Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog

Transcription

Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog –
Erziehung kann gelingen
0. Einleitung
Impuls
Aktuelle Buchtitel zeigen (Bilder via Powerpoint):
„Fordern statt Verwöhnen“ (VON CUBE 1986)
„Mut zur Erziehung“ (ZELTNER 1995)
„Der kleine Tyrann“ (PREKOP 1991)
„Kinder brauchen Grenzen“ (ROGGE 1993)
„Die Erziehungskatastrophe“ (GASCHKE 2001)
„Der Erziehungsnotstand“ (GERSTER/NÜRNBERGER 2001)
„Abschied von der Spaßpädagogik“ (WUNSCH 2003)
„Die Verwöhnungsfalle“ (WUNSCH 2000)
„Lob der Disziplin“ (BUEB 2006)
Diese Bücher sind Ihnen vielleicht zum Teil bekannt. Sie tauchten und tauchen in den Bestsellerlisten auf und können sich dort dramatischerweise erstaunlich lange halten.
Die Bücher stehen stellvertretend für eine öffentlich geführte Diskussion, die – wie Sie sehen
konnten – schon geraume Zeit so geführt wird. In Büchern, Presseartikeln, aber auch in Funk
und Fernsehen. Mal mit mehr, mal mit weniger Intensität – aktueller Höhepunkt ist sicherlich
das Buch „Lob der Disziplin“ des ehemaligen Internatsleiters von Salem Bernhard Bueb.
Der Tenor dieses öffentlichen Diskurses, lässt sich in etwa so zusammenfassen:
Eltern versagen in ihrer Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen, Profis – wie zum Beispiel Lehrer in
der Schule und Sozialpädagogen in der Jugendhilfe – praktizieren eine „inszenierte Verantwortungslosigkeit“. Deshalb missraten Kinder und Jugendliche, sind zunehmend unkonzentriert und unfähig in elementaren Kompetenzen. Sie beharren überempfindlich auf überzogenen egoistischen Ansprüchen, sind mehr und mehr rücksichtslos, gar gewalttätig.
Sicher: die Vertreter dieses Standpunktes räumen ein, dass es die Belastung durch Medien,
durch strukturelle und soziale Probleme gibt. Ausschlaggebend aber sei letztendlich doch das
Versagen in der Erziehung. Man müsse sich demgegenüber einfach wieder trauen, Grenzen
und Forderungen entschieden zu vertreten, Autorität wie selbstverständlich und ohne schlechtes Gewissen auszuüben, Unterordnung zu verlangen und nötigenfalls auch mit Strafen durchzusetzen. Es brauche also wieder einen neuen Mut zur „Erziehung“.
1
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Angesichts der drohenden Folgen für die von einer so verstandenen Erziehung betroffenen
Kinder und Jugendlichen ist es an der Zeit, Widerstand zu leisten. Solchen lautstark und auflagenstark verbreiteten Forderungen mit aller erziehungswissenschaftlichen Deutlichkeit entgegen zutreten. Und schließlich zu verhindern, dass das Rad der Erziehungsgeschichte auf
unheilvolle Weise zurückgedreht wird.
Zielrichtung des Vortrags:
Und so richtet sich mein Vortrag heute zum einen an alle jene, die „seit Jahren und Jahrzehnten, wenn auch unter Schwierigkeiten, an den Prinzipien eines liberalen, humanen Umgangs
mit Kindern und Jugendlichen festhalten und sich nicht durch den neokonservativen Zeitgeist
weismachen lassen wollen, dass dies alles falsch gewesen sein soll“ (BRUMLIK1 2007, 11).
Aber auch an all jene, die zunächst angesichts der Schwierigkeiten und Zumutungen des erzieherischen Alltags Bueb und weiteren Vertretern diesen „neuen Mutes zur Erziehung“ recht
gegeben haben. Mein Vortrag soll ihnen Anregung sein, ihre Zustimmung noch einmal zu
überdenken und möglicherweise zu revidieren, wenigstens aber zu differenzieren.
Aufbau erläutern:
0. Einleitung ............................................................................................................................... 1
Impuls..................................................................................................................................... 1
Zielrichtung des Vortrags:...................................................................................................... 2
Aufbau erläutern:.................................................................................................................... 2
1. Zur Funktion der Forderung nach Disziplin und Härte in der Erziehung .................... 3
Inszenierung des „worst case“ versus pädagogische Reflexivität.......................................... 3
Glorifizierung vergangener Zeiten und Diffamierung machtsensibler Pädagogik ................ 4
Trubel auf der Vorderbühne................................................................................................... 6
2. Gestaltung von Erziehung ................................................................................................... 7
Orientierungslinien gelingender Erziehung ........................................................................... 7
Erziehung als Antwort auf die Selbst-Bildung des Kindes .................................................. 10
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – gerade auch in Konflikten ......................................... 14
Grenzensetzen und Grenzen durchsetzen......................................................................... 15
Vorbeugen ........................................................................................................................ 16
Natürliche und logische Konsequenzen anstelle von Strafe ............................................ 17
Direktives versus autoritäres Handeln.............................................................................. 18
Literatur:........................................................................................................................... 19
1
Micha Brumlik ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe
Universität in Frankfurt und Herausgeber des Buches „Vom Missbrauch der Disziplin“.
2
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
1. Zur Funktion der Forderung nach Disziplin und
Härte in der Erziehung
Welchen Zweck erfüllt diese Diskussion um eine neue Entschiedenheit in der Erziehung? In
meinen Augen ist die zentrale Funktion eine politische. Das möchte ich nun genauer ausführen.
Inszenierung des „worst case“ versus pädagogische Reflexivität
Dazu sollten wir uns die Art und Weise, wie diese Diskussion inszeniert wird; einmal genauer
anschauen: die Talkshows oder die Sendungen in den privaten Kanäle wie „Super-Nanny“,
„Super-Mama“ oder neuerdings „Erziehungscamp“, aber auch das Buebsche Buch. Die Argumentation dort gewinnt ihre unterschwellig verführende Überzeugungskraft aus der Darstellung konkreter drastischer Einzelfälle – alles ist ja scheinbar echt so geschehen, echt so
erlebt, echt so erlitten. Die Bilder wirken authentisch und sind so schwer zu entkräften. Ob
und inwieweit sie aber wirklich beispielhaft und typisch sind für die realen Verhältnisse in
Familien, wird nicht gefragt. Fundiertes Fachwissen – also Ergebnisse aus der sozial- und
erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion und aus ebensolcher Forschung – ist meist eher
gering vorzufinden.2
Hierzu erlaube ich mir nun eine kurze Nebenbemerkung:
in Erziehungsfragen glaubt ja jeder irgend mitreden zu können: „Ich bin selbst erzogen worden, ich habe nun selbst als Mutter, Vater, Onkel oder Tante oder als Fachübungsleiter mit
Kindern zu tun“. Dabei wird übersehen, dass die Erziehungswissenschaft ihren Gegenstand
nicht mehr nur gleichsam „philosophisch“ erörtert. Heinrich Roth hat nämlich in den sechziger Jahren die so genannte „realistischen Wende“ eingeläutet. Seither werden das Aufwachsen von Kindern und der Versuch von Erwachsenen, darauf irgendwie Einfluss zu nehmen,
mit harten sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht. Und deshalb gibt es mittlerweile
auch ein breites fundiertes Wissen darüber, was Kinder elementar brauchen und wie deshalb
Erziehung im Wesentlichen zu gestalten ist. Darüber aber später mehr. Mir jedenfalls kommt
die Diskussion über Erziehungsfragen manchmal so vor, wie wenn Leute einem Ingenieur
und Statiker in die Art und Weise hineinreden wollen, wie diese eine Talsperre zu bauen hätten, weil sie selbst ja darin auch kompetent genug seien: sie hätten als Kinder ja auch im Bach
mit Lehm, Steinen und Ästen Staudämme gebaut.
Zurück zum eigentlichen Inhalt: Diese öffentlich inszenierte Argumentation drängt nun auf
eine entschiedene, eindeutige, unmissverständliche Verallgemeinerung: „Stimmt, genau so ist
es und so entschieden muss erzogen werden!“. Zweifel, Gegenüberlegungen, Abwägen be2
Das oben genannte Buch von Brumlik und Kollegen kann das gerade auch für Buebs „Lob der Disziplin“
nachweisen.
3
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
gegnen kaum. Die Botschaft, die transportiert werden soll, lautet: „Die Not ist groß, die Zeit
pädagogischer Reflexivität und Selbstzweifel ist vorbei, sie gerade sind das Problem; nun
muss endlich gehandelt werden“ (THIERSCH3 2002:4)
Glorifizierung vergangener Zeiten und Diffamierung machtsensibler Pädagogik
Zusätzliche Kraft versuchen die Vertreter dieses Standpunktes aus dem Vergleich zu einem
anscheinend„besseren Früher“ zu ziehen: „Ja, früher! Da galten pädagogische Selbstverständlichkeiten sowie gesellschaftliche Werte und Normen unhinterfragt und verbindlich, ja da war
es um die Erziehung und die Gesellschaft nicht so schlimm bestellt“. Diese pädagogischen
Selbstverständlichkeiten und die scheinbar hilfreichen gesellschaftlichen Ordnungen, Strukturen und Orientierungen sind – so lautet der Vorwurf – von den 68ern und ihren Erben kaputt
geredet worden.
Und in diesem Vorwurf scheint mir nun auch die letztlich politische Funktion dieses Diskurses deutlich zu werden. Es ist der Versuch konservativer Kräfte durch die Diffamierung der
68er linke Politik zu diskreditieren. Es ist der Versuch, linke politische Vorstellungen und
Überzeugungen sowie deren gesellschafts- und wirtschaftskritisches Potenzial zu schwächen,
um die eigenen neokonservativen Positionen zu stärken.
Gegenüber dieser politisch motivierten Verunglimpfung der 68er und ihres Anliegens in Erziehungsfragen sowie ihres tatsächlichen Einflusses auf der einen Seite sowie gegenüber der
Glorifizierung der „guten alten Zeiten“ tut Aufklärung not. Aufklärung zum einen darüber,
was denn „antiautoritäre Pädagogik“ tatsächlich war und ist. Aufklärung zum anderen darüber, wie Erziehung früher tatsächlich praktiziert wurde und mit welchen Folgen für die davon betroffenen Kinder.
Zum Ersteren nur ganz kurz, weil ein Buch über die so genannte „Antiautoriäre Erziehung“
im kommenden Monat erscheinen wird und Aufklärung verspricht. Hier nur so viel: antiautoritär zu erziehen heißt nicht und hieß es nie, Kinder völlig sich selbst zu überlassen, Antiautoritäre Erziehung heißt vielmehr versuchen zu verhindern, dass sich eine unkritische Autoritätshörigkeit in der Charakterstruktur von Menschen verankert.4 „Antiautoritäre Erziehung“
ist nicht „Laisser-faire“! Und tatsächlich hat nur eine kleine Gruppe von Eltern echte „antiautoritäre Erziehung“ zu praktizieren versucht. Der viel größere Teil der Elternschaft in diesen
Jahren hat sich an anderen Ratgebern orientiert. So sind Elternratgeberklassiker der späten
Sechziger und der Siebziger psychoanalytisch orientierte und darin teilweise eher sogar kon3
Hans Thiersch ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik in Tübingen. Vor allem er macht auf diesen gesellschaftlich-politischen Hintergrund jener Diskussion auf kritische Weise aufmerksam.
4
Nachzulesen im Bericht der Kommune 2: „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ auf
Seite 78, Berlin: Oberbaumverlag 1969.
4
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
servative Bücher. Wie diejenigen des Amerikaners Benjamin Spock oder der Französin Françoise Dolto. Diese Bücher wurden dann spätestens in den Achtziger Jahren von verhaltenspsychologisch orientierten Ratgebern à la „Jedes Kind kann schlafen lernen“ verdrängt (vgl.
BRUMLIK 2007:123f.). Zur verhängnisvollen Rolle dieser verhaltenspsychologischen Konzepte in der Erziehung ließen sich nun auch Seminare füllen, das ist heute Abend aber nicht mein
Auftrag.
Zum zweiten, zur Frage, wie Erziehung früher tatsächlich praktiziert wurde, wie mit Kindern
umgegangen wurde. Da möchte ich etwas weiter ausholen:
Man muss nämlich die allseits beklagten Schwierigkeiten in der Erziehung heute relativieren!
Wir kommen nämlich aus einer Jahrtausende weit zurückreichenden massiven Tradition autoritärer Erziehung: Kinder wurden übersehen, ausgebeutet, gedemütigt. Die Prügelstrafe war
bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts probates Mittel der Erziehung. „Bestimmung über
Kinder, Disziplinierung, Herabsetzung, Einschüchterung gehörten zu den selbstverständlich
praktizierten, im Allgemeinen nicht weiter hinterfragten Erziehungsmethoden“
(THIERSCH/THIERSCH O.DATUM:4).
Diese grauenvolle Geschichte der Erziehung hat der Historiker Lloyd DEMAUSE (1980) und
zehn weitere seiner Kollegen in dem Sammelband „Seht ihr die Kinder weinen“ dargestellt.
Angesichts der realen Verhältnisse hätte der Titel des Buches auch lauten können: „Seht ihr,
wie die Kinder schreien, verzweifeln und verkommen“. Oder die Erziehungswissenschaftlerin
Katharina RUTSCHKY (2001) in ihrem Buch „Schwarze Pädagogik“. Die Zeugnisse dieser
Forscher belegen, wie unerbittlich und endlos lange die autoritär bestimmte Leidensgeschichte von Kindern (und im Übrigen von Frauen nicht minder) ist. Und: wie kurz demgegenüber
unsere Erfahrungen mit einem freundlichen, verständnisvollen und unterstützenden Umgang
mit Kindern. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, wenn Erwachsene, und
studierte Pädagogen allemal, spätestens seit den „68er“ und Gott sei Dank bis heute noch vom
Entsetzen über die eigene Geschichte und von der Angst vor der in der eigenen Position begründeten Macht geprägt sind. Und dass sie sich deshalb ab und an aus begründeter Vorsicht
im Umgang mit Kindern und Jugendlichen zurückhalten, großzügig sind und bisweilen auch
nachlässig. Das wiederum wird von den Befürwortern einer strengeren Erziehung als Pendelausschlag in das andere Extrem dargestellt und denunziert. Auf den Pendelauschlag auf die
laxe Seite müsse jetzt endlich wieder eine Gegenbewegung in Richtung „mehr Härte“ erfolgen. Aber: die gegenwärtige Schwierigkeiten, also die Vorsicht und Zurückhaltung im Zusammenhang mit Strenge müssen vor dem eben skizzierten Hintergrund (also dem Hintergrund der langen Tradition demütigender Erziehung und der kurzen Erfahrungen im humanen
Umgang mit Kindern) als Suchbewegungen zu neuen Wegen verstanden werden. Zu neuen
Wegen, auf denen es im Wesentlichen kein „Zurück“ mehr geben darf!!
5
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Zumal die lautstarke Klage über den Erziehungsnotstand die Fortschritte unterschlägt, die
unsere gegenwärtige Situation auch charakterisieren – Fortschritte, die gerade aufgrund dieses
freundlicheren Umgangs mit Kindern und Jugendlichen möglich wurden. Der Umgang von
Männern, Frauen und Kindern ist freier, offener geworden; das Miteinander der Generationen
hat sich entdramatisiert. Dies zeigen Jugendstudien zeigen – so z.B. die Shell-Studien. Und es
darf auch nicht unterschlagen werden, dass Heranwachsende sich vielfältig in bürgerschaftlichen oder Umweltprojekten, in Vereinen und Aktionsgruppen engagieren, wenn sie die Sinnhaftigkeit des Tuns sehen. Sie sind eben nicht nur egoistisch, bequem und hedonistisch.
Trubel auf der Vorderbühne
Mich macht es angesichts alldem stutzig, dass der Ruf nach einer strengeren Erziehung so gut
zum neoliberalen Zeitgeist passt. Einem Zeitgeist, der „vom Primat der Zwänge der Ökonomie und Konsum und der reibungslosen Anpassen an sie ebenso bestimmt ist, wie von dem
Glauben an eine durch Wirtschafts- und Finanzgesetze bestimmte effektive, gegen Störungen
unwillige und gereizte Normalität. Die Diskussion passt zu den sich zunehmend durchsetzenden altkonservativen Einstellungen, dass es auf Leistung, Funktionieren und Einordnung ankomme“ (THIERSCH/THIERSCH a.a.O.:1). Diese Diskussion wird gerade auch von Leuten geführt, die zu den Gewinnern solcher wirtschaftlichen Entwicklungen und gesellschaftlicher
Verhältnisse gehören. Sie können darüber Fragen nach den Strukturen im Hintergrund verdecken. Fragen also z.B. nach struktureller Arbeitslosigkeit und ihre psychosozialen Folgen für
die Betroffenen, nach Armut und ungleich verteilten Bildungschancen5, nach Familienlastenausgleich6 und Wohnungspolitik. Kritische Fragen nach den Rahmenbedingungen menschlichen Lebens – und damit auch familialen Zusammenlebens –, die gleichsam „hinter den Kulissen“ von den selbsternannten „Eliten“ in Politik und Wirtschaft arrangiert werden, die sich
dabei für sich selbst das größte Stück vom Kuchen abschneiden.7 Das scheint mir der eigentliche Zweck der Diskussion zu sein.
5
Vgl. dazu den am 21. März 2007 der UN-Menschenrechtskommission vorgelegten Bericht des UNSonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Vernon Munoz. Darin geht es ja nicht darum, ob wir in
Deutschland ein mehr oder weniger modernes Bildungssystem haben. Darin geht es (bei „positivem“ Befund)
darum, ob bei uns gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen wird. Allein die Möglichkeit, dass für außenstehende ausgewiesene Experten der Verdacht entstehen könnte, dass hier ein Verstoß vorliegt, müsste den verantwortlichen Bildungspolitikern die Schamesröte ins Gesicht treiben!
6
Vgl. dazu den Pressebericht der deutschen Bischofskonferenz (Deutsche Bischofskonferenz 2007:7-9)
7
Wie die Entwicklung der Armuts- aber vor allem die Reichtumsverhältnisse in der Bundesrepublik durchaus
belegen können (vgl. Bundesregierung 2005).
6
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
2. Gestaltung von Erziehung
Der Hinweis auf diese verdeckte politische Funktion des öffentlich lancierten Diskurses um
mehr Härte, Disziplin und Autorität in der Erziehung entledigt uns aber nicht der realen Probleme, die jenseits aller – wie gesagt politisch motivierter – Übertreibungen und Skandalisierungen den Erziehungsalltag in Familien, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Erziehungshilfeeinrichtungen etc. prägen. Dieser Alltag ist neben glückenden und glücklichen Momenten
durchaus immer wieder mühsam, schwierig und aufreibend, herausfordernd und bisweilen
überfordernd. Eltern und Pädagogen geraten an ihre Grenzen und werden nicht zuletzt dadurch auch empfänglich für Erziehungsrezepte, die Entlastung versprechen: Entlastung vom
mühsamen Geschäft des Aushandelns gemeinsam tragbarer Kompromisse, Entlastung von
anstrengender Selbstreflexion und Entlastung vom Einfordern und Durchsetzen von Regeln
des Zusammenlebens, die übrigens oft auch Verzicht und Selbstbeherrschung von den Erwachsenen erfordern.
Auf diese Probleme sind meiner Überzeugung nach und erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse zufolge andere Antworten nötig und möglich als die „einer harten Hand“. Folgen
wir also der Mahnung von Andreas Flitner8, „…das ganze Teufelszeug nicht Erziehung zu
nennen, was sich hinter diesem Namen verbirgt: die Lohn- und Strafpraktiken, die Verbote,
Drohungen und Beschimpfungen, auch die hinterlistigen Lenkungstechniken, die die Verhaltenswissenschaftler entwickelt haben und in unserer Brave New World zur Sicherung von
Anpassung und Konsum ins Werk setzen.“ (FLITNER 1996:79). Schauen wir uns im Folgenden an, wie denn Erziehung nun so zu praktizieren ist, dass sie den Namen „Erziehung“ wirklich verdient.
Angesichts des geplanten Vorgehens (der darauf folgenden Diskussion) und der mir zur Verfügung stehenden Zeit werden meine Ausführungen eher skizzenhaft bleiben, die Konkretisierung soll in der anschließenden Gesprächsrunde erfolgen.
Einspielen der Filmsequenz „Artikel 6 GG“ (Recht auf Erziehung und Pflege) von KRÄTZÄ.
Orientierungslinien gelingender Erziehung
Ich beginne mit einer elementaren Bestimmung von Erziehung und zitiere dafür nochmals den
ehemaligen Tübinger Professor Hans Thiersch:
8
Andreas Flitner war bis zu seiner Emeritierung Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen. Von ihm stammt auch das sehr lesenswerte Büchlein „Konrad, sprach die Frau Mama… Über Erziehung
und Nicht-Erziehung“.
7
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
„Erziehung gelingt,
wenn Kinder in der Welt, in die sie hineingeboren werden, Pflege und Verlässlichkeit finden,
wenn man Zeit für sie hat, um auf ihre eigenen Zeitbedürfnisse einzugehen,
wenn sie in dem, was sie können und in dem, was sie sind, unterstützt, gemocht und angenommen werden,
wenn sie Anregungen und Aufgaben finden, an denen sie sich erfahren und beweisen können, an denen sie lernen, an denen sie ihre Bedürfnisse und Triebwünsche gestalten und ihre
sozialen Kompetenzen und ihr Wissen erweitern können, (und wenn sie darin auch Fehler
machen dürfen ohne Strafe fürchten zu müssen, B.S.),
wenn sie Perspektiven erfahren, um die es sich anzustrengen lohnt“ (THIERSCH 2002:6).
Ist es Ihnen aufgefallen? Grenzen? Disziplinierung? Strafe? Strenge? In seiner grundlegenden
Bestimmung davon, wann Erziehung gelingen kann, verwendet Thiersch nicht ein einziges
Mal diese oder ähnliche Begriffe.
Da ist die Rede von „Verlässlichkeiten“, die Kinder brauchen – nicht Grenzen. Sie brauchen
Rituale und Regelmäßigkeiten, die ihnen Orientierung und Sicherheit vermitteln. „Ich kann
mich darauf verlassen,…
dass mich jemand, den ich kenne, dem ich vertraue und der mich mag, nach dem Kindergarten abholt,
dass es was zu essen gibt, wenn ich hungrig bin,
dass Mama mich versorgt, wenn ich krank bin,
ich kann mich darauf verlassen, dass Papa es nicht duldet, dass ich meinem kleinen Bruder
etwas zuleide tue, aber auch umgekehrt…
dass er es nicht duldet, dass er mir etwas zuleide tut.
Da ist die Rede davon, dass Kinder Zuneigung, Annahme und Interesse an ihrer Person
brauchen, sowie Ermutigung und Unterstützung. Und zwar für das, wer sie sind und was sie
können. Kinder wollen doch dazu gehören, „artig sein“, geachtet werden. Und Kinder – das
zeigen moderne sozialwissenschaftliche Forschungen9 – sind von Anfang an für diesen sozialen Umgang ausgestattet und darin kompetent: also haben die Fähigkeiten, freundlich Kontakt
aufzunehmen und zu mit anderen zu kommunizieren, oder: mit anderen gefühlsmäßig „mitzuschwingen“, also mitzufühlen und mitzuleiden.
Da ist die Rede von „Zeit“, die das alles braucht. Zeit, die sich Erwachsene für die Kinder
nehmen. Ich erinnere mich da an einen jungen Mann, den ich im Rahmen einer Forschungsarbeit über Lebensverläufe in der Erziehungshilfe, kennen gelernt habe. Er war einziges Kind
seiner alleinerziehenden Mutter, die beruflich sehr engagiert war. Zum einen natürlich, weil
9
Vgl. dazu etwa: DORNES 1993, STERN 2003 oder KRAPPMANN/KLEINADAM 1999.
8
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
sie Geld verdienen musste, zum anderen aber auch darüber hinaus, weil sie als Betriebsrätin
und politisch aktives Mitglied einer Partei ihrem Leben Gehalt und Sinn verleihen sowie Anerkennung erfahren konnte. David – ich nenne ihn nun einfach mal so – deutet und erlebt die
viele Abwesenheit seiner Mutter als Zurückweisung durch seine Mutter und als Verlust ihrer
Zuneigung. Nicht dass Sie mich jetzt falsch verstehen: ich will die Mutter nicht im Geringsten
als Rabenmutter denunzieren, das liegt mir fern! Es sind ja, wie ich deutlich zu machen versucht habe, nicht die Mütter und Väter, die arbeiten gehen müssen, um ihre Familien zu ernähren, diejenige, die hinter den Kulissen die Rahmenbedingungen für das familiale Leben
gestalten. Ich verwende das Beispiel nur, um deutlich zu machen, dass Kinder Zuneigung
auch über die Menge an Zeit, die Erwachsene für sie „vergeuden“, bemessen: „Wie viel Zeit
bin ich meiner Mama – oder vor allem oft auch meinem Papa – wert? Wie viel ist der Erwachsene bereit, von seiner Lebenszeit mir zu geben, mit mir zu verbringen, mit mir zu ‚verschwenden’? Und tut er das denn auch gerne?“
Und eines noch zur Beruhigung aller berufstätigen Eltern im Publikum: Kinder sind ja auch
sehr langmütig und nachsichtig mit uns Erwachsenen, wenn sie sehen, wie sehr wir uns bemühen. Es stimmt also schon, dass nicht vorwiegend die Menge an Zeit, die Sie mit ihren
Kindern verbringen, für die Beziehung ausschlaggebend ist und dafür ob es sich angenommen
und geliebt fühlen kann, sondern auch die Art und Weise, wie Sie die – möglicherweise knapper bemessene – Zeit mit ihren Kindern verbringen. Und außerdem wollen Kinder ja auch
selbst ihre Lebenszeit nicht nur mit den Eltern verbringen!
Und da ist schließlich die Rede von „Anregungen und Aufgaben finden, an denen sie sich
erfahren und beweisen können“ und von „Anstrengungen lohnende Lebensperspektiven“.
Kinder wollen die Welt kennen lernen, was erleben, was riskieren: auch außergewöhnliches
und abenteuerliches, eigene Träume verwirklichen, ihr Leben intensiv leben. (Oder in religiöser Sprache ausgedrückt: „sie wollen Leben in Fülle“. Und solch ein „Leben in Fülle“ sollen
ja gemäß dem jüdischen Wanderprediger Jeschua Ben Joseph auch alle Menschen haben können). Das bedeutet nun für uns Eltern und Pädagogen zweierlei. Nämlich erstens, dass es in
unserer Welt auch solche Anregungen und Aufgaben, solche lohnenden Perspektiven geben
muss. Dass wir Erwachsenen also Räume und Möglichkeiten schaffen, in denen sich Kinder
und Jugendlichen real abarbeiten und bewähren können an Aufgaben, die sie selbst als lohnend erkennen – und dass dann Jugendliche sich engagieren, darauf hatte ich eingangs schon
hingewiesen. Zweitens aber auch, dass wir uns zurücknehmen und uns je nach Alter der Kinder mehr oder weniger zurückhalten. Kinder also selbst machen lassen, auch wenn das Ergebnis dann nicht so sehr unserem erwachsenen Vorstellungen von Ästhetik oder Ordnung entspricht.
Wenn wir uns nun noch ansehen, wie der Psychologe Abraham MASLOW menschliche Bedürfnisse theoretisch zu fassen versucht und welche Bedürfnisse er dabei aufzählt, dann wird
9
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
deutlich, dass Erziehung vor allem darauf
abzielt sicherzustellen, dass Kinder grundlegende Bedürfnisse befriedigen können.
Bernhard Schoch 2007
Transzendenz
Selbstverwirklichung
Ästhetische Bedürfnisse
Ich fasse zusammen – auch wieder in den
Worten von Hans Thiersch:
Kognitive Bedürfnisse
Achtung und Selbstwert
„Erziehung kann gelingen, wenn Kinder in
Liebe und Beziehung
Vertrauen zu anderen und zu sich selbst,
sich an der immer auch widerständigen Rea-
Sicherheit
Physiologische Bedürfnisse
lität anderer Menschen und Sachgegebenheiten abarbeiten und so in der Strukturierung und Stabilisierung ihrer Eigentätigkeit im Bildungsprozess zu ihrem eigenen Lebensprofil finden. Solche Erziehung vollzieht sich in den
Lebens- und Entwicklungsaufgaben entsprechenden Phasen und in unterschiedlichen Arrangements von enger und weiterer Familie und Freundeskreisen“ (ebd.).
Erziehung als Antwort auf die Selbst-Bildung des Kindes
Thiersch spricht hier nun von „Eigentätigkeit“. Er bezieht sich dabei auf einen Gedanken, der
vor allem in der aktuellen Bildungsdiskussion betont und von der modernen Hirnforschung
bestätigt wird: dass das, was wir durch Erziehung befördern möchten, nämlich dass Kinder
sich diese Welt mit all deren Möglichkeiten und Zumutungen aneignen, dass sie lernen, sich
dort zurecht zu finden und zu behaupten, und dass sie dabei sowohl eine eigenständige Persönlichkeit als auch in vielfältiger Weise sozial integriert werden. Dass dies alles vor allem
eine Leistung des Kindes ist, eine Leistung, die es selbst erbringt. Gerd Schäfer, Professor an
der Universität in Köln und einer der wenigen Pädagogikprofessoren, der einen Lehrstuhl für
„Frühe Kindheit“ innehat, spricht hier von „Bildung“ und zwar von „Bildung als SelbstBildung“.10 Diese Selbst-Bildung verläuft beim Kind als
10
•
eigenständige, selbst gesteuerte Aktivität und Auseinandersetzung mit der Umwelt
•
über alle Sinneskanäle und ist
•
orientiert an dem, was für das Kind selbst bedeutsam und (emotional) wichtig ist.
•
Sie verläuft als Entwicklung innerer Bilder, so genannter „kognitiver Landkarten“,
die ständig korrigierend, erweiternd und differenzierend überarbeitet werden, und
•
in Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt und mit deren Reaktionen
•
Sie zielt auf Lebensgestaltung und Lebensbewältigung, auf ein gelingendes Leben.
Vgl. dazu SCHÄFER 1995:7 oder DERS. 2001.
10
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Es ist wichtig, das hier auszuführen, denn dieser Umstand hat Konsequenzen für die Frage
danach, wie Erziehung gelingen kann. Es verhält sich nämlich nicht so wie bei einem Automaten, der genau das tut, was ich ihm eingebe. Also beispielsweise bei einem Videorekorder:
wenn ich eine Kassette eingebe und den Rekorder zu bedienen weiß, dann wird er mir in der
Nacht die Sendung aufzeichnen, die ich mir am nächsten Morgen dann ausgeschlafen ansehen
möchte. Etwas platt ausgedrückt: selbst wenn ein Erwachsener alle bekannten und unbekannten Erziehungstechniken beherrschen würden, so hätte er es letztlich dennoch nicht in der
Hand, wie sich ein von ihm erzogenes Kind entwickelt.
Aber wenn das Kind nun diese innere Verarbeitung äußerer und innerer Eindrücke selbst bewerkstelligen muss, bedeutet das keineswegs, dass es dabei sich selbst überlassen werden
darf. Auch hier sind sich die Erziehungswissenschaftler im Kern einig, dass nämlich diese
„Selbst-Bildung“ der Anregung und Unterstützung von außen bedarf, dass sich diese „SelbstBildung“ vor allem auch innerhalb sozialer Interaktion abspielt – der Fachbegriff hierfür lautet: „Ko-Konstruktion“.11 Konstruktion deshalb, weil – wie oben gesagt – Kinder sich ihr
Bild, ihre Vorstellungen von der Welt „konstruieren“. Es ist also nicht so, dass diese „Bilder“
(die sprachlichen Versuche, sich die Welt zu erklären und zu begreifen) in das Kind wie durch
eine Art Trichter in ihre Köpfe eingeflösst werden kann. Ko-Konstruktion deshalb, weil sich
Kinder dabei auf schon andere „Konstruktionen“ beziehen, die von anderen Menschen vor
ihnen entwickelt wurden, und weil Kinder ihre Konstruktion zusammen mit anderen Menschen (also Eltern, Geschwister, Kinder aus der Nachbarschaft etc.) entwickeln. Wenn nun die
Tätigkeit des Kindes die sozial-rückgebundene Selbst-Bildung ist, dann ist Erziehung die darauf antwortende Tätigkeit und Aufgabe der Erwachsenen.
Angesichts der nun vorgetragenen Überlegungen dürfte klar geworden sein, dass Erziehung
keine Technik, sondern eine Kunst ist. Und dass der Erziehende, dass Eltern, Lehrerinnen,
Sozialpädagogen, Erzieherinnen nicht wirklich in der Hand haben, was das Ergebnis ihrer
Erziehungsbemühungen sein wird, also was aus dem erzogenen Kind wird. Und es müsste
außerdem deutlich geworden sein, dass Erziehung kein Monolog sein kann, sondern auf Dialog hin angelegt!
Die Erfahrung dieser „Eigenständigkeit“ des Kindes, seiner selbsttätigen Aneignung von
Welt, die gleichzeitig aber nicht völlig losgelöst, sondern innerhalb sozialer Beziehungen und
kultureller Bezüge geschieht, rückt nun ein Erziehungshandeln ins Blickfeld, dass auf den
ersten Blick als solches nicht gleich zu erkennen ist: das indirekte pädagogische Handeln.
Erziehungshandeln wird ja oft mit Handlungen in Verbindung gebracht, die sich direkt an das
Kind richten, die sich in direkter Kommunikation und Interaktion abspielen: trösten, loben,
tadeln, mitlachen, zeigen, verbieten und so weiter. Das ist aber nur die eine Variante pädagogischen Handelns. Bei der anderen Variante, dem indirekten pädagogischen Handeln geht es
11
Vgl. dazu z.B. DAHLBERG 2002.
11
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
normalerweise darum, Räume und Material, Programm und Tagesstrukturen zu arrangieren
und zu gestalten, also bewusst auszuwählen, zu welchen Ausschnitten aus der großen weiten
Welt mit all ihren Chancen aber auch Gefahren ich als Erwachsener dem Kind Zugang ermögliche, und zu welchen nicht. Zwei Beispiele, um die Unterscheidung deutlich zu machen:
direktes Handeln wäre, dem Kind die Bedeutung gesunder Ernährung zu erklären. Indirektes
Handeln wäre, vollwertige Lebensmittel einzukaufen und daraus eine gesunde Mahlzeit zu
kochen, die es dann zum Mittagessen gibt. Direktes Handeln wäre, mit dem Kind darüber zu
verhandeln, wie lange und was es sich im Fernsehen ansehen darf. Indirektes Handeln könnte
demgegenüber darin bestehen, erst gar keinen Fernsehapparat für das Kinderzimmer anzuschaffen. Diese Form indirekten Handelns meinen ich hier aber gar nicht so sehr: viel wichtiger ist das, was man als „Vorbild“ oder „Beispiel“ sein umschreiben könnte. Dies nun aber
nicht im Sinne eines heiligmäßigen Vorlebens eines möglichst tugendhaften Lebens, sondern
im Sinne von „Modell-sein“ oder im Sinne des „bloßen Daseins“ des Erwachsenen im Alltag
des Kindes. Mein Vater erzählt immer mal wieder von seiner Kindheit, die er in den Kriegsjahren aufgrund der Bedrohung durch Fliegeralarm und Bombennächten nicht bei seinen leiblichen Eltern in Stuttgart, sondern bei seinem Onkel und seiner Tante in einem Weiler nicht
unweit von Gmünd verbrachte. Er betont dabei immer, dass sein „Weiler-Papa“ nicht viel mit
ihm spielte, aber dass allein das Dasein, also wie der Onkel sein Tagwerk gestaltete, also seiner Arbeit nachging – er war Landwirt und Hufschmied im Ort und die Schmiede befand sich
im Bauernhof – und wie er mit anderen Personen der Familie und Nachbarschaft Umgang
pflegte, dass dieses Dasein seines Onkels einen bleibenden, positiven Eindruck auf meinen
Vater hinterlassen habe.
In der Waldorfpädagogik finde ich dieses „Dasein“ und „Modell sein“ wieder, wenn die Erzieherinnen in den dortigen Kindergärten nicht ständig Aktivitäten mit den Kindern durchführen, sondern vielmehr ganz bewusst alltäglichen Arbeiten nachgehen wie Stricken, Häkeln
oder Kochen und wie manche Kinder dann beginnen, zuzugucken, sich dafür zu interessieren
und schließlich auch mitmachen wollen.
Noch mal zurück zum Ausgangsgedanke der „Unverfügbarkeit des Kindes“: weil wir Erwachsenen in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen eben nicht wissen können, wie
Kinder auf unsere Versuche, auf sie Einfluss zu nehmen, antworten, wie sie diese Versuche
als wahrnehmen, deuten, werten und wieder in Handlungen übersetzen, weil also Kinder (und
Menschen insgesamt) keine einfachen Maschinen sind, können Erziehungswissenschaftler
und Pädagogen den Eltern auch keine „Rezeptologie“ zur Verfügung stellen. Also Ratschläge
nach der Art: „Du, Mutter, wenn du dein Kind auf diese Weise behandelst, wird es automatisch auf jene Weise reagieren“. Das wiederum bedeutet aber nicht, dass es nicht doch „handwerkliche Tipps“ gibt, Hinweise auf „Techniken“, mit denen Kinder und Jugendliche auf ihren Wegen ins Leben und in ihren Versuchen, ihren Alltag zu meistern, beeinflusst werden
12
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
können. Solche „Techniken“ sind zum Beispiel: Kinder anfassen oder festhalten, den körperlichen Abstand zu Kindern verändern, in die Knie gehen und in die Augen schauen, etwas
zeigen, etwas erlauben oder verbieten. Ich werde im abschließenden Kapitel darauf noch einmal zurückkommen.
Diese „Techniken“ oder „Methoden“ sind wichtig, sie allein vermögen aber nichts, ja können
sogar kontraproduktiv wirken, wenn sie nicht eingebettet sind in ein Wertesystem, wenn sie
nicht rückgebunden sind an Orientierungen, den so genannten „pädagogischen Grundhaltungen“. Solche Grundhaltungen wurden ja nun schon einige genannt: Zuneigung, Aufmerksamkeit und Interesse (in Form von Zuwendung und „Zeit-Verschwenden“), Wertschätzung,
Wohlwollen, Barmherzigkeit und Humor sowie Dialogbereitschaft. Deshalb gilt für uns Erwachsene, was der jüdisch-polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak sagte: „Erziehe dich
selbst, bevor du Kinder zu erziehen trachtest.“
Ich fasse die wichtigsten Gedanken kurz zusammen. Dabei greife ich auf eine Grafik zurück,
die Johanna Graf entwickelt hat, ich aber für meine Zwecke einwenig ergänzt habe.12
Erziehung ist das Bemühen Erwachsener, Kinder auf ihren Wegen ins Leben
zu begleiten. Die Kinder müssen diese
Wege selbst gehen, aber sie sollen sie
nicht alleine gehen müssen. Erziehung
ist insofern vor allem: im Alltag von
Kindern da zu sein, präsent zu sein, mit
Kindern zusammenzuleben. Dabei darauf zu achten, dass die grundlegenden
Bedürfnisse der Kinder nach Versorgtsein, nach Geborgenheit und Sicherheit,
sowie nach Verbundenheit und Liebe,
nach Zugehörigkeit und Anerkennung,
Konflikte
angehen
Problemen
vorbeugen
Bedürfnisse
befriedigen und
Beziehung pflegen
da sein /
Modell sein
Wie Eltern Einfluss auf Ihre Kinder nehmen
können (nach GRAF 2004:6)
ausreichend gestillt werden. Im Verhältnis zur Bedeutung dieser grundlegenden Aufgaben des
„Da-Seins“, der „Bedürfnisbefriedigung“ und der „Beziehungsgestaltung“ nimmt nun der
Bereich der „Problem- und Konfliktbewältigung“ einen deutlich geringeren Raum ein. Womit
ich zum Ausgangspunkt meines Referates zurückkehre: dem Ruf nach Härte und Entschiedenheit in der Erziehung, nach einem neuen Mut zum Grenzensetzen und zur Disziplinierung
von Kindern. Ich hatte gesagt, dass das Zusammenleben mit Kindern und die Erziehungstätigkeit immer wieder mühsam, schwierig und aufreibend, herausfordernd und bisweilen überfordernd sind. Und dass Eltern und Pädagogen immer wieder an ihre Grenzen geraten. Ich
hatte außerdem die These vertreten, dass diese Diskussion um die Notwendigkeit von Autori12
Vgl. GRAF 2004:6.
13
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
tät, Härte und Bestrafung in der Erziehung in eine falsche Richtung weist. Ich möchte abschließend noch zeigen, dass der grundsätzlich wohlwollend-freundliche und dialogische
Umgang mit Kindern und Jugendlichen auch in der Bewältigung von Problemen und Konflikten trägt.
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – gerade auch in Konflikten
Kinder wollen ein intensives, spannendes und lohnenswertes Leben führen. Sie wollen dabei
verbunden sein mit anderen Menschen, die sie lieben und die umgekehrt auch sie lieben. Das
ist nun nichts Außergewöhnliches. Jedes menschliche Tun ist motiviert durch Wünsche,
Träume, Interessen. Menschen erhoffen sich durch die Erfüllung dieser Träume und Wünsche
und durch die Befriedigung ihrer Interessen und Bedürfnisse ein subjektiv lebenswertes Leben führen zu können, bevor sie sterben. Dass sie also nicht „bloß“ leben, sondern ein Leben
in großer Fülle leben können. Zu einem Leben in Fülle gehört auch, dass man Anerkennung
erfährt, für das was man ist und kann, sowie Zuneigung und Wohlwollen. Nun leben wir aber
nicht alleine auf der Welt und in der Befriedigung unserer Bedürfnisse beißt sich oft mit dem
berechtigten Anspruch anderer Menschen auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Wir können
manchmal unsere Bedürfnisse nicht stillen, ohne dabei die Bedürfnisbefriedigung anderer
Menschen zu behindern oder gar zu verhindern. Und diese anderen Menschen wehren sich in
aller Regel dagegen. Es kommt zu Reibereien, Auseinandersetzungen, Streit. Das hat
Thiersch im Sinn, wenn er davon schreibt, dass sich Menschen und damit auch Kinder „an der
immer auch widerständigen Realität anderer Menschen und Sachgegebenheiten abarbeiten“
müssen, und dabei lernen, dass man manchmal die Bedürfnisbefriedigung aufschieben muss
oder gar ganz darauf verzichten muss, und dass man die damit verbundene Frustration auch
aushalten muss und aushalten kann.
Albert Schweitzer hat das auf den Punkt gebracht und folgendes moralisches Axiom oder
Grundprinzip formuliert:
"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will"
Menschen leben also in sozialen Gemeinschaften und wollen das auch. Durch und für das
Zusammenleben in solchen Gruppierungen etablieren sich Werte und Normen, Regeln und
Gesetze, damit der Interessenausgleich einigermaßen friedlich zugeht. Menschliches Leben ist
insofern immer auch davon geprägt und herausgefordert, Eigeninteresse und eigene Bedürfnisbefriedigung mit den Interessen anderer und der Gemeinschaft abzugleichen.
Wenn Menschen und gerade auch Kinder und Jugendliche gegen Werte, Normen und Regeln
verstoßen, geschieht dies meist aus einem Unbehagen diesen Orientierungen gegenüber, weil
diese die Befriedigung subjektiv bedeutsamer Bedürfnisse erschweren oder unmöglich ma-
14
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
chen bzw. weil gerade der Verstoß dagegen die Befriedigung solcher Bedürfnisse ermöglicht.
Regelverstöße sind deshalb oft Symptome für problematische Regeln, die überdacht, möglicherweise reformuliert oder gar ganz außer Kraft gesetzt werden müssen.
Will man auf erzieherischem Wege und im Sinne einer emanzipatorischen Pädagogik (vgl.
MOLLENHAUER 1968) nachhaltige Veränderung eines Verhaltens erreichen, dann müssen:
• Regeln und Konsequenzen für Regelverletzungen gemeinsam ausgehandelt,
• Sinn und Hintergründe von Regeln transparent gemacht (aufzeigen, warum es lohnt, sich
an die Regeln zu halten) und
• Wege für regel- und normgerechte Befriedigung wichtiger Bedürfnissen aufgezeigt oder
entwickelt werden.
Solche gemeinsam ausgehandelte Regeln verhindern unnötige Regelverstöße und vermeiden,
dass sich Eltern oder Erzieher genötigt fühlen, Regelverstöße mit Bestrafung zu ahnden. Das
ist auch mit „Problemen vorbeugen“ gemeint (vgl. Grafik).
Grenzensetzen und Grenzen durchsetzen
Nun gibt es aber dennoch Situationen, die das Setzen von Grenzen sowie Mittel zur Durchsetzung dieser Grenzen (also Mittel, mit denen auf Grenzverletzungen erfolgreich reagiert werden kann) erforderlich machen. Laut Andreas FLITNER (1996:105f)
sind solche Situation dann gegeben, wenn folgende Gefahren drohen:
• Gefahr für das Kind: an Leib und/oder Seele ernsthaften Schaden
zu nehmen,
• Gefahr für Andere: verletzt, gekränkt, geplagt zu werden,
• Gefahr für das gemeinschaftliche Leben: dass Sitte und gemeinsame Werthaltungen, gemeinsame Dinge und Geräte beschädigt
werden.
Beispiele: Milena, 2 Jahre, sieht auf der anderen Seite der
Hauptstraße eine kleine Katze sitzen und will zu ihr hinüberrennen, um sie zu streicheln. Gleichzeitig nähert sich hinter der Kuppe ein Lastwagen.
Björn, 14 Jahre, hat es sich zum Sport gemacht, die Fünftklässler zu drangsalieren und
ihnen je nach Lust und Laune Wertgegenstände abzupressen.
Thea, 10 Jahre, sitzt am Vespertisch, es sind noch nicht alle Familienmitglieder da,
deshalb kann es noch nicht losgehen mit Essen. Ihr ist langweilig und sie beginnt, mit
dem Messer das Tischtuch zu zerschneiden.
15
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Die dritte Klasse besucht mit ihrer Religionsehrerin eine Kirche, vereinzelt knien Erwachsene in den Bänken und beten. Da beginnen Torben, Mathis und Merit unvermittelt zwischen den Kirchenbänken lautstark Fangen zu spielen.
In solchen Situationen muss man als Erwachsener aus der Verantwortung für das Wohl der
Heranwachsenden selbst oder für das Wohl anderer Menschen eingreifen, Grenzen setzen und
diese Grenzen auch durchsetzen. Erfordert das Durchsetzen der Grenzen aber nun, dass man
Grenzverletzungen bestraft oder mit Strafandrohung zu verhindern versucht?
Vorbeugen
Zunächst gilt hier dasselbe, was oben im Zusammenhang mit Regeln schon formuliert wurde:
auch Grenzen sind transparent zu machen und so zu setzen, dass berechtigte Bedürfnisse von
Kindern sicher befriedigt werden. Auf diese Weise kann Grenzverletzungen vorgebeugt werden. Auch REDL und WINEMAN13 legen den Akzent auf präventives erzieherisches Handeln
und beschreiben detailliert 15 (!) Möglichkeiten, ohne Rückgriff auf Drohungen und Bestrafung (sowie unter Verzicht auf Versprechungen und Belohnungen als nur vermeintlich positive „pädagogische“ Mittel) auf aggressives und auch selbst-, fremd und sachgefährdendes
Verhalten von Heranwachsenden zu reagieren:
1.
2.
Bewusstes Ignorieren
Eingriff durch Signale
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Kontrolle durch körperliche Nähe und Berührung
Engagement in einer „Interessensgemeinschaft“
Affektive Zuwendung
Spannungsentschärfung durch Humor
Hilfestellung zur Überwindung von Hindernissen
Deutung als Eingriff
Umgruppierung
Umstrukturierung
Direkter Appell
Einschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit und der Verfügbarkeit von Gegenständen
13. Herausnehmen aus einer Situation
14. Physisches Eingreifen
15. Erlaubnis und Verbot
Alle diese fünfzehn Techniken müssen so angewandt werden, dass jeglicher „strafende“ Anschein unterbleibt, die Grundhaltung des Erwachsenen muss von Wohlwollen und Bemühen
13
Vgl. REDL/WINEMAN 1976.
16
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
um Verstehen geprägt sein, und der Erzieher in der Lage, dies dem Heranwachsenden auch zu
vermitteln: „Ich bin jemand, der dich gern hat, dich ernst nimmt und der konsequent sowie
mit aller Kraft darum kämpft, dir zu helfen ein glückliches und erfülltes Leben in Gemeinschaft mit anderen zu führen sowie nach meinen Möglichkeiten Schaden und Leid von dir
fernzuhalten – auch dann, wenn ich dir verbiete, mit dem Messer das Tischtuch zu zerschneiden“.14
Johanna Graf beschreibt die entscheidende pädagogische Grundhaltung wie folgt: „Statt automatisch ‚Du gegen mich’, ‚Ich gegen Dich’ zu denken, kann ich mir sagen: ‚Wir beide gegen das Problem’.“15
Ihr Konzept des „FamilienTeams“ sieht in akuten Krisen – zum Beispiel an der Supermarktkasse, wenn das Kind sich darauf versteift, den Schokoriegel haben zu wollen, und beginnt,
seiner Enttäuschung über das „Nein“ der Mutter lautstark Ausdruck zu verleihen – noch eine
weitere Technik vor. Sie nennt diese Technik „Emotions-Coaching“.16 Es geht dabei im Wesentlichen darum, Kindern zu helfen, in einer frustrierenden Situation mit dem Ansturm der
Gefühle klar zu kommen. Wenn Kinder außer sich sind vor Wut und Enttäuschung, vor Verzweiflung oder Angst, dann können sie nicht hören, was der Erwachsene sagt. Dieser muss
zunächst versuchen, die Gefühle hinter dem Verhalten des Kindes wahrzunehmen und richtig
zu deuten. Um dann in einem nächsten Schritt dem Kind zu vermitteln „Alle deine Gefühle
sind in Ordnung – aber nicht jedes daraus resultierende Verhalten“ und ihm dabei zu helfen,
seine Gefühle auszudrücken (z.B. dadurch, dass der Erwachsene selbst in Worte fasst, was er
beim Kind an Gefühlen vermutet). Erst dann ist die Brücke zur Verhandlung der eigentlichen
Problematik wieder aufgebaut.
Natürliche und logische Konsequenzen anstelle von Strafe
Wenn all das nicht greift, und Kinder oder Jugendliche dennoch und im Vorsatz gegen gemeinsam ausgehandelte und gültige Regeln verstoßen, dann sollten solche Verstöße doch ab
und zu auch Folgen für die „Regelbrecher“ nach sich ziehen. FALK-FRÜHBRODT17 unterscheidet hierbei zwischen „Strafe“ und „Konsequenzen“ und plädiert dafür, Heranwachsende nicht
gleichsam willkürlich zu bestrafen, sondern auf sogenannte natürliche und logische Konsequenzen als Alternativen zu Strafen zurückzugreifen:
„Natürliche Konsequenzen sind Folgen eines Verhaltens, die sich ganz von alleine einstellen: Wenn ich mich zu dünn angezogen habe, wird mir kalt. Wenn ich mir die Zähne nicht putze, bekommen sie Löcher. Wenn ich nichts esse, verspüre ich Hunger.
14
Vgl. REDL/WINEMAN a.a.O..
GRAF 2004:
16
Vgl. ebd..
17
Vgl. FALK-FRÜHBRODT 2004.
15
17
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Manche dieser Folgen können einem Kind zugemutet werden; andere nicht. Läuft ein
Kind unachtsam auf die Straße, könnte eine natürliche Folge sein, dass es vom Bus erfasst wird. Das müssen Eltern verhindern. Mit Gefahren verbundene natürliche Konsequenzen ersetzt man am besten durch logische Konsequenzen. (…) Logische Konsequenzen sind Folgen kindlicher Verhaltensweisen, die die Eltern oder andere Erziehende herbeiführen. Sie haben stets eine inhaltliche und zeitliche Nähe zum Verhalten des
Kindes“.18
FALK-FRÜHBRODT empfiehlt Eltern und Erziehern solche natürlichen und logischen Konsequenzen einzusetzen, weil Heranwachsende sie besser nachvollziehen können als Strafen, da
„sie nicht auf seine Person bezogen sind, sondern sich aus den Erfordernissen der Wirklichkeit ableiten lassen. Weder verurteilen sie das Kind, noch werten sie es ab. Im Gegensatz zu
Strafen werden Konsequenzen ruhig und freundlich benannt bzw. sprechen für sich. Das Kind
soll sich durch sie nicht bestraft fühlen, sondern die auch für Kinder geltenden Sachzwänge
erkennen“.19
Direktives versus autoritäres Handeln
BUEB und die Befürworter einer autoritären Pädagogik könnten nun entgegnen, dass es doch
kaum einen Unterschied ausmacht, ob ich Strafen erteile oder logische Konsequenzen folgen
lasse. Beide Male handele es sich doch um Handeln aus einer Machtposition heraus, und das
solle man sich doch in der Pädagogik endlich wieder ein- und zugestehen. Bueb formuliert es
sogar sinngemäß so, dass man Macht auch wieder mit einer gewissen persönlichen Genugtuung ausüben können solle. Ich denke dagegen, dass man hier differenzieren muss zwischen
einem autoritären Handeln und einem Handeln, dass ich direktiv nennen würde. Direktiv handelt ein Erwachsener, wenn er Anweisungen gibt, Vorgaben und Grenzen setzt, Handeln dirigiert und Verhalten (maß-)regelt. Und zwar so, dass er die Anweisungen, Maßregeln, Grenzen
und Vorgaben begründet.
•
18
19
Ein direktiv handelnder Erwachsener versucht die reale gegebene asymmetrische
Machtverteilung zu relativieren. Erstens indem verdeutlicht und postuliert, dass die
eingeforderten Normen vernünftig, nachvollziehbar sind und so konzipiert, dass sich
das Kind oder der Jugendliche prinzipiell auch ohne die real gegebene ungleiche
Machtverteilung aus eigenem Willen heraus an dieser Norm orientieren könnte. Und
zweitens indem er durch die Erläuterung der Sinnhaftigkeit der Norm zumindest implizit erklärt, sich prinzipiell auf einen rationell geführten Diskurs über die Sinnhaftigkeit der Norm einzulassen. Hier wird dann auch das spezifisch Erzieherische deutlich:
A.a.O..
A.a.O..
18
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
mit der Aufklärung über Normen und ihre Hintergründe wird grundsätzlich ermöglicht, dass Kinder und Jugendliche ihre Einsicht in Hintergründe und Zusammenhänge
menschlichen Zusammenlebens erweitern und in Zukunft aufgeklärter, selbstbestimmter und an sinnhaft erkannten Normen orientiert handeln können.
•
Demgegenüber verzichtet ein autoritär handelnder Erwachsener auf überzeugende
Argumentation oder einsichtige Sachzwänge und setzt die Vorgaben nur kraft real
herrschender ungleicher Machtverhältnisse. Von erzieherischem Handeln kann hier
meines Erachtens nicht mehr die Rede sein.
Ich hoffe, es wurde deutlich, dass Erziehung als wertschätzende, einfühlsame und dialogische
Veranstaltung zum Wohle von Kindern und Jugendlichen sehr wohl ohne autoritäres Handeln
auskommen kann. Und dass so praktiziert Erziehung zu einem freundlichen Zusammenleben
von Kindern und Erwachsenen führen kann.
Ich schließe mit einem Zitat von Paul Geheeb, einem deutschen Reformpädagogen. Er gründete die Odenwaldschule und zählt zu den wichtigsten Personen der Landerziehungsheimbewegung. Er starb 1961 und ist durch die „Gnade eines frühen Todes“ jedes Verdachts, ein
Vertreter der „Alt-68er“ zu sein, erhaben:
„Eine gewaltige und restlose Abrüstung muss im Lager der Erwachsenen stattfinden, eine Abrüstung der riesengroßen, physischen, intellektuellen, wirtschaftlichen und technischen Übermacht, die der Erwachsene gegenüber dem Kind – dem bildsamsten und unterdrückbarsten Geschöpfe auf Gottes verschandelter Erde – mit Selbstverständlichkeit
bisher zu gebrauchen, also zu missbrauchen pflegte“.20
Literatur:
BRUMLIK, Micha (Hrsg.): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Mit
Beiträgen von S. Karin Amos, Sabine Andresen, Wolfgang Bergmann, Micha Brumlik, Claus Koch, Frank-Olaf
Radtke, Manfred Spitzer und Hans Thiersch. Weinheim, Basel: Beltz 2007
BUNDESREGIERUNG: Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
[online] 2005. http://www.bmas.bund.de/BMAS/Redaktion/Pdf/Lebenslagen-in-Deutschland-De821,property=pdf,bereich=bmas,sprache=de,rwb=true.pdf (Download: 144.04.2007)
DAHLBERG, Gunilla: Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur. Frühpädagogik in
postmoderner Perspektive. In: W. E. Fthenakis und P. Oberhuemer (Hrsg.): Frühpädagogik International. Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden: VS für Sozialwissenschaften 2004. S. 13-30
DEMAUSE, Lloyd (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980
20
Zit. n. LÜTHI 2007:56.
19
Wertschätzung, Mitgefühl, Dialog – Erziehung kann gelingen
Bernhard Schoch 2007
Deutsche Bischofskonferenz: Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal
Lehmann, im Anschluss an die Frühjahrs-Vollversammlung vom 10. bis 13. April 2007 in Kloster Reute.
[online] 14.04.2007. http://www.dbk.de/imperia/md/content/pressemitteilungen/20071/2007_030_pressebericht_f_vv.pdf (Download: 15.04.2007)
DORNES, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M.: Fischer 1994
FALK-FRÜHBRODT, Christine: Strafe muss sein! – Muss Strafe sein? Teil 1: Natürliche und logische Konsequenzen statt Strafen [online]. Dezember 2004. http://www.ads-kurse.de/strafen_logische_konsequenzen.htm (Stand:
02.10.2006)
FLITNER, Andreas: Konrad, sprach die Frau Mama…. Über Erziehung und Nicht-Erziehung. 8. Auflage, Weinheim, Basel: Beltz 1996
GRAF, Johanna: Wie werden wir eine glückliche Familie? „FamilienTeam“-Elterntraining: Mehr Freud’ und
weniger Leid in der Familie. [online] 22.12.2004.
http://www.familienhandbuch.de/cms/Familienbildung_FamilienTeam.pdf (Download: 14.04.2007)
GRAF, Johanna (2004). Unsere Familie – ein starkes Team. [online] 29.06.2004
http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/a_Familienforschung/s_1312.html (Download:
11.04.2007)
KRAPPMANN, Lothar / KLEINADAM, Veronika: Interaktionspragmatische Herausforderungen des Subjekts – Beobachtungen der Interaktionen zehnjähriger Kinder. In: H.-R. Leu / L. Krappmann (Hrsg.): Zwischen Autonomie
und Verbundenheit – Bedingungen und Formen der Behauptung von Subjektivität. Frankfurt a.M.: 1999, S. 241265.
LÜTHI, Armin: Pädagogik im machtfreien Raum. Armin Lüthi zu „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb. In:
Pädagogik 60(2007)2, S. 56
REDL, Fritz / WINEMAN, David: Die Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind. Piper 1976
RUTSCHKY, Katharina (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. 8.
Aufl. München: Ullstein 2001
SCHÄFER, Gerd E. Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Weinheim: Juventa 1995
SCHÄFER, Gerd E.: Frühkindliche Bildung. In: Klein & Groß. Lebensorte für Kinder. o.Jg.(2001)9, S. 6-11.
STERN, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta 1993
THIERSCH, Hans: Erziehungsnotstand – Erziehungsprobleme. In: ajs-informationen. Fachzeitschrift der Aktion
Jugendschutz. 38(2002)4, S. 4-9
THIERSCH, Hans: Der Mut zur Erziehung kann ins Leere laufen… Interview mit dem Erziehungswissenschaftler
Hans Thiersch. [online]. 31.01.2003, http://www.gew.de/wissen/zeitschriften/e-w/2003/2003-2/texte/d_s-14.htm
(Download: 20.04.2004)
THIERSCH, Hans / THIERSCH, Renate: Grenzensetzen – Assoziationen im Disput zur derzeitigen pädagogischen
Diskussion. Typoskript, ohne Datum
20