Aus Alt mach Neu

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Aus Alt mach Neu
SULZER-ANALOGIE
Aus Alt mach Neu
Die Natur kennt kaum Verschwendung.
Ein schönes Beispiel von Wiederverwendung ausgedienter Materialien
zeigen die Einsiedlerkrebse, die sich
verwaiste Schneckenhäuser als Wohnstätte suchen.
E
ine Woge hat das Haus einer prächtigen Wellhornschnecke an den
Strand gespült. Bald schon huscht ein
Einsiedlerkrebs über den Sand. Seine
sechs Laufbeine bewegen sich flink; die
restlichen vier Beine und sein Körperhinterteil stecken in einem leeren Schneckenhaus. Das Kalkgehäuse dient dem
Krebs als Schutzpanzer und wird auch
auf der Futtersuche mitgeschleppt. Mit
den Antennen und den Scheren inspiziert
der Krebs nun das angeschwemmte Haus
sorgfältig. Als er erkennt, dass es leer ist
und mehr Platz bietet als der bisherige
Container am Hinterteil, verlässt er rasch
die alte Stube und schlüpft ins größere
Haus. Minuten später taucht ein weiterer
Einsiedlerkrebs bei der nun verlassenen
Altwohnung des ersten Krebses auf. Und
da sich auch ihm die Chance für ein
Upgrade bietet, wechselt er ebenfalls die
Wohnung. Im Laufe weniger Stunden
kann so eine längere Kette von Mieterwechseln stattfinden – unserem Immobilienmarkt ähnlich, wo das Freiwerden
eines attraktiven Objekts nicht selten eine
ganze Umzugsserie auslöst.
Wohnen auf Zeit
Die Suche nach immer größeren Wohnungen ist für den Einsiedlerkrebs
lebensnotwendig. Denn als er vor Jahrmillionen auf die Taktik verfiel, den Panzer eines leeren Schneckenhauses als
Schutz zu verwenden, hat er seinen
Körper entsprechend angepasst. So
verlor der Hinterleib das bei Krebsen
übliche äußere Skelett und wurde zum
weichen, schutzlosen Körperteil – die
gekrümmte Form passend zu den
Windungen der Schneckenschale. Die
Schneckenhäuser haben eine lange Nutzungsdauer. Selbst 120 000-jährige fossile Exemplare
kommen als Wohnung für Einsiedlerkrebse zum Einsatz.
hinteren Beine wandelten sich zu Stummelgliedern, die mit Warzen ausgerüstet
das Haus von innen her festhalten
können. Und eine der beiden Scheren
an den Vorderfüßen vergrößerte sich
stark, so dass der Krebs über eine gepanzerte Haustüre verfügt, sobald er sich in
seinem Schneckenhaus verkrochen hat.
Andere Krebsarten können nur wachsen, indem sie alle paar Monate ihren
Panzer aus Kalk und Chitin auflösen
und sich eine Nummer größer einkleiden.
Beim Einsiedlerkrebs braucht die stattlicher werdende Figur ebenfalls ein adäquates Heim, was das Tier im Lauf der
Entwicklung immer wieder zur Wohnungssuche zwingt. Bei angespanntem
Wohnungsmarkt kommt es zuweilen zu
Keilereien, wenn sich zwei oder mehrere
Krebse für dasselbe Objekt interessieren.
Wiederverwendung von Fossilien
Wie heikel die Wohnungsnot werden
kann, schildert der amerikanische Biologe
Stephen Gould am Beispiel von Coenobita
diogenes, einem an Land lebenden Einsiedlerkrebs auf den Bermudas. Gould
war aufgefallen, dass die Einsiedlerkrebse
in die eher mickrigen Gehäuse von
Schwimmschnecken eingezwängt lebten,
wobei ein Teil des Körpers heraushing.
Dann fand er eines Tages doch noch
einen Einsiedlerkrebs, der standesgemäß
wohnte und in der großen Schale einer
Wellhornschnecke saß.
Bei genauerer Untersuchung stellte
sich das Schneckengehäuse jedoch als
120 000 Jahre altes Fossil heraus, das aus
einer Sanddüne ausgewaschen worden
war. Die Wellhornschnecken waren auf
den Bermudas seit Urzeiten heimisch
gewesen. Das schmackhafte Fleisch
machte sie aber bei den Inselbewohnern
und Seefahrern zur begehrten Speise, so
dass die Schnecke dort vor etwa 200
Jahren ausgestorben ist. Damit fehlt dem
Einsiedlerkrebs die traditionelle Unterkunft; die Gehäuse der kleinen Schwimmschnecken genügen höchstens noch den
jungen Krebsen. Gould glaubt, dass die
Einsiedlerkrebse auf den Bermudas noch
einige Zeit dank der Wiederverwendung
der fossilen Wellhornschneckenhäuser
überleben werden. Über kurz oder lang
werden sie aber wegen der Wohnungsnot
aussterben.
Herbert Cerutti
Der Einsiedlerkrebs sucht sich in jedem
Abschnitt seines Lebens die Behausung,
die am besten zu seiner Körpergröße passt.
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Sulzer Technical Review 1/2013
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