9783938807767_Leseprobe04
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157 sorgung der Intelligenz (AVI) nicht rentensteigernd wirken durfte. Zugleich wurden den nur AVI-Berechtigten zwar volle Renten gezahlt, das aber über sogenannte Auffüllbeträge, die „abgeschmolzen“ werden mussten, bevor es eine Rentenerhöhung geben durfte. Hinzu kamen Maßnahmen wie die Nichtanerkennung von Betriebsrenten sowie in der DDR erworbener Ansprüche und Versicherungszeiten für Frauen und wissenschaftliche Aspiranten, die zeitweise aus der Erwerbsarbeit ausgeschieden waren. Den Verfolgten des Naziregimes wurden Sonderleistungen des Staates aus DDR-Zeiten erst aberkannt, dann, nach geharnischten Protesten, zwar wieder zugebilligt, aber auch verkürzt. Mit dem Stichtag 1. Juli 1997 machten die aktuellen Rentenwerte in Ostdeutschland 85,4 % des Westniveaus aus. Amtliche Verlautbarungen für die Zeit nach der Jahrtausendwende besagen, dass der volle Westwert erst 2011, 21 Jahre nach dem Anschluss, erreicht sein dürfte, wenn es denn dabei bleibt. Offiziell und offiziös wird mit bewundernswürdiger Sturheit behauptet, alles hier Wiedergegebene habe nichts mit Politik zu tun und sei streng rechtsstaatlich. Die Lüge wirkt auf viele, vornehmlich im Westen, entwaffnend. Andererseits wird immer wieder behauptet, mit der Strenge gegen einstige Träger des SED-Regimes als eines „Unrechtsstaates“ würden Lehren aus der mangelhaften Verfolgung und Ahndung der Nazi- und Kriegsverbrechen in der alten BRD gezogen. Jedoch wurde im gleichen Zeitraum keinem einzigen ehemaligen Nationalsozialisten die Pension gekürzt. „Ossis“, „Wessis“ und die Änderung der gesamtdeutschen Lage Als am Abend des 9. November 1989 auf das Wort SEDPressespecher Schabowskis über sofort mögliche Westreisen hin Zehntausende Ostberliner „die Mauer stürmten“ - sie taten es nicht, vielmehr wurden die Übergänge für sie geöffnet - und sich in der westlichen Glitzerwelt umsahen, waren sie und zahlreiche Ostdeutsche sehr bald politisch für Bonn zu 158 haben. Den „Sozialismus“ Ulbricht-Honeckerscher, nun Krenzscher Prägung hatten sie satt. Sie wollten westliche Freiheit, Bananen und D-Mark. Bei der letzten Volkskammerund der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 stimmten sie für Kohl und die Anschlussparteien. Das Ost-West-Verhältnis in der erweiterten BRD von heute ist weniger herzlich. Die „Ossis“ fühlen sich noch immer von „Wessis“ über den Tisch gezogen. Ein gewichtiger Grund hierfür ist die Entindustrialisierung der Ex-DDR, verbunden mit gigantischer Wertevernichtung und millionenfacher Erwerbslosigkeit und natürlich alle persönlichen negativen Erfahrungen mit den westdeutschen Versicherungsganoven, die 1990 wie Heuschrecken in das Land einfielen und die Menschen nach Strich und Faden betrogen haben. Ein anderer Grund ist, dass westliche Kolonisatoren an das prekäre innerdeutsche Verhältnis noch immer arrogant herangehen. Ohne Kenntnis der ostdeutschen Gegebenheiten und ihrer Geschichte belehren sie die „Ossis“ darüber, was jetzt zu tun sei, beispielsweise „die Ärmel hochkrempeln“, wenn gerade ihr Arbeitsplatz liquidiert worden ist. Außerdem machen sie den Ostdeutschen klar, wie diese in DDR-Zeiten hätten leben und handeln müssen. Unberührt von entgegenstehenden Tatsachen, wie auch durch die eigenen Medien nicht darüber ins Bild gesetzt, beschwören sie die fortwährende Richtigkeit und Vortrefflichkeit westlicher bürgerlicher Denkweisen. Dass andererseits die „Ossis“ dumm sind, wurde ihnen nicht nur verbal verdeutlicht. Manch gewiefter westlicher Bauernfänger demonstrierte es, indem er seine ostdeutschen Partner nach besten Kräften ausnahm. Die Kaltherzigkeit des kapitalistischen Umgangs mit Menschen schockierte die Ostdeutschen ebenso, wie die verbreitete Heuchelei bei der Verschleierung von Tatbeständen. Viele erkannten, dass an der DDR manches nicht übel gewesen und das, was im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht über den Kapitalismus gesagt worden war, offensichtlich der Wahrheit entsprach. Wenn der Westen dann allerdings von den Erfahrungen der DDR profitiert, wie z. B. im Gesundheitswesen oder in der Kinderfürsorge, dann tut man so, als hätte man das Rad neu erfunden. 159 ...In der erweiterten BRD geht es ohne Zweifel manchem Ostdeutschen besser. Doch wird die Kohl/Maizièresche Vorhersage von 1990, es werde vielen besser ergehen und keinem schlechter, durch eine Fülle von Tatsachen widerlegt. Immerhin wurden Millionen Arbeitnehmer im Zuge der Entindustrialisierung von heute auf morgen entlassen, Hunderttausende von Intellektuellen wurden bei dem als Auseinandersetzung um Höhe und Charakter des Fachwissens getarnten politischen Kahlschlag außerdem herabgestuft oder ebenfalls entlassen. Besonders empörend ist das Verhalten einiger Arbeitgeber, die 1990 ostdeutsche Betriebe erworben hatten, um den Mitarbeitern später wörtlich klarzumachen, dass ihre Gesamtleistung der Vergangenheit gar nichts wert und der Arbeitsplatz leider nicht zu halten sei. Damit zerstörte man das Selbstwertgefühl der Betroffenen und nahm gleichzeitig nicht wenige Selbstmorde billigend in Kauf. Beeindruckend waren die neuen Möglichkeiten, zu verreisen oder bisherige Mangelwaren zu kaufen, darunter für „Ossis“ ganz neue, wie z.B. die Computertechnik. Dass aber, wie behauptet wurde, die alten Bundesländer unermüdlich Geld in den Osten hineinpumpen, während sie ihn in der Tat vorrangig plündern, ging ehemaligen DDR-Bürgern lange nicht auf. Zugleich erkannten sie aber, dass die Versprechungen eines wirtschaftlichen Aufschwungs oder auch nur industrieller Kerne, gesicherter Lehrstellen oder Renten oftmals fauler Zauber waren. Anders als zahllosen Westdeutschen leuchtet früheren DDRBürgern das Diktum von den „Sachzwängen“, die Verklärung eines ungehemmten Kapitalismus zum unabwendbaren Schicksal, nicht ein. Sie verstehen u. a. nicht, dass Industrielle und Banker allein auf die Art agieren können, wie sie es heute tun, d. h. immer rücksichtsloser gegenüber Mensch und Natur zu sein; dass der Staat den Großkonzernen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit immer mehr Geschenke machen muss, damit diese bereit sind, Profit einzustreichen, wobei ihre derzeitigen Gewinne schon ungeheuer hoch sind; dass das ihnen außerdem zugeschanzte Kapital der Schaffung neuer Arbeitsplätze dienen soll, während tatsächlich tagtäglich Arbeitsplätze zerstört werden; dass Arbeitsplatzvernichtung, 160 Sozialabbau und Lohnverzichte die Nachfrage auf dem Binnenmarkt steigern sollen, während sie diese in Wahrheit nach unten drücken. Diese spezielle Art höherer Mathematik, die jedem westlichen Politiker und Medienpropagandisten geläufig ist, begreifen die „Ossis“ einfach nicht. Vielleicht gehen sie realistischer an die Wirklichkeit heran. Sie wissen übrigens aus Erfahrung, dass sich ein ungeliebtes Regime jederzeit stürzen lässt. Allerdings ist das inzwischen schwerer, als es 1989 der Fall war. Auch deshalb, weil die meisten Bürger im Westen hinter dem großkapitalistischen Regime stehen oder es tolerieren. Erst gemeinsame Not, die zwangsweise in naher Zukunft kommen muss, wird diese Möglichkeit erleichtern. Die überwiegende Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger will nicht in ihren früheren oder einen gleichartigen Staat zurück. Beim Vergleich mit dem Kapitalismus entdeckt sie an ihm aber auch Vorzüge und richtige Ansatzpunkte. Das hat, entgegen heutiger politischer Handlungsweise, nichts mit DDR-Nostalgie zu tun, vielmehr mit sachgerechter Betrachtungsweise. Auf dieselbe Art werden Ostdeutschen neben Vorteilen schwerwiegende Nachteile des Westens offenbar. Energisch gegen diese Nachteile, sowie die brutalen Enteignungs- und Diskriminierungsaktionen anzugehen, wagen sie derzeit noch nicht. Ihre entsprechenden Protestkundgebungen und -demos ähneln, mit denen von 1989 verglichen, Rinnsalen statt Strömen. Ostdeutsche müssen ihre Interessen vertreten und sich ihrer Haut wehren. Doch ist ihnen bewusst, dass sie allein gegen die neue Macht kaum ankommen und die „Wessis“ sie wegen anders gelagerter Eigeninteressen noch nicht unterstützen werden. Letzteres hat die westliche Linke auch 1989/90 nicht getan, während sie sich über das hierdurch teilweise mitverursachte Versagen der DDR-Linken erboste. Sichtbarstes Zeichen für die fortschreitende Widerborstigkeit der „Ossis“ sind zunehmende Stimmabgabe für die frühere PDS, nunmehr Die Linke und Abwahl einiger westdeutsch dominierter Parteien. Inzwischen hat sich die Gesamtlage in und um Deutschland gewandelt. Auch in den alten Bundesländern herrscht nicht 161 mehr der milde „rheinische Kapitalismus“. Er ist zum aggressiv-neoliberalen Kapitalismus mutiert, der zwecks weiterer Steigerung der Profite auf Raub an Arbeitskräften und Natur, radikalen Sozialabbau und Plünderung der wenig Betuchten zugunsten der großen Kapitaleigner setzt. Die systemkonformen Parteien von der CDU / CSU bis zu FDP, SPD und den Grünen folgen fast ausschließlich den „Ratschlägen“ der Unternehmerverbände. Im Hinblick auf das Wirken der heutigen Bundesrepublik nach außen indes jubelte 1992 der Ministerpräsident Stoiber im bayerischen Bierzelt: „Kohl vollendet das, was Kaiser Wilhelm und Hitler nicht erreicht haben. Wenn die Grenzen zwischen Deutschland und Österreich, Deutschland und der Schweiz fallen, dann ist der gesamte deutschsprachige Kulturraum wieder beieinander.“ Die etablierten Parteien steuern einen Kurs, der im Falle Jugoslawien schon unter Kohl und Genscher auf Beihilfe zur Zerschlagung eines fremden Staates hinauslief. Unter Kohl, Schröder, Scharping und Fischer nahm Deutschland erstmals nach 1945 wieder an einem Angriffskrieg teil. Sich mit Details aufzuhalten, ist hier nicht der rechte Ort. Jedoch sei konstatiert, dass dieser Krieg nicht Milosevic, sondern das serbische Volk zum Opfer hatte, so, wie in jedem Krieg nicht die Staatsführer sondern die jeweiligen Bevölkerungen die Leidtragenden sind. Im Ergebnis der Besetzung des Kosovo schlachten albanische Rassisten unter den Augen der UNO Serben ab und Serben wiederum verüben Massaker an den Kossovaren, in Afghanistan verfolgt die Allianz einen Kurs, der ebenfalls äußerst zweifelhaft ist, im Irak gehen die Amerikaner ureigenen nationalen Interessen nach, die weder mit Freiheit noch mit Demokratie zu tun haben. Anstatt sich jedoch zu distanzieren, wie es immer mehr und mehr Staaten tun, bekräftigt die deutsche Regierungschefin ihre Verbundenheit mit den USA und überwirft sich, möglicherweise im Auftrag der USA, mit jedem wichtigen Wirtschaftspartner, den Deutschland noch hat und auch dringend benötigt. Es war erschreckend, beobachten zu müssen, wie, anlässlich des Gipfels von Heiligendamm, Schnellboote des Grenzschutzes im Auftrag der Bundesregierung brutal die Boote von Greenpeace überfuhren und das Leben der Insassen krass gefährdeten, und es war genauso erschreckend, dass für