschein zu nehmen, die sich noch auf der Treppe befanden. Hier hatte sich damals das Drama abgespielt, welches den verstorbenen Stadtarchivar Hans Bruckner sein rechtes Auge gekostet hatte. Leider hatte man abgesehen vom Blut des Opfers absolut nichts anderes gefunden. Keinerlei Hinweis auf den oder die Täter also. James und ich betraten den Ausstellungsraum. Es war dunkel, nur ein wenig Mondlicht schien durch die kleinen Fenster in den Raum, und illuminierte einige der Ausstellungsstücke in den Vitrinen. Der Kopf einer römischen Steinfigur blickte, vom Mondlicht scheinbar zu unheimlichem Leben erweckt, in unsere Richtung. Da ich das Gesicht der Statuette nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, erschrak ich etwas. Driscoll bemerkte das leichte Zucken in meinem Gesicht. „Unheimlich, was ein wenig Licht mit unbewegten Gegenständen anrichten kann, nicht wahr? Ich hätte mich auch fast erschreckt, als ich die Lichtreflexe auf der Figur gesehen habe.“ „Aber nur fast, James. Ich habe mich tatsächlich erschreckt!“ Ich schämte mich fast etwas wegen meiner Schreckhaftigkeit. „Was soll’s?“, antwortete Driscoll. „Dann sind sie auch vorsichtig, und tappen nicht blindlings ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 48 in eine Falle.“ „Da haben sie auch wieder Recht, James. Dann brauche ich mich ja gar nicht so zu schämen.“, gab ich lachend an ihn zurück. Auch er lächelte. Anscheinend hatte er es mir verziehen, dass ich an seinen Ansichten zweifelte. Aber es war für mich nach wie vor absolut albern, das in diesem Museum so etwas Abwegiges wie ein Gestaltwandler anzutreffen sein sollte. James schien davon aber genauso überzeugt zu sein, wie ich davon überzeugt war, dass ein abgerichtetes Tier oder einfach ein Mensch für die hier geschehene Gewalttat verantwortlich zeichnete. Driscoll schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Kaltes Neonlicht erhellte flackernd den Raum. Eins der Neonröhren war defekt. „Psst, Rick! Hören sie!“, zischte James plötzlich. Ich hielt instinktiv den Atem an. Nichts. Oder…doch, jetzt hörte ich es auch! Mir schlug das Herz regelrecht bis zum Hals, so dass ich in meinem Ohren deutlich hören konnte, wie das Blut durch meine Adern rauschte! Ich hätte mich ohrfeigen können. Anscheinend waren meine Nerven nicht so stark, wie ich es immer angenommen hatte. Ich brauchte einen kurzen Moment, bis ich mich wieder völlig unter Kontrolle hatte, und das Rauschen abebbte. Dann, endlich, konnte ich differenzierter erkennen, um was für ein Geräusch es sich handelte. Es war ein leiser, kratzender Ton, der aus dem Bereich hinter der zweiten Vitrine zu kommen schien. Ich griff mit einer langsamen Bewegung in Richtung meiner Dienstwaffe, die ich vorsichtshalber eingesteckt hatte. Sie hing griffbereit, jedoch gesichert in meinem Schulterholster, dass ich dem Waffengürtel gegenüber bevorzugte. Ich mochte diesen „Sheriff-Look“ nicht, den mache Polizeibeamte zur Schau trugen. Mein Ego brauchte derartige Eskapaden nicht. „Eine Frage, Rick: Was haben sie geladen in ihrer…“ „Walther P99, Kaliber 9mm x 19, 15 Schuss. Einfache Munition, warum fragen Sie? „Weil ihnen diese Munition nicht viel nutzen wird, falls ich mit meiner Theorie Recht behalte. Ich schlage daher vor, sie nehmen meine Waffe, und ich begnüge mich mit dem Schutz meines Kreuzes.“, flüsterte Driscoll mir zu. „Wieso sollte mir ihre Waffe mehr Schutz bieten als meine P99? Das müssen sie mir aber erst mal erklären!“, sagte ich erstaunt. Ich war eigentlich von der Wirksamkeit meiner Dienstpistole als zuverlässige Back-up-Waffe überzeugt. „Ganz einfach. Ich habe geweihte Silberkugeln geladen. Die sind wirksam gegen Lykantrohphe, im Gegensatz zu ihrer Munition, die ein solches Wesen höchstens für einige Sekunden ausschalten, es aber nicht vernichten kann!“ „OK, James. Wenn sie es so wollen…“ Ich nahm seine Beretta entgegen. Ich glaubte nicht an das, was er mir da erzählte, aber ich wollte mit ihm in einer so brenzligen Situation, wo es unter Umständen auf sekundenschnelle Reaktionen ankam, keine Diskussionen führen. Die Waffe war bereits geladen, ich betätigte den Sicherungshebel, und entsicherte die Waffe auf diese Art. Driscoll öffnete die beiden oberen Knöpfe seines schwarzen Baumwollhemdes, so dass das Silberkreuz gut sichtbar war. Wir schlichen uns vorsichtig vor, in Richtung der Glasvitrine. Das Kratzen war verstummt. Wir erreichten die Vitrine, und stellten uns zu beiden Seiten des gläsernen Schrankes auf. „Auf drei checken wir von beiden Seiten die Rückseite!“, flüsterte ich James zu. Er nickte stumm, und nahm das untere Ende des Kreuzes in die rechte Hand, so dass er es wie einen kleinen Schutzschild vor sich hielt. „Eins, zwei, dr…“ ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 49 Weiter kam ich nicht. Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich vor mir unzählige winzige schwarze Punkte, die sich fast übergangslos in wurmartige Gebilde verwandelten. Wie kleine schwarze Schlangen, die von tausend verschiedenen Stellen gleichzeitig auf einander zu rasten, um sich dann zu vereinigen. Die Würmer prallten also aufeinander, es ergab aber keinerlei Geräusch, denn das alles spielte sich völlig lautlos ab. Die sich schlängelnden Gebilde gaben ihre Individualität auf, um sich zu einem einzigen Körper zu vereinigen. Und es entstand…eine riesige schwarze Katze! „Verdammt!“, entfuhr es mir. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Driscoll hatte Recht behalten! Es gab die verdammte Riesenkatze tatsächlich! In dieser Sekunde rasten mir tausend Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf, so tief erschütterte mich das, was ich hier zu sehen bekam. Mein Weltbild brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Wenn es Katzenwesen gab, die auf so unheimliche Art und Weise aus dem Nichts auftauchen konnten, dann gab es wohl auch die Geister, von deren Existenz Driscoll so überzeugt war! Ich würde das Gefüge meiner Welt wohl erst einmal ordnen müssen, wenn ich wieder die Zeit dazu hatte. Doch jetzt war es der ungünstigste Moment dafür, denn die Katze, sie hatte eine Schulterhöhe von mindestens sechzig Zentimetern, duckte sich zum Sprung, und entblößte dabei ihre weißen, messerscharfen Reißzähne. Und dann sprang sie! Direkt auf mich zu! „Rick, verdammt, drücken sie ab!“, schrie Driscoll. Die Starre, die der Schreck über den unheimlichen Anblick der Katze ausgelöst hatte, fiel von mir ab. Ich feuerte! Mit einem lauten Knall löste sich das geweihte Silber von der Beretta, und flog blitzschnell, für uns unsichtbar, in Richtung der katzenartigen Kreatur. Sichtbar war hingegen der Aufprall der Kugel. Blut und schwarze Fellfetzen spritzten nach allen Seiten! Die Katze wurde durch die Wucht des Aufpralls herumgerissen, und flog, alle viere nach oben von sich gestreckt, hinter die Vitrine zurück, wo sie regungslos liegen blieb. „Guter Schuss, Rick!“, lobte mich Driscoll. „Anscheinend haben wir die Kreatur erwischt. Wir sollten sichergehen, dass sie vernichtet wurde.“ „Sichergehen? James, sie haben das Blut doch auch gesehen! Das kann die Katze nicht überlebt haben. Und wenn es eines ihrer Lykantrophen- Monster gewesen sein sollte, dann hat die Kugel es doch sicher vernichtet? Das haben sie mir doch so erklärt!“ „Geweihtes Silber hilft gegen vielerlei Kreaturen, gegen alle jedoch nicht, Rick. Und manches Monster ist widerstandsfähiger, als man glaubt. Schauen wir doch einfach mal nach.“ Ich seufzte. Na gut, wenn es ihn glücklich macht, dachte ich. Ich hätte mir den Anblick einer aus nächster Nähe erschossenen Katze gerne erspart, denn ich erwartete einen übel zugerichteten Kadaver zu finden. Wir gingen also wieder auf die Vitrine zu, hinter die das Tier durch den Schuss geschleudert worden war. Es war Unglaublich! Dort lag die Katze. Sie lag auf der Seite, in einer großen Blutlache, rings um sie herum lagen kleine Fell- und Fleischfetzen herum, welche die Kugel aus dem Tierkörper gerissen hatte. Das Tier atmete nicht. Die Kugel musste tief in seinen Körper eingedrungen sein, und nahezu jedes lebenswichtige Organ durchschlagen haben. Mann sollte annehmen, dass ein solches Tier endgültig tot war. Nicht aber die Katze! Zunächst bemerkte ich es noch gar nicht, aber bereits nach wenigen Sekunden geriet die ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 50 Umgebung der Katze in geisterhafte Bewegung. Die Fell- und Fleischfetzen lösten sich in die wurmartigen Gebilde auf, aus denen zuvor die Katze entstanden war! Sie bewegten sich langsam über den Boden schlängelnd auf den vermeintlichen Tierkadaver zu, und verschwanden in der klaffenden Wunde in der Brust des Tieres. Das Blut unter der Kreatur zog sich scheinbar in den Körper zurück, so dass die Lache immer kleiner wurde, bis sie verschwunden war! Und dann geschah es! Der Körper des Tieres begann zu zittern, nein, zu vibrieren, und der Brustkasten der unheimlichen Katze löste sich in hunderte eigenständige Wurmgebilde auf. Es war ein Ekel erregendes Gewusel, das für mich keinen Sinn ergab. Dann aber wurde mir der Sinn der Bewegung klar, als zwischen den Wurmgebilden ein metallenes, silbern glänzendes Etwas erschien, und dann mit einem leisen „klack!“ zu Boden fiel. Die Kugel! Die Katze hatte die Kugel selbständig aus ihrem Körper entfernt! Und dann schloss sich die Wunde, nachdem die seltsam schlängelnden Gebilde sich wieder in den Brustkorb der Katze zurückgezogen hatten. Und die Kreatur öffnete die Augen, riss ihr Maul auf, bleckte die Zähne, und sprang mich erneut an! Völlig gelähmt durch den Anblick des soeben Geschehenen, war ich unfähig, erneut abzudrücken. Die Katze flog mir regelrecht gegen die Brust, und ich spürte nur noch brennenden Schmerz über meinen Oberkörper flammen. Ich konnte nur noch krallenbewehrte Pranken vor meinem Körper erkennen, die wie eine Schiffschraube vor mir zu rotieren schienen. Immer wieder drangen die Krallen durch meine Kleidung und meine Haut, und richteten schmerzhafte Verletzungen an. Dann ließ das Untier plötzlich fauchend von mir ab, und ich brach verletzt und vor Schmerzen fast ohnmächtig in mich zusammen. James hatte nach der Kreatur gerufen! Und das Geschöpf antwortete! „Halt, Höllenvieh!“, rief Driscoll der Katze zu, und richtete sein Silberkreuz auf das Tier, dass sich allerdings unbeeindruckt zeigte. Die Katze blieb stehen, wandte sich Driscoll mit aufgerichtetem Nackenfell zu, und fauchte: „ Narr! Wass verssuchsst du mich mit deinem Kreuz zu bannen? Ein einfachess chrisstlichess Ssymbol vermag mir nichtss anzuhaben! Jetzt werde ich euch vernichten! Und dann werde ich hoffentlich wieder die Ruhe finden, die ich biss zu meiner Erweckung durch diesen Vincenze Da Como genosssen habe!“ „Wirst Du nicht!“, gab Driscoll der Katze zu verstehen. „Denn es handelt sich nicht um ein einfaches Symbol, sondern um meine Waffe gegen Kreaturen wie dich!“ Und dann sprach er etwas, das ich aufgrund des lauten Fauchens der höllischen Kreatur und der immensen Schmerzen, die meine Sinne benebelten, nicht verstehen konnte. Aber die Wirkung dieser Worte war umso größer! Jamess silbernes Kreuz umwehte augenblicklich ein glühende Aura, und Blitze zuckten daraus hervor, die der Katze entgegenschlugen. Es war unglaublich! Die Kreatur riss ungläubig die Augen auf, das Entsetzen war ihr buchstäblich in ihre seltsam menschlich wirkenden, blauen Augen geschrieben. Dann traf sie der erste Blitz! Mit einem lauten Fauchen, dass mehr einem Schmerzensschrei glich, wurde die Kreatur zurückgeschleudert. Sie flog regelrecht durch den Raum, und krachte mit einem dumpfen Aufschlag gegen die Wand hinter ihr. Und dann geschah das Unmögliche! Für einen kurzen Moment sahen wir wieder die vielen seltsamen Gebilde, die an Würmer oder kleine Schlangen erinnerten, und dann fügten sie sich wieder zu einem Körper zusammen. Aber es war nicht der Körper einer übergroßen Katze, als welche wir die Kreatur bisher kannten, sondern direkt vor unseren Augen entstand ein Mensch! ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 51 Oder zumindest das, was einmal ein Mensch gewesen sein musste. Es war eine Frau, deren Alter nicht zu ermitteln war. Der Körper war leicht gekrümmt, und in einen wallenden Umhang aus grobem grauem Stoff gehüllt. Unter der Kapuze, die die Kreatur sich über den Kopf gezogen hatte, konnte man vage ein Gesicht erkennen. Es war das Gesicht einer Frau. Aber etwas stimmte nicht mit diesem Gesicht. Es wirkte wie aus altem, irgendwie verkohltem Holz geschnitzt, dunkel und starr. Und ein Teil des Gesichts war irgendwie verschwommen oder gar nicht vorhanden. Es war durch die tief ins Gesicht gezogene Kapuze und die um die Frau herum zuckenden Blitze nicht zu erkennen. Irgendwie erinnerte sie mich an eine Hexe aus den Märchenbüchern, die ich als Kind vorgelesen bekam. Und wieder traf einer der Blitze das unheimliche Wesen! Die Frau schrie auf, ihr Körper wurde wie von Krämpfen hin und her gerissen. Für einen kurzen Moment glaubte ich die Kreatur besiegt, kurz vor deren Vernichtung. Dann aber löste sie sich ohne Vorwarnung auf ihre unvergleichliche Art und Weise einfach in Nichts auf. Sie war verschwunden! Entkommen! Oder doch vernichtet? „Rick, alles in Ordnung mit Ihnen?“, rief Driscoll, und eilte mir zu Hilfe. Er kniete sich zu mir, und ich konnte noch gerade erkennen, dass er sehr verschwitzt und erschöpft war. „Sie hatten Recht, James. Sie hatten die ganze Zeit über Recht! Verzeihen sie mir, dass ich ihnen nicht glauben wollte.“ Nach diesen Worten fiel ich in Ohnmacht, daher weiß ich nicht, ob Driscoll mir geantwortet hatte. Freitag, 16. Mai 1547, Jülich „Sie muss es sein, ich bin mir absolut sicher! Wer sollte sie sonst sein?“, schnaufte Johann Küffer. Der Küster der Jülicher Propsteikirche saß einem jungen Handwerksburschen namens Caspar Hartung gegenüber. Er war ziemlich angetrunken, was in den letzten Monaten öfters einmal vorkam. Seit diese Hexe, diese Catharina Elisabeth aus dem Gelderland, verschwunden war, hatte er sich regelrecht in einen Wahn hineingesteigert. Er sah an allen Straßenecken, in jedem Schatten Hexenwesen lauern. Sie verfolgten ihn regelrecht. Er hatte einmal, in einem nüchternen Moment, mit Carl Goddert über diese Sache gesprochen. Dieser hatte seine Beobachtungen aber ziemlich rüde mit der Bemerkung abgetan, er solle weniger Tief in den Becher schauen, dann würden die Hexen schon wieder verschwinden! Dieser Bastard! Johann konnte es nicht begreifen. Dieser Goddert hatte doch mit eigenen Augen den Beweis gesehen, dass es die Hexe wirklich gab! Aber dennoch beharrt dieser Narr darauf, dass die Hexenverfolgung falsch sei! Solche Leute gehören genauso verurteilt wie die Höllenwesen selbst! Sonst überrennt die Brut der Hölle dereinst noch unsere Welt!, dachte Küffer, und wandte sich wieder dem Handwerksburschen zu, mit dem er sich seit einiger Zeit unterhalten hatte. „Sie könnte sonst wer sein, guter Küster!“, antwortete Caspar. Er war ein Handwerksbursche auf Wanderschaft, und hatte noch einige Monate „auf der Walz“ vor sich, bevor er in seine Heimat in Norddeutschland zurückkehren konnte, um in der Schreinerei seines Vaters zu arbeiten. „Aber wenn ihr sichergehen wollt, ob die Frau, die ihr in Verdacht habt, wirklich eine Hexe ist, dann habe ich einen Rat für Euch. In meiner Heimat hat der Bischof auf diese Weise gleich zweiundzwanzig Frauen während einer Heiligen Messe der Hexerei überführen können! Die Methode ist sozusagen todsicher!“ „Lasst hören, guter Mann, lasst hören!“ Küffer war begierig auf diesen Rat, das war ihm deutlich anzusehen. Aus seinem Mundwinkel lief ihm ein kleines Rinnsal, das sowohl aus Bier ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 52 als auch aus Speichel bestand. Mit seinen glasigen Augen durchbohrte er das Gesicht des Handwerksburschen regelrecht, so als wolle er die Informationen, auf die er so scharf war, allein mit seinen Blicken aus dem Kopf seines Gegenüber herausreißen. „So sprecht doch, verdammt! Ich muss es wissen! Unbedingt! Wirt! Bringe er diesem guten Mann noch einen Humpen vom feinsten Bräu!“ Bei jedem Wort sprühte Caspar Hartung eine kleine Welle feinen Sprühregens aus Bier und Spucke entgegen. Er wich mit seinem Gesicht ein gutes Stück nach hinten aus. „Ja ja, schon gut! Ihr sollt es ja erfahren! So beruhigt euch doch wieder! Ihr fallt mir vor Erregung sonst noch von eurem Stuhl!“ gab Caspar zurück. „Gut. Nur verratet es mir endlich!“ hechelte Küffer. Nun, wohlan denn. Hier also das Rezept des Bischofs. Wenn ihr also Gewissheit darüber erlangen wollt, ob es in eurer Gemeinde eine oder gar mehrere Hexen gibt, dann geht wie folgt vor: Legt während der heiligen Messe ein Kreuzfettmännche24 unter das Messbuch, und nach dem Ende der Messe legt ihr das selbige unter die Tür der Kirche. Solange die Münze dort zu liegen kommt, kann kein Hexenweib die heilige Stätte verlassen. So müsst ihr es anstellen, Küster, das ist alles.“ „Was? So einfach?“, stammelte Küffer. „Dann will ich es bereits am Sonntag ausprobieren!“ Habt Dank, lieber Caspar. Nun will ich mich eilen, um eine passende Münze aus meinem Sparbeutel zu suchen. Lebt wohl!“ Damit eilte Johann Küffer aus der Schenke in Richtung der Kirche davon. Habt Dank! Pah!, dachte Caspar. Lieber hätte ich etwas Geld, alter Geizkragen! € Am nächsten Sonntag, es war der 18. Mai 1547, probierte Johann Küffer den Plan des Handwerksburschen aus. Er ging kurz vor der Messe in die Kirche, tat, was ein Küster zu tun hatte, und „kontrollierte“ wie selbstverständlich, ob das Messbuch auch richtig auf seinem Pult lag. Dabei ließ er ganz unauffällig eine kleine Münze unter das Buch gleiten. Einige Minuten später begann die Messe, und Johann ließ seine Blicke über die versammelte Gemeinde schweifen. Da! In der dritten Reihe, ziemlich weit links, da war das Weib wieder! In einen groben, grauen Umhang gehüllt, die Kapuze weit in das Gesicht gezogen, saß etwas gekrümmt die Frau, von der Johann Küffer in der Schenke gesprochen hatte! Er war sich sicher; es musste die Hexe aus dem Gelderland sein! Na warte, Weib!, dachte er. Heute werden wir dich zum zweiten Mal entlarven, und dann sollst du endgültig brennen! Ein wahnsinniges Glitzern flammte in seinen Augen auf. Eine gute Dreiviertelstunde später, die Messe war fast vorüber, hetzte Johann Küffer zum Messbuch, und nahm die Münze darunter hervor. Der Pfarrer, der gerade die Kommunion an die Gemeinde ausgab, blickte ärgerlich fragend zu ihm herüber. Dieses Verhalten war für den Küster während der Messe unentschuldbar. Aber Johann war das vollkommen egal. Besondere Situationen erfordern eben besondere Maßnahmen!, dachte er. Er flitzte mit der Münze in der Hand zur Kirchentüre, und legte sie darunter. Dann baute er sich mit einem Klingelbeutel25 in der Tür auf, wie er es am Ende der Messe immer tat. Dann konnte er den Gläubigen, die die Kirche verließen, noch eine Spende abnehmen. Nach der Kommunion war die Messe zu Ende, und die Bürger verließen einer nach dem anderen die Kirche. Als alle gegangen waren, sah Johann sich in der Kirche noch einmal um. 24 25 Kreuzfettmännche= Bezeichnung für eine Münze dieser Zeit Klingelbeutel= Behältnis zum Sammeln der Geldspenden ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 53 Da! In der dritten Reihe, am gleichen Platz wie vorher, saß eine in einen grauen Umhang gehüllte Frau. Sie saß regungslos da, und machte überhaupt keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen. Johann wurde es nun doch etwas mulmig; er war alleine mit der verhassten Hexe in der Kirche! Langsam ging Johann durch die Sitzreihen nach vorne, bis er im Mittelschiff der Kirche auf Höhe der dritten Reihe angekommen war, in der die vermummte Gestalt saß. „He, Weib, was sitzt du noch da?“, fragte er scheinheilig, so als hätte er keine Ahnung, aus welchem Grund die Frau noch dort saß. Verdammte Hexe, jetzt habe ich den Beweis!, dachte er hingegen. Er sprach zu Catharina: „Wartest du etwa noch auf jemanden? Es ist außer uns beiden niemand mehr hier!“ „Nein, Küster, ich warte auf niemanden. Aber ich warte darauf, dass du das Hindernis entfernst, welches unter der Schwelle der Kirchentüre gelegt wurde. Ich kann nämlich die Kirche sonst nicht mehr verlassen!“ Sie klang völlig gelassen, keine Spur von Aggressivität lag in ihrer Stimme. „Aber das weißt Du ja, du hast es ja selbst dorthin gelegt.“, setzte sie hinzu. „Hah! Habe ich dich!“, rief Johann triumphierend aus. „Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet! Endlich habe ich dich gefangen nehmen können!“ Er begann schon wieder zu sabbern vor Erregung. „Ganz sicher werde ich das Hindernis noch nicht entfernen, denn ich werde jetzt den Pfarrer bitten, einen Exorzismus an dir vorzunehmen, um dir deine dämonischen Flausen ein für alle Mal aus deinem hübschen Weiberkopf auszutreiben! Oder zumindest will ich mir die Genehmigung seiner Hochwürden einholen, euch der Gerichtsbarkeit zu überstellen, seid ihr doch der Hexerei bereits überführt!“ Mit diesen Worten eilte Johann in die Sakristei der Kirche, um den Pfarrer zu holen. Keine zwei Minuten später, kehrte Johann mit zerknirschtem Gesichtsausdruck in die Kirche zurück, ging zur Tür, und nahm die Münze darunter hervor. Eine Schande!, sagte er in Gedanken zu sich, Jetzt sind Hochwürden selbst bereits vom rechten Weg abgekommen! Was leben wir nur in einer Zeit? Noch nicht einmal eine Kirche ist mehr vor dem Hexenvolk sicher, und wenn ein braver Küster eine solche Kreatur der Hölle stellt, dann wird er dafür auch noch ausgescholten! Pah! Johann war zutiefst enttäuscht. Er hatte dem Pfarrer mit vor Stolz geschwellter Brust erzählt, was er getan hatte, und dass er nun die Hexe aus dem Gelderland, die Catharina Elisabeth Schuif, endlich dingfest gemacht habe. Er bat um einen Exorzismus, oder wenigstens darum, dass er die Frau gefangen nehmen lassen durfte. Der Pfarrer hatte sich den Bericht in aller Ruhe angehört, und dann zu Johann gesagt: „Küffer! Was fällt ihnen nur ein! Sie nehmen es sich heraus, in einem Tempel des Herrn einen Menschen gefangen zu nehmen? Und mit welchen Methoden? Eine Münze unter einer Türe? Das klingt nach närrischem Aberglauben! Aber da dieser Vorgang bei der Frau Wirkung zeigt, muss es ein Zauber sein! Und keiner, dem Gott zustimmen würde, Johann! Die Kirche ist ein Ort der Zuflucht, ein Asyl den Verfolgten! Nicht ein Kerker! Was habt ihr euch dabei nur gedacht, Johann Küffer? Wollt ihr unsere Propsteikirche entweihen? Sputet euch, und lasst die arme Frau ihrer Wege gehen! Und kein Wort mehr von dieser ganzen Hexengeschichte! Ihr könnt diese Frau verfolgen und meinetwegen verhaften lassen, aber nicht in meiner Kirche! Und nun geht!“ der Pfarrer war nun gar nicht mehr gelassen, und drehte Johann wutschnaubend den Rücken zu. Johann verstand die Welt nicht mehr. Unfähig etwas zu sagen, ging er wortlos in die Kirche zurück. Als er die Münze entfernt hatte, erhob sich augenblicklich die vermummte Frau in der dritten Reihe. Gelassen und sehr langsamen Schrittes ging sie auf den Ausgang der Kirche zu, und ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 54 erreichte kurz darauf Johann Küffer, der sich ängstlich und zitternd mit dem Rücken an die Kirchentür drückte, und sich bekreuzigte. „Eure Idee ist wohl nicht auf viel Gegenliebe gestoßen bei dem Herrn Pfarrer, was? Ich werde nun gehen, Johann, aber nicht für lange. Wir treffen uns wieder, und dann unter anderen Vorzeichen!“ Die Stimme der jungen Frau wurde immer durchdringender, und sie begann, die S- Laute etwas mehr zu betonen, so dass es ein wenig nach einem Fauchen klang. Johann hätte schwören können, dass die Zähne der Frau spitzer und etwas länger geworden waren, während sie sprach. „Ihr werdet noch an mich denken Johann! Ich verfluche euch und eure ganze verdammte Stadt! Und für euch, Johann, hebe ich mir etwas Besonderes auf, das verspreche ich euch!“ „Hah! Geht nur einen Schritt aus der Kirche heraus, und ich bin an die Weisung des Pfarrers nicht mehr gebunden! Und dann lasse ich euch verhaften!“ Johann war völlig fertig, teils vor Wut, und teils vor Angst. „Versucht es nur!“, sagte die Hexe gelassen, und löste sich mit einem leisen Lachen in tausend kleine, schwarze Würmer auf, die sich nach nicht einmal einer Sekunde in Nichts auflösten… Knapp zehn Tage später, in der Nacht zum 27. Mai 1547, brannte die Stadt aus ungeklärten Gründen fast völlig nieder. Die ganze Stadt war wie eine riesige, verkohlte Wunde in der Landschaft. Und die Wunde, die die Stadt Jülich war, musste bluten. Hunderte Bürgerinnen und Bürger fielen den Flammen zum Opfer, und kaum ein Haus stand mehr an seinem Platz. Auch die Godderts, Hauffes und die alte Jungfer Schmitz verbrannten qualvoll im flammenden Inferno. Die Kirche blieb von der Katastrophe verschont, und so überlebte auch Johann Küffer den Brand. Aber von dieser schrecklichen Nacht der Flammen an lebte er in Angst, und wartete auf die Rückkehr der Hexe. „Und für euch hebe ich mir etwas Besonderes auf!“, hatte sie ihm versprochen… Montag, 8. März 2004, Jülich „So, Herr Templeton, das war’s dann auch schon. Der Verband kann jetzt für zwei, drei Tage auf der Wunde bleiben. Dann sollten sie sich wieder bei uns oder besser bei ihrem Hausarzt wegen eines Verbandwechsels melden. Die Wunde wird auch sicher noch ein paar Tage wehtun. Aber ich verschreibe ihnen ein Präparat gegen die Schmerzen, und so sollten sie sehr bald wieder fit sein. Sie sollten sich besser in der nächsten Zeit nicht mehr mit Raubkatzen anlegen. Eine Frage, aus reiner Neugier: Arbeiten sie beim Zirkus?“, fragte der behandelnde Arzt in der chirurgischen Abteilung des Jülicher Krankenhauses. „So was ähnliches.“, antwortete ich dem Arzt, und ich konnte ein Schmunzeln um Driscolls Mundwinkel erkennen. Ich hatte mich mit James Driscoll nach unserer Begegnung mit der Gestaltwandlerin im Hexenturm ins Krankenhaus begeben, um meine Wunden behandeln zu lassen. Die Katze, oder was immer es für eine Kreatur war, hatte meinen Brustkorb böse zerkratzt. Die Verletzungen waren sehr schmerzhaft, aber zum Glück nicht besonders schwer. Ich konnte bereits nach zwei Tagen das Krankenhaus wieder verlassen. Vier Stunden später, ich war noch schnell nach Aachen gefahren, denn ich brauchte dringend neue Kleidung, da die alte von der Katze völlig zerfetzt wurde, trafen wir uns wieder in Driscolls Hotelzimmer in der „Alten Post“. Dort wartete der Engländer bereits auf mich. Er teilte mir mit, dass die Aachener Polizei bei ihm angerufen habe, und mich hatte sprechen ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 55 wollen. Da ich aber gerade selbst in Aachen war, bot Driscoll dem anrufenden Beamten an, etwas ausrichten zu wollen, wenn ich zurückgekehrt sei. Der Beamte hatte dies aber abgelehnt, und um meinen Rückruf gebeten. Ich wählte sofort die Nummer der Mordkommission, denn ich wartete dringend auf Ergebnisse der Nachforschungen zu dem Begriff „Da Como“. „Kriminalpolizei Aachen, Schubert am Apparat, was kann ich für sie tun?“, tönte es aus dem Hörer. „Hallo Bertbert, stell mich doch bitte mal zu den Jungs bei der Mordkommission durch, ja?“, bat ich Robert Schubert, den alle wegen der gleich klingenden Schlusssilben seines Namens „Bertbert“ nannten. „Ah, Rick, du bist´s. Warte, ich stell dich sofort durch. Machs gut!“ Bertbert schaltete mich auf die Warteschleife, während er die Nummer der Kommission anwählte, um meinen Anruf anzukündigen. Er war bei einer Schießerei mit ein paar Drogendealern in der Aachener Innenstadt so schwer verletzt worden, dass er in den Innendienst versetzt wurde, da er dem harten Dienst auf der Straße nicht mehr gewachsen war. Fahrstuhlmusik plärrte scheppernd aus dem Hörer. Nach ein paar Sekunden knackte es kurz im Hörer, und ein Kollege meldete sich. „Hallo Rick, schön dass du anrufst. Wie geht es dir? Es hieß, eine Katze hätte dich übel zugerichtet. Hattest wohl zu wenig Katzenfutter dabei, was?“, scherzte der Polizist. Ja ja, Schadenfreude ist die schönste Freude, schoss es mir durch den Kopf. „Lass den Quatsch, Tom, sag mir lieber, was ihr habt. Es geht um die „Da Como“- Sache, richtig?“, kürzte ich den Small-Talk ab, und kam direkt zur Sache. Die ganze Geschichte zerrte doch zu sehr an meinen Nerven. Ich wollte den Fall so schnell wie möglich abschließen, und dann wieder mit ganz irdischen Fällen weitermachen. Oder einem Urlaub in der Sonne. „Genau, Rick, darum geht’s. Warte, ich schnappe mir mal kurz die Akte, und lese Dir den ganzen Kram vor.“ Es dauerte wieder ein paar Sekunden, bis Tom Schäfer die Akte geholt hatte, dann nahm er den Hörer wieder zur Hand, und gab durch: „Vincenze Luciano Da Como, geboren 1947 in Bologna, Italien. Studium der Archäologie, mittlerweile ein prominenter Vertreter seines Fachs, ist Professor. Befasst sich wohl hauptsächlich mit okkulten Gegenständen, die er ausgräbt. Zuletzt war er auf der Suche nach einem so genannten „Hexenstein von Turin“, der unter dem 1498 erbauten Dom in Turin liegen soll. Aber er ist seit dem Beginn der Ausgrabungen verschwunden. Jedenfalls wurde er vor gut drei Monaten von seiner Sekretärin bei der italienischen Polizei vermisst gemeldet. Laut ihren Aussagen soll dieser Hexenstein wohl magische Kräfte besitzen. Irgend so eine bescheuerte alte Überlieferung soll wohl besagen, dass derjenige, der den Stein besitzt, magische Fähigkeiten erhält.“ Ich hatte die Lautsprechtaste am Telefon gedrückt, damit Driscoll den Anruf mit verfolgen konnte. Er fragte sofort: „Welche Fähigkeiten? Das würde mich mal interessieren!“ „Rick, wer war das? Bist du nicht alleine am Apparat? Du weißt doch, dass alle Angaben, die wir dir machen, streng vertraulich zu behandeln sind!“ „Ja, selbstverständlich, Tom. Das war James Driscoll, ein Kollege aus London. Wir bearbeiten den Fall gemeinsam. Nun mach schon, beantworte bitte seine Frage, OK?“ Tom murmelte etwas von wegen „verrückte Engländer“ und „so ein Hexenquark, total bescheuert“, und berichtete dann laut weiter: „Also, es heißt wohl in irgendwelchen alten Texten, dass derjenige, der diesen Stein trägt, die Möglichkeit hat, Hexenwesen zu sich zu rufen oder von den Toten zu erwecken, und sie sich zu Dienern zu machen. Er kann aber wohl auch dazu verwendet werden, Hexen und andere „Wesen der Hölle“ zu bannen oder zu vernichten. Fragt mich jetzt bloß nicht, wie das gehen ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 56 soll. Das steht hier nämlich nicht. Weiter wird berichtet, der Träger des Steins könnte so etwas wie Unsterblichkeit erlangen, in dem er die Wesen, die er mit Hilfe des Steins beherrscht, dazu zwingt, Menschen zu töten und deren Lebensenergie auf den Steinträger zu übertragen. Das war’s. Ziemlich lächerliches Zeug, wenn ihr mich fragt. Dieser Da Como beschäftigt sich mit Märchenscheiß, und wahrscheinlich verdient er sich noch ne goldene Nase damit! Na, was soll’s. OK Rick, das war’s. Dann ermittelt mal schön weiter. Und lasst euch nicht von der bösen Hexe in den Ofen stoßen!“ Gelächter war im Hintergrund zu hören, offensichtlich hatte die gesamte Aachener Mordkommission das Gespräch mit verfolgt. „Lustig, Tom, echt witzig!“, antwortete ich, und legte auf. „Nun, das erklärt dann ja so einiges!“, sagte Driscoll. „Was denn bitte? Also für mich ergibt die ganze Sache noch immer keinerlei Sinn!“ gab ich zurück. „überlegen sie doch mal, Rick. Dieser Vincenze Da Como suchte nach dem Hexenstein, und dann, ganz plötzlich, verschwand er von der Bildfläche. Und dann wird hier in Jülich ein Museumsmitarbeiter in einem Gebäude namens Hexenturm von einer Katze getötet. Aber nicht von einer gewöhnlichen Katze, sondern von einer Frau, die sich in eine Katze wandeln kann. Einer Hexe, Rick! Das ist das ganze Geheimnis! Vincenze Da Como hat die Hexe wieder zum Leben erweckt, mit Hilfe des Steins! Wahrscheinlich war diese Hexe einmal hier im Hexenturm eingesperrt gewesen, oder wurde sogar hier getötet. Sie selbst haben mir doch berichtet, dass der Turm als Gefängnis und Folterstätte für Hexen verwendet wurde!“ „Ja, das ist korrekt. Aber warum Jülich? Da Como ist doch in Italien verschwunden!“, fragte ich. „Ich nehme an, der Archäologe will tatsächlich durch den Stein eine Art der Unsterblichkeit erlangen. Und da wird er eben alle Hexen, von denen er zweifelsohne durch seine berufliche Erfahrung weiß, erwecken und zu seinen Dienern machen wollen. Der Archivar musste vermutlich nur aus einem Grund sein Leben lassen; damit das von Da Como verlängert werden konnte.“ Das leuchtete mir ein. „Aber dann haben wir jetzt ein Problem: Wir können den Fall nur hier in Deutschland bearbeiten, James. Wir werden schon Probleme bekommen, wenn wir überregional ermitteln wollen. Andere Polizeieinheiten werden ihre Zuständigkeit einfordern, und in Italien können wir schon gar nichts ausrichten!“ „Da werden sie Recht haben, Rick. Leider. Sie können vermutlich nur einen Bericht über das schreiben, was hier in Jülich vorgefallen ist. Ich kann aber nach Italien fahren. Ich habe schon oft im Auftrag des Yard international ermittelt. Ich nehme ebenfalls an, unsere Zusammenarbeit wird hier vorerst enden.“ „Schade.“, antwortete ich. Und ich meinte es auch so. Da ich ohnehin meine Einstellung zu allem Übersinnlichen zu überdenken hatte, hätte ich gerne mehr von James Erfahrungen profitiert. Die Begegnung mit dem Wesen im Hexenturm hatte mir die Augen geöffnet. Hatte ich bis dahin alle Berichte über Geistererscheinungen und ähnliches für Phantasterei gehalten, war ich nun zumindest dazu bereit, eine übersinnliche Ursache in Betracht zu ziehen. Und diese Katze könnte tatsächlich eine Hexe gewesen sein! Vielleicht hatte sie zu Lebzeiten die Fähigkeit erlernt, die Kräfte der Katzen zu nutzen. Und nun, nachdem sie bereits Jahrhunderte tot war, war sie durch einen so genannten Hexenstein dazu gezwungen worden, ihre Fähigkeiten in den Dienst eines italienischen Wissenschaftlers zu stellen. Und genau da endete der Fall für mich. Nach Italien konnte ich nicht. Ich würde nun vermutlich ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 57 nur noch einen Bericht schreiben können, und den Fall dann ad acta legen. Aber was sollte ich denn in den Bericht schreiben? „Archivar Bruckner starb, weil sich ihm eine Hexe in Form einer großen sprechenden Katze in den Weg stellte, an einem Herzinfarkt?“ Das würde wohl mit meiner Versetzung in den Streifendienst enden. Wenn ich Glück hatte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was am Ende wirklich in den Bericht stand. Es würde wohl bei einem einfachen Herzinfarkt bleiben. Die Verletzungen würden mit einem Sturz auf der engen Wendeltreppe erklärt werden, und damit wäre der Fall nicht mehr Sache der Mordkommission, und ginge zu den Akten. Das Böse hat triumphiert!, ging es mir durch den Kopf. In diesem Moment kam der Anruf. „Templeton, hören Sie? Hier spricht die Jülicher Polizei! Wir haben Driscolls Telefonnummer im Hotel von ihren Kollegen in Aachen erhalten. Begeben sie sich umgehend zum Museum in der Zitadelle! Ein Mord ist dort geschehen! Beeilen sie sich!“ Mittwoch, 14. Januar 1553, Jülich „Gestehst du jetzt, Catharina Elisabeth Schuif, dich gegen den Herrn versündigt, und dem Satan zugewandt zu haben? Dass du im Bunde mit den Mächten der Finsternis stehst, und mit deren Hilfe Hexenwerk wider deine Mitmenschen gerichtet hast?“, fragte Theodor von Bergen, erster Commissario des Jülicher Haupt- und Criminalgerichts die Hexe aus dem Gelderland. „Nein!“, schrie Catharina unter Schmerzen, denn der Assistent des Commissario hatte die Streckbank, auf der die Hexe lag, wieder etwas straffer gekurbelt. „Ich stehe weder mit dem Satan im Bunde, noch habe ich jemals Hexenwerk gegen irgendjemanden angewendet! Ich gebe zu, einige erlernte Fähigkeiten zum Wohle meiner Mitmenschen eingesetzt zu haben, die ihr vielleicht als Hexerei abtun würdet. Aber es ist nichts weiter als ein wenig Kräuterzauber, und selbst Könige haben Pflanzenkundige schon als persönliche Berater eingesetzt! Waren die auch alle Hexer?“ „Still, Weib!“, brüllte von Bergen, und sagte, an den Assistenten gewandt, „Noch zwei Finger breit werden ihr nicht schaden, ich komme in einer halben Stunde zurück. Und dann wird das Weib vielleicht doch noch gestehen wollen! Gebt ihr einen Schluck Wasser, ich möchte nicht, dass sie uns noch verdurstet, schließlich wollen wir zuvor noch ihr Geständnis dokumentieren!“ Mit diesen Worten drehte er sich um, und verließ die Folterkammer. Seit gut vier Jahren saß die Frau nun schon im neuen Gefängnis des Jülicher Haupt- und Criminalgerichts gefangen. Sie wurde im Wald in der Nähe des Örtchens Müntz aufgegriffen, als sie mit gestohlenem Gemüse in ihrem Umhang zu einer primitiven Hütte zurückkehren wollte, in der sie sich anscheinend häuslich eingerichtet hatte. Gefangen genommen wurde sie aber nicht nur wegen des Diebstahls, sondern aufgrund der Zeugenaussagen zweier hoch angesehener Herren der Stadt Jülich. Der Küster der Propsteikirche, Johann Küffer, berichtete davon, die Frau bereits einmal in der Kirche festgehalten zu haben. Als er sie dann auf Geheiß des Pfarrers freilassen musste, schwor diese Rache an den Menschen der Stadt. Und kaum zehn Tage später lag die gesamte Stadt in Schutt und Asche. Der Pfarrer bestätigte die Aussagen des Küsters, wenn auch widerwillig. Catharina Elisabeth Schuif wurde daraufhin des Diebstahls, der Brandstiftung und Hexerei beschuldigt, und ein Inquisitor wurde angefordert. Allerdings war der Herzog strikt gegen einen Hexenprozess in seiner Stadt, und schickte den Inquisitor wieder fort. Da die Macht des Herzogs aber nicht bis hinter die Gefängnismauern reichte, wurde Catharina des Diebstahls und der Brandstiftung angeklagt, ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 58 und nach lächerlich kurzer Verhandlung ins Gefängnis gesperrt. Drei Jahre saß sie in einem zugigen Loch eines ehemaligen Wachhauses der herzoglichen Garden, bis die Stadt wieder soweit aufgebaut war, dass sie ein neues Gefängnis erhielt. Der berühmte Architekt Alessandro Pasqualini, der im italienischen Bologna geboren wurde, hatte vor einigen Jahren damit begonnen, die völlig niedergebrannte Stadt wieder aufbauen zu lassen, und hatte sie nach dem Vorbild einer italienischen Idealstadt im Stil der Renaissance konzipiert. Diese Idealstadt hätte nie gebaut werden können, wenn das bis dahin mittelalterliche Jülich nicht fast vollkommen abgebrannt wäre. Es gab Gerüchte, nicht die Hexe habe die Stadt angezündet, sondern es sei auf Geheiß des Herzogs geschehen. Und natürlich hätte es den Wiederaufbau in dieser Form ohne den berühmten Architekten aus Italien auch nie gegeben. Den Kontakt zu dem Städteplaner hatte Herzog Wilhelm V. nur herstellen können, weil er im Jahre 1546 die Nichte Kaiser Karls V. geheiratet hatte. Diese Nichte, Maria von Habsburg, band den Herzog an das Haus der Habsburger, und dadurch erhielten die vereinigten Herzogtümer Zugriff auf die moderne italienische Befestigungstechnik. Und damit auch die Verbindung zu dem berühmten Architekten, welcher im Jahre 1549 dann mit dem Wiederaufbau begann. Er errichtete rund um die Stadt ein Bastionärsystem26. Aus Stein und Erdmaterial erbaute er die Stadtbefestigung. Üblicherweise wurden die Städte der Renaissance von einem Bollwerk umgeben, dass auf einem Polygon27 als Grundform basierte, und aus Kurtinen28 und Bastionen29 bestand. Um dem Beschuss durch feindliche Kanonenkugeln besser standhalten zu können, wurden die Mauern in tiefe Gräben so weit eingesenkt, dass gerade noch eine höhere Schussposition gegenüber dem Angreifer erhalten blieb. Für das noch mittelalterliche Jülich, auf einer schmalen Landzunge im engen Rurtal gelegen, änderte Pasqualini das regelmäßige Fünfeck als Grundfigur ab, so dass bei gleichen Seitenlängen ein gestauchtes Fünfeck entstand. Die Nordostecke dieses neuen Befestigungspolygons wurde mit einer Zitadelle ausgestattet. Die übrigen vier Ecken versah er mit vier „Stadtbastionen“. Durch diese umfangreiche Veränderung der Verteidigungsanlagen wurde die mittelalterliche Stadtmauer mit ihren Stadttoren überflüssig. Große Teile der Stadtmauer wurden nach und nach abgerissen, und deren Steine für den Bau von Häusern verwendet. Das Rurtor blieb stehen, und wurde von nun an als neues Gefängnis und auch als Folterkammer des Jülicher Haupt- und Criminalgerichts genutzt. Und als die Hexe aus dem Gelderland in diesem Gefängnis eingekerkert wurde, erhielt das alte Stadttor den neuen Namen „Hexenturm“. Eine halbe Stunde später erschien Theodor von Bergen wieder in der Folterkammer des Hexenturms. „Und? Hat das Weib endlich Vernunft angenommen?“ „Nein, Commissario. Heute genauso wenig wie die anderen Male.“, antwortete der Wachmann. „Verdammt. Na ja, dann ist es genug für heute. Bringt sie in ihre Zelle zurück. Heute gibt es nichts zu Essen für Dich, Hexenweib!“ Commissario von Bergen drehte sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Raum. Darauf hatte Catharina gewartet! 26 Bastionärsystem= am konsequentesten durchdachter Typus von Befestigungsanlagen Mitte des 16. Jahrhunderts, in Italien entwickelt 27 Polygon= regelmäßiges Vieleck 28 Kurtine= gerade Mauerabschnitte 29 Bastionen= Pfeilförmige Bollwerke ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 59 Sie war bereits so oft in die Folterkammer des Turms geführt worden, dass sie die Anzahl der „Foltersitzungen“ gar nicht mehr zu zählen wusste. Und auch bei den Wachleuten war in den letzten Monaten eine gewisse Routine eingekehrt. Und heute hatten die beiden Wachmänner sie aus ihrer Zelle in die Folterkammer gebracht, ohne ihr die schweren Ketten anzulegen, wie sie es sonst taten. Und zum ersten Mal seit über drei Jahren war der Commissario nicht dabei, als sie in ihre Zelle zurückgebracht wurde. Das war die Gelegenheit! Nicht gefesselt, und nur zwei lächerlich unachtsame Wachmänner! Natürlich hätte Catharina die ganze Zeit über ihre Kräfte einsetzen können, aber durch die andauernde Folter wäre sie zu schwach gewesen, sich aus den Ketten zu befreien, dann drei Menschen zu überwältigen und aus den Mauern des Turms zu entfliehen. Aber nun musste sie sich um die Ketten keine Sorgen mehr machen, und die beiden Wachmänner waren ebenfalls sehr unachtsam. Sie würde einfach all ihre Kräfte zusammennehmen, sich „auflösen“, und auf direktem Wege in irgendeine Scheune flüchten. Dort würde sie auf den Einbruch der Dunkelheit warten, um dann im Schutze ihrer Tiergestalt nach Aachen zu ziehen. Vorher aber wollte sie dem verhassten Küster einen kleinen Besuch abstatten. Sie ging zwischen den beiden Wachleuten. Kurz bevor der Gang zu ihrer Zelle nach links abbog, ließ sich Catharina zwei Schritte zurückfallen, so dass die beiden bewaffneten Männer vor ihr in den Gang abbogen. Sie ging nicht hinter ihnen her, sondern verwandelte ihre Hände. In die Pranken einer menschengroßen Katze! Die Männer bemerkten, dass Catharina ihnen nicht mehr folgte, und drehten sich instinktiv um, um nachzusehen. Das war ein tödlicher Fehler! Die Männer kamen nicht einmal mehr dazu, ihre Waffen zu ziehen. Sie konnten nur noch mit verständnislos aufgerissenen Augen mit ansehen, wie die Frau mit gewaltiger Kraft die dolchartigen Krallen ihrer RaubkatzenPranken durch die Kleidung in ihre Brustkörbe trieb. Knochen barsten mit einem seltsamen Geräusch, so als ob junge Äste von einem Baum abgebrochen würden. Dunkles, warmes Blut schoss schwallartig aus den Körpern der beiden Männer, und ergoss sich über Catharinas Arme, ihren Umhang und über den Steinboden des Hexenturmes. Und als die Männer tot zusammenbrachen, stand Catharina über ihnen, die noch schlagenden Herzen der Wachmänner in ihren blutverschmierten Händen! Die Jahre der Gefangenschaft hatten alle Menschlichkeit und Skrupel von der einst so moralisch denkenden Hexe abfallen lassen. Und jetzt, da sie frei war, sann sie auf Rache! Und sie hatte noch ein Versprechen einzulösen! Und so machte sich die Hexe auf den Weg zum Küster der Propsteikirche. Sie flüsterte einen alten lateinischen Spruch, und entmaterialisierte sich. € Was war das?, dachte Johann Küffer, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Soeben hatte er noch fest geschlafen, und von Kurtisanen30 aus dem Orient geträumt. Und nun saß er aufrecht in seinem Bett, und horchte in die Nacht. Es war stockdunkel in seinem Schlafzimmer, und die nächste erreichbare Kerze stand auf einem Tisch, unerreichbare drei Meter vom Bett entfernt. „Wer ist da?“, fragte Johann ängstlich in die Dunkelheit. Seine Stimme zitterte. 30 Kurtisane= Geliebte eines Adligen/ Halbweltdame ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 60 Nichts zu hören. Ich muss mich geirrt haben, sagte Johann in Gedanken zu sich. Oder in meinen wundervollen Traum mit den prallen Weibern hat sich ein Alptraum geschlichen, sann er. Dann legte er sich laut gähnend wieder hin, zog sein Laken hoch bis ans Kinn, und drehte sich auf die Seite. In diesem Moment zerbarst das Schlafzimmerfenster! Während Johann sich mit schreckgeweiteten Augen aufrichtete, und vor lauter Panik einen schrillen Schrei ausstieß, prasselten die Scherben der Fensterscheibe auf den Boden des Schlafzimmers, und verursachten einen infernalischen Lärm. „Verdammt, was soll das?“, schrie Johann gegen das Scheppern des Glases an. „Wenn das ein Lausbubenstreich sein soll, dann wird es euer letzter sein! Niemand wirft Steine nach Johann Küffers Fenster!“ Johann glaubte selbst nicht an einen Kinderstreich, hier war wohl der Wunsch Vater des Gedanken. Und in der nächsten Sekunde erhielt Johann die Antwort auf seine Frage. Es waren keine Kinder. Es waren Katzen! Mindestens zwanzig der krallenbewehrten Tiere sprangen laut fauchend, mit hellgrün leuchtenden Augen und gefletschten Fangzähnen durch das Fenster in Johanns Schlafzimmer. Er sah nur die Augen und die Zähne, und es versetzte ihn in einen Zustand äußerster Panik. Jetzt nur nicht durchdrehen!, ermahnte er sich selbst, und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Das fiel ihm sehr schwer, denn ein Gedanke versuchte pausenlos, alle anderen aus seinem Bewusstsein zu verdrängen: Weglaufen!, schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. Aber das war gar nicht möglich! Er konnte, abgesehen von den fürchterlichen Augen und Zähnen, nichts sehen. Die Tür befand sich hinter der fauchenden Wand, so dass sie als Fluchtweg vorerst ausschied. Durch das Fenster passte er nicht hindurch, es war zu klein. Was tun? Er musste sich einen Überblick über die Situation verschaffen, dass wurde ihm plötzlich klar. Die Kerze! Er atmete tief ein, nahm all seinen Mut zusammen, und schritt zügig in Richtung des Tisches. Sehen konnte er nahezu nichts, aber er lebte bereits so lange in diesen Räumen, dass er sie mit geschlossenen Augen durchschreiten konnte. Er war bis auf zwei Schritte an den Tisch herangekommen, als es begann. Zuerst war es ihm gar nicht so bewusst geworden, er erfasste es nur aus den Augenwinkeln. Es kam Bewegung in die Katzenmeute. Die meisten der grün leuchtenden Augen bewegten sich etwas nach hinten, von ihm weg. Vier der Tiere kamen aber auf ihn zu, fauchten drohend, und fletschten wieder die spitzen Zähne, die wie aus sich selbst heraus leuchteten. Johann registrierte ganz nebenbei, dass sich etwas oberhalb der vielen Reißzähne noch ein weiteres Raubtiergebiss befand, etwas größer als die anderen. Aber es leuchteten keine grünen Augen darüber. In diesem Moment erreichte Johann den Tisch. Er stieß leicht dagegen. Wie auf ein Kommando stürzten sich plötzlich die Katzen auf ihn! Er spürte, wie die Tiere ihre Krallen in die nackten Waden seiner Unterschenkel schlugen. Schmerz flammte auf, der Johann fast den Verstand zu nehmen drohte. Er schloss die Augen, sein Gesicht nahm einen verzerrten Ausdruck an, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass einer seiner Backenzähne mit einem leisen Knirschen zerbrach. Der Zahn war ohnehin kariös und morsch gewesen, aber diese Erkenntnis nutzte Johann nun auch nichts mehr. Zu den brennenden Schmerzen, die die frischen Risswunden an seinen Beinen verursachten, kamen nun auch noch Zahnschmerzen hinzu. Immer wieder schlugen die vier Katzen, es ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 61 waren normale Katzen, keine riesigen Kreaturen, ihre Krallen in Johanns Körper. Er mobilisierte all seine Willenskräfte, und ignorierte die Schmerzen so gut er konnte. Er ergriff die Kerze, zog sie über die Tischplatte auf sich zu, und tastete den Tisch nach den Schwefelhölzern ab, die hier irgendwo liegen mussten. Unablässig fuhren die Krallen der Tiere durch seine Beine, und Johann spürte das warme Blut an ihnen herab laufen. Er konnte die einzelnen Hiebe der Katzen schon gar nicht mehr auseinander halten, seine Beine bestanden für ihn nur noch aus Feuer, brennendem Schmerz in seiner reinsten Form. Da! Die Schwefelhölzer! Gott sei Dank!, dachte Johann. Hastig griff er nach einem der Hölzer, und riss es auf der rauen Oberfläche der Tischplatte an. Die Flamme flackerte auf, und im ersten Moment war Johann von der plötzlichen Helligkeit etwas geblendet. Aus zusammengekniffen Augen erkannte er gerade noch, wie etwas Graues, Getigertes auf ihn zugeflogen kam. Am vorderen Ende des grau getigerten Etwas befanden sich zahlreiche Klauen und Zähne, und Johann war schlagartig klar, dass es jetzt um sein Gesicht ging! Er war nicht bereit, sich von den Raubtieren, die in sein Schlafzimmer eingedrungen waren, sein Gesicht zerkratzen zu lassen. Aus einem Reflex heraus schlug er nach der heranfliegenden Katze, und traf sie mit der Hand, die das Schwefelholz hielt, am Kopf. Das brennende Hölzchen bohrte sich mit einem schmatzenden Geräusch in ein Auge der Katze, und erlosch, während es darin verschwand. Durch die Wucht des Schlages wurde das Tier herumgeschleudert, und flog in hohem Bogen an Johann vorbei in Richtung Tischkante. Es knackte trocken und deutlich hörbar, und dann fiel die Katze mit gebrochener Wirbelsäule zu Boden. Leise Miauend blieb sie dort regungslos liegen. Johann, von seiner eigenen Kraft überrascht, witterte Morgenluft. Er riss sich zusammen, griff schnell nach einem weiteren Schwefelholz, entzündete es und hielt die Flamme an die Kerze. Licht durchflutete den Raum. Triumphierend warf Johann den Kopf in den Nacken, und rief: “Hah! Jetzt geht’s euch Viechern an den Kragen! Und dann schnappe ich mir den Kerl, der euch auf mich gehetzt hat!“ Mit neu gewonnenem Selbstvertrauen drehte sich Johann um. Er hielt die Kerze vor seinen Körper, und ließ die Helligkeit der Kerzenflamme durch den Raum in Richtung der übrigen Katzen kriechen. Und als er die Tiere sah, verließ ihn sein Selbstvertrauen schlagartig wieder. Und wich panischer Angst! „Nur zzu!“, fauchte eine der Katzen, und dann war es dem Küster klar. Das größere Katzengebiss, das in der Dunkelheit geleuchtet hatte, gehörte dieser verdammten Kreatur, dieser Hexe in Katzengestalt! Er hatte nur deswegen keine grün leuchtenden Katzenaugen über den Zähnen leuchten sehen, weil die Augen der großen Katze die eines Menschen waren! Blaue Augen! „Catharina Elisabeth Schuif!“, entfuhr es dem entsetzten Küster. „Was willst du von mir?“ „Dass weißt du nicht?“, fragte die Katze ihn, und bewegte sich auf ihren leisen Pfoten auf den verängstigten Mann zu. „Habe ich Dir nicht verssprochen, dasss ich mir für dich etwass ganz Bessonderess aufheben würde? Nun, ich pflege meine Verssprechen einzuhalten, und desshalb bin ich hier. Und ich habe einige meiner kleinen Freunde mitgebracht. Und wir werden viel Spasss zussammen haben, Johann.“, fauchte die Kreatur. “Ssehr viel Spasss. Aber ich fürchte, für dich wird ess dass letzte Vergnügen deiness Lebenss ssein, mit unss zu sspielen!“ Nachdem die Hexe in Tiergestalt den Satz geendet hatte, spannte sie ihre Muskeln an, duckte sich zum Sprung, und stieß sich kraftvoll mit den Hinterbeinen vom Boden ab. Im Sprung riss sie die Vorderbeine hoch, und fuhr die zentimeterlangen, messerscharfen Krallen aus. Als sie Johanns Gesicht in Reichweite hatte, schlug sie zu. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 62 Der Küster hatte keine Chance, auszuweichen. Alles geschah viel zu schnell für ihn. Die Klauen der höllischen Kreatur fuhren wie Skalpelle durch sein Gesicht, und hinterließen eine Spur der Zerstörung. Beide Augen wurden ihm im Bruchteil einer Sekunde genommen! Mit einem Geräusch, als hätte man eine faule Traube zertreten, platzten seine Augäpfel, und gaben die Flüssigkeit in ihrem Innern frei. Blut schoss in Strömen aus mehreren tiefen Schnittwunden an seinem Gesicht hinab, und lief ihm auch in die vor Schmerzen pulsierenden Augenhöhlen hinein, in denen bis vor kurzem noch seine Augen ihren Platz hatten. Der Schmerz war nicht auszuhalten! Nach Leibeskräften schreiend taumelte Johann durch den Raum, und fast flehte er eine Ohnmacht herbei, nur damit er diesen Schmerz nicht mehr ertragen musste. Aber sein Verstand, der eigentlich nur noch im Hintergrund seines Bewusstseins seinen Dienst tat, erklärte ihm, dass er jetzt nicht ohnmächtig werden durfte, da er sich noch gegen dieses Monster und seine Katzen erwehren musste. Damit er nicht sein Leben in dieser Nacht in seinem Schlafzimmer ließ. Das Leben lassen! Sterben! Ja, das ist es!, fuhr es Johann durch den Kopf. Und obwohl er große Angst vor dem Tod und dem hatte, was danach kommen mochte, sehnte er sich den Tod regelrecht herbei. Keine Schmerzen mehr! Nie wieder!, schrie es in seinem Innern. Und dann übertönte sein Verstand seine Angst und den Wunsch nach Schmerzfreiheit. Er taumelte weiter durch den Raum, die Arme wild um sich her fuchtelnd. Er suchte nach einem Halt, einem Ausgang aus dieser Hölle, die einmal sein Schlafzimmer gewesen war. Aber er fand nichts. Nichts außer einem schweren Gegenstand, den er durch Ertasten zunächst gar nicht erkannte. Der Gegenstand war unerträglich heiß, und so konnte Johann ihn nur antippen, und auf diese Art versuchen, herauszufinden, worum es sich handelte. Der Ofendeckel!, wurde es ihm schlagartig klar. Und er witterte eine kleine Chance! Er hörte durch das Inferno der Schmerzen, dass sein gesamtes Sein auszufüllen drohte, dass die Katzen sich zu einem neuen, letzten Angriff auf ihn formierten. Er entschloss sich, von jetzt an keine Schmerzen mehr zu spüren, und packte mit beiden Händen fest den glühend heißen Ofendeckel, und hob ihn vom Ofen ab. Es funktionierte! Er spürte kaum Schmerzen! Sein Wille hatte gegen seine Nerven triumphiert! In diesem Glauben schwang Johann den schweren eisernen Ofendeckel hin und her, und merkte nicht, dass er nur deshalb keine Schmerzen mehr in seinen Händen spürte, weil sie mit dem glühenden Metall regelrecht verschmolzen, und die Nerven in den Händen nicht mehr existierten. Und sie verbrannten, während er den Deckel schwang. Und dann endete der Kampf! Johann wusste nicht wieso, aber plötzlich war es vorbei. Die Katzen waren verschwunden. Er war ganz alleine in seinem Schlafzimmer. Allein mit seinen unerträglichen Schmerzen. Er hatte es kaum wahrgenommen, aber er musste wohl den Ofendeckel nach einer der Katzen geschleudert haben. Und er hatte getroffen! Er hatte den Schlag und das Aufheulen der Katze gehört! Jedenfalls waren die Katzen jetzt weg. Sicher sind sie geflohen. Jetzt muss ich nur noch Hilfe finden!, dachte Johann. Es waren seine letzten Gedanken, bevor er die Besinnung verlor. Und er erwachte nicht mehr. Aus leeren Augenhöhlen blutend, lag der sterbende Küster auf dem Boden vor seinem Tisch im Schlafzimmer. Aus den Stümpfen am Ende seiner Unterarme ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman strömte dunkelrotes Blut schwallartig hervor, und bildete eine Lache rund um den Körper des Mannes. In einer Ecke des Zimmers lag ein eiserner Ofendeckel, an dem seltsam verkohlte Gebilde festgebacken waren, die erst auf den zweiten Blick als Hände zu erkennen waren… Montag, 8. März 2004, Jülich 63 James und ich erreichten das Museum „Festung Zitadelle“ wenige Minuten nach dem Anruf aus Aachen. Tatsächlich war dort ein Todesfall zu beklagen. Eine junge Frau, eine Touristin, war ums Leben gekommen. Ob es sich allerdings um einen Mord oder einen Unfall handelte, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Als James und ich am Tatort eintrafen, stellte sich die Situation so dar: Franziska König, eine 23-jährige Studentin aus Köln, besuchte mit Freunden den Jülicher Brückenkopfpark31. Im Eintrittspreis des Parks war der Eintritt in das Museum der Zitadelle enthalten, und Franziska hatte die Gelegenheit genutzt, ihren Wissensdurst im Museum zu stillen. Ihre Freunde hatten dazu allerdings keine Lust gehabt, und so hatten diese sich die Zeit in einem nahen Eiscafe vertrieben. Das Eiscafe hatte bereits seit Februar wieder geöffnet, und so konnten die Freunde sich bereits so früh im Jahr das beste italienische Eis der Stadt schmecken lassen. Ein Genuss, den die jungen Laute bald bereuen sollten, denn sie machten sich große Vorwürfe, nachdem sie vom Tod der Freundin erfahren hatten. Als Franziska nicht zur verabredeten Zeit im Eiscafe erschien, hatten sie sich auf den Weg zum Museum gemacht. Der Mann am Kassenhäuschen hatte nach einer längeren Diskussion einen Angestellten des Museums auf die Suche nach der jungen Frau geschickt, nachdem auch eine Durchsage über die Lautsprecher kein Ergebnis brachte. Der Angestellte fand die bedauernswerte Frau in einem der unterirdischen Ausstellungsräume. Der Raum war in früheren Zeiten als Küche des herzoglichen Schlosses genutzt worden. Und dort lag die junge Frau. Es war nur dem Zufall zu verdanken, und der Tatsache, dass es ein Montagnachmittag war, dass die Leiche nicht von anderen Museumsbesuchern gefunden wurde. Der Angestellte hatte sich mehrmals übergeben müssen, und es war ihm nicht zu verdenken. Der Körper der jungen Frau war übel zugerichtet worden. Der Bauch war aufgeschlitzt, und die inneren Organe waren im Umkreis von mehreren Metern um die Leiche herum verteilt worden. Das Herz wurde nicht gefunden. Die Augen waren der 23jährigen Studentin ausgekratzt worden, und ebenfalls unauffindbar. Identifiziert wurde die junge Kölnerin anhand ihres Personalausweises, den sie bei sich trug, und durch die Angaben der Freunde, die die Kleidung beschreiben konnten, die die junge Frau getragen hatte. Eine direkte Identifizierung der Leiche hatte man den jungen Leuten erspart. Selbst uns Polizeibeamten, die wir ja bereits den einen oder anderen Toten zu sehen bekommen hatten, verursachte der Anblick Übelkeit. Die Leiche wurde ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht, um die Todesursache hieb- und stichfest zu ermitteln. War es ein Mord oder ein bedauernswerter Unfall? Hatte ein entlaufenes Raubtier die Frau getötet? Vielleicht ein Kampfhund? Oder war ein wahnsinniger Killer in Jülich auf der Suche nach einem Opfer auf die junge Kölnerin getroffen? Die Obduktion des Leichnams sollte uns Gewissheit bringen. Während wir auf das Ergebnis der Leichenschau warten mussten, sahen James und ich uns in den unterirdischen Museumsräumen um. Das Gemäuer stammte aus der gleichen Zeitepoche wie der Hexenturm, und so hatten wir uns bereits unsere eigene Version des Tathergangs zusammengestellt. James und ich waren mittlerweile fest davon überzeugt, es 31 Brückenkopfpark= Ehem. Landesgartenschau (1998), heute Stadtgarten, wurde um einen napoleonischen Brückenkopf herum angelegt ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 64 hier mit derselben Gestaltwandlerin zu tun zu haben, die mich schon im Hexenturm verletzt hatte. Am Abend kam dann endlich der Anruf des Gerichtsmediziners, der uns die Ergebnisse der Untersuchungen an der Leiche von Franziska König mitteilte. Bei den Verletzungen handelte es sich eindeutig um Riss- und Bisswunden, wie sie von größeren Raubtieren verursacht werden. Anhand der Form der Bisswunden ließ sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Verursacher ein katzenartiges Tier ermitteln. Das war für mich der Beweis. Nicht so für den Gerichtsmediziner, der eine andere Todesursache annahm. „Verstümmelungen, hervorgerufen durch nicht handelsübliche Stich- und Schneidwerkzeuge. Die Art und Schwere der Verletzungen, sowie das Fehlen einzelner Organe lassen auf einen psychisch erkrankten Täter schließen.“, besagte der Bericht. Ich hatte eine kleine Diskussion mit dem Möchtegern- Quincy, der tatsächlich die Theorie vertrat, ein verrückter Killer hätte mit irgendwelchen selbst gebastelten Waffen, zum Beispiel einem übergroßen Katzengebiss aus Metall, die Frau regelrecht abgeschlachtet. Als Hauptargument führte er das völlige Fehlen von Fell- oder Speichelspuren ins Feld. Und dem hatte ich natürlich nur wenig entgegenzusetzen, denn es war ja auch höchst unwahrscheinlich, dass ein Raubtier beim Zerfleischen seines Opfers keine Spuren wie Haare oder Speichel auf ihm zurückließ. Was hätte ich dem Mann erzählen sollen? Dass es sich um eine Geistergestalt handelte, um eine Xenomorphe, wie James Driscoll sie genannt hatte? Um ein Wesen aus einer anderen Zeit, an die fünfhundert Jahre alt, dass irgendwie die Zeiten überdauert hatte, und jetzt in der Gestalt einer übergroßen Katze mit Menschenaugen auf mörderischen Touren durch Jülich zog? Man würde mich schlichtweg für verrückt erklären. Und so nahm ich die Ermittlungsergebnisse des Gerichtsmediziners einfach als gegeben hin, und vermied eine weitere Diskussion. Ich berichtete James in wenigen Sätzen von meinem Gespräch mit dem Pathologen. „Machen sie sich nichts daraus, Rick.“, sagte James. „Er hat nicht unsere Erfahrungen in diesem Fall, daher sind seine Schlussfolgerungen für ihn die einzig logischen. Aber wir wissen mehr, Rick, wir haben mit eigenen Augen gesehen, um was für ein Wesen es sich hier handelt. Ich nehme an, dass die „Katzenfrau“ zu ihren Lebzeiten eine Zauberkundige war, eine Art Druidin oder auch Hexe. Sie ist vermutlich schon damals in der Lage gewesen, ihre Gestalt zu wechseln. Es gibt einige Überlieferungen über ähnliche Fälle aus dem Mittelalter, aus denen hervorgeht, dass Hexen mit Dämonen einen Bund eingingen, der es ihnen ermöglichte, die Gestalt zu wechseln. Eine regelrechte Symbiose32, so könnten sie es sich vorstellen. Ich nehme an, dass sich „unsere“ Katze kurz vor ihrem Tod im Mittelalter in ihre dämonische Katzenform geflüchtet hat. Der menschliche Körper war gestorben, die Katze lebte weiter. Dass würde erklären, warum uns die menschliche Gestalt der Kreatur im Hexenturm so mumienartig und unwirklich erschien. Die Katze hat irgendwie die Zeiten überdauert, versteckt im oder unter dem Hexenturm. Und erst jetzt ist sie durch den Hexenstein des italienischen Archäologen wiedererweckt worden. Sie wird vermutlich verwirrt sein, und nicht mit ihrer Situation klarkommen. Sie muss wahrscheinlich gegen ihren Willen die Morde verüben, um diesem Vincenze da Como die Lebensenergie ihrer Opfer zu verschaffen. Wie auch immer das funktionieren soll.“, schloss James Driscoll seine langen Ausführungen. „Ja, da gebe ich Dir recht, James.“, antwortete ich. „Wir sollten uns ein wenig im Museum 32 Symbiose= Das Zusammenleben verschiedener Organismen zu gegenseitigem Nutzen ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 65 umsehen, da ich annehme, dass die Kreatur sich noch hier aufhält. Kann es nicht sein, dass sich die Katze oder Hexe, oder um was es sich auch handelt, an die Gebäude hält, die sie aus ihren Lebzeiten kennt?“ „Da könntest du recht haben, Rick, es erscheint auch mir wahrscheinlich. Dann lass uns mal losgehen. Wir fangen am Besten in der alten Schlossküche an, wo die Leiche der Franziska König gefunden wurde. Diesmal nimmst du am Besten sofort die Beretta an Dich, wir müssen auf alles gefasst sein!“, sagte James, und warf mir seine Waffe zu. Ich entsicherte die Waffe, die mit Silberkugeln bestückt war, und ließ sie in meinem Schulterholster verschwinden. „Was soll mir die Waffe eigentlich bringen, James? Beim letzten Mal ist die Kugel doch aus der Katze heraus gefallen, nachdem sie ihren Würmertrick angewendet hatte? Die Kugel hatte nichts angerichtet!“ Ich war wirklich sehr skeptisch, was die Wirksamkeit der Waffe anging. „Versuchen sie, den Kopf zu treffen, einen besseren Rat kann ich ihnen nicht geben, Rick. Bei Werwölfen hilft das ganz gut, sie können sich zwar von fast jeder Verletzung wieder erholen, aber nicht von Kopfschüssen, wenn das Gehirn massiv geschädigt wird. Und wenn es die Katze nicht vernichtet, so verschafft es uns einen zeitlichen Vorteil, den wir dann nutzen können!“ Das leuchtete mir ein. „Also los. Schnappen wir uns die verdammte Killerkatze!“, sagte ich bestimmt. Wir gingen los. Und wir mussten nicht lange suchen. Schon wenige Räume weiter bemerkte James Driscoll einen Schatten, der sich in immer gleichem Abstand von uns bewegte. Die Hexe folgte uns! Der Geisterjäger aus England knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes auf, um das silberne Kreuz frei zu legen, das schon einmal die Katze in die Flucht geschlagen hatte. Ich zog die Beretta. „Zeig dich, Kreatur!“, rief ich. Und die Katze reagierte! „Gerne“, fauchte der Schatten, und verdichtete sich zu der uns bekannten Katzengestalt. Aber damit nicht genug. Fast übergangslos veränderte die Gestalt sich weiter, wurde größer, zog sich regelrecht in die Länge. Der Schwanz der Katze zog sich wie selbstverständlich in den Körper der Gestalt zurück, und stattdessen erschien der Umriss eines langen Umhangs vor unseren Augen. Das Katzenprofil des Kopfes veränderte sich ebenfalls, und nahm immer menschlichere Züge an. Und nach einigen Sekunden stand die Frau mit dem grauen Umhang vor uns, die Kapuze verdeckte wie schon im Hexenturm die Gesichtszüge, und was man erkennen konnte, wirkte wie aus dunklem, verkohlten Holz geschnitzt. „Jetzt habe ich mich euch gezeigt! Und, was wollt ihr jetzt unternehmen?, sagte die Hexe in einem Tonfall, der uns sofort klarmachte, dass sie sich uns haushoch überlegen fühlte. „Dich vernichten, wenn es uns gelingt!“, warf ich der Hexe entgegen, und richtete zum Beweis James Beretta auf das Gesicht der Gestalt. „Hah!“, platzte es aus der Hexe heraus, „Mich vernichten? Wie wollt ihr das anstellen? Mit euren lächerlichen tragbaren Kanonen? Damit habt ihr doch bereits versagt! Oder wollt ihr mich wieder mit eurem blitzenden Kreuz erschrecken? Lächerlich!“ Sie verhöhnte uns regelrecht. „Warum tötest du unschuldige Menschen?“, versuchte ich es mit einer Frage. Bevor es zum unausweichlichen Kampf zwischen uns kam, wollte ich zumindest noch ein paar Informationen von der höllischen Frau. „Weil ich es will!“, kreischte sie zurück. Dabei fiel mir auf, dass mit der Katzengestalt auch das Fauchen und Zischen aus ihrer Stimme gewichen war. ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 66 „Und weil du es musst!“, warf James der Hexe vor. „Was wisst ihr schon, sterbliche Menschen!“ Ihr Tonfall hatte plötzlich einen hysterischen Unterton, offenbar hatte James mit seiner Bemerkung ins Schwarze getroffen. “Wenn du so selbständig handeln kannst, warum tötest du dann wahllos Menschen, die du nicht kennst, und die dir nichts getan haben? Das ergibt doch gar keinen Sinn!“, rief ich aus. „Weil ich es muss. Soweit gebe ich dir Recht, Mensch. Aber es ist mir auch ein Vergnügen. Gestatte mir, mich dir vorzustellen; ich bin Catharina Elisabeth Schuif, oder vielmehr, ich war es. Vor langer Zeit zumindest. Als ich noch ein Mensch war, kannte man mich als „Hexe aus dem Gelderland“ in Jülich, und ich hatte ein gutes Leben hier. Bis ich diesen verdammten Bauern getroffen habe, der den Bürgern den Schinken stahl. Ich wurde von meinem Dämon, mit dem ich im Pakt stand und noch stehe, angewiesen, ihn den Bürgern auszuliefern, und das tat ich auch. Und das war der Anfang von meinem Ende als Mensch! Ich wurde gefangen und gefoltert, aber ich konnte noch einmal entkommen, ehe ich in einem letzten Kampf ums Leben kam. Das heißt, meine menschliche Hälfte starb. Nicht die dämonische Seite meines Seins, diese lebte weiter. Und in ihr ein Rest meiner menschlichen Seele, ein Fragment der Catharina Elisabeth von einst. Ich konnte mich sogar weiterhin in eine fast menschliche Gestalt verwandeln, aber da diese vollkommen entstellt war, musste ich sie vermummen. Ihr seht es ja selbst. Ich flüchtete mich damals in das Rurtor, das die Leute nach mir Hexenturm getauft hatten, und verwendete meine Fähigkeiten, um mich zu verstecken. Ich löste mich auf, und versteckte mich im Mauerwerk, um darauf zu warten, dass mich mein Dämon rettete, mit dem ich im Pakt stand. Aber offensichtlich hat sich die verdammte Höllenbestie nicht an unsere Verabredung gehalten, oder ist vielleicht sogar getötet worden, denn ich wurde nicht befreit oder gerettet oder etwas in der Art. Erst vor wenigen Tagen vernahm ich den Ruf einer Macht, der ich nichts entgegen zu setzen hatte. Ich wurde aus meiner entstofflichten Form gezwungen, und als ich mich in meiner Katzengestalt im Hexenturm wieder fand, begegnete ich diesem Mann, der aus lauter Angst vor mir starb. Aber wäre er nicht von selbst gestorben, ich hätte ihn ohnehin getötet. Diese Macht geht von einem Talisman aus, einem mächtigen Gegenstand irgendwo in der Nähe! Diese Macht zwang mich, den Mann zu töten, brach regelrecht meinen Willen. Ich habe erfahren, dass ein Mann namens Vincenze da Como hinter der Sache steckt, und dass er mit dem Stein, den er gefunden hatte, Macht über mich und andere Hexen, Dämonen, Geister und so weiter ausüben kann. Er will mit Hilfe der Lebensenergie, die in den Opfern seiner Mordgehilfen, also auch mir, steckt, ein ewiges Leben erlangen! Und als Gegenleistung für meine Dienste versprach er mir, meinen Dämon zu finden, damit dieser mich aus seinem Pakt entlässt. Damit ich endlich sterben kann. Nun wisst ihr genug.“, sagte die Hexe. Und fügte eine Sekunde später hinzu: „Genug, um sterben zu müssen!“ Nachdem sie ihre Ansprache beendet hatte, veränderte sich die Frauengestalt wieder. Aus ihren Händen wurden im Bruchteil einer Sekunde klauenbewehrte Pranken, und sie sprang so blitzschnell auf uns zu, dass es James und mir vollkommen unmöglich war, darauf zu reagieren. Die Hexe erreichte James, und führte einen gewaltigen Hieb gegen seine Brust aus, an der das Kreuz hing. Stoff zerriss mit einem ratschenden Ton, und ich konnte James schmerzerfüllt schreien hören. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich aus den Augenwinkeln gerade noch die Gestalt aus dem Raum fliehen, während James auf die Knie gesunken war, und sich mit beiden Händen die Brust hielt. “Rick, nehmen sie das Kreuz und machen sie dem Spuk ein Ende!“ Seine Stimme war brüchig, vom Schmerz entstellt. „Ist alles in Ordnung mit ihnen, James? Sind sie schwer verletzt? Ich kann sie doch jetzt nicht allein lassen!“ ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 67 „Doch können sie! Müssen sie! Die Wunden sind nicht tief, nur sehr schmerzhaft. Und ich habe das Kreuz verloren! Die verdammte Hexe hat es mir doch glatt von der Brust weg geschlagen! Finden sie es, und vernichten sie die Kreatur! Das Kreuz ist bereits aktiviert, also wird es ihnen beistehen, wenn es nötig ist!“ Dann stöhnte Driscoll auf, und sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. Die Schmerzen mussten gewaltig sein. „Gut. Aber rufen sie sich einen Arzt, bevor sie hier noch verbluten!“, rief ich James zu, und gab ihm mein Handy. Ich entdeckte das Kreuz keine zwei Meter entfernt auf dem Boden, ergriff es, und setze der Hexe nach… Donnerstag, 15. Januar 1553, Jülich „Sehen sie, Commissario!“, sagte der Wachmann, und hob das Tuch ein Stück an. Er trug die gleiche herzogliche Uniform wie die beiden Wachleute des Gefängnisses, die gestern auf abscheuliche Art und Weise ihr Leben lassen mussten. Theodor von Bergen, der Commissario, fand kaum Mitleid mit den Beiden. Sicher, er wünschte niemandem einen solchen Tod, aber die Beiden waren ja selber Schuld an ihrem Schicksal! Er hatte eine klare Anweisung gegeben, die gefangene Frau niemals ohne Ketten außerhalb ihrer Zelle zu lassen. Und sie vor allen Dingen nie aus den Augen zu lassen! Und diese beiden Dummköpfe hatten alle diesbezüglichen Befehle missachtet, und hatten mit dem Leben dafür bezahlt. Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem, was sich unter dem Tuch befand, dass der Uniformierte für ihn angehoben hatte. Es bot sich ihm ein schrecklicher Anblick! Eine Frau lag dort seltsam verdreht auf dem Boden. Ihr Gesicht war nicht mehr als ein solches zu erkennen, es war vollkommen zerschmettert. Dort, wo sich einmal die Sinnesorgane der Frau befunden hatten, existierte nur noch ein Konglomerat33 aus Fleisch, Knochen und Blut, dem jeglicher menschlicher Wesenszug abging. Den beiden bedauernswerten Hausfrauen, die die Leiche am frühen Morgen in der Gosse vor dem Hexenturm fanden, war die Frau unbekannt. Das hatte die Befragung ergeben, und es passte Theodor van Bergen auch gut in sein Konzept. Da das Gesicht der in seinen Augen überführten Hexe nicht zu identifizieren war, hatten die Frauen die Catharina Elisabeth Schuif natürlich nicht erkennen können. Van Bergen hingegen erkannte sofort anhand der Kleidung, dass es sich um die Frau aus dem Geldrischen handeln musste, er hatte sie ja erst gestern verhört. Und nun konnte er praktischerweise auch ohne ein Geständnis die Beerdigung seiner Gefangenen anordnen. Ihr plötzlicher Tod sparte ihm viel Zeit und die unangenehme Rechtfertigung vor dem Herzog. Dieser hätte einer Hinrichtung sicher nicht zugestimmt. Ein zufriedener Ausdruck schlich sich in die Züge des Commissario. „Was mag ihr geschehen sein, Herr van Bergen. Was denkt ihr?“, fragte der uniformierte Wachmann, und ließ das Tuch wieder auf die Leiche der Hexe zurücksinken, um ihren zerschmetterten Schädel vor den neugierigen Blicken der Stadtbevölkerung zu verbergen, die sich um den Ort des Geschehens versammelt hatten, um nur ja nichts zu verpassen. “Ich habe keine Ahnung, mein Lieber. Und was kümmert es mich? Die Frau ist tot, ich kann ihr nicht mehr helfen. Sicher ist es eine Bettlerin, die in der Gosse geschlafen hat, oder einen Rausch auskurieren wollte. Vielleicht ist ihr eine Kutsche in der Dunkelheit über das Gesicht gefahren. Wie auch immer, dies hier fällt wohl mehr in die Zuständigkeit eines Totengräbers denn in die Meinige. Sorgt dafür, dass dieser Leichnam verschwindet, und schickt endlich die Schaulustigen fort!“ 33 Konglomerat= Zusammenballung, Gemisch (lat.) ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 68 “Ja, Commissario! Sofort!“, antwortete der Wachmann. Van Bergen ging in Richtung des Haupt- und Criminalgerichts, und grinste. Er hatte den Wachmann belogen, er wusste sehr wohl, was der Frau zugestoßen war. Zumindest war er sich ziemlich sicher, es zu wissen, denn er hatte bereits früher am Tag die Leiche des Küsters begutachten müssen. Die Haushälterin des Pfarrers fand den Mann in seinem Schlafzimmer, ohne Augen und ohne Hände. Er musste wohl verblutet sein, darauf wies die gigantische Blutlache hin, die sich auf dem Boden um den Mann gebildet hatte. Die Hände, oder was davon übrig war, klebten an einem Ofendeckel. Sie mussten wohl daran festgebacken sein, als der arme Küster in seiner Todesangst nach der erstbesten Waffe griff, die er erreichen konnte. Und da ist seine Wahl wohl auf eine glühenden Ofendeckel gefallen. Eine schlechte Wahl, dachte Theodor van Bergen, und betrat seine Schreibstube im Criminalgericht. Na ja, wenigstens haben wir hier in Jülich jetzt wieder Ruhe vor Hexen! Er grinste zufrieden. Montag, 8.März 2004, Jülich Ich war der Gestalt aus dem Museum gefolgt, und hatte mich hastig nach ihr umgesehen. Aber da war nichts! Ich war verzweifelt. Ich konnte die Hexe, oder was diese Frau auch immer war, diesmal nicht davonkommen lassen. Sie hatte James Driscoll ziemlich übel erwischt, so wie sie mich auch schon einmal verletzt hatte. Und sie hatte getötet! Das musste jetzt ein Ende haben! Da ich die Kreatur nirgendwo in den Innenhöfen der Zitadelle entdecken konnte, entschloss ich mich, in Richtung des Hexenturms weiterzusuchen, denn ich war davon überzeugt, dass die geheimnisvolle Frau, die sich uns als Catharina Elisabeth Schuif vorgestellt hatte, sich auf ihr bekannten Wegen bewegen würde. Und vielleicht wollte sie wieder in ihr Versteck im Mauerwerk des Turms flüchten. Ich rannte also so schnell ich konnte aus der Zitadelle heraus, überquerte die Brücke, die den Wassergraben der Festung überspannte, auf den Schlossplatz zu. So nannte man in Jülich eine kleine Parkanlage mitten in der Innenstadt. Ich rannte in die Kölnstraße, von dort aus über den Marktplatz, und erreichte auf diesem Weg die so genannte Kleine Rurstraße. An deren Ende stand das ehemalige Stadttor der Jülicher, der Hexenturm. Ich war schon vollkommen außer Atem, und hatte erbärmliches Seitenstechen. Und dann sah ich sie! Die Gestalt rannte tatsächlich auf den Turm zu! „Stehen bleiben, Polizei!“, rief ich instinktiv, obwohl mir vollkommen klar war, dass dieser Befehl nicht befolgt werden würde. Und die Gestalt blieb auch nicht stehen. Ich hatte keine Wahl. Ich riss die Beretta hoch, und zielte, so gut es in der dunklen Umgebung ging. Die Laternen in der Straße gaben nicht viel Licht ab, und die Schaufenster der nahen Apotheke waren um diese Uhrzeit nicht beleuchtet. Offensichtlich hatte an diesem Tag eine andere Apotheke Notdienst. Weshalb die Jülicher ein so imposantes mittelalterliches Bauwerk wie den Hexenturm nachts nicht beleuchteten, ging mir nicht in den Sinn. Es würde doch viel besser aussehen, und außerdem bezeichnete man allgemein den Turm als Wahrzeichen der Stadt. Das Licht hätte mir in diesem Moment jedenfalls eine große Hilfe sein können. Es musste also auch so gehen, im Dunkeln. Ich rief der Ordnung halber noch schnell „Stehen bleiben oder ich mache von der Schusswaffe Gebrauch!“, aber natürlich ohne Erfolg. Ich schoss! Krachend peitschte die Kugel aus dem Lauf der Waffe, überbrückte die Distanz zu der ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 69 flüchtenden Hexe, und schlug in ihren Rücken auf Höhe der Schulterblätter ein. Die Gestalt wurde von den Beinen gerissen, und fiel zu Boden. Mit einigen schnellen Schritten erreichte ich sie. “Narr!“, schrie die Gestalt mir entgegen. „Das hast du doch schon einmal versucht! Dieses Mal sollst du es nicht überleben!“ Und in diesem Moment ging in ihrem Gesicht eine Veränderung vor! Der lippenlose, wie aus Holz geschnitzt wirkende Mund der Hexe wölbte sich seltsam vor, und ich erkannte, dass in ihrem Mund die faulen Zahnstümpfe den schneeweißen, spitzen Zähnen einer Raubkatze wichen. Sie wollte mich also mit ihren Klauen und Zähnen zur Strecke bringen! Ich musste ihr zuvorkommen. Die Kugel aus gewehtem Silber, die in ihrem Rücken steckte, würde sie sicher nicht lange aufhalten. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm ich das Silberne Kreuz von Driscoll in die Hand, und rammte es der Kreatur mit dem längeren Ende in das offene Katzenmaul. Und dann passierte das Unglaubliche! Flammen schlugen aus dem Maul, und Blitze sprühten zu Hunderten über den gesamten Körper der Frau, die wie verrückt schrie. Das wird alle Jülicher auf einmal wecken!, dachte ich. Hoffentlich sah niemand, was sich wirklich hier abspielte. Für meinen Verstand war es ja schon fast unerträglich, aber für so manchen einfachen Bürger mochte das, was er hier zu sehen bekam, zu viel sein. Die Hexe schrie ohrenbetäubend, und stieß die verschiedensten Flüche gegen mich aus. Die Blitze aus dem geweihten Kreuz des Geisterjägers entzündeten den Umhang der Hexe, und schon kurz darauf brannte sie lichterloh, um dann mit einem seltsam gedämpften Knall zu explodieren. Rund um mich herum rieselten kleine Aschenflocken herab. Mehr war von der Hexe nicht übrig geblieben. Dieses Mal hatte das Silberkreuz seine volle Wirkung gezeigt. Die Bedrohung durch die Hexe gab es nicht mehr. Ich hörte, wie in der unmittelbaren Nähe ein Fenster geöffnet wurde. Eine schläfrige Männerstimme erklang. „Verdammt noch mal, was soll der Lärm zu nachtschlafender Zeit? Macht euer Feuerwerk gefälligst zu Silvester, und nicht im März. Verdammte Bande!“ Dann schlug der Mann das Fenster zu. Aus der Entfernung klang noch ein „Ruhe!“ auf. Völlig außer Atem bückte ich mich, holte das Silberkreuz unter einem Häufchen Asche hervor, und ging in Richtung Zitadelle davon. Ich wollte mich jetzt erst mal um James kümmern. Der Notarzt müsste ihn ja auch bald erreichen… Montag, 15. März 2004, Aachen „Ah, Herr Templeton, da sind sie ja! Wir haben schon auf sie gewartet. Nehmen sie Platz, wir haben etwas mit ihnen zu besprechen.“ Mit einem freundlichen Lächeln wies mir Konrad Wallner, mein Chef in der Aachener Mordkommission, einen Sitzplatz vor seinem Schreibtisch zu. Hans Bertrams hatte bereits Platz genommen, und machte ein ernstes Gesicht. „Danke!“, gab ich zurück, und setzte mich. Nach den Ereignissen der letzten Tage hatte ich mir erst mal den Rest der Woche frei genommen. Ich musste mich dringend etwas von den körperlichen, aber auch den psychischen Strapazen erholen. Ich musste mir mein gesamtes Weltbild neu ordnen. Zu akzeptieren, dass eine Frau im 16. Jahrhundert sich in eine Katzengestalt verwandeln konnte, war die eine Sache. Aber dass die gleiche Frau mich fast fünfhundert Jahre später verletzen ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 70 konnte, und gleich mehrere Morde begangen hatte, das war etwas völlig anderes. Ich freundete mich mit dem Gedanken an, dass es hinter dem Sichtbaren, dem vermeintlich Normalen noch etwas anderes geben konnte, ja musste! Geister und Dämonen, Hexen, Werwölfe und Vampire, all dies existierte tatsächlich! James Driscoll, der Geisterjäger aus London, hatte mir in den letzten Tagen sehr dabei geholfen, meine Weltanschauung wieder in eine erträgliche Bahn zu lenken. Ich muss schon sagen, dass ich von seinen Erfahrungen profitiert habe. Jetzt fühlte ich mich jedenfalls wieder sicher genug, um mich im Alltag den Anforderungen zu stellen, die die Arbeit in einer Mordkommission an mich stellen würde. James war gestern wieder nach London aufgebrochen. Die Auslandsreise seines Freundes Komorra war beendet, und daher reiste er ihm nicht mehr nach. Ich schätze, Driscoll brauchte auch einen kleinen Erholungsurlaub, denn die Wunden auf seiner Brust waren genäht worden und mussten nun erst einmal völlig verheilen. Nach seiner Abreise hatte ich das seltsame Gefühl, ihn schon sehr bald wieder zu sehen… „Rick? Hören sie mich?“, sagte Wallner fragend, und riss mich aus meinen Gedanken. „Entschuldigung, Chef, ich war kurz „abwesend“, Bitte wiederholen sie noch einmal ihre Frage.“ „Gut, Templeton. Es war weniger eine Frage, als eine Anweisung. Wir haben ihren Bericht zu dem Fall in Jülich erhalten und… Nun, wir haben ihn etwas, sagen wir mal, modifiziert. Andernfalls können wir hier dicht machen. Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht, Templeton? Eine sprechende Katze? Haben sie zu tief in Horrorbüchern geschmökert, oder hat sie dieser spleenige Engländer, dieser angebliche Geisterjäger, zu diesem Quatsch überredet? Na, wie dem auch sei, der Bericht ist jetzt deutlich glaubwürdiger. Ein entweder abgerichtetes oder schlicht entlaufenes Raubtier, vermutlich katzenartig, hat im Stadtgeschichtlichen Museum sowie im Museum der Zitadelle jeweils einen Menschen angefallen und getötet. Das Tier konnte nicht ausfindig gemacht werden, auf einen eventuellen Halter gibt es keinerlei Hinweise. Tragisch, aber nichts für die Mordkommission. Der Fall wird abgeschlossen. Unterschreiben sie diesen Bericht bitte, Rick.“ Wallner schob das Blatt Papier über den Tisch auf mich zu, und hielt mir mit der anderen Hand einen Kugelschreiber entgegen. Hans Bertrams sah peinlich berührt zur Seite. In mir kochte es! Was fiel meinem Chef ein? Er ignorierte völlig die Tatsachen! Mein Bericht entsprach vom ersten bis zum letzten Wort der Wahrheit! „Nein, Herr Wallner, tut mir leid. Sie haben meinen Bericht bereits erhalten. Ich habe diesem nichts hinzu zu fügen! Ich werde diesen Bericht nicht unterschreiben, da er nicht den Tatsachen und dem entspricht, was ich zusammen mit James Driscoll ermittelt habe!“ Ich schob ihm das Papier zurück. Wallner stand auf, und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. Sein Gesicht hatte eine rote Färbung angenommen. „Gut, wie sie wollen, Templeton. Ich habe mir das schon gedacht. Hans hatte mir von ihrem Dickkopf ja bereits erzählt. Für den Fall, dass sie den Bericht nicht unterschreiben, bleibt mir leider nur eines zu tun. Ich weiß, dass mein Freund Hans Bertrams hiermit nicht einverstanden ist, aber ich halte es als Leiter der Mordkommission für meine Pflicht. Rick Templeton, ich entbinde sie hiermit von ihren Aufgaben bei der Aachener Mordkommission! Sie sind bis auf weiteres beurlaubt! Wir lassen sie wissen, wie wir weiter mit ihnen verfahren werden. Ich lasse meine Abteilung nicht zu einer Gruppe von Märchenonkeln verkommen. Sie können gehen! Guten Tag.“ Wallner setzte sich. Ich war außer mir! ©Dirk Eickenhorst 2008 Der Hexenturm Roman 71 Beurlaubt! Das war ein nettes Wort für „gekündigt“! Man hatte mich rausgeschmissen, weil ich meinen Job getan hatte, und die Wahrheit gesagt hatte. Unfassbar! Ich war so erregt, dass es in diesem Moment kaum einen Sinn ergab, eine Diskussion zu beginnen. Daher stand ich auf, gab ein gefasstes „Guten Tag!“ zum Besten, drehte mich um und verlies den Raum. Ich wollte nur noch nach Hause. Ich ging zügig in Richtung des Treppenhauses. „Rick, bleib stehen! Einen Moment noch!“ Hans Bertrams kam mir nachgelaufen. Ich blieb kurz stehen. Schließlich war Bertrams so etwas wie ein Freund für mich. „Was gibt’s denn noch? Ich möchte nach Hause!“, sagte ich etwas gereizt. „Du kannst sofort nach Hause. Ich muss Dir nur noch dringend etwas sagen. Wallner weiß davon nichts, und es sollte auch dabei bleiben, hörst du?“ „OK, schiess los. Was gibt’s?“ Hans war offensichtlich aufgeregt, und das machte mich etwas neugierig. „Also: Ich habe eine Mitteilung aus Berlin bekommen. Dein Kollege Driscoll ist vom Scotland Yard beauftragt worden, nah Turin zu reisen, und sich dort nach einem gewissen Vincenze da Como umzusehen. Und halt dich fest; du wirst versetzt! Das BKA hat von ganz oben aus festgelegt, dass du einer Abteilung beim Interpol überstellt wirst! Und wenn ich das richtig verstanden habe, dann sollst du zunächst herausfinden, ob dieser italienische Archäologe, dieser da Como, sich nicht eventuell doch in Deutschland aufhält! Rick, du bist jetzt ein internationaler Ermittler! Ist das nicht Klasse?“ Hans schien sich ehrlich für mich zu freuen. „Was?“, stieß ich hervor. „Mann, das ist zuviel für mich. Erst werde ich gefeuert, dann befördert, was denn nun?“ Ich war baff. „Entschuldige, Hans, aber ich möchte mich jetzt nicht weiter unterhalten. Ich muss das alles erstmal verdauen. Ich melde mich bei dir, OK?“ Ich ließ Bertrams stehen, und ging aus dem Gebäude zu meinem Ford, setzte mich hinein, und startete den Motor. Ich schaltete den CD-Player ein und spielte Frank Sinatras „I´m gonna live till i die“34. Ich würde also weiter nach Vincenze da Como fahnden. Und eventuell wieder auf irgendwelche Kreaturen aus der Hölle treffen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder fürchten sollte, als ich nach Hause fuhr… ENDE Geschrieben von April bis zum 20. Mai 2004 in Jülich Redigierte Fassung vom 26. März 2008 34 I live till i die= Ich werde leben bis ich sterbe ©Dirk Eickenhorst 2008