Gott – Daimon – Missetäter - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche

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Gott – Daimon – Missetäter - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche
Gott – Daimon – Missetäter
Überlegungen zum pädagogischen Eros
in der klassischen Knabenliebe,
in Platons „Symposion“
und
in Gustav Wynekens Apologie „Eros“
Vorgelegt als Magisterarbeit an der
Universität Potsdam,
Humanwissenschaftliche Fakultät,
Institut für Erziehungswissenschaft
von Franziska Timm
Matrikelnummer 132623
Potsdam, 16. April 2007
1. Gutachter: Prof. Dr. Christoph Lüth
2. Gutachter: PD Dr. Frank Tosch
Inhalt
Einleitung und Forschungsstand .............................................................................. 3
1. Erziehung in der griechischen Antike .................................................................. 8
1.1 Epocheneinteilung – Archaik, Klassik, Hellenismus......................................... 8
1.2 Die attische Demokratie – eine auf Erziehung angewiesene Staatsform......... 10
1.3 Sozialstruktur Athens in der klassischen Zeit .................................................. 12
1.4 Erziehung im klassischen Athen ...................................................................... 14
1.5 Traditionelle Erziehung – Gymnastik, Musik und Dichtung ........................... 15
1.6 Die neuen Lehrer – die Sophisten .................................................................... 19
1.7 Kurzer Rückblick ............................................................................................. 22
1.8 Die Knabenliebe – eine komplizierte Beziehung............................................. 23
2. Der pädagogische Eros in Platons Symposion................................................... 36
2.1 In diesem Kapitel zu behandelnde Fragen ....................................................... 36
2.2 Die Architektur von Platons Symposion.......................................................... 38
2.3 Auf dem Weg zur Wahrheit – zum Rahmendialog des Symposion................. 40
2.4 Der treue Jünger als Beobachter – Aristodemos Bericht vom Trinkgelage..... 42
2.5 Phaidros – Prolog zum Agon der Reden .......................................................... 47
2.6 Pausanias – Lob des Eros uranios, Laudatio der rechtmäßigen Knabenliebe.. 50
2.7 Aristophanes – Eros ist Sehnsucht nach Ganzheit ........................................... 52
2.8 Sokrates ............................................................................................................ 55
2.9 Der pädagogische Eros in Platons Symposion und der pädagogische Eros
der klassischen Knabenliebe – Zusammenfassung und Vergleich ........................ 75
3. Gustav Wyneken – Streit für die Berechtigung des pädagogischen
Eros in der modernen Erziehung ....................................................................... 82
3.1 Wynekens ‚Jugendkultur’ und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf............ 84
3.2 Gustav Wyneken vor Gericht........................................................................... 88
3.3 Die Apologie des Gustav Wyneken: Eros – nur welcher?............................... 91
3.4 Der pädagogische Eros Wynekenscher Provenienz......................................... 92
Fazit ........................................................................................................................... 98
Literatur.................................................................................................................. 100
Bildnachweis ............................................................................................................ 103
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Einleitung und Forschungsstand
In seiner Schrift „Das dressierte Kind. Sexualität und Erziehung: Über die Einführung der Unschuld“ (1973) geht der Autor René Schérer davon aus, dass ein notwendiger Zusammenhang zwischen den Begriffen „Päderastie“ und „Pädagogik“ besteht.
„Es geht um die Frage: ... Ist der Pädagoge Päderast bzw. muß er es zwangsläufig
sein? Und umgekehrt formuliert: Kann man nicht Päderast sein, ohne als Pädagoge
zu wirken?“1 Anstoß für seine Untersuchung war ihm die Auffälligkeit, dass die zeitgenössische Pädagogik stets in Irritationen gerät und es als Provokation erfährt, sobald auch nur der Versuch unternommen wird, sexuelle und erotische Momente in
den Kontext von Erziehung zu stellen. Erklären ließe sich diese Situation, so Schérer,
durch die Bedeutung, die heute einer auf das Kind bezogenen Erotik, der „Pädophilie“, von außerhalb der Pädagogik zugewiesen werde, so dass der pädagogische Eros
in den Verdacht geraten sei, Perversität und Gewalt zu legitimieren und schließlich
aus erzieherischen Beziehungen eliminiert worden ist: die Inkompatibilität von Erotik und Pädagogik ist heutzutage eine weithin unbestrittene Überzeugung.2
Das war nicht immer so. Das bekannteste historische Gegenbeispiel ist die griechische Antike. Meist sind es die platonischen Schriften, die hierbei zum Ausgangspunkt der Diskussion werden, da sie den Anfang der philosophischen Auseinandersetzung des Abendlandes mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Erotik und Pädagogik markieren. Platon erkannte den pädagogischen Eros in seiner philosophischen
Konzeption nicht nur als eine wesentliche Komponente, sondern sogar als Garant der
Erziehung.3 Die Referenz auf Platon als klassischen Autor liegt zunächst einmal in
der Tradition der Pädagogik und in ihrer Tendenz, den Ursprung der Erziehung im
Sinne abendländischer Kultur in der klassischen griechisch-römischen Welt zu suchen.4 Bei dieser Suche nach den Ursprüngen moderner Erziehung in der antiken
Welt beschränkt sich die bildungshistorische Geschichtsschreibung in der Regel auf
1
2
3
4
Schérer 1975, S. 91 f.
Dazu auch Müller 1993, S. 44 f. – Thijs Maasen geht in seinem Aufsatz (1992) auf das Problem
eines „sich verbreiternden medizinisch-psychiatrischen Denkens über Sexualität“ im Ausgang
des 19. Jahrhunderts ein und schildert dessen Konsequenzen für den Umgang mit erotischen
Momenten für die Pädagogik. Vgl. Maasen 1992, S. 188.
Vgl. Sielert 2000, S. 185; Müller 1993, S. 44 f.
Tenorth weist in diesem Zusammenhang auf die verbreitete Überzeugung hin, dass die Moderne
auch in der Erziehung Traditionen der vormodernen Welt in veränderter Gestalt bewahrt habe
und deshalb die Erforschung der älteren Erziehungspraktiken und Erziehungsideen Auskunft über einen originären Sinn und die historische Gestalt heutiger Pädagogik geben könne. Vgl. –
auch zum folgenden Abschnitt – Tenorth 2000, S. 40-42.
3
die klassische Zeit der griechischen Antike, auf die Blüte der attischen Demokratie
des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. und auf deren wirtschaftliche, politische, religiöse
und kulturelle Leistungen.5 Ein solches Bild der Antike als Archetyp und Urbild
bleibt aber selektiv, denn nicht bloß werden die archaische und hellenistische Periode
darin größtenteils ausgeblendet, sondern auch parallele Entwicklungen, die sich in
anderen Regionen, beispielsweise in Ostasien oder Afrika vollzogen haben, sind von
der Rezeption ausgeschlossen.
Nicht nur fokussierte die traditionelle Pädagogik die Rezeption räumlich und zeitlich auf das klassische Griechenland, sondern sie belegte auch Teile der pädagogischen Praxis mit Tabus und Missverständnissen. Betroffen war vor allem das Ideal
griechischer Lebensführung, zu dem neben Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit und
Besonnenheit auch die Knabenliebe (paiderast¤a) gehörte. „Die Päderastie im antiken Griechenland“ aber, formuliert Baumgarten, „ist auch nach intensiver Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte ein fremdartiges Kulturphänomen geblieben. ...
Die Kombination der Begriffe Pädophilie bzw. – dem griechischen Phänomen angemessener – Päderastie mit Pädagogik [provoziert] verständnisloses Kopfschütteln.“6
Das Ziel der vorliegenden Arbeit wird es deshalb sein nachzuvollziehen, wie sich
das ambivalent gezeichnete Bild des pädagogischen Eros zusammensetzt. Eine Analyse der Schriften Platons steht dabei im Mittelpunkt. Ihm dient die pädagogische
Institution der Knabenliebe als Referenz zur Ausgestaltung einer eigenen Erostheorie, in der sich Eros zwar am Sinnlichen entzündet, letztlich aber zu einem vergeistigenden Phänomen gerinnt. Er nimmt ein in der Knabenliebe schon bestehendes ambivalentes Verhältnis auf und reinterpretiert es grundlegend.
Im methodischen Vorgehen hermeneutisch-vergleichend soll in den beiden ersten
Hauptteilen schrittweise diskutiert werden, inwiefern sich der pädagogische Eros der
realhistorischen Institution der Knabenliebe von dem pädagogischen Eros der platonischen Erostheorie unterscheidet und welche Gemeinsamkeiten beide aufweisen.
Dazu soll die zum pädagogischen Eros einschlägige Schrift, Platons Symposion in
Ausschnitten vorgestellt, analysiert und interpretiert werden. Der Aufbau des Dialogs, in dem nacheinander Männer der Athener Oberschicht und nach ihnen der Philosoph Sokrates auftreten, legt ein solches Vorgehen nahe.
5
6
Die Historische Pädagogik bezieht sich hinsichtlich der römischen Antike hauptsächlich auf die
Schriften Ciceros und die zivilisatorischen Leistungen von Caesar und Augustus. Die Geschichte
und Wirkung der römischen Antike soll in der vorliegenden Arbeit aber nicht zur Sprache kommen.
Baumgarten 1998, S. 167; Einfügung F.T.
4
Da für ein detailliertes Verständnis des historischen Realhintergrundes der Knabenliebe, für den die sokratischen Vorredner stehen, der literarische Text allerdings nicht
ausreicht, wird zuerst auf die Archaik und Klassik als Epochen der griechischen Antike und deren Erziehungspraktiken und Bildungstheorien eingegangen, um die Paiderastie, die in dieser Zeit zur Blüte kam, im sozialhistorischen Kontext von Erziehung und Bildung verorten zu können. Dabei wird auf Sekundärliteratur zurückgegriffen (Kapitel 1).
Die vorsokratischen Redner stellen das Scharnier zwischen Sozial- und Ideengeschichte dar, insofern sie als Protagonisten der dramatisch gestalteten Schrift einerseits die vorhandene soziale Praxis der Knabenliebe rekonstruieren und andererseits
bereits auf die platonische Konzeption des Eros vorbereiten. Kapitel 2 arbeitet zunächst an den Reden dreier der fünf Rhetoren den common sense heraus, bevor der
Philosoph Sokrates, an die kulturellen Selbstverständlichkeiten seiner Zeit anknüpfend, die Theorie des pädagogischen Eros enfaltet.
In der deutschen Reformpädagogik an der Schwelle des vergangenen Jahrhunderts
hat niemand so öffentlichkeitswirksam wie Gustav Wyneken (1875-1964) die verkürzte und verzerrte Rezeption der griechischen Antike und den gezüchtigten Blick
auf die Platonische Philosophie kritisiert. Er beabsichtigte, zu einer Enttabuisierung
der Knabenliebe beizutragen, indem er diese als ein bedeutendes antikes Kulturphänomen und als pädagogische Institution in seinen Schriften vorstellte. Zudem unternahm er als einziger namhafter Pädagoge des 20. Jahrhunderts den Versuch, seine
Pädagogik in Adaption an antike Vorbilder zu erotisieren. Wyneken scheiterte; sein
umstrittener Versuch, die Eroskonzeption der Antike in die Erziehungspraxis und
Erziehungstheorie des 20. Jahrhunderts zu überführen, rechtfertigt eine eingängige
Betrachtung der erotisierten Pädagogik in der von ihm gegründeten „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“, wobei seine 1921 publizierte Verteidigungsrede vor dem
Rudolstädter Landgericht Eros als wichtigste Quelle seines Vorhabens herangezogen
werden wird (Kapitel 3).
Für ein Verständnis des realhistorischen Hintergrundes der griechischen Paiderastie
kann auf eine beträchtliche Anzahl von Publikationen zu Homosexualität und Knabenliebe im alten Griechenland zurückgegriffen werden, die in den letzten Jahrzehnten im Zuge einer sukzessiven Enttabuisierung beider Themenbereiche erschienen
sind. Zu den wichtigsten Werken in diesem Kontext gehören Kenneth J. Dovers Un5
tersuchung „Greek Homosexuality“ (1978),7 Harald Patzers Monographie „Die griechische Knabenliebe“ (1982) und Carola Reinsbergs Veröffentlichung „Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland“ (1989). Unter den genannten Arbeiten ist vor allem Dovers Studie hervorzuheben, die maßgeblich dazu beigetragen
hat, das traditionelle, von Gefühlsvorbehalten verzerrte Bild der Knabenliebe zu korrigieren und zu ergänzen. Denn Dover ist es als erstem gelungen, die griechische
Paiderastie vorbehaltlos, unverstellt und kritisch gegenüber den konventionellen
Deutungsmustern und Bewertungsgewohnheiten als ein sozialhistorisches Phänomen
zu erforschen und in ihrer kulturellen Bedeutung kenntlich zu machen.8 Alle später
erschienenen Untersuchungen zu der Thematik nehmen letztlich auf Dovers Schrift
Bezug, die in diesem Zusammenhang bereits den Rang eines Standardwerks beanspruchen kann. So auch Harald Patzers kulturvergleichende Monographie „Die griechische Knabenliebe“, in der sich der Autor auch ausführlich mit den Ergebnissen
Dovers auseinandersetzt.9 In dieser Diskussion grenzt Patzer im Gegensatz zu Dover
die Knabenliebe streng von der Homosexualität ab, stimmt mit ihm jedoch in der
grundlegenden These überein, dass die Knabenliebe als Initiationsritual zu verstehen
ist, das auf die Ausbildung männliche Vorzugseigenschaften abzielt. Die herausragende Position der Paiderastie im klassischen Griechenland wird noch einmal besonders deutlich durch ihre Abgrenzung von Ehe und Hetärentum als zwei weitere Bereiche, in denen das Sexualleben des Polisbürgers statthaft war. Carola Reinsberg
vergleicht in ihrer Monographie „Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken
Griechenland“ (1989) diese drei Institutionen miteinander und zeigt deren unterschiedliche Funktionen für das patriarchale Staatssystem auf.
Platons Eroskonzeption im Dialog Symposion knüpft einerseits an die Praxis der
Knabenliebe an und grenzt sich andererseits von ihr ab. Eine genaue Analyse des
realhistorischen Phänomens und seiner philosophischen Problematisierungen wird
vor allem in Michel Foucaults sozialphilosophischen Versuchen „Sexualität und
7
8
9
Das Buch erschien 1983 als deutsche Übersetzung unter dem Titel „Homosexualität in der griechischen Antike“.
Einschränkend ist hinzuzufügen, dass bereits im Jahre 1907 durch Erich Bethe der Versuch unternommen worden war, die Knabenliebe vorurteilslos zu betrachten. Bethe vermutete in seinem
Aufsatz „Die dorische Knabenliebe. Ihre Ethik und Idee“, dass der Päderastie eine rituelle Motivation zugrunde läge. Diesem innovativen und damals von verschiedenen Wissenschaftlern rigoros abgelehnten Ansatz wird in dieser Arbeit allerdings nicht nachgegangen; weil neuere Werke
mittlerweile wichtige Lücken geschlossen haben.
Da Harald Patzer die Ergebnisse Dovers akzentuiert in Hinsicht auf das Thema Knabenliebe
aufbereitet hat, wird in dieser Arbeit meist auf Patzer zurückgegriffen, auch wenn stellenweise
Dovers Vorarbeiten ebenso maßgeblich wären.
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Wahrheit“ und hier insbesondere im Band „Der Gebrauch der Lüste“ (1984) herausgestellt. Eine neuere Untersuchung die sich ausschließlich mit der Frage der Konzeption des pädagogischen Eros in Platons Gesamtwerk auseinandersetzt, liegt meines
Wissens nicht vor. Im Allgemeinen beschränken sich kürzere Abhandlungen auf die
beiden einschlägigen Werke Symposion und Phaidros; um jedoch dem Anspruch
Genüge zu tun, zumindest die Dialoge zu erfassen, in denen Eros explizit thematisch
wird, müssten auch die Schriften Lysias, Nomoi und Politeia mit einbezogen werden.
Die gesamte neuere Platon-Literatur, in der unter speziellen wissenschaftlichen Gesichtspunkten oder in Marginalien auch der pädagogische Eros zum Gegenstand gemacht wird, ist allerdings zu umfangreich, um im Einzelnen berücksichtigt zu werden.
Für das nähere Verständnis des pädagogischen Eros bei Gustav Wyneken ist die
neuere Untersuchung von Thijs Maasen „Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und
die Freie Schulgemeinde“ (1995) unverzichtbar. Während ältere Studien vornehmlich Wynekens Person, seine Position in Reformpädagogik und Jugendbewegung
sowie sein Verständnis von Jugend und charismatischer Führerschaft genauer erörtern,10 zeichnet Maasen ein detailreiches Profil des pädagogischen Eros bei Wyneken
auf der Grundlage von rund 200 Briefen, die zwischen dem Reformpädagogen und
seinen Schülern gewechselt wurden. Maasen bezieht sich darüber hinaus auch auf
Protokolle und Prozessberichte aus dem Archiv der deutschen Jugendbewegung in
Witzenhausen und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. Zudem lässt
er Kommentare aus Zeitungen und Zeitschriften der Jugendbewegung und Reformpädagogik der Zeit in die Untersuchung einfließen. Maasen geht im Kapitel „Der
Pädagogische Eros: Hohes Ideal und alltägliche Wirklichkeit“ in Ansätzen auch der
hier gestellten Frage nach, was die klassische Knabenliebe und Wynekens Konzeption des pädagogischen Eros voneinander unterscheidet und welche Aspekte der Leiter
der Schulgemeinde Wickersdorf in seine Erziehung zu übernehmen beabsichtigte.
Maasens Aufsatz „Knabenliebe und pädagogische Eros am Beispiel Gustav Wynekens“ (1992) verortet den gegen Wyneken geführten Prozess in den gesellschaftlichen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem sich eine medizinischpsychiatrische Konzeptualisierung von Sexualität konstituierte.
10 Einen genauen Überblick über die Literatur zu Wyneken seit 1960 gibt Maasen 1995, S. 14f.
7
Eine vergleichende Studie zum pädagogischen Eros der Knabenliebe in der griechischen Lebenswirklichkeit, in Platons Symposion und in Wynekens Schrift Eros
liegt nicht vor.
1. Erziehung in der griechischen Antike
1.1 Epocheneinteilung – Archaik, Klassik, Hellenismus
Die griechische Antike wird in der Literatur zwar mit differenter Akzentsetzung periodisiert, es lassen sich jedoch drei Hauptepochen voneinander unterschieden: die
archaische Zeit, die klassische Periode und der Hellenismus.11 Der Hellenismus, der
für das Thema der Arbeit nicht von Belang ist, soll im Weiteren unberücksichtigt
bleiben. Zeitlich beginnt die griechische Antike mit den dorischen Wanderungen im
11. Jahrhundert v. Chr. und sie endet schließlich im 1. Jahrhundert n. Chr. mit den
römischen Eroberungen der griechischen Kolonien und der hellenistischen Königreiche, die in das römische Reich eingegliedert werden.12 Räumlich ist die griechische
Welt „anfangs auf den südlichen Teil der Balkanhalbinsel, [die] ägäischen Inseln und
einige Ansiedlungen an der kleinasiatischen Ägäisküste beschränkt, [sie] breitete
sich nach und nach an den Küsten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres
aus“13 und wurde in der hellenistischen Zeit von Alexander dem Großen (356-323 v.
Chr.) nach Syrien und Ägypten bis nach Indien erweitert.14
Der erste zeitliche Abschnitt der griechischen Antike wird als archaische Periode
bezeichnet und markiert die Epoche der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Entwicklungen Griechenlands, die mit den dorischen Wanderungen ca. 1100 v. Chr.
einsetzt und ca. um 700 v. Chr. / 600 v. Chr. als beendet gilt. Von den ersten Jahrhunderten ist wenig bekannt. Die homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee, sowie Hesiods Dichtungen, deren Entstehung ca. ins 8. Jahrhundert v. Chr. datiert wird,
sind die Hauptquellen der griechischen Mythographie.15 In dieser Zeit schwindet die
11 Zur Epocheneinteilung vgl. Schwenk 1996, S. 33-149; Walter 2000, Sp. 578f.; Barceló 2004, S.
11f., S. 28, S. 73, S. 137; Lüth 2006, S. 11. – Die folgenden Ausführungen zur Periodisierung der
griechischen Antike beziehen sich auf Bernhard Schwenks Darlegungen.
12 „Die hellenistische Epoche ... stellt einerseits die Fortsetzung der griechischen Geschichte dar,
andererseits wirkt sie als Bindeglied zu der römisch bestimmten Phase der Geschichte der Mittelmeerwelt.“ (Barceló 2004, S. 137).
13 Schwenk 1996, S. 34.
14 Vgl. ebd. S. 123f.
15 „Die Antike liebte es, Homer und Hesiod in einem Zuge zu nennen, und der Satz Herodots
(2,53), die beiden Dichter hätten den Griechen ihre Götter geschaffen, ist oft wiederholt worden.“
(Lesky 1993, S. 113).
8
Herrschaft des Königtums und der Adel gewinnt zunehmend an politischer Macht,
die sich vornehmlich auf Großgrundbesitz stützt. In der Folge kommt es zu Aufsplitterungen in lokale Herrschaften und es bildet sich – regional unterschiedlich und
zeitlich verschoben und meist unter Führung von Oligarchen oder eines Tyrannen –
die Polis (pÒliw) als dominierende Staatsform heraus. In den Jahren von ca. 750 v.
Chr. bis 550 v. Chr. setzt u. a. aufgrund des Bevölkerungszuwachses und innenpolitischer Schwierigkeiten der Prozess der großen Kolonisation ein und die Griechen
gründen auf unerschlossenem Gebiet um das Mittel- und Schwarzmeer neue Kolonien und Handelsposten. Seit dem 7. Jahrhundert nehmen bereits vorhandene soziale
Spannungen zwischen Adel und freiem Bauerntum zu und verstärken sich zusätzlich
noch durch grundlegende Veränderungen in der Militärtaktik. Nun ist es auch wohlhabenderen Bauern, die als schwer bewaffnete Fußsoldaten in den Krieg ziehen können, möglich die eigene Ausrüstung selbst zu finanzieren und das Land zu verteidigen, so dass sie zu potentiellen Aspiranten auf politische Rechte werden. Zwar prägte
sich die Demokratie erst mit der Klassik vollkommen aus, doch entwickeln sich neben den oligarchisch regierten Poleis auch solche Stadtstaaten, in denen die Bevölkerung stärker an der Regierung beteiligt ist. Mit dem Aufkommen der Hoplitenheere
dünnt sich also die politische Macht der Aristokraten, die auch militärisch legitimiert
wurde, allmählich aus, wenngleich der Adel noch über Jahrhunderte führende Positionen inne halten wird.16
Während mit dem Ende der archaischen Periode sich in den griechisch besiedelten
Gebieten das Polissystem endgültig als Staatsform etablierte, gelangt im 5. und 4.
Jahrhundert (bis 336 v. Chr.), also in klassischer Zeit, die Polis schließlich zu ihrer
reifsten Ausprägung.17 Das demokratische Athen und das oligarchische Sparta waren, neben einer unüberschaubaren Anzahl von selbstständigen Kleinstaaten, nicht
nur in Größe, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Macht die bedeutendsten
Poleis. Politische Unruhen und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den
sich selbst regierenden Staaten, in denen die Griechen nicht als Untertanen einer
Großmacht, sondern als Bürger lebten, gelten als charakteristisch für die politische
Praxis des klassischen Griechenland. Erst die Gefahr der Unterjochung durch die
Perser einte Athen, Sparta und andere griechische Staaten gegen die Angreifer, deren
16 Vgl. Baumgarten 1998, S. 177; Gehrke 2000, Sp. 714f. – Selbst im demokratischen Athen zu
Zeiten des Perikles gehörten die leitenden Staatsmänner noch ausnahmslos der Aristokratie an.
Vgl. Nestle 1976, S. 50.
17 Zu diesem Abschnitt vgl. Gehrke/Gotter 2002, S. 166f.; Barceló 2004, S. 67-70.
9
Offensiven in den Schlachten von Marathon (490 v. Chr.), Salamis (480 v. Chr.) und
Platää (479 v. Chr.) erfolgreich abgewehrt wurden. Nach dem siegreichen Ende der
Griechen gegen die Perser erreichten die Athener nach weiteren zahlreichen Kämpfen, die nun auch wieder gegen Sparta gerichtet waren, ihr letztendliches Ziel: die
Vormachtstellung im ägäischen Raum. Athens glanzvollste Zeit begann. In den folgenden fünfzig Jahren, also in der Zeit von 479 v. Chr. (Schlacht von Platää) bis 431
v. Chr. (Beginn des Peloponnesischen Krieges),18 war Athen Muster demokratischer
Staatsform und die führende politische Macht sowie kulturelles Zentrum Griechenlands; es war „ein Magnet für Philosophen und Rhetoren, Autoren und Künstler ...
die ‚Schule von Hellas’.“19
Wenn das kriegerisch ausgerichtete, geistig sterile Sparta kulturell mit Athen nicht
konkurrenzfähig war, so stellte es doch militärisch eine ernst zunehmende Bedrohung der athenischen Hegemonie im Mittelmeerraum dar, weil es kampfbereit für
sich die Vorherrschaft in Griechenland beanspruchte. Die Spannung zwischen Athen,
dessen Macht auf dem 477 v. Chr. gegründeten attisch-delischen Militärbündnis beruhte, und Sparta, das den Peloponnesischen Bund dominierte, führte schließlich 431
v. Chr. zum Peloponnesischen Krieg, der sich 404 v. Chr. zu Gunsten von Sparta
entschied. Letztendlich bedeutete der Peloponnesische Krieg jedoch die Schwächung
beider Großmächte und somit den Zusammenbruch der politischen Stabilität Griechenlands.20
1.2 Die attische Demokratie – eine auf Erziehung angewiesene
Staatsform
Die für die wissenschaftliche Rezeption der Antike bezeichnende Überbetonung der
klassischen Zeit und die räumliche Fokussierung auf den attischen Stadtstaat erklärt
sich vornehmlich aus einer Faszination für dessen politische und kulturelle Leistungen. Das 5. Jahrhundert wird gelegentlich sogar das „athenische Jahrhundert“ genannt, da Athen die reifste Form der Polis ausbildete.21 Nach den Perserkriegen stieg
es zu einer Hegemonialmacht empor, die Demokratie wurde als Staatsform ausge18 „Die Epoche der Pentekontaetie – ein Begriff, der auf Thukydides zurückgeht – bezeichnet die
fünfzigjährige Ära zwischen den Perserkriegen und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges
(479-431).“ Dieser Zeitabschnitt, oftmals auch „Blütezeit Athens“ genannt, wurde maßgeblich
von der Persönlichkeit des Perikles (495 v. Chr.-429 v. Chr.) geprägt. (Barceló 2004, S. 77, S.
80).
19 Gehrke/Gotter 2002, S. 166.
20 Vgl. Schwenk 1996, S. 36; Barceló 2004, S. 81-84.
21 Gehrke/Gotter 2002, S. 166.
10
baut, das künstlerische und geistige Leben pulsierte. Athen war der kulturelle Mittelpunkt Griechenlands; beispielhaft sind der Bau der Akropolis unter Perikles (495429 v. Chr.), die berühmten Werke der Bildhauer Myron (ca. 500 v. Chr.), Pheidias
(ca. 500-ca. 432 v. Chr.) und Polyklet (ca. 450 v. Chr.), wie auch die Stücke der
größten Repräsentanten des attischen Dramas Aischylos (525-456 v. Chr.), Sophokles (497-406 v. Chr.) und Euripides (485-406 v. Chr.) und nicht zuletzt die Philosophie Sokrates’ (469-399 v. Chr.), Platons (427-347 v. Chr.) und Aristoteles’ (384322 v. Chr.).22 Basis für die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung sowie für die kulturellen Errungenschaften im Athen der klassischen Zeit war letztendlich die direkte Demokratie.23 In der Entwicklung der demokratischen Staatsform
bildete sich erst allmählich die politische Instanz des „Bürgers“ heraus. Der attische
Vollbürger – der volljährige Mann, dessen Eltern als Athener bereits athenisches
Bürgerrecht genossen24 – garantierte schließlich die Stabilität des Systems und gelangte zu seinem Selbstbewusstsein als Individuum nur in der demokratisch regierten
Polis. Außer der maßgeblichen soziokulturellen Prägung des Polisbürgers durch den
Stadtstaat lässt sich allerdings in der gesamten künstlerischen und geistigen Entwicklung des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. der „Drang zum Erzieherischen“ erkennen,
der als eine sich beständig verstärkende Bewegung, auf ein „bewusste[s] Ideal der
Erziehung und Kultur“ zuläuft.25 Während der früheste gesicherte Beleg des Wortes
Paideia (paideίa) bei Aischylos noch als Bezeichnung für die „Aufzucht von Kindern“ verwendet wird, erfährt der Begriff in der klassischen Periode eine Vertiefung
und immense Bedeutungssteigerung, insofern sich mit ihm ganz bewusst „konkrete
Zielvorstellungen“ verbinden, die von den „Interessen der Polis bestimmt“ sind.26
Dabei verfolgten die erzieherischen Bestrebungen der Klassik – ob es sich um den
traditionellen Unterricht, die pädagogische Institution der Knabenliebe, die Erziehungsversuche und Erziehungstheorien der Sophisten, die Erziehungsvorstellungen
Platons oder Isokrates’ handelte – unterschiedslos ein Ziel: die Bildung des freien,
männlichen Heranwachsenden zu einem polisfördernden Vollbürger.27 Allerdings
wurde der Aspekt der „Polisförderlichkeit“ in den einzelnen pädagogischen Interak22 Vgl. Lesky 1993, Kapitel V. A-C; Barceló 2004, S. 73-75.
23 Vgl. Tenorth 2000, S. 43.
24 Diese Regelung geht auf das Bürgerrechtsgesetz des Perikles von 451 v. Chr. zurück. Vgl. Gehrke/Gotter 2002, S. 168.
25 Jaeger 1959, Bd. II, S. 3.
26 Bremer 1989, Sp. 36. Dazu auch Tenorth 2000, S. 42; Schwenk 1996, S. 62.
27 „Paideia wird als eine Angelegenheit definiert, die dem freien Menschen, und nur ihm, zukommt.“ (Bremer 1989, Sp. 38).
11
tionen nicht nur sehr different gewichtet, sondern auch mittels verschiedener Methoden zu erreichen versucht, worauf im Folgenden noch genauer eingegangen werden
soll. Im Allgemeinen waren Erziehung und Bildung jedenfalls fast ausschließlich auf
das Sonderrecht der politischen Teilnahme ausgerichtet, welches letztlich nur einer
kleinen Elite, den frei geborenen attischen Männern, zugänglich war. Pädagogik war
Privileg. Bevor im Weiteren detailliert auf die Erziehungspraktiken und Erziehungstheorien im klassischen Athen eingegangen wird, soll zuvor noch ein Blick auf die
Sozialstruktur der attischen Polis im 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. geworfen werden,
um die genaueren Umstände zu ermitteln, unter denen sich Erziehung vollzog.
1.3 Sozialstruktur Athens in der klassischen Zeit
Von der ungefähr 300.000 Bewohner zählenden Bevölkerung Attikas durften kaum
zehn Prozent am politischen Entscheidungsprozess partizipieren.28 Die athenische
Demokratie wurde nur von einigen Begünstigten getragen und auch nur Wenigen
zugestanden. Frauen, Metöken und Sklaven waren in unterschiedlichem Maße von
politischen Rechten und generell von demokratischen Praktiken ausgeschlossen. Die
klassische Staatsform Athens wird deshalb als „relative Demokratie“ oder „Demokratie mit Lücken“ bezeichnet.29 Die Gesellschaft des klassischen Athen zerfiel in
verschiedene soziale Gruppen, die streng hierarchisch gegliedert waren, so dass die
äußere politische Gleichheit der Demokratie scharf mit der durch Geburt oder Vermögen bedingten sozialen Ungleichheit kontrastierte.30
Die Demokratie in Athen basierte auf der direkten Partizipation der Bürger, die allein in der Volksversammlung gleichberechtigt agierten, wenn sie auch gemäß ihrem
Jahreseinkommen als Bauern, Händler, Handwerker oder Tagelöhner wiederum sozial klassifiziert waren. Die Volksversammlung, der Rat und die Volksgerichte waren in Athen die wichtigsten Staatsorgane. Einzig für das Amt des Strategen wurde
Landbesitz von dem Kandidaten vorausgesetzt.31 Um zu gewährleisten, dass die politischen Pflichten wahrgenommen werden konnten, wurde Lohnersatz gezahlt.
28
29
30
31
Vgl. Barceló 2004, S. 76; Koliades 1988, S. 36-38; Castle 1965, S. 35.
Koliadis 1988, S. 142, S. 50.
Vgl. Castle 1965, S. 36.
Dem Amt des militärischen Oberbefehlshabers wurde eine existenzielle Bedeutung für das Gemeinwohl der Polis zugesprochen und es sollte deshalb nicht über das Losverfahren vergeben
werden. Der hohe Prestigewert, der dem Amt des Strategen zukam, veranlasste gerade Spitzenpolitiker sich zur Wahl zu stellen. Perikles wurde zur Zeit seiner politischen Dominanz jedes Jahr
zum Strategen gewählt. Vgl. Gehrke/Gotter 2002, S. 170.
12
Die öffentlichen Bereiche der Gesellschaft waren, bis auf wenige Ausnahmen,
männlich geprägt, Frauen gehörten zu den minder berechtigten Gruppen der Polis
und waren qua Geschlecht vom Status des Vollbürgers ausgeschlossen.32 Die Frau
stand Zeit ihres Lebens je nach konkreter Situation unter der Vormundschaft eines
männlichen Verwandten. Rechtliche Abhängigkeit und die Exklusion der Athenerinnen aus dem politischen und größtenteils auch aus dem öffentlichen Leben beschränkten ihre Handlungsmöglichkeiten auf reproduktive Arbeiten im häuslichen
Bereich. Haushaltsführung, Beaufsichtigung der Dienerschaft, Schönheitspflege und
vor allem das Gebären rechtmäßiger Nachkommen gehörten zu ihren primären Aufgaben. Perikles charakterisierte die ideale Ehefrau dadurch, dass weder gut noch
schlecht von ihr gesprochen werde.33 Vor- und außereheliche Kontakte, die für die
männliche Bürgerschaft außerhalb der legitimen Lebensgemeinschaft institutionalisiert wurden, waren den Athenerinnen strengstens verboten.
Bereits der flüchtige Blick auf die Sozialstruktur der attischen Polis zu Zeiten der
Klassik macht, wie in den vorhergehenden Kapiteln skizziert, idealisierende Tendenzen der Rezeption gegenüber dem historischen Kontext deutlich. Die starke Identifikation des Vollbürgers mit seiner Polis wurde nämlich bisweilen als Grund angegeben, den athenischen Stadtstaat als „Former des Menschen und seines ganzen Lebens“34 zu bezeichnen und auf diese Weise die Begriffe Polis und Paideia miteinander zu verschmelzen. Unbestreitbar ist, dass der Versuch, Tugendhaftigkeit und politische Tauglichkeit aus ihrer vorgeblichen Abhängigkeit von aristokratischer Herkunft und Vermögen zu lösen, als „eines der herausragenden Ereignisse der Geschichte der Alten Welt“ Geltung besitzt und wirkmächtig war.35 Doch obwohl der
klassischen Erziehung zu demokratischer Tüchtigkeit, deren Modifikationen innerhalb der Epoche noch aufzuzeigen sein werden, durchaus emanzipatorischer Charakter zukommt, sind Gleichsetzungen von Polis und Paideia als Euphemismus zu markieren. Denn Sozialisation, Erziehung und Bildung dienten nicht nur dazu, den atti-
32 Zu den folgenden Abschnitten vgl. Moraw 2002, S. 300-306; Koliades 1988, S. 97-103.
33 Vgl. Castle 1965, S. 63.
34 Jaeger 1959, Bd. I, S. 13. – In der abendländischen Geschichte wurde immer wieder auf die griechische Konzeption der Paideia zurückgegriffen, z. B. im Humanismus, in der italienischen Renaissance oder im Neuhumanismus der deutschen Klassik. Speziell im so genannten, von Werner
Jaeger ausgehenden‚dritten Humanismus’ wurde ihre Vorbildlichkeit im politischen Bereich gefunden. Der Versuch des ‚dritten Humanismus’ „die normative Kraft dieser Paideia-Konzeption
... zu aktueller Gegenwart zu bringen“, scheiterte jedoch, unter anderem „durch [ihren]
Mißbrauch im ‚Dritten Reich’.“ (Bremer 1989, Sp. 39; Einfügung F.T.).
35 Barceló 2004, S. 75.
13
schen Vollbürger zu einen „höheren Menschen“36 empor zubilden, sondern erhielten
auch Diskriminierungen aufrecht und betonierten zudem die privilegierte Position
von ca. zehn Prozent der Bevölkerung.
1.4 Erziehung im klassischen Athen
Im Verlauf des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt sich die Pädagogik zu einem
immer bewusster werdenden Gestaltungsprinzip mit der Funktion, die kulturellen
Werte sowie die sozialen und geistigen Daseinsformen der attischen Gemeinschaft
zu reproduzieren, aber auch zu kritisieren. Wenn im Folgenden also der Topos Erziehung thematisch wird, ist die eben geschilderte Gesellschaftsform der Polis als
Hintergrund stets mit zu berücksichtigen.
Die Geschichte der Erziehung der griechischen Antike wird im Allgemeinen in
drei Perioden geschieden, in deren Verlauf sich die pädagogischen Bestrebungen
zunehmend differenzieren.37 Der erste Zeitabschnitt erstreckt sich von ca. 600 v. Chr.
bis ca. 450 v. Chr., beginnt also ungefähr mit den Reformen Solons (640-561 v. Chr.)
und klingt zur Zeit des Perikles aus.38 Die Schulbildung dieser Zeit stützte sich auf
„drei Säulen: Gymnastik zur Ausbildung des Körpers, Musik zur Entwicklung des
Gefühls und Dichtung zur Pflege des Geistes.“39 Die zweite Periode setzt mit der
Bewegung der Sophisten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ein und gilt im
Jahre 338 v. Chr. mit der Schlacht von Chaironeia als beendet. Die Sophisten traten
als „neue Lehrer“40 auf, deren hauptsächliches Lehrziel es war, durch rhetorische
Schulung zur politischen Tüchtigkeit zu bilden. Zudem fand eine „im engeren Sinne
theoretische Reflexion der anthropologischen Voraussetzung, der Inhalte und Methoden von Erziehung und Unterricht ... erst in der Zeit demokratischen Auflebens“
statt und zwar „nicht bei Sokrates, der durch seine Forderung nach ethischer Selbstprüfung einen mächtigen Impuls für die Erziehung setzte, sondern [eben] bei den
36 Jaeger 1959, Bd. I, S. 5.
37 Zu dieser Einteilung vgl. Castle 1965, S. 44-62.
38 Kenntnisse über die erzieherische Praxis vor dieser Zeit bleiben spekulativ. Erst gegen Ende des
6. Jahrhunderts v. Chr. als es zu einer Verbreitung des geschriebenen Homertextes kam, sind
Quellen für schulische Ausbildung gefunden worden (vgl. Baumgarten 2006, S. 90). Selbst für
die pädagogische Institution der Paiderastie ist die Quellenlage dürftig, die Forschung ist ausschließlich auf die Epen Homers angewiesen, in denen die Knabenliebe allerdings nicht thematisiert wird. Es ist also anzunehmen, dass der sozial anerkannte paidon eros (paidÒn ¶r≈w) in der
homerischen Gesellschaft nicht praktiziert wurde. Vgl. Reinsberg 1989, S. 212; Baumgarten
1998, S. 90.
39 Castle 1965, S. 77.
40 Lüth 2004, S. 19.
14
Sophisten.“41 Im Hellenismus breitet sich die griechische Erziehung schließlich großflächig aus und findet im „Begriff der Paideia ihre die europäische Kultur bestimmende Ausprägung“.42 Mit dem Bedeutungsverlust des griechischen Stadtstaates löst
sich das Verständnis von Erziehung und Bildung von ihrer Dienstbarkeit für die Polis
und zweckt vielmehr auf die Bildung des Individuums ab.43 Es entstehen öffentlich
organisierte und allgemeinbildende Schulen.44
Im Folgenden werden für die soeben grob skizzierten Zeitabschnitte typische pädagogische Ambitionen genauer dargestellt, um zunächst einmal den erzieherischen
Kontext nachzuzeichnen, in dem die Knabenliebe praktiziert wurde. So soll nämlich
die Paiderastie, in der die erotische Anziehung des Mannes durch den schönen Knaben die Vermittlung von moralischen Werten der sozialen Oberschicht gewährleistete, von Erziehungspraktiken und Bildungsbestrebungen abgegrenzt werden, in denen
das Erlernen konkreter Fähigkeiten, wie beispielsweise Musizieren, Lesen oder das
wohlgefällige Reden, angestrebt wurde.45 Es werden jedoch nur die prägnantesten
Merkmale von Erziehung und Bildung für die Zeit von 600 v. Chr. bis 338 v. Chr.
herausgearbeitet und der Fokus auf den Raum der attischen Polis gesetzt. Unberücksichtigt bleibt also nicht nur die Zeit des Hellenismus, in der die Knabenliebe als
pädagische Institution ihre gesellschaftliche Bedeutung bereits verloren hat, sondern
auch eine Vielzahl griechischer Stadtstaaten.
1.5 Traditionelle Erziehung – Gymnastik, Musik und Dichtung
Der traditionelle Unterricht begrenzte sich auf die Fächer Sport, Musik und literarische Dichtung, wobei zu letzterem auch allgemeine Fähigkeiten, wie das Lesen,
Schreiben, Rechnen und das Aneignen von bedeutenden Dichtungen, zählten.46 Es ist
zu vermuten, dass sich ca. im 6. Jahrhundert v. Chr. die ersten Schulen in Athen herausbildeten, in denen Knaben freier Bürger unterwiesen wurden. Dabei handelte es
sich um Privatschulen, die weder professionelles Personal beschäftigten noch eigens
41
42
43
44
45
Lüth 2006, S. 12; Einfügung F.T.
Bremer 1989, Sp. 38.
Vgl. ebd.
Vgl. Schwenk 1996, S. 49.
In der Knabenliebe stand die Sorge um das Tüchtigwerden und die sittliche Vorzüglichkeit im
Mittelpunkt jeder pädagogischen Einwirkung. Vgl. Fischer 1997, S. 189.
46 Vgl. Lüth 2004, S. 18; Schwenk 1996, S. 44; Nestle 1976, S. 48; Castle 1965, S. 77.
15
verwaltet wurden.47 Demzufolge war dem „archaischen und eigentlich auch noch
dem klassischen Griechenland“ eine „institutionalisierte[n] Ausbildung“ fremd.48
Während in der aristokratischen Gesellschaft Erziehung ausschließlich Privileg der
Adligen war, konnten sich nunmehr auch Heranwachsende meist wohlhabender Bürger, die Lehrgeld zahlten, den Unterricht leisten.49 Das aristokratische Ideal der Kalokagathia (kalokégay¤a), also die Vollkommenheit des körperlich schönen und sittlich guten Mannes, verkörpert durch die Helden der homerischen Dichtungen, wirkte
als praktisches Erziehungsziel weiterhin nach. So sollte Gymnastik zu körperlicher
Gewandtheit bilden, Musik und Dichtung kultivierten dagegen die geistigen und sittlichen Bedürfnisse.50
Den ersten Lebensjahren wurde wenig Bedeutung für die Entwicklung des Kindes
beigemessen. Im alltäglichen Umgang bemühten sich die primären Bezugspersonen,
also die Mütter und Sklavenammen, um die Vermittlung der geltenden Normen und
Werte, Fehlverhalten wurde mit Schlägen bestraft.51 Die Mädchen und Jungen wuchsen zusammen mit den Frauen im Hause auf und im Alter von sieben Jahren besuchten die attischen Knaben Privatschulen. Zumindest für die Elementarstufe ist davon
auszugehen, dass sie von den meisten jungen Athenern absolviert wurde, insofern
grundlegende Kenntnisse wie Lesen und Schreiben für die politische Partizipation
unabdingbar waren.52 Zur Schule wurden die Jungen von einem eigenen Sklaven
begleitet, dem Paidagogos (paidagogÒw), der, selbst meist ungebildet, seinen jungen
Herrn beaufsichtigte, auf dessen Wohlverhalten zu achten hatte und ihn gegen sexuelle Annäherungen und Belästigungen schützte. Diese Aufgabe beanspruchte den
47 Vgl. Vrettos 1985, S. 13. „Die Privatschulen mussten zwar staatlich genehmigt werden, aber die
Lehrer wurden nicht auf ihre Fähigkeiten hin geprüft.“ (Castle 1965, S. 66). Lehrer genossen also, da ihr Beruf keine spezifischen Voraussetzungen stellte, wenig Sozialprestige. (Baumgarten
2006, S. 93.).
48 Baumgarten 2006; S. 89 (Umstellung F.T.). Ähnlich sieht es Bernhard Schwenk: „Von der späteren hellenistischen, öffentlich organisierten allgemeinbildenden Schule sind in der klassischen
Zeit nur allererste Anfänge erkennbar.“ (Schwenk 1996, S. 49).
49 So erlernten gemeinhin auch nur Kinder finanzkräftiger Eltern die Fertigkeit des flüssigen Lesens
und Schreibens, da derartige Fähigkeiten einen mehrjährigen Unterricht voraussetzten. Vgl.
Baumgarten 2006, S. 93-95.
50 Vgl. Nestle 1976, S. 46f.; Castle 1965, S. 45f.; Vrettos 1985, S. 14. „Ursprünglich ein Privileg
der wohlhabenden Adligen, wurde der Sport ... spätestens ab dem 6. Jh. v. Chr. ‚demokratisiert’.
Körperliches Training diente sicherlich auch der Stärkung der ‚Wehrkraft’ der Bürger. ... Doch
die eigentliche Maxime lautete ja, nicht ein Elitesoldat, sieht man vielleicht einmal von Sparta
ab, sondern ‚schön und gut’, d.h. ‚brauchbar, tüchtig’ in einem viel weiteren Sinne zu werden,
und deswegen trat die gymnsatiké auch immer in Verbindung mit der mousiké im engeren Sinne,
also der musischen Erziehung auf.“ (Baumgarten 2006, S. 97).
51 Vgl. ebd., S. 33 und S. 35.
52 Obwohl die Staatsgeschäfte Kenntnisse im Lesen und Schreiben voraussetzten, zeigen Inschriften auf erhaltenen Tonresten, die bei der Abstimmung des Scherbengerichts verwendet wurden,
grobe Schreibfehler. Vgl. Schwenk 1996, S. 51.
16
Knabenführer fast ganztägig.53 Sehr wohlhabende Familien hingegen konnten sich
einen kenntnisreichen Hauslehrer, ebenfalls Paidagogos genannt, leisten; bekannt ist
beispielsweise Mnesiphilos, der häusliche Erzieher des Themistokles, der unter anderem auch praktische Politik lehrte.54
Die jungen Griechen, die zur Schule gingen, besuchten im Alter zwischen sieben
und vierzehn Jahren zur sportlichen Betätigung die Palaistra (pala¤stra) und zur
musisch-literarischen Unterweisung die Musikschule. Die zum Sportplatz gehörende
Palaistra war eine Ringerschule, die über Umkleide-, Trainings- und Aufenthaltsräume verfügte. Sie ermöglichte eine für Lehrzwecke praktische Abgeschlossenheit.
Das Gymnasion (gumnάsion) als ein Sportplatz mit Rennbahn wurde indessen von
privilegierten Jugendlichen und Erwachsenen aus höheren Schichten zur weiterführenden körperlichen Ertüchtigung genutzt, wobei allerdings Heranwachsende aus
ärmeren Familien mit ca. 14 Jahren bereits in einem Beruf zu arbeiten begannen.
Palaistra und Gymnasion waren die Orte, an denen der Paidotribes (paidotrίbhw) das
allgemeine sportliche Training leitete, der Gymnastes (gumnastÆw) hoffnungsvolle
Talente zu Athleten ausbildete und dem „agonalen Charakter“ des griechischen Menschen entsprechend auch Wettkämpfe und Spiele ausgetragen wurden. Der Sportplatz diente demnach nicht nur schulischer Praxis, sondern war auch Mittelpunkt der
Gemeinschaft von Sportlern und Publikum sowie Treffpunkt der attischen Jugend,
ihrer Freunde und Liebhaber.55
Parallel zur den Unterweisungen in der Palaistra ließ der Kitharistes (kiyaristÆw)
in der Musikschule auf der siebensaitigen Leier und dem Aulos üben und unterrichtete seine Schüler im Singen, der Grammatistes (grammatistÆw) vermittelte die Fähigkeiten zum Lesen und Schreiben und erklärte Dichtungen, die meist auswendig gelernt werden mussten. Im Allgemeinen war der Lehrer wenig anerkannt,56 die Schulstrafen waren oftmals streng.57 Dennoch sind die athenischen Erziehungsmaßnahmen
53 Vgl. Baumgarten 2006, S. 34. Diesem Paidagogos wurde kaum Achtung entgegen gebracht.
Unfähig härtere Arbeiten zu verrichten, wurde er nicht nur in der Komödie Ziel des Spotts. „Als
Perikles sah, wie ein Sklave vom Baum fiel und sich das Bein brach, meinte er: ‚Seht, nun ist er
Pädagoge!’“ (Castle 1965, S. 65; allgemein dazu Schwenk 1996, S. 51).
54 Vgl. Nestle 1976, S. 47.
55 Vgl. Castle 1965, S. 46-49; Nestle 1976, S. 47-49; Schwenk 1996, S. 42, S. 52. Unmittelbar ist
an dieser Stelle an Sokrates zu denken, der sich mit seinen philosophischen Fragen am liebsten
an die Jünglinge wandte, die er meist im Gymnasion aufzusuchen pflegte.
56 „In der ganzen Antike war der Lehrer gering geachtet. Meist waren es Leute, die einst bessere
Tage gesehen hatten oder der Gemeinschaft nicht anders dienen konnten.“ (Castle 1965, S. 66).
57 In der „alten Erziehung“ wurde streng auf Zucht und Sitte geachtet (vgl. Baumgarten 2006, S.
94). Aristophanes Wolken und Platons Protagoras sind Zeugnisse jener strengen Erziehungsprak-
17
nicht mit der Härte der staatlich organisierten Erziehung Spartas zu vergleichen. Da
Sparta politisch ausschließlich auf seine militärische Stärke setzte und somit eine
straffe soldatische Gesinnung den gesamten Lebensstil prägte, blieb es geistig und
kulturell fruchtlos.58 Dementsprechend war auch die Jugenderziehung, gänzlich auf
kriegerische Erfordernisse ausgerichtet, ein militärischer, brutaler Drill, dessen
Hauptziele darin bestanden dem spartanischen Bürger unbedingten Gehorsam anzutrainieren sowie seine „Unterordnung unter die Staatszwecke“ zu erreichen.59 Sparta
als Polis, die mit Athen um die Hegemonie im Mittelmeerraum konkurrierte, ist also
nicht nur in politischer, militärischer und kultureller, sondern auch in pädagogischer
Hinsicht die Kontrastfolie zu Athen. In Athen gab es erst zum Ende des 4. Jahrhunderts eine militärische Pflichtausbildung, zuvor wurden kriegerische Übungen von
den Epheben, also den jungen Athenern im Alter von 18 bis 20 Jahren, freiwillig und
zum Wohle der attischen Polis abgeleistet.60 Mit 18 Jahren wurden die männlichen
Freien schließlich zu Vollbürgern des Demos.61 Zusammenfassend ist also zu erkennen, dass die attische Jugenderziehung letztendlich auf die Bildung des brauchbaren
Bürgers abzweckte, der sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen dem Ideal der
Kalokagathia und somit auch der Sitte und Gewohnheit entsprach.62
Je weniger im demokratischen Athen Besitz oder vornehme Abkunft, sondern
vielmehr die Ausübung praktischer Lebenstechniken und die Fähigkeit des wohlge-
58
59
60
61
62
tiken. Zur Illustration seien an dieser Stelle einige Verse aus der Komödie und die gemeinte Passage aus dem Dialog zitiert. Aristophanes: „So spreche ich denn von der alten Zucht und der Bildung, wie sie beschaffen ... zuvörderst durfte ein Knabe sich nicht mit Murren und Maulen gebären. In sittsamer Reihe den Weg entlang selbander schritten zur Schule, [d]ie Nachbarsbuben, im
leichten Gewand, und mocht es auch regnen und graupeln. Da lernten die alten Hymnen sie dann,
die Beine in züchtiger Haltung ... [u]nd hielten sich streng an den alten Ton wie die Ahnen ihn
vordem gesungen. Probiert’ aber einer aus Geltungssucht es mit Trillern und Koloraturen ... [d]a
bekam er sofort mit dem Stecken was drauf, weil die echte Kunst er verdürbe.“ (Aristophanes
1996, Vers 961-972). Ein ähnliches Bild zeichnet sich im Gespräch zwischen Sokrates und Protagoras ab: „Schon von der zartesten Kindheit anfangend, so lange sie leben, belehren und ermahnen sie [die Eltern, die Wärterin, der Knabenführer] ein Kind ... daß, der Knabe aufs beste
gedeihe ... wo nicht, so suchen sie ihn wie ein Holz, das sich geworfen und verbogen hat, wieder
grade zu machen durch Drohungen und Schläge.“ (Platon, Protagoras 325d. Einfügungen F.T.).
In der Literatur wird die in der Eurotasebene gelegene Polis mitunter auch passend als „große
Kaserne“ bezeichnet. Vgl. Lamer/Kroh 1995, S. 703.
Schwenk 1996, S. 47.
Sozial besser gestellte Jungendliche kamen vor dem ephebischen Training direkt mit Politik und
Bürgerkunde in Kontakt. Unter der Obhut älterer Familienmitglieder lernten sie in praktischer
Anschauung und durch politische Gespräche die Pflichten des Bürgers kennen. Vgl. Castle 1965,
S. 48.
Die männlichen Kinder waren in kultischer Hinsicht bereits mit zehn Jahren vollberechtigte Mitglieder des Stadtstaats. Mit dem ephebischen Eid, den die Jugendlichen meist im Alter von 18
Jahren schworen, wurden sie als Vollbürger in die Polis aufgenommen. Vgl. Schwenk 1996, S.
49; Castle 1965, S. 49.
Vgl. Nestle 1976, S. 50.
18
fälligen Redens über den Erfolg des Bürgers in Volksversammlungen und Gerichtshöfen entschied, umso stärker wuchs auch das Bedürfnis nach Bildung und Beredsamkeit. Die Erziehung, welche die altaristokratischen Vorstellungen der Kalokagathia adaptiert hatte und letztlich nur auf ästhetische und ethische Ziele hinwirkte,
wurde allmählich obsolet, insofern ihr „jede wissenschaftliche Belehrung“63 fehlte,
die nun jedoch ein aussichtsreiches Fortkommen in der Polis garantierte. In der
2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zogen wandernde Weisheitslehrer nach Athen,
um ihr höheres Bildungswissen wohlhabenden Bürgern gegen ein entsprechendes
Entgelt anzubieten. Es waren die Sophisten, die maßgeblichen Einfluss auf die griechische Erziehung ausüben sollten, denn sie erkannten „jene Kluft zwischen der traditionellen schulischen Bildung und der weiter vorangeschrittenen Kultur“ und hoben diese durch ihren Unterricht auf. „Sie erweiterten und differenzierten damit den
traditionellen privaten Unterricht“64 und gewannen als „Protagonisten einer modernen Bildung“65 große Bedeutung im „Kampf um die wahre Paideia.“66
1.6 Die neuen Lehrer – die Sophisten
In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts kündete sich bereits die neue Zeit an. Im
kleinasiatischen Ionien entwickelten sich – unter anderem in kritischer Auseinandersetzung mit anthropomorphistischen Göttervorstellungen – die Philosophie sowie die
neue Kunst der Beredsamkeit, die Rhetorik, die um 450 v. Chr. durch die Schüler
ionischer Denker, die Sophisten nach Athen getragen wurden.67 Insofern sie ausdrücklich als Berufslehrer auftraten, machten sie Erziehung erstmals zum Beruf. In
Abgrenzung zur Tradition verstanden sie sich ganz bewusst als „Jugendbildner“, die
den Anspruch pflegten, das „Erziehungsgeschäft zu einer pädagogischen Kunstform“
auszugestalten.68 Die neuen Lehrer entsprachen mit ihrem Lehrangebot den zeitgenössischen Bedürfnissen und machten es sich zur Aufgabe den Menschen zu erziehen und ihm praktisches Wissen und Tauglichkeit durch Lehre und Unterricht zu
vermitteln.69 Das Spektakuläre der sophistischen Bewegung lag somit in der bewusst
63
64
65
66
67
68
69
Ebd.
Lüth 2004, S. 28.
Lichtenstein 1970, S. 48.
Jaeger 1959, Bd. II, S. 8.
Vgl. Nestle 1976, S. 51.
Lichtenstein 1970, S. 47.
So lässt Platon im Dialog Protagoras den Sophisten selbstbewusst sagen: „Daher habe ich den
ganz entgegengesetzten Weg eingeschlagen, und sage grade heraus, daß ich ein Sophist bin, und
19
formulierten Aussage, dass die Tauglichkeit im politischen Leben durch Erziehung
und Unterweisung bildbar sein sollte. Ein derartiges Versprechen provozierte konsequenterweise die Frage nach der Lehrbarkeit von Tugenden, wobei einzig die positive Beantwortung die Existenz der sophistischen Bewegung legitimierten konnte.70 In
den Zwang der Selbstrechtfertigung geraten, waren die Sophisten schließlich die Ersten, die systematisch die methodischen und inhaltlichen Bedingungen von Erziehung
und Bildung reflektierten – und das war neu.71
Zu den Hauptvertretern der Sophistik, die allerdings nicht als eine einheitliche
Bewegung verstanden werden kann, gehören Protagoras aus Abdera, Gorgias von
Leontinoi in Sizilien, Hippias aus Elis, Prodikos von Keos, Thrasymachos von Chalkedon in Bithynien und Antiphon. Ihre Interessen und Lehren erstrecken sich auf die
verschiedensten Bereiche, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können, so z.
B. auf Geschichte, Ethik und Politik, Rhetorik und Sprache, aber auch auf Naturwissenschaften und Mathematik, wobei sie ihre Popularität vor allem aus dem Versprechen bezogen, zum rhetorisch versierten Polisbürger ausbilden zu können. Insbesondere der Sophist Gorgias stellte das Erlernen der vollkommenen Redekunst in den
Mittelpunkt seiner Lehre. Die Attraktivität, die von diesem Angebot ausging, erklärt
sich aus der „Empfänglichkeit der Griechen für das lebendig vorgetragene Wort“ und
ihre Faszination für wohlformulierte Stegreifreden.72 Die Fähigkeit der Sophisten vor
dem Volke zu sprechen und die Zuhörenden selbst entgegen Anweisungen durch
Sachverständige zum Handeln zu überreden, wurde ambivalent aufgenommen. Einerseits schätzte der Vollbürger der antiken Demokratie den praktischen Nutzen der
Rhetorik als Instrument der politischen Einflussnahme, andererseits aber evozierte
die sophistische Verständigkeit, die „schwächere Sache zur stärkeren zu machen“,
Misstrauen gegenüber den Berufslehrern, da eine solche Kompetenz die Ordnung der
griechischen Polis zu gefährden drohte.73 Doch nicht nur aufgrund des damit verbundenen Relativismus, den die Sophisten im Rechtsdenken, in der Moralphilosophie
70
71
72
73
die Menschen erziehen will, und halte diese Vorsicht für besser als jene, sich lieber dazu zu bekennen, als es zu leugnen.“ (Platon, Protagoras 317a).
Vgl. Ballauff/Schaller 1969, S. 47-49. – In dem platonischen Dialog Protagoras führen der
gleichnamige Sophist und Sokrates das exemplarische Gespräch zu diesem Problem. Die Erörterung der Frage, ob Tugend lehrbar ist, ist seitdem ein Hauptproblem der Pädagogik geblieben.
Vgl. Lüth 2004, S. 29.
Ebd., S. 54.
Ebd.; Lüth verweist mit Rekurs auf Gorgias darauf, dass die täuschende Rede der Sophisten nur
eingeschränkt wirken kann, nämlich meist vor dem Volk, das unwissend ist. Insofern ist bei den
Sophisten – derem Vorgehen gleichzeitig auch aufklärerische Tendenzen zuzusprechen sind –
„eine Perversion der Vernunft zum Zweck der Täuschung zu erkennen.“ (Lüth 2004, S. 27).
20
und Erkenntnistheorie vertraten, galt ihr Auftreten seit jeher als umstritten, sondern
auch aufgrund ihrer „ganz neuen Art der Bildung, die im innersten Kern individualistisch ist, so viel sie auch über die Erziehung zur Gemeinschaft und über die Tugend
des besten Staatsbürgers reden mag.“74 Hier zeigen sich also die Gefahren, die von
der Sophistik für die Polis ausgingen: der Relativismus, Individualismus und Subjektivismus. Denn insofern die einzige ethische Richtschnur der Egoismus wurde – erlaubt ist, was dem Einzelnen nützlich ist – bereitete sich der Boden für einen ethischen Nihilismus vor, der die Gemeinschaft und ihre Werte in Frage stellte, wenn
auch der Bezug zur Polis für ein solches Programm Prämisse blieb.75
An diesem Punkt zeigt sich die „gespaltene Beziehung auf die Tradition“, die „für
die ganze sophistische Bewegung“ typisch ist.76 So werden einerseits die allgemein
anerkannten Werte und Tugenden des Stadtstaates, wie beispielsweise Schamhaftigkeit und Sittlichkeit (Prodikos) oder Gerechtigkeit und Treue (Gorgias) weiterhin
verteidigt, andererseits wurde die Tradition einer scharfen Kritik unterzogen.77
Das widerstreitende Urteil sowohl der Zeitgenossen als auch der Nachwelt gegenüber den Sophisten resultiert wohl vornehmlich aus ihrer skizzierten zwiespältigen
Beziehung zur Tradition, die Symptom eines neuen Zeitgeistes war.78 Sie können als
die ersten Denker des Abendlandes bezeichnet werden, die ihre Lehren der Praxis zur
Verfügung, d.h. öffentlich zur Diskussion stellten, während vor ihnen philosophische
Ansätze und Theorien nur einem kleinen, ausgewählten Kreis von Schülern zugänglich waren.79 So unruhestiftend die Sophisten also auch gewesen, so streitbar sie in
ihrem Vorgehen und in ihren Zielen geblieben sind, so innovativ sind ihre Leistungen in Bezug auf Ethik, Politik und Erziehung zu beurteilen, die den „ionischen Habitus des ‚freien Gedankens’“ tragen.80 Insbesondere Platon suchte seine Philosophie
und Erziehungsvorstellungen – durchaus in verzerrter Darstellung und bisweilen in
starker Polarisierung – von den pragmatisch verwertbaren, zweckgebundenen Kenntnissen und dem philosophischen Scheinwissen, den rhetorischen Spiegelfechtereien
74 Jaeger 1959, Bd. I, S. 377 (Hervorhebung F.T.). „Das Ziel der Erziehungsbewegung, die die
Sophisten heraufführten, war von vornherein nicht die Volksbildung, sondern Führerbildung. Es
war im Grunde nur das alte Problem des Adels in neuer Form.“ (Ebd., S. 368).
75 Vgl. Lamer/Kroh 1995, S. 698f. Das zeigt sich beispielsweise auch darin, dass die jungen Athener, die in der Zeit vor den Sophisten freiwillig als Epheben den Militärdienst ableisteten, jetzt
lieber in Athen blieben und den Unterricht der neuen Lehrer besuchten. Vgl. Castle 1965, S. 55;
dort insgesamt auch das Kapitel „Traditionelle Erziehung – Gymnastik, Musik, Dichtung“.
76 Lüth 2004, S. 22.
77 Vgl. ebd.
78 Vgl. ebd., S. 19.
79 Ebd., S. 28.
80 Ebd., S. 44.
21
und zwielichtigen Streitreden der Sophisten abzugrenzen.81 So gewann auf der Folie
der sophistischen Tradition das platonische Denken nicht nur an Präzision, sondern
auch an Dynamik. Insbesondere die zentrale Rolle der Erziehung für das gelungene
Leben in Staat und Gemeinschaft, die in Platons Werk zum Tragen kommt, ist wohl
der Auseinandersetzung mit den Sophisten zu verdanken, die das griechische Bewusstsein für die eminente Bedeutung von Erziehung und Bildung zu sensibilisierten
wussten.82
1.7 Kurzer Rückblick
In den vorangegangenen Kapiteln wurden erst einmal die Erziehungspraktiken und
Bildungstheorien der archaischen und klassischen Zeit vorgestellt, um die pädagogische Institution der Paiderastie, die bisher noch unberücksichtigt blieb, im sozialhistorischen Kontext von Erziehung und Bildung verorten zu können. Für die nun folgende Diskussion, in welcher das Erosverständnis der griechischen Knabenliebe herausgearbeitet und mit der platonischen Erostheorie verglichen wird, führt eine knappe Zusammenfassung die bisherigen Ergebnisse noch einmal pointiert vor Augen.
Auf der Suche nach Ursprung und Anspruch der europäischen Idee von Erziehung
und Bildung wurde in der Tradition der Pädagogik vornehmlich auf die Klassik und
weit weniger auf die Archaik und den Hellenismus der griechischen Antike rekurriert. Die Bedeutung der klassischen Zeit gründet sich vor allem auf die Etablierung
der Demokratie als Staatsform der griechischen Polis. Während in den übrigen Staaten der alten Welt Theokratie oder Monarchie die dominierenden Herrschaftsformen
waren, entwickelte sich in Griechenland eine Form der politischen Gesellschaftsordnung, die die Gleichheit und Freiheit aller Vollbürger voraussetzt und deren Macht
sich von dem stimmberechtigten Volk ableitet, wenn auch nur die frei geborenen
Männer dazu zählten.
81 Im vorplatonischen Sinn bedeutete das Wort „sophistes“ noch unvoreingenommen „kenntnisreiche, erfahrene Männer“. Bereits in der Zeit des Aristophanes (445-385 v. Chr.) haftete dieser Bezeichnung etwas Negatives an, wobei Platon dann die bereits geläufige pejorative Bedeutung
nutzte und gegen die Sophisten – bisweilen in Konkurrenz zu ihnen – anschrieb. Vgl. Taureck
1995, S. 7f.
82 Während Platon sich in unermüdlicher Auseinandersetzung mit den Wanderlehrern befand, von
denen er sich zugleich zu distanzieren suchte, knüpfte Isokrates (436-338 v. Chr.) an die Redekunst der Sophisten an und gründete im Jahre 390 v. Chr. in Athen seine Rhetorikschule. „Durch
moralische Bildung wollte er – wie Platon auf seine Weise – ‚zur politischen und moralischen
Gesundung’ Athens beitragen.“ Vgl. Lüth 2006, S. 12f.; Zitat: S. 13.
22
Im Übergang von der Archaik zur Klassik entwickelten sich erzieherische Ambitionen zu einem stetig bewusster werdenden Gestaltungsprinzip, wenngleich sich erst
im Hellenismus institutionalisierte Ausbildungssysteme etablierten. In der traditionellen Erziehung genügten noch Sport, Musik und Dichtung, um den Körper, die
Seele und den Geist zu bilden sowie dem gesellschaftlichen Ideal der Kalokagathia,
also dem Ideal des schönen und guten Mannes, zu entsprechen, doch in der klassischen Zeit erfuhr das geistige Leben Athens eine derartige Dynamik, dass schließlich
auch die konventionelle erzieherische Praxis problematisiert, Erziehung und Bildung
in der Öffentlichkeit thematisiert und das Pädagogische erstmals theoretisch reflektiert wurde. Die Sophisten, die als professionelle Jugendbildner auftraten und den
wohlhabenden Bürgern in Athen Bildung und insbesondere rhetorische Versiertheit
gegen Geld zu vermitteln versprachen, trafen mit ihrem Lehrangebot die Bedürfnisse
der attischen Oberschicht, insofern nämlich begüterte Politen Erfolg und Ansehen im
Staatsleben durch praktische Tüchtigkeit und gute Allgemeinbildung zu erlangen
suchten. Die Sophistik förderte allerdings nicht nur die politische Praxis und das
Geistesleben der Stadt, sondern die Konsequenzen dieser Aufklärung, Individualismus, Subjektivismus und Relativismus, gefährdeten auch den moralischen, religiösen
und politischen Zusammenhalt der Polis. Sokrates, der mit seinen unablässigen Fragen nach der Berechtigung geltender Normen und bestehender Ansichten seine Zeitgenossen beständig in Unruhe versetzte, stellte – genau wie die Sophisten – den denkenden Menschen in den Mittelpunkt seiner philosophischen Überlegungen, wobei er
sich jedoch in intellektueller Auseinandersetzung mit ihnen scharf von ihrem philosophischen Scheinwissen, ihren rhetorischen Spielereien und ihren ethischen Nihilismus abgrenzte.
1.8 Die Knabenliebe – eine komplizierte Beziehung
In der bisherigen Darstellung von Erziehung und Bildung in der griechischen Antike
wurde die Knabenliebe nur als pädagogische Institution zur Vermittlung von moralischen Werten benannt, die parallel zu den in erster Linie auf das Erlernen konkreter
Fähigkeiten abzielenden und bereits vorgestellten erzieherischen Interaktionen Bestand hatte. Die dabei vorgenommene zeitliche und räumliche Einschränkung erklärte sich aus dem Thema selbst, dem Vorliegen der Paiderastie als Kulturphänomen.
Denn obwohl der Knabenliebe in der Aristokratie der Archaik eine große Bedeutung
zukam, lassen sich für die homerische Gesellschaft keine Quellen ausfindig machen,
23
die die paiderastischer Praxis belegen. Erst für die Zeit um 600 v. Chr. wird in den
beredeten Zeugnissen der Kunst und Literatur erkennbar, dass „die Päderastie bereits
eine Verhaltensweise war, die als eine gesellschaftliche und nicht als eine private
rezipiert wurde“.83 Im Verlauf der Klassik blieb die paiderastische Liebe – sozial
modifiziert – weiterhin gesellschaftlich akzeptiert und genoss als rechtmäßiges Verhältnis hohe Anerkennung. Allerdings lässt sich mit dem Auftreten der Sophisten,
deren Wirken im Kapitel 1.6 dargelegt wurde, in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts schon ein wesentlicher Grund für das allmähliche Verschwinden der klassischen Knabenliebe erahnen. „In den griechischen Gemeinden [griff] ... ein vollkommen anderes Verständnis dafür durch, wie Heranwachsende zu tüchtigen, wohlberatenen und erfolgreichen Menschen erzogen werden können. ... In der Konkurrenz mit
einer zur Profession, zum Beruf gewordenen Pädagogik“, wie sie die Sophisten betrieben, zog die „klassische Päderastie den kürzeren.“84 Im Hellenismus verliert der
Knabenliebe als pädagogische Institution ihre gesellschaftliche Bedeutung dann
gänzlich.
In diesem Kapitel soll nun detailliert auf das Kulturphänomen Knabenliebe eingegangen und dessen pädagogische Bedeutung für die attische Polis in der Klassik herausgearbeitet werden, wobei die Paiderastie der aristokratischen Gesellschaft der
Archaik nur in Hinblick auf die Knabenliebe jüngeren Typs betrachtet wird. Auf der
Folie der angesprochenen Erziehungsmodelle lässt sich die besondere Bedeutung der
Paiderastie im pädagogischen Kontext erahnen, da sowohl die sexuelle Anziehung,
als auch die sexuelle Praktik für das Erziehungsverhältnis zwischen dem erwachsenen Mann und dem schönen Jüngling konstituierend waren.85
1.8.1 Die paiderastische Bezugnahme als Tugendbildung des Polisbürgers
Die archaische Knabenliebe war ein Privileg des Adels.86 Im Mittelpunkt stand das
Tüchtigwerden des Knaben, das Ausbilden seiner Wehrhaftigkeit, um letztendlich
83 Reinsberg 1989, S. 112.
84 Fischer 1997, S. 195, S. 196; Einfügung F.T. – In der Literatur werden unterschiedliche Gründe
für das Verschwinden der Knabenliebe als pädagogische Institution und bedeutender Sozialisationsvorgang in Erwägung gezogen. Baumgarten vermutet, dass „mit dem Schwinden des agonalen Prinzips als wesentlichem gesellschaftlichem Grundprinzip in spätklassischer Zeit ... die
Knabenliebe ihren Rang als nomos“ verliert. „Sie bleibt bestehen als Lizenz für die, die auf diesem Wege sexuelle Befriedigung suchen, doch soziales Prestige lässt sich kaum noch daraus gewinnen.“ (Baumgarten 1998, S. 187; Hervorhebungen im Original).
85 Vgl. Reinsberg 1989, S. 213.
86 Vgl. zum gesamten Abschnitt Baumgarten 1998, S. 184; Reinsberg 1989, S. 212-214; Patzer
1982, S. 105-113.
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ein vollwertiges Mitglied der Kriegergesellschaft zu werden. In der Fortentwicklung
der Polis, die zunächst vom Adel, später von den Bürgern regiert wird, verliert der
Adel seine Funktion als Kriegerstand, da in der demokratischen geführten Staatsform
nunmehr die wehrpflichtigen Bürger das Heer stellen. So büßten kriegerische Tauglichkeit, körperliche Vorzüglichkeit und sportliche Tüchtigkeit zwar ihre politische
Funktion ein, werden jedoch in der demokratisch regierten Stadt zum „Kennzeichen
rein menschlicher Vorzüglichkeit“, also ein von der gesamten Bürgerschaft geachteter und geschätzter Ausweis sozialer Exklusivität.87 Denn, obwohl die gesellschaftlich anerkannte Paiderastie rechtlich jedem Bürger offen stand, konnten es sich aufgrund der konkreten Gegebenheiten nur wenige wohlhabende Politen leisten diese
altaristokratische Tradition zu pflegen, die im demokratischen Athen nicht nur unter
einer strengen Sozialkontrolle, sondern auch unter staatlicher Aufsicht gestellt, zudem sehr kosten- und zeitaufwendig war. Die Knabenliebe dient also in der demokratischen Isonomie (fisonom¤a) durchaus der „gesellschaftlichen Differenzierung“. „Spätestens jetzt wird die Päderastie zur aristokratischen Konvention, über die man seinen
sozialen Stand dokumentiert oder auch nur den bloßen Anspruch signalisiert, jener
Eliteschicht anzugehören.“88
Die Paiderastie konnte folglich für die beiden Liebenden außerordentlich prestigefördernd sein,89 allerdings stand ihre Ausübung zugleich unablässig in der Gefahr,
leicht zum Gegenstand von Kritik zu werden.90 Das Verhältnis zwischen einem Knaben und einem erwachsenen Mann wurde durchaus als prekär wahrgenommen, nicht
jedoch, weil es sich um eine gleichgeschlechtliche oder paiderastische Bezugnahme
handelte, sondern weil sie nach Mäßigung verlangte und somit eine permanente Bewährung darstellte.91 Insofern Mäßigung und Selbstbeherrschung (svfrosÊnh) als
grundlegende Tugenden eines jeden Polisbürgers gefordert wurden und in der
rechtmäßigen Ausübung der Knabenliebe (d¤kaiow ¶rvw) als realisiert galten, bezeugte
87 Patzer 1982, S. 111. Im Original hervorgehoben.
88 Reinsberg 1989, S. 214. – Das Thema wird noch einmal im Kapitel 1.8.4: „Die Knabenliebe als
Phänomen der Athener Oberschicht“ aufgenommen.
89 So deutet auch Phaidros im platonischen Dialog Symposion bei der Unterredung mit den Gästen
des Agathon gern auf seine erotisch durchwobene Freundschaft zu Eryximachos hin. Vgl. Platon,
Symposion 178a-180b.
90 Vgl. Fischer 1997, S. 190.
91 „Die Griechen setzten die Liebe zum eigenen und die zum andern Geschlecht nicht als zwei
einander ausschließende radikal unterschiedene Verhaltensweisen gegenüber. Die Unterscheidungslinien folgten nicht einer solchen Grenze. Der Gegensatz zwischen einem Mann, der sich
zu mäßigen und beherrschen weiß, und einem, der sich den Lüsten hingibt, war vom Gesichtspunkt der Moral aus viel wichtiger.“ (Foucault 1995, S. 237).
25
ein derartiges Liebesverhältnis zugleich die moralische Vortrefflichkeit der beiden
Partner und garantierte ihnen somit ein hohes soziales Ansehen. Die permanente soziale Aufmerksamkeit, Besorgnis und strenge gesellschaftliche Kontrolle, die der
Paiderastie zuteil wurde, ist folglich durch ihren indirekten Bezug zur politischen
Praxis der griechischen Polis und ihrer moralischen Handlungskodizes zu verstehen.92
1.8.2 Die Paiderastie – Praxis von Erziehung und Bildung des
Polisbürgers
Die Paiderastie, im Rahmen sittlicher Normen der griechischen Stadtstaaten ausgeübt, war den Freigeborenen vorbehalten.93 Die über mehrere Jahre bestehende, intime, erotisch eingefärbte, pädagogische Beziehung zwischen einem älteren Mann und
einem jungen Heranwachsenden war nur Polisbürgern und Bürgerssöhnen möglich.
Die Knaben wurden im Alter von zwölf bis ungefähr achtzehn Jahren von den männlichen Erwachsenen umworben, geliebt und gebildet, genau in der Zeitspanne, in der
die Jünglinge „anfangen Vernunft zu zeigen“94 und der erste Bartwuchs einsetzt.95
Die Altersdifferenz zwischen den Partnern, die verschiedenen Altersklassen zugerechnet wurden, implizierte auch ihren Rangunterschied. Während der Erastes
(§rastÆw), der Liebhaber des Knaben, bereits vollständiges Mitglied der Polis, ein
Bürger der Stadt war, dessen Rolle in sozialer, moralischer und sexueller Hinsicht
die aktive sein musste, hatte der Eromenos (§r≈menow), der Liebling des Mannes, seine Bildung noch nicht abgeschlossen und auch seinen endgültigen Status in der Gesellschaft noch nicht erreicht. Die soziale Differenz zwischen dem geliebten Jüngling
und dem liebenden Mann konstituierte und legitimierte letztendlich die rechtmäßige
paiderastische Beziehung, in der die Rollen der Partner gesellschaftlich festgelegt
waren. Antrieb zur Aufnahme des paidon eros (paidÒn ¶r≈w) war zwar die körperli-
92 Vgl. Baumgarten 1998, S. 185.
93 Vgl. zum gesamten Abschnitt Patzer 1982, S. 46-51; Reinsberg 1989, S. 164-173, S. 187-189;
Fischer 1997, S. 184-195.
94 Platon, Symposion 181d.
95 Ebd. – Die Jugend des Knaben wird in Darstellung und Dichtung durch die zarte Körpergestalt
und die langen Jugendlocken deutlich, während der erste Bart, Zeichen der Männlichkeit, den
schicksalhaften Zeitpunkt markierte, an dem der einstige Knabe vom Jüngling zum Mann wurde.
Das Rasiermesser, das den ersten Bart schnitt, trennte zugleich das Band der Liebenden (vgl.
Foucault, S. 253). Platon lässt im Dialog Protagoras einen Freund des Sokrates sagen: „Woher
erscheinst du uns, Sokrates? Oder versteht es sich von der Jagd auf des Alkibiades Schönheit?
Wahrlich auch ich fand den Mann erst neulich, als ich ihn sah, noch recht schön; aber ein Mann
ist er doch, Sokrates, unter uns gesagt, und dem der Bart schon überall hervorwächst.“ (Platon,
Protagoras 309a).
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che Anziehung, die der Jüngling auf den Mann ausübte, doch durfte sich das Verhältnis niemals auf den sinnlichen Genuss allein beschränken, sondern musste fortwährend auf Tugendhaftigkeit bezogen sein, um dem Vorwurf der Prostitution oder
Hybris und somit dem Verdacht der Maßlosigkeit zu entgehen. Die Aufgabe des Älteren bestand hauptsächlich darin, durch sein Vorbild die natürlich angelegte Vorzüglichkeit des schönen Knaben zur geistigen und sittlichen Vortrefflichkeit zu vervollkommnen und ihn zu einem ausgezeichneten Polisbürger auszubilden, denn die
Paiderastie war im klassischen griechischen Denken eindeutig mit dem Verständnis
und der Praxis von Erziehung und Bildung des frei geborenen Jünglings verbunden.
„Es war ... das Mühen um das Einsichtig- und sonstige Tüchtigwerden der Heranwachsenden, die Sorge um ihre Vortrefflichkeit, die im Mittelpunkt ... der Knabenliebe stand.“96 Dementsprechend ermöglichte das pädagogische Bestreben der Älteren, die jungen Polisbürger moralisch zu bilden und zur sittlichen Vortrefflichkeit
anzuhalten, überhaupt erst die Etablierung der Paiderastie und machte sie als Institution so bedeutend.
1.8.3 Sexualität als „neuralgischer Punkt“ der Paiderastie
Zweifelsohne handelte es sich bei der Knabenliebe als pädagogischer Institution
nicht um einen professionell betriebenen, kontrollierbaren und planmäßigen Unterricht oder gar um die didaktische Aufbereitung von Problemen einzelner Fachdisziplinen. Der ehrenhafte Jüngling, der künftige Vollbürger wurde vielmehr durch die
Teilnahme an Symposien, durch begleitende Gespräche mit den erwachsenen Männern der Stadt, in Unterredungen mit seinem Mentor, aber auch durch eine gemeinsame sexuelle Praktik mit den geltenden Verhaltensdirektiven und Wertmaßstäben
der griechischen Polis vertraut gemacht.97 Während es sich der Erastes also Angelegenheit sein ließ, für die soziale Integration seines Geliebten zu sorgen, zollte ihm
dieser im Gefühl tiefer Bewunderung nicht nur Anerkennung, sondern gewährte ihm
in inniger Dankbarkeit auch sexuell seine Gunst oder erwies ihm, wie es des Öfteren
im diesem Zusammenhang heißt, eine Freundlichkeit (xar¤zomai). Die euphemistisch
formulierten Begrifflichkeiten für den sexuellen Kontakt zwischen Mann und Knaben lassen nicht nur erahnen, dass die Sexualität den „neuralgische[n] Punkt der Pä-
96 Fischer 1997, S. 189.
97 Vgl. Fischer 1997, S. 189f.; Baumgarten 2006, S. 63-66.
27
derastie“98 ausmachte, sondern implizieren zudem die gesellschaftlichen Erwartungen an den Knaben, der seinem älteren Partner nur freiwillig und aus wirklicher Neigung zu Gefallen sein durfte, um seinerseits dem Verhältnis Rechtmäßigkeit zu verschaffen. Schließlich ließ jegliche Art der Nötigung die Beziehung, die von Tugend
getragen sein sollte, zu einer unrechtmäßigen, ja schändlichen Liaison (êdikow ¶r≈w)
verderben.99
Abb.1: Erastes wirbt um einen Eromenos
Die Einhaltung der gesellschaftlich festgelegten Praktiken während des Geschlechtsverkehrs stand schließlich in der Verantwortung beider Partner. Bei dem etwaigen
Sexualakt zwischen Erastes und Eromenos war allerdings nicht nur Gewalt, sondern
auch der Analverkehr strengstens verboten, einzig der intercrurale Kontakt, also der
Schenkelverkehr, durfte ausgeübt werden. Die Konvention untersagte des Weiteren
jegliches sexuelles Entgegenkommen des Jüngeren und forderte somit seine absolute
98 Reinsberg 1989, S. 188; Einfügung F.T.
99 Vgl. zum gesamten Abschnitt Patzer 1982, S. 46-48; Foucault 1995, S. 245-248; Reinsberg 1989,
S. 163, S. 170; Fischer 1997, S. 188-190.
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Teilnahmslosigkeit.100 Diese Teilnahmslosigkeit ist indes nicht mit Passivität zu
verwechseln, sondern qualifizierte sich als ein „beinahe generöse[s] Gewähren“ des
Eromenos, das untrennbar im Zusammenhang mit seiner Ehre steht, die es ihm gebot
„nichts in seinem Verhalten an den Tag zu legen, das in die Nähe einer sich hingebenden, zur Hingabe verpflichteten oder buhlerischen Frau oder eines Objekts sexueller Befriedigung rücken könnte.“101 Sein Status als Bürger der Polis und seine Aspiration auf Vollbürgerschaft waren unvereinbar mit den als typisch weiblich assoziierten Eigenschaften der Willenlosigkeit und Passivität. Der sexuellen Ausgestaltung
der Paiderastie lag nämlich die genuin griechische Vorstellung zugrunde, dass der
penetrierte Partner nicht nur in sexueller Beziehung, sondern auch parallel dazu im
gesellschaftlichen Verhältnis niedergedrückt, unterworfen und gedemütigt wird,
während die Handlung des Penetrierenden seine Überlegenheit gleich in beiden Bereichen zum Ausdruck brachte.102 Zwar galt es als selbstverständlich und der Natur
gemäß, dass die Frau die Kopulation zu erdulden habe und somit auch im politischen
Raum beherrscht werden müsse, niemals aber sei es der Rolle eines freien Mannes
gemäß, penetriert zu werden – seine Aktivität müsse auch beim Sexualakt garantiert
sein. So war es dem erwachsenen Vollbürger durchaus erlaubt, mit männlichen Sklaven oder Strichjungen sexuell zu verkehren, da diese schon qua ihres Status die passive Stellung während des Koitus einzunehmen hatten, ein homosexuelles Verhältnis
zwischen zwei Bürgern, wie z.B. das des Dramatikers Agathon und des Politikers
Pausanias, wurde jedoch als unehrenhaft wahrgenommen, da zumindest einer der
Partner entgegen seiner privilegierten Position in der Polis sexuell und somit auch
sozial degradiert würde und sich als Polites disqualifizierte.103
100 Vgl. Patzer 1982, S. 48f. – „Der Analkoitus [war] als päderastische Liebestechnik verpönt und
sein Vorkommen in pädophilen Kreisen der Athener Bürgergesellschaft entschieden tabuisiert, in
klassischer Zeit offenbar strenger als in der Archaik.“ (Reinsberg 1989, S. 192; Einfügung F.T.).
101 Fischer 1997, S. 186; Einfügung F.T.
102 „Es handelt sich um das Prinzip des Isomorphismus zwischen sexueller Beziehung und gesellschaftlichem Verhältnis. Darunter ist zu verstehen, daß das sexuelle Verhältnis – immer vom
Modell des Penetrationsaktes und von der Polarität zwischen Aktivität und Passivität aus gedacht
– als etwas Gleichartiges wie das Verhältnis zwischen dem Oberen und dem Unteren, dem Herrschenden und dem Beherrschten, dem Unterwerfenden und dem Unterworfenen, dem Sieger und
dem Besiegten wahrgenommen wird.“ (Foucault 1995, S. 273).
103 Vgl. Reinsberg 1989, S. 191-193; Baumgarten 2006, S. 66; Foucault 1995, S. 273f. – Agathon
und Pausanias führten ein über die gesellschaftlich festgesetzten Grenzen hinausreichendes paiderastisches Verhältnis. Pausanias wurde dadurch „verhöhnt, daß man ihn ... Steißling ... nannte
und ihm nachsagte, am Penetriertwerden Vergnügen gefunden zu haben. ... Dieselbe Abschätzigkeit für den, der sich anal koitieren lässt, steckt in der Bezeichnung ... weitärschig.“ (Reinsberg
1989, S. 192).
29
Das öffentliche Verbot und die gepflegte Tabuisierung des paiderastischen Analverkehrs erklären sich also aus den gesellschaftlichen Erwartungen an den Polisbürger, der sexuell, sozial und moralisch die aktive und überlegene Rolle einzunehmen
hatte, die beide Partner gemeinsam in ihrer Beziehung einüben und festigen sollten.
Dennoch musste die der Moral „innewohnende Problematik ... keineswegs den unbedingten Verzicht [analer Kopulation] bedeuten, sondern allenfalls eine entsprechende
Diskretion nach außen. Erlaubte doch die ehrliche, an einen Würdigen gerichtete
Liebe ... viele Arten der Demut und des Dienens.“104 Es ist zu vermuten, dass auch
Pausanias diese Art von Dienstbarkeit im Platonischen Dialog im Sinn hat, wenn er
Phaidros Rede aufnimmt und der Frage nachgeht, in welchem Falle und unter welchen Bedingungen ein Liebling seinem Liebhaber gefällig sein darf. „Denn das ist
bei uns Sitte, wenn jemand will einem Andern ergeben sein, weil er glaubt besser
durch ihn zu werden es sei in irgend einer Einsicht oder in einem andern Teile der
Tugend, daß ein solcher freiwilliger Dienst nicht schändlich sei noch eine Niedrigkeit.“105 Wenn also der „an sich abgelehnte Analverkehr in liebendem Einverständnis
ethisch vertretbar gewesen zu sein“106 scheint, wird damit zugleich augenfällig, wie
schmal der moralische Grat war, der zwischen der rechtmäßigen (d¤kaiow ¶rvw) und
der unrechtmäßigen (êdikow ¶r≈w) Knabenliebe unterschied.
Abb. 2: Grabstele eines jungen Mannes, der mit seinem
104 Reinsberg 1989, S. 193. Einfügung F.T.
105 Platon, Symposion 184c. Siehe Kapitel 2.6: „Pausanias – Lob des Eros uranios, Laudatio der
rechtmäßigen Knabenliebe“.
106 Reinsberg 1989, S. 193.
30
Eromenos dargestellt ist, um 470 v. Chr.
Die Paiderastie verlangte konsequenterweise ein geschicktes Taktieren mit den gängigen Moralvorstellungen und bedeutete zugleich ständige Bewährung. Dabei kam
dem paidon eros jedoch nicht nur in der Beziehung selbst Probecharakter zu, sondern
bereits der erste Kontakt zwischen Mann und Knaben beinhaltete ein kritisches Moment. Die körperliche Anmut und erotische Anziehungskraft des Jünglings war zwar
als Triebkraft zur Aufnahme einer paiderastischen Beziehung durchaus zulässig, allerdings musste sich die Schönheit des Knaben, „weit über die körperlich sichtbare“
erstrecken, insofern, dass „’leere’, äußerliche Schönheit noch nicht einen echten Eros
hervorzwingt, sondern nur diejenige, die auf innerlich besessene Vollkommenheit
gegründet ist.“107 Im grellsten Gegensatz zur Prostitution mit Strichjungen oder käuflichen Frauen, der sich der Mann ausschließlich aufgrund seines sexuellen Verlangens, (§piyumίa) nachzugehen getrieben fühlte, musste die institutionalisierte Liebe
zwischen dem männlichen Polisbürger und dem frei geborenen Jüngling auf einer
bereits zu Beginn der Kontaktaufnahme zu erahnenden seelischen Zugehörigkeit beider Partner beruhen, (filίa), die sich im Laufe der Jahre zu einer fortdauernd inniger
werdenden, idealiter lebenslangen und vor allem der Sinnlichkeit abstinenten
Freundschaft entwickelte, die zu pflegen dem älteren und dem nun jungen Erwachsenen auch nach Beendigung ihres erotisch eingefärbten Verhältnisses weiterhin erlaubt war. Körperliches Begehren (§piyumίa), das sich auf äußere Schönheit richtete,
und tief empfundene Freundschaft (filίa), die sich auf innere Schönheit besann, bildeten somit die beiden Pole, zwischen denen Eros, die Liebe, die eine paiderastische
Beziehung auszeichnete, oszillierte.108 Eros entsagt kruder Sexualität, gewährt körperliche Lust und hebt zugleich die sinnliche Askese auf – Eros fordert Mäßigung.
1.8.4 Die Knabenliebe als Phänomen der Athener Oberschicht
Die Liebe zu einem Knaben wurde indes nicht nur durch dessen Schönheit, die
wohlgesinnten Absichten des Erwachsenen und die emotionale Intensität der gemeinsamen Beziehung vornehm und edel, sondern auch das zeit- und kostspielige
Werben um den auserwählten Jüngling machte die paiderastische Liebe überaus
wertvoll. Die freigesetzte Zeit blieb der privilegierten Gruppe der Vollbürger vorbe107 Patzer 1982, S. 107. Vgl. dazu auch Reinsberg 1989, S. 213.
108 „Für unser viel allgemeineres Wort ‚Liebe’ kennt also das Griechische drei Bezeichnungen von
genau unterschiedenen Unterarten: eros, epithymia und philia.“ (Patzer 1982, S. 47).
31
halten, die sich über ihre politische Tätigkeit in Volksversammlung, Rat und Volksgerichten sowie durch ihre Aktivität in der Öffentlichkeit legitimierte. Der Polites,
gleichermaßen berechtigt wie verpflichtet dem Gemeinwesen politisch, sozial und
moralisch nützlich zu werden, hatte also ausschließlich seine Aufgabe darin zu erkennen, Tugendhaftigkeit und polisförderliches Verhalten auszubilden. Die Institution der Paiderastie kann in diesem Prozess als ein „entscheidende[r] Sozialisationsvorgang“109 für den männlichen Heranwachsenden gelten und sicherte außerdem die
gesellschaftliche und normative Reproduktion der elitären Sozialgruppe der Vollbürger, in concreto der wohlhabenden Vollbürger der Athener Oberschicht. Denn „in
jener Zeit des Umbruchs [also zur Zeit der demokratischen Neuordnung] hatte die
Knabenliebe als traditionelle Institution der Aristokratie mehr denn je die Funktion
eines Statussymbols, war Zeichen eines allenfalls politisch überholten Vorrangs,
Ausdruck gesellschaftlicher Eigenständigkeit und Exklusivität. Für die Aufsteiger
der Demokratie muß sie das geeignete Instrument gewesen sein, Zugehörigkeit zu
jener Elite zu dokumentieren.“110 Um dies deutlich zu machen, soll im Folgenden
noch detaillierter als bisher auf den Aushandlungsprozess des Werbens eingegangen
werden, in dem bereits zu Beginn schon die kulturellen Werte der attischen Gemeinschaft generiert werden.
1.8.5 Werbung als Bewährung
Das Zahlenverhältnis zwischen den Erastai, den liebenden Männern, und den Eromenoi, den geliebten Knaben, war durchaus unausgewogen, da die Anzahl der potentiellen männlichen Bürger, die um die Gunst eines schönen Jünglings zu werben beabsichtigten, die Anzahl von männlichen Heranwachsenden im Alter von zwölf bis
achtzehnjährigen Jungen deutlich überstieg.111 Die gesellschaftliche Forderung nach
Schönheit des zu umwerbenden Eromenos verschärfte die Situation zusätzlich. Ein
schöner Jüngling hatte also reiche Auswahl. Die gegeneinander konkurrierenden
Verehrer machten dem begehrten Knaben ihre Aufwartung, indem sie ihm auf der
Straße nachgingen, ihm im Gymnasion auflauerten, das Gespräch suchten und sich
mit ideellen Gaben und materiellen Geschenken um seine Aufmerksamkeit bemüh-
109 Baumgarten 1998, S. 182; allgemein dazu vgl. die Seiten 179-182.
110 Reinsberg 1989, S. 186f.; Einfügung F.T.
111 Vgl. zum nun folgenden Abschnitt Reinsberg 1989, S. 169f.; Fischer 1997, S. 186f.
32
ten.112 So wurde der schöne Knabe in den Augen des erwachsenen Mannes durchaus
ein rechtmäßiges Lustobjekt, gleichzeitig musste der Jüngling zu sich selbst ein Verhältnis herstellen, in dem er sich dem Status des Lustobjekts verweigert,113 er hatte
sich selbst also dieser Rolle zu entziehen – ein durchaus heikler und schwieriger Akt,
dessen erfolgreicher Vollzug allerdings zu einer angesehenen Position in der Polis
berechtigte. Diese Inkongruenz der Bezugnahme des Mannes auf den Eromenos und
die Bezugnahme des Eromenos wiederum auf sich selbst, bezeichnet Foucault als
„Antinomie des Knaben“.114 Der Begriff macht die ambivalente Position des Knaben
im paiderastischen Erziehungsverhältnis deutlich.
Die Zeit der Liebeswerbung war zugleich die Zeit der Prüfung. Zu prüfen hatten
beide Partner, ob es ihnen auch tatsächlich zuträglich sein würde, mit einander vertraut zu werden und gemeinsam eine „ganzheitliche Liebe“115 einzugehen. Doch
nicht nur die einander sich nähernden Liebenden versuchten die Redlichkeit des anderen auszuforschen, beide standen ferner auch unter strengster gesellschaftlicher
Aufsicht. Auch die Praktiken des Werbens mussten gewissen Konventionen und
Verhaltensregeln entsprechen, um die hehren Absichten der Partner bekannt zu machen, denn „der wesentliche Unterschied zwischen der Knabenliebe und der Prostitution, nämlich die Erziehungsabsicht und -qualifikation, traten kaum öffentlich in Erscheinung und waren für Außenstehende schwer faßbar.“116 So konnte ein heiß umworbener Knabe allzu leicht den Verdacht auf sich ziehen, seine jugendlichen Reize
auszunutzen und sich beliebig vielen Bewerbern willfährig zu erweisen, womöglich
noch gegen Geld. Ein derartiges Fehlverhalten offenbarte ein wesentliches Charakterdefizit des frei geborenen Heranwachsenden, so dass die Polis, deren Selbstverständnis sich auf der Vortrefflichkeit ihrer Bürger gründete, ihn als Bürger der Stadt
disqualifizierte und von allen politischen Rechten ausschloss.117 Um den Ruf zu
112 Wenngleich der materielle Wert eines Werbegeschenkes eindrucksvoll sein konnte, galten letztlich doch moralische Vorbildlichkeit, Sozialprestige und gesellschaftliche Stellung eines Bewerbers für die Wahl des Knaben als ausschlaggebend. Vgl. Reinsberg 1989, S. 187f.
113 Vgl. ebd., S. 280f.
114 Der Forderung an den Knaben, sich selbst einer Rolle zu entziehen, die permanent an ihn herangetragen wird, erklärt sich teilweise daher, dass die Griechen die Jugend als einen eigenen Lebensabschnitt begriffen, in dem sich der Heranwachsende als tugendhafter Bürger in spe beweisen musste. Um also „ein freier Mann zu werden, Herr seiner selber und fähig, die anderen zu
übertreffen“ ist es notwendig, sich gegen unberechtigte Ansprüche zu behaupten. Die Bürgerschaft „kann sich nicht mit einer Verhältnisform decken, in der [der gegenwärtige Knabe und zukünftige Bürger] Lustobjekt für einen anderen wäre.“ (Foucault 1995, S. 280f.; Einfügung F.T.).
115 Reinsberg 1989, S. 189.
116 Ebd., S. 199.
117 Vgl. Baumgarten 1998, S. 184f. – Diesem Verfahren lag die Vorstellung zugrunde, dass „einer,
der seinen Körper verkauft, auch nicht zögern würde, die Interessen der Polisgemeinschaft zu
33
leichter Zugänglichkeit zu vermeiden, „[bestellen] die Väter Aufseher ... für die Geliebten“118, wie Pausanias in seiner Rede sagt, also Pädagogen, Sklaven des Hauses,
die die Aufgabe hatten, ihre jungen Herren gegen Diffamierungen, sexuelle Annäherungen und Belästigungen zu schützen.119 Gleichwohl durfte die Lukrativität eines
rechtmäßig ausgeübten Verhältnisses zu einem tugendhaften Mann für den aufstrebenden Jüngling nie aus den Augen verloren werden. Ein umfangreiches Wissen
über aufwertende und abwertende Handlungen im gesellschaftlichen Kontext und
strategisches Geschick mit den sozialen Regeln machten es doch wahrscheinlich, die
Probezeit, in der die moralische Festigkeit des Knaben erforscht wurde, erfolgreich
zu bestehen. Geprüft wurde also die Fähigkeit der Mäßigung, die sich bereits in den
kleinsten Gesten des Knaben äußerte: in seinen Blicken, in seiner Art zu reden, in
seinem gesellschaftlichen Umgang, im Moment seiner Entscheidung für einen der
werbenden Erastai, allgemein gesprochen also, im ehrbaren Einsatz seiner jugendlichen Schönheit.120
Doch nicht nur das Verhalten der Knaben konnte Misstrauen erwecken, auch die
Erastai waren einer starken Sozialkontrolle unterworfen. „Die Gesellschaft wachte
eifersüchtig darüber, daß der Liebhaber seine überlegene soziale Stellung nicht zur
Erlangung seiner Ziele ausnutzte: wer glaubte, er könne mit einem Knaben nach
Gutdünken verfahren, konnte wegen Hybris angeklagt werden, einem Übergriff nicht
einfach auf eine Privatperson, sondern auf die Gemeinschaft.“121 Die Ernsthaftigkeit
des paiderastischen Verhältnisses durfte also von keiner Seite hintergangen werden,
da normative Verstöße gegen die gängige Praxis als generelle Missachtung gegen das
gesamte Wertesystem der Polis beurteilt wurden.
1.8.6 Zusammenfassung
Die Knabenliebe des klassischen Griechenland ist eng mit dem Verständnis und der
Praxis von Erziehung und Bildung des Heranwachsenden zum Polisbürger verbunden und konnte nur in Hinsicht auf Sittlichkeit, Tugendhaftigkeit und Mäßigung ge-
118
119
120
121
verkaufen.“ Das Verhalten des jungen Timarchos ist ein bekannter Fall für den Ausschluss eines
Bürgers aus der Gemeinschaft. Sobald Verstöße gegen die sexuellen Normen bekannt wurden,
wurden sie zum Schutz des gesamten Wertesystems geahndet. Diffamierungen und Unterstellungen der Prostitution waren allerdings auch „ein beliebter und offenbar erfolgreicher Schachzug in
einer gerichtlichen Klage.“ (Reinsberg 1989, S. 200f.).
Platon, Symposion 183c; Umstellung F.T.
Siehe Kapitel 1.5: „Traditionelle Erziehung – Gymnastik, Musik und Dichtung“.
Vgl. Foucault 1995, S. 262-268.
Baumgarten 1998, S. 185.
34
dacht werden. Beide Partner mussten, um ihre Beziehung als eine rechtmäßige zu
qualifizieren die geltenden Normen achten, einander mit Respekt begegnen, der sittlichen und geistigen Vervollkommnung entgegen streben und somit der Polis, die ihr
Selbstverständnis auf den moralischen und geistigen Qualitäten ihrer Bürger aufbaute, förderlich sein. Das Verhältnis zwischen Erastes und Eromenos war letztlich das
Ergebnis eines langwierigen, stets bedrohten, sensiblen sozialen Aushandlungsprozesses, der – wie die Beziehung selbst – einer ständigen Prüfung unterstand. Zuwiderhandlungen im sozialen Regelsystem konnten aus der schönsten und höchsten
Tugendhaftigkeit der Partner, die niedrigsten Zwecksetzungen hervorspringen lassen,
so dass der paidon eros also eine permanente „Gradwanderung zwischen legitimer
und illegitimer Liebe“ darstellte.122 Im Mittelpunkt der sozialen Reglementierung
und der moralischen Problematisierung stand die Frage nach dem Anständigen und
dem der Beziehung zwischen Erastes und Eromenos Gemäßen, da das sinnliche
Moment – eigentliche Triebkraft der Aufnahme des über mehrere Jahre bestehenden,
intimen Verhältnisses, also die erotische Anziehung des frei geborenen Mannes
durch den ebenfalls frei geborenen, schönen Jüngling – die Liaison durchaus delikat
machte. Beide Partner mussten beständig ihre hehren Absichten in der Öffentlichkeit
praktisch werden lassen, aber insbesondere das moralische Verhalten des Knaben,
der als künftiger Vollbürger seine Ehre zu verteidigen hatte, wurde Gegenstand sozialer Neugier und sozialer Aufsicht. Denn das originär auf Asymmetrie beruhende
Verhältnis zwischen dem Heranwachsenden, dessen Bildung noch nicht abgeschlossen, und dem erwachsenen Mann, der bereits seinen endgültigen Status in der Stadt
erreicht hat, bedeutete vornehmlich für den umworbenen und geliebten Jüngling eine
qualifizierende Prüfung, deren Erfolg oder Misserfolg über seinen Platz in der Polis
entschied. Dabei ermöglichte die Praxis der Paiderastie allerdings nicht nur dem
Knaben das Hineinwachsen in seine zukünftige Rolle als Mitglied der elitären Sozialgruppe der wohlhabenden Vollbürger, sondern generierte zugleich die Normen und
Werte der Athener Oberschicht.
122 Reinsberg 1989, S. 199.
35
2. Der pädagogische Eros in Platons Symposion
2.1 In diesem Kapitel zu behandelnde Fragen
Nachdem ein Überblick über Erziehung und Bildung im antiken Griechenland, insbesondere im Athen der klassischen Zeit gegeben und die Praxis der Knabenliebe
aufgezeigt ist, kann aufbauend auf die Grundlage dieses realhistorischen Vorverständnisses nunmehr der platonische Dialog Symposion genauer betrachtet werden.123
Die Schrift baut auf dem Moralverständnis der Zeit auf, setzt Wissen voraus und
diskutiert bei der Entfaltung der platonischen Erostheorie unkommentiert grundlegende Charakteristika des paidon eros. In der Unterhaltung zwischen Sokrates und
den andern am Trinkgelage teilnehmenden Gesprächspartnern hebt sich nämlich die
platonische Erostheorie deutlich vor dem Hintergrund der sozialhistorischen Institution der Knabenliebe ab. Während die ersten fünf Redner im Symposion Eros als
einen Gott preisen und in der rechtmäßigen Knabenliebe seine schönste und höchste
Wirkmacht entfaltet sehen, offenbart Sokrates das Wesen des Eros als das eines eigenmächtigen Daimon (daίmvn), eines Mittlers zwischen den Menschen und den
Göttern, der es letztlich möglich macht, den beschwerlichen Weg zum Höchsten, zur
Idee des Schönen und zur Idee des Guten, wenn auch nicht leichtfüßig, so zumindest
leichtfüßiger zu gehen. Die im Folgenden gestellten Fragen an das Thema führen als
Leitfaden durch die Arbeit.
Erstens lässt sich anknüpfend an obige Bestimmung fragen, welche Bedeutung
dem platonischen Eros im Hinblick auf das philosophische Konstrukt der Idee des
Guten und der Idee des Schönen überhaupt zukommt. Wie ist, wenn Eros von Sokrates als ein ruheloser Daimon charakterisiert wird, eine derartige Macht zu fassen und
zudem noch in ein pädagogisches Konzept zu integrieren? Handelt es sich dabei gegebenenfalls um ein Ideal pädagogischer Interaktion, das sich letztendlich doch an
der kruden Realität zerbricht?
Wenngleich Platons Schrift als philosophisches Programm verstanden werden
kann, so ist sie zugleich auch eine detailreiche Skizze der geläufigen Meinungen und
Werte seiner Zeit. Es behaupten die im Dialog auftretenden Symposiasten mit Ausnahme von Sokrates übereinstimmend, dass insbesondere die Paiderastie in ihrer
123 Im Aufsatz von Walter Müller „Zur Bedeutung und Legitimation des Eros in der Pädagogik“
(1993) sind einige der in diesem Abschnitt aufgeworfenen Fragen bereits pointiert erörtert worden. Müllers Ausführungen sind deshalb für das Folgende ein Hauptreferenzpunkt.
36
schönsten Ausbildung zur éretÆ, der höchsten Tugendhaftigkeit führe, womit die
Protagonisten des Dialogs also gängige Auffassungen wiederholen. Die maßgebliche
pädagogische Bedeutung, die der gesellschaftlich praktizierten Knabenliebe beigemessen wurde und auch im zu untersuchenden Werk Platons offenkundig wird, provoziert also zweitens die Frage, wie sich demgegenüber eine Beziehung, die vom
platonischen Eros getragen ist, zwischen dem Erzieher und seinem Zögling ausgestaltet. Was unterscheidet das paiderastische Erziehungsverhältnis zwischen Erastes
und Eromenos von der pädagogischen Interaktion im Sinne Platons? Wie ist diese
Beziehung im Einzelnen zu charakterisieren als ein Herrschafts-, Führer- und Gefolgschafts-, Freundschafts- oder Partnerschaftsverhältnis? Aus dem vorhergehenden
Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass das Verhältnis der klassischen Knabenliebe sich vornehmlich als ein asymmetrisches auszeichnete, das sukzessive und mit
Beendigung der erotischen Beziehung in eine – im Idealfall lebenslange, gleichberechtigte – Freundschaft überging. Die erotische Anziehung durch den Knaben veranlasst den erwachsenen Mann zur Aufnahme des Erziehungsverhältnisses. So lässt
sich für die zur Diskussion stehenden Erziehungsmodelle nunmehr die Frage stellen,
inwiefern eventuell sogar von einer instrumentellen Nutzbarmachung des jeweiligen
pädagogischen Eros zu sprechen ist.
Im Detail wird dabei drittens zu fragen sein, ob der platonische Eros für das Gelingen des Erziehungsprozesses überhaupt notwendig ist oder gegebenenfalls sogar
ein zerstörerisches Element darstellt. Es soll diskutiert werden, ob der platonische
Eros der Entfaltung der Persönlichkeit förderlich oder doch eher hinderlich ist.
Könnte der pädagogische Eros die am Erziehungsprozess Beteiligten eventuell sogar
schädigen? Mit Blick auf die Darstellung der Knabenliebe soll schließlich noch das
Problem der Enthaltsamkeit und das Problem der sinnlichen Abstinenz für die pädagogische Dyade erörtert werden. Wie gestaltet sie sich in der pädagogischen Interaktion platonischer Provenienz aus und was unterscheidet sie wiederum von der Paiderastie klassischer Zeit, in der das sinnliche Moment sogar für das erzieherische Verhältnis konstituierend ist?
Im zweiten Hauptteil der Arbeit soll anhand der hier gestellten Fragen näher auf
die platonische Eroskonzeption eingegangen und diese zum Ende des Kapitels mit
der sozialhistorischen Praxis der Knabenliebe verglichen werden. Zuvor sei jedoch
noch ein Blick auf den Entstehungskontext, die Architektur des zu untersuchenden
Dialogs und die platonische Ideenlehre geworfen. Dabei werden nur diejenigen Aus37
schnitte berücksichtigt, die für die Fragestellung relevant sind. So sollen bei der Betrachtung der sokratischen Redner, die den zeitgenössischen common sense zur Knabenliebe wiedergeben, nur Phaidros’, Pausanias’ und Aristophanes’ Meinungen ins
Auge gefasst werden, denn man kann sagen, dass diese Protagonisten als typische
Vertreter der Athener Oberschicht ein realitätsnahes Bild literarisch fixieren.
Anzumerken sei noch, dass eine erschöpfende Darstellung der platonischen Erostheorie, die ein intensives Studium der Dialoge Symposion, Phaidros, Lysias, Nomoi
und Politeia voraussetzen würde, im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden
kann. Die genannten Werke werden nur vereinzelt in einigen Passagen herangezogen
oder gar nicht beachtet. Deshalb kann auch nicht der Anspruch erhoben werden, Platons vielschichtige Konzeption umfassend nachzuzeichnen, die Aufgabe besteht
vielmehr darin, den pädagogischen Eros in Platons Symposion in seinen Hauptzügen
zu skizzieren und sich den obigen Fragen schrittweise anzunähern, um dann am Ende
die antike Theorie mit einer vergleichsweise modernen Adaptio, der platonischen
Erostheorie Gustav Wynekens, zu kontrastieren.
2.2 Die Architektur von Platons Symposion
„Dieses und alles dergleichen wollen wir bei dem Homeros und den andern Dichtern
... ausstreichen, nicht als ob es nicht dichterisch wäre und dem Volk angenehm zu
hören, sondern weil es je dichterischer um desto weniger darf gehört werden von
Knaben und Männern, welche sollen frei gesinnt sein und die Knechtschaft mehr
scheuen als den Tod.“124 Platon selbst ist es, der in den Ausführungen zu seinem
Musterstaat vor den verführerischen Wortklängen der Poeten und deren Wirkmächtigkeit, die das menschliche Gemüt mal verhärten, mal verweichlichen lassen können, warnt und in sensibel-kritischer Haltung zu einem asketischen Umgang mit der
Dichtung rät. Im Idealstaat (politeίa),125 in dem die Gerechtigkeit waltet und die
Philosophie regiert, gewährt er den Poeten keinen Platz.126 Platon wählte zur Vermittlung seiner philosophischen Gedanken dennoch die dramatische Prosa, die in
seinen Dialogen, die zu den klassischen Texten des Abendlandes zählen, so ein124 Platon, Politeia 387b.
125 Die Schrift entstand ungefähr zwischen 385 und 375 v. Chr. Vgl. Erler 1999, S. 1192.
126 Vgl. ebd., 397d-398b. „Einem Mann also, wie es scheint, der sich künstlicherweise vielgestaltig
zeigen kann und alle Dinge nachahmen, wenn uns der selbst in die Stadt käme und auch seine
Dichtungen uns darstellen wollte, würden wir Verehrung bezeigen als einen heiligen und wunderbaren und anmutigen Mann, würden ihm aber sagen, daß ein solcher bei uns in der Stadt nicht
sei und auch nicht hineinkommen dürfe.“ (Ebd., 397e-398a.).
38
drucksvoll nachwirkt.127 Platon fixierte seine philosophischen Gedanken in Prosa,
denn während der vollkommene Staat der Dichtung zu entsagen hatte, musste die
Philosophie vorerst den realen Gegebenheiten angepasst werden.
Es ist die enge Verknüpfung des erotischen und des logischen Prinzip, das die Lebendigkeit des philosophischen Denkens Platons ausmacht. In besonderem Maße
trifft dies auf den kunstvoll gestalteten Dialog Symposion zu, den sechs Reden über
Eros, der für die Platonische Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Die umfassende Rezeptionsgeschichte des Werks reicht von der Antike bis zur Gegenwart und
stellt, „vermittelt durch den Neuplatonismus, die italienische Renaissance, den Cambridger Platonismus sowie den deutschen Idealismus, ein wesentliches Element in
der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte“ dar.128
Die Schrift wird in die mittlere Schaffensperiode Platons eingeordnet und entstand
ungefähr zwischen 385 und 375 v. Chr.129 Verschieden übersetzt als „Gespräch von
der Liebe“, als „das Gastmahl“ 130 oder „das Trinkgelage“131 stellt die zuletzt genannte Variante die treffendste dar. Das zeremonielle Bankett homerischer Zeit, das noch
fester Bestandteil der geselligen Zusammenkunft war, wurde nämlich seit dem
7. Jahrhundert v. Chr. von der Praxis des gemeinsamen Weintrinkens getrennt.132
Symposien standen somit im Zeichen des Dionysos, des Gottes des Weines und des
Sinnenrausches, dem verschiedentlich gehuldigt wurde. Das Spektrum kultischer
Gelagepraktiken im Namen des Gottes fächerte sich in der griechischen Antike von
der gepflegten Unterredung, über die lyrische Dichtung und die musisch-tänzerische
127 Die von Platon gewählte Dialogform, also die dramatische Form der Dialektik, ist der Vermittlung seiner Philosophie dienlich und zugleich philosophisch fruchtbar (vgl. Stenzel 1961, S.
210). „Platon entwickelt keine philosophische Theorie der Ich-Bezogenheit. Das ‚Ich’ Platons
scheint dem ‚Du’ seines Lehrers Sokrates’ freien Platz gegeben zu haben. Sokrates sprich aber
auch nicht als ‚Ich’, sondern er versucht das ‚Du’ des Schülers in Bewegung zu setzten, damit er
sich an die Wahrheit wiedererinnert. Der Schüler allein – als ‚Ich’ – befindet sich in Schwierigkeiten auf dem Weg der Wahrheit zu gehen. Weder das ‚Ich’ noch das ‚Du’ kann also allein nach
der Wahrheit suchen, was nur durch ihre Zusammenarbeit erreicht wird. Diese Zusammenarbeit
des ‚Ich’ und ‚Du’ ist der platonische Dialog.“ (Vrettos 1985, S. 45).
128 Ries 2003, S. 113. – Eine umfassende Rekonstruktion der Wirkungsgeschichte der Erostheorie
Platons steht noch aus.
129 Die Angaben zum Entstehungszeitraum des Symposion sind in der Literatur unterschiedlich weit
gefasst. Während Erler vermutet, dass der Dialog zwischen 385 bis 375 v. Chr. verfasst wurde,
erweitert Lesky die Zeitspanne und datiert dessen Entstehungszeit zwischen der ersten und zweiten Reise Platons nach Sizilien, also ca. 390 bis 366 v. Chr. Snell wiederum gibt die Zeit um das
Jahr 380 v. Chr. an. Vgl. Erler 1999, S. 1192; Lesky 1976, S. 87; Snell 1953, S. 207.
130 Erler 1999, S. 1192.
131 Vgl. Snell 1953, S. 205.
132 Vgl. Schäfer 2002, S. 285; siehe auch Kapitel 2.4: „Der treue Jünger als Beobachter – Aristodemos Bericht vom Trinkgelage“.
39
Zerstreuung bis zur alkoholischen und sexuellen Orgie auf.133 Zur Lobpreisung des
Gottes Eros und seiner als Erotik verstandenen Philosophie wählte Platon also die
passende Kulisse – in Requisite, Sprechern, der Reihenfolge der Reden und der Erzählperspektive zeigt sich das Symposion als ein in Harmonie gebrachtes Kunstwerk
von dramatischer Inszenierung und philosophischem Denken.134 Eine Annäherung an
das Thema des Dialogs verlangt konsequenterweise die Berücksichtigung dieser
gleichsam dichterischen Architektur des Werks.
2.3 Auf dem Weg zur Wahrheit – zum Rahmendialog des Symposion
Es erscheint eigentümlich, dass der platonische Dialog über den Eros im Grunde kein
Dialog ist, sondern sich aus sechs Reden zusammensetzt, die von einem Erzähler
wiedergegeben werden, der seinen Bericht auf die Mitteilungen eines Zuhörers
stützt. Das Symposion referiert damit einen berichteten Bericht. Apollodoros, ein
eifriger Anhänger des Sokrates – „ergrimmt auf [sich] selbst und alle Andern außer
den Sokrates“135 – wird von einigen Geschäftsmännern auf seinem Weg in die Stadt
gebeten, von der Unterhaltung beim Gastmahl zwischen Sokrates und den Gästen des
Agathon zu erzählen. Obwohl Apollodoros die fragenden „Geldmänner“136 wegen
ihrer unphilosophischen Lebensweise verachtet, ist er doch bereit, von den vergangenen Ereignissen zu sprechen, die ihm durch Aristodemos, einen weiteren glühenden Verehrer des Sokrates und ungeladenen Besucher bei den Festlichkeiten, zu Teil
wurden. Durch die Erzählung einer erzählten Erzählung legt es Platon „so kunstvoll,
ja künstlich“ darauf an, „Distanz“ zu dem zu vermitteln, „wohin er ... führen will“,137
dass dem Gedanken Gestalt gegeben wird, erst langsame Annäherung ermögliche es,
zum Eigentlichen vorzudringen. Der Leser des Symposion tastet sich insofern nur
mittelbar und schrittweise zur Wahrheit vor, die für Platon nicht direkt zu begreifen
ist, sondern jenseits der erfahrbaren Wirklichkeit im Reich immaterieller und unveränderlicher Wesenheiten zu finden ist, durch welche die sinnlichen Erscheinungen
133 Zum Wandel der Gelagesitten vgl. Rheinsberg 1989, S. 91-114.
134 „Das Symposion nimmt unter den Dialogen Platons eine herausgehobene Stellung ein. Es ist, so
R. Rehn, die geglückte Verbindung von Philosophie und dramatischer Dichtkunst, die erfolgreiche Umsetzung eines für Platons Philosophie zentralen Lehrstücks, des der Erotik ... Ziel der ‚Erotisierung’ der Philosophie ist der Aufweis, daß philosophische Erkenntnis des andern bedarf,
daß Philosophie nur als ... gemeinsames Philosophieren möglich ist.“ (Kobusch, Mojsisch 1996,
S. 2).
135 Platon, Symposion 172d.
136 Ebd., 172c.
137 Snell 1953, S. 205.
40
schließlich ihre Existenz beziehen. Demzufolge entspricht die literarische Form der
Schrift „jene[r] Unfaßbarkeit der Wahrheit, welche die platonische Philosophie ‚stets
umspielt’ [und] ... im Kunstgriff der offenen Rahmenerzählung mit ihren vielfachen
Brechungen ihren unmißverständlichen Ausdruck [gewinnt].“138
Die Erzählperspektive des Symposion chiffriert wesentliche Elemente der Ideenlehre Platons und hat durch die Verschachtelung der jeweiligen Gespräche den Effekt, dass die Geschehnisse des abendlichen Trinkgelages ins Überzeitliche und
Mythische entschwinden. Der Dialog stützt sich auf Erinnerungen, schon Aristodemos Ausführungen sind teilweise lückenhaft und auch Apollodoros vermag nur noch
das Erinnernswerteste darzustellen.139 Wenn Sokrates im Weiteren Verlauf des Abends, sich des Gespräches mit Diotima entsinnt, der weisen und rätselhaften Priesterin aus Maniteia, und wiederum Vergangenes berichtet, nimmt die Unterhaltung der
Symposiasten nicht nur eine entscheidende Wendung und gelangt zu ihrem Höhepunkt, sondern entrückt nun gänzlich in unbegreifliche zeitliche Ferne. Es ist das
Symposion, das sich als philosophische Diskussion der Frage nach dem Wesen des
Eros von allen platonischen Werken am klarsten als Mythos darstellt. Logos und
Mythos sind kaum voneinander zu trennen, sondern verschmelzen vielmehr in diesem literarisch-philosophischen Werk in einander.140 Das ist zunächst erstaunlich,
denn in seinem Hauptwerk, der Politeia, übt Platon harsche Kritik am Mythos, insbesondere an den Erzählungen Hesiods und Homers, die die Götter im ewigen Streit
miteinander und untugendhaft zeichnen, so dass die Mythen der Jugend meist zum
schlechten Beispiel dienen.141 Allerdings räumt Sokrates auch ein, dass die alten Sagen „im Ganzen“ zwar „Falsches bezeichnen, ... aber auch Wahres darin“ sei.142 Dem
Wahren im Mythos nachzuspüren und es vom Falschen zu trennen, macht sich Platon
auch im Symposion zur Aufgabe. Geläutert wird das Mythische, das eine unmittelbar
erzieherische Wirkkraft auf den Menschen ausübt, schließlich fruchtbar.143
138 Ries 2003, S. 32. – So figurieren die perspektivischen Brechungen im Dialog – beginnend beim
Leser, über den Bericht des Apollodoros bis zum Gespräch zwischen Sokrates und Diotima – die
einzelnen Schritte des philosophisch-pädagogischen Stufengangs, der von der materiellen Welt,
also von der „Schönheit aller schönen Leiber“ zum Reich der Ideen führt, zum „göttlich Schönen
selbst“. Vgl. Platon, 210a -212a.
139 „An alles aber, was Jeder von ihnen geredet, erinnerte sich schon Aristodemos nicht mehr genau,
noch auch ich an Alles was er mir sagte; was aber und wessen Reden mir vorzüglich behaltenswert geschienen, diese will ich euch alle einzeln mitteilen.“ (Platon, Symposion 178a).
140 Vgl. Reinhart 1960, S. 240.
141 Vgl. Platon, Politeia 377e-379d.
142 Ebd., 377a.
143 Das sokratische Zugeständnis verweist allerdings nicht nur auf die inhaltliche Ebene des Mythenstoffs, sondern konnotiert auch den unmittelbaren Zugriff, den der Mythos auf die menschliche
41
Während die ersten fünf Redner Eros als Gott preisen und sich zumeist auf die
Geschichten von Hesiod und Homer berufen, fragt der Philosoph Sokrates nach dem
Wesen des Eros, so dass sich im gemeinsamen Gespräch die mythische Welterfahrung als Illusion erweist. In dem Augenblick jedoch, in dem Sokrates die tiefste
Wahrheit über Eros spricht, beruft er sich auf die geheimnisvolle Priesterin Diotima,
bezieht sich letztlich also auf ein exklusives Wissen, das nicht durch logisches
Schlussfolgern zu erlangen ist. Der Rückgriff bei der Wesensbestimmung des Eros
auf einen menschlichen Bereich, der dem Logos nicht zugänglich ist, ist wohl „als
Mahnung und Mittel gegen eine verhängnisvolle Verengung, die sogar die Möglichkeit des Philosophierens bedroht“,144 zu verstehen. So gießt Platon abermals einen
grundlegenden Gedanken in dichterische Form, nämlich dass eine Philosophie, die
ausschließlich auf dem Prinzip des Logos basiert, nicht nur unvermögend sein wird,
Eros zu begreifen, sondern grundsätzlich die Wirklichkeit nur verkürzt verstehen
könnte. Konsequenterweise wendet Platon in der Vermittlung dessen, was Eros ist,
das erotische Prinzip an und kennzeichnet seine Philosophie als eine erotische und
zugleich pädagogische, wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird.
2.4 Der treue Jünger als Beobachter – Aristodemos Bericht vom
Trinkgelage
Apollodoros beginnt. Der junge Aristodemos hatte vor vielen Jahren erzählt, dass
ihm eines Abends Sokrates begegnet sei, der sich zum Gastmahl des Agathon begab
„herausgeschmückt um doch schön zu einem Schönen zu kommen.“145 Der Tragiker,
bekannt für seine Anmut und seine wohlgefälligen Reden, hatte, wie sich genau datieren lässt, im Jahre 416 v. Chr. anlässlich seines Sieges beim Theaterwettstreit zum
Symposion geladen. Während sich das Trinkgelage wohl in diesem Jahr ereignet
Seele hat. Insbesondere im pädagogischen Kontext sollte diese Größe nach Platon nicht außer
Acht gelassen werden, wie auch seine Schrift „Politeia“ deutlich macht, in der die Wirkmächtigkeit des Mythos fortwährend illustriert ist. Wie wenig Platon also den direkten Zugriff des Mythos auf die menschliche Seele unterschätzte, wird vor allem dadurch deutlich, dass er einerseits
nicht müde wird die traditionellen griechischen Sagen als falsch und widersprüchlich zu entlarven, andererseits schafft er jedoch selbst einen Mythos, um die verschiedenen Aufgaben, die den
drei Ständen in seinem Idealstaat angeblich naturgemäß zukommen, zu legitimieren. „Ihr seid“,
so solle den Bürgern des gerechten Staates von Beginn her gesagt werden, „alle die ihr in der
Stadt seid Brüder; der bildende Gott aber hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichsten sind, den Gehülfen
aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern.“ (Platon, Politeia
415a). – Die ambivalente Haltung Platons dem Mythos gegenüber macht seine Bezogenheit augenscheinlich.
144 Kerenyi 1942, S. 14.
145 Platon, Symposion 174a.
42
haben mag, verweist die Rahmenhandlung wiederum auf die Zeit um 400 v. Chr., der
Bericht des Gesprächs selbst wurde dann ungefähr in den Jahren 385 und 375 v. Chr.
geschrieben146 und enthält zugleich „wirklich alle philosophisch bedeutsamen Gedanken und Probleme Platons für diese Zeit seiner philosophischen Entwicklung“.147
Auf dem Weg zum Gelage bittet Sokrates seinen eifrigen Anhänger Aristodemos,
ihn zu den Feierlichkeiten zu begleiten. Daraufhin machen sich beide zum Hause des
Dichters auf, wobei der kauzige Alte jedoch „nachsinnend unterwegs zurück[bleibt]“.148 Ein nach ihm geschickter Diener des Agathon berichtet, dass Sokrates in Gedanken vertieft in dem Vorhofe des Nachbarn steht und nicht ins Haus des
Gastgebers kommen wolle. Erst zum Ende der gemeinsamen Mahlzeit erscheint er
im Kreise der Gäste Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes und Aristodemos und wird von Agathon scherzhaft begrüßt.149
Bereits am Tage zuvor war kräftig gezecht worden, da Dionysos, der Gott des
Rausches, des Weins und der Tragödie, zur Feier eines jeden tragischen Sieges seinen Tribut fordert. So wird zu Beginn des eigentlichen Symposion von jedem Trinkzwang abgesehen, es solle nur zum Vergnügen getrunken werden und die gerade
eintretende Flötenspielerin wird fortgeschickt, denn man wolle sich an diesem Abend
ausschließlich unterreden. Daraufhin macht der angesehene attische Arzt Eryximachos auf Anregung seines Geliebten Phaidros den Vorschlag, rechtsherum in der
Folge der Sitzordnung Lobreden auf den Gott Eros zu halten, den die Poeten unberechtigterweise vernachlässigen würden und der folglich nicht angemessen gewürdigt werde.150 Gern nehmen die Anwesenden den Vorschlag des Paares an, da sie
sich nämlich ausnahmslos mit Eros vertraut annoncieren – die einander Liebenden
Agathon und Pausanias, der Dichter Aristophanes, der „es ja immer mit dem Dionysos und der Aphrodite zu tun hat“ wie auch der auf so eigene Art charismatische Philosoph Sokrates, der von sich behauptet, sich auf „nichts als Liebessachen zu verstehen“.151 Dieses freimütige Eingeständnis wirkt erst einmal außergewöhnlich, denn
146 Vgl. Erler 1999, S. 1192; Ries 2003, S. 16.
147 Schmidt-Berger, Platon, Das Trinkgelage. Nachwort zum Symposion. Frankfurt am Main 1985,
S. 200. Zitiert nach Piras 1997, S. 25.
148 Platon, Symposion 174d.
149 Vgl. ebd., 174a-176a. – Wieder einmal ist die kunstvolle Inszenierung des Dialoges, in der Inhalt
und Form aufeinander verweisen, zu erahnen.
150 „Phaidros nämlich pflegt unwillig mir zu sagen Ist es nicht arg, o Eryximachos, daß auf alle
Götter Lobgesänge und Anrufungen gedichtet sind von den Dichtern, dem Eros aber einem so
großen und herrlichen Gotte auch nicht einer jemals von so vielen Dichtern die es gegeben ein
Lobgedicht gesungen hat?“ (Platon, Symposion 177a).
151 Ebd., 177e.
43
Sokrates’ skeptische Haltung zum Wissen ist allgemein bekannt.152 Erst im weiteren
Verlauf des Gesprächs, wenn der vermeintliche Gott als dämonische Kraft enthüllt
wird, die den Menschen veranlasst, in Sehnsucht zur höchsten Erkenntnis zu streben,
gewinnt das Gesagte Kohärenz. Augenscheinlich ist zumindest, dass sich alle Symposiasten als Liebende zu erkennen geben, so dass die Form wiederum den Inhalt
antizipiert, denn im Verständnis der platonischen Erostheorie „[sind] in Abstufungen
alle Kenner.“153
Abb. 3: Symposion auf einer griechischen Vasenmalerei
Platon setzt seinen Dialog vor eine dem damaligen Leser bekannte Kulisse. Sowohl
in der archaischen als auch in der klassischen Periode hatten Ausgelassenheit und
Kurzweil, Sexualität und Rausch ihre Berechtigung im Rahmen der Symposien, bei
denen Musikantinnen und Tänzerinnen fürs Amüsement sorgten und mit erotischen
Causerien unterhielten, die allerdings gewöhnlich auf reine Prostitution hinauslie-
152 Im Gespräch mit Sokrates erweist sich das Wissen seiner Gesprächspartner letztlich nur als ein
vermeintliches, das einer strengen logischen Prüfung nicht standzuhalten vermag. Sokrates hingegen, der von sich selbst behauptet, nichts zu wissen, wurde vom Orakel von Delphi geweissagt,
dass niemand weiser wäre als er. Sokratische Weisheit ist letztlich das Bewusstsein der eigenen
Unwissenheit. „Aber, ihr Athener, denselben Fehler wie die Dichter, dünkte mich, hatten auch
diese trefflichen Meister. Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den
andern wichtigsten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit.
So daß ich mich selbst auch befragte im Namen des Orakels, welches ich wohl lieber möchte, so
sein wie ich war, gar nichts verstehend von ihrer Weisheit aber auch nicht behaftet mit ihrem
Unverstande, oder aber in beiden Stücken so sein wie sie. Da antwortete ich denn mir selbst und
dem Orakel, es wäre mir besser so zu sein wie ich war.“ (Platon, Apologie 22d).
153 Benardete 1993, S. 19.
44
fen.154 Denkwürdig also, dass der platonische Dialog über die Liebe dionysisch eingefasst ist – das Gelage wird zur Zeit der Dionysien abgehalten,155 der Wein steht
bereit, die Flötenspielerin bietet ihre Dienste an. Doch die Gäste sind den Wohltaten
des Dionysos an diesem Abend abhold und besinnen sich auf den angeblich ungerühmten Gott Eros. Offenbar bilden also die Machtsphären des kruden, ekstatischen
Dionysos, den unerlässlichen Hintergrund, vor dem Eros im Weiteren scharf abzugrenzen ist. Die Liebe, symbolisiert durch den Gott Eros, wird in Platons Schrift
demnach in engen Zusammenhang und zugleich in deutlicher Abgrenzung zu Dionysos und dem menschlichen Begehren gebracht. Die Schwierigkeit, Eros von der sinnlichen Lust einerseits als abhängig zu erkennen und andererseits von dieser abgegrenzt zu wissen, ist ein durchgehendes Motiv des Dialogs.
Doch die Symposien gewährleisteten nicht nur Zerstreuung und körperlichen Genuss, sondern sie waren zugleich eine „wichtige integrative Institution“,156 die es den
Symposiasten ermöglichte, traditionelle Werte und Normen der sozialen Gruppe zu
pflegen und sie den jüngeren Teilnehmern zu vermitteln. Welche Gestalt haben Erziehung und Sozialisation in der sozialen Institution Symposion angenommen? In
homerischer Zeit traf sich ausschließlich der männliche Adel zum festlichen Gastmahl, bei dem reichlich Fleisch und Brot gegessen und Wein getrunken wurde.
Durch das gemeinsame Mahl demonstrierte die aristokratische Elite ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung und festigte gleichzeitig ihren inneren Zusammenhalt.
Der epische Vortrag, in dem die Ideale der heroischen Zeit verherrlicht wurden, diente der Unterhaltung und tradierte zudem die aristokratischen Tugenden. Seit dem
7. Jahrhundert garantierte das vom Bankett gesonderte Trinkgelage die Exklusivität
der Gruppe, der „Hetairie“,157 die sich nunmehr mit lyrischer Dichtung zum Leierspiel unterhielt, wobei allerdings zu erwähnen ist, dass auch das homerische Epos
weiterhin zeitgemäß blieb. In den überlieferten Liedern und auf den extra für Symposien hergestellten Gefäßen werden die homosexuelle Liebe, Taten berühmter Helden
oder kriegerische Auseinandersetzungen thematisch. Die bildlichen und mündlichen
Darstellungen des tapferen Mannes im Kampf besaßen insbesondere für die männliche Jugend Vorbildcharakter, die von älteren Trinkgefährten mit dem aristokrati-
154 Vgl. Reinsberg 1989, S. 91-98. – Die Zulässigkeit und Intensität von sexuellen Praktiken variierte allerdings in den einzelnen Epochen erheblich voneinander.
155 Vgl. Gutmann 2003, S. 175.
156 Baumgarten 2006, S. 63.
157 Ebd. Die Mitglieder der Hetairie (•taireίa) werden Hetairoi (•tairoi) genannt.
45
schen Wertekanon vertraut gemacht wurde.158 Symposien wurden also von einer
„pädagogischen Atmosphäre“159 getragen, eigens auch dadurch, dass sie traditioneller Ort der Knabenliebe waren. Seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert v. Chr. beanspruchten auch breite Schichten der Bürgerschaft die Teilnahme am Trinkgelage, die
indes kaum Alternativen für die kurzweilige Zusammenkunft entwickelten, sondern
vornehmlich auf die aristokratischen Werte rekurrierten und sie nach eigenen Bedürfnissen variierten.160
Zurück zum Dialog selbst. Die zum Symposion geladenen Gäste des Agathon üben sich asketisch und beabsichtigen über die Liebe zu sprechen. Der soziale Ort, an
dem das Gespräch über Eros stattfindet, wird, um die obigen Darstellungen aufzugreifen und bis hierhin zusammenzufassen, sowohl mit ausschweifender Sexualität
als auch mit sublimer Pädagogik assoziiert. So lässt sich allein durch die Wahl der
Staffage das Grenzgängerische des platonischen Eros erahnen. Doch was ist unter
„platonischem Eros“ genau zu verstehen? Nur schrittweise, mit jeder einzelnen Rede
des Dialogs ist sich der Antwort dieser Frage zu nähern.161 Entsprechend der Eigenart der einzelnen Symposiasten werden dem Leser des Dialogs unterschiedlichen
Perspektiven auf Eros eröffnet, von Phaidros, der die Rhetorik liebende und Geliebte
des Eryximachos, von Pausanias, dem Politiker, „Repräsentant der griechischen Sophistik“162, dem Liebhaber des Agathon, von Eryximachos, dem kunstfertigen und
wissenschaftsgläubigen Arzt, von Aristophanes, dem berühmten und tiefsinnigen
Komödiendichter, von Agathon, dem schönen Gastgeber, dem edlen Sophist und
gefeierten Tragiker und schließlich von Sokrates, dem hässlichen und barfüßigen
Philosophen. Während die geladenen Symposiasten den Gott der Liebe loben und
das Wesen des Eros zu verstehen suchen, bekennt der ungestüme, zu später Stunde in
die Gesellschaft einbrechende Alkibiades unverhohlen seine gewaltige Liebe zu Sokrates, der er nicht Herr zu werden vermag.
158
159
160
161
Schäfer 2002, S. 285.
Baumgarten 1998, S. 179.
Zum gesamten Abschnitt vgl. Schäfer 2002, S. 285-288 und Baumgarten 2006, S. 63-66.
Julius Stenzel setzt die fünf vorsokratischen Reden mit Vorstufen gleich, die auf die sokratische
Rede hindeuten. „Die Vorstufen sind natürlich noch nicht das Eigentliche, Letzte, aber sie weisen
auf dieses hin, sie müssen im Hinblick auf dieses verstanden werden; die vorbereitenden Meinungen sind weder falsch noch richtig, sondern sie liegen in der Mitte – genau so wie im Staate
und im Symposion Platon die Doxa definiert; sie sind nicht das Ganze, sie sind nicht zur Einheit
gebracht; nur wer sie zusammenfassen kann, der bringt sie an die Wahrheit heran.“ (Stenzel
1961, S. 209).
162 Ries 2003, S. 41.
46
Wie oben angekündigt, werden nun mit Phaidros, Pausanias und Aristophanes exemplarisch drei Protagonisten genauer vorgestellt.
2.5 Phaidros – Prolog zum Agon der Reden
Der seinem Liebhaber Eryximachos ergebene Phaidros hatte geklagt, dass es „noch
kein Mensch bis auf den heutigen Tag gewagt“ hätte, den Eros „würdig zu besingen“,163 so dass es sich die anwesenden Symposiasten auf Anregung des jungen
Mannes angelegen sein lassen, dem Eros zu huldigen. Es ist allerdings verwunderlich, dass der Behauptung des Phaidros von keiner Seite widersprochen wird, da die
griechische Dichtung schließlich zu allen Zeiten die Allgewalt der Liebe achtete und
die menschliche Hörigkeit ihr gegenüber eingestand.164 Die das Thema eröffnende
Übertreibung des Phaidros könnte indes als stilistisches Mittel Platons verstanden
werden, dem zufolge „ein ‚würdiger’ Lobpreis des Eros daran gebunden ist, zu erkennen, inwiefern er kein Gott ist.“165 Dem gewahr zu werden, bleibt schließlich dem
Philosophen Sokrates vorbehalten. Phaidros hingegen, der aufgefordert worden war
als erster zu sprechen, führt Eros wie selbstverständlich als einen „großen Gott“ ein,
einen, der den Menschen und Göttern „bewunderungswürdig“ sei, nicht nur weil er
zu den „ältesten“ Göttern gehöre, sondern auch, da er „der größten Güter Urheber“
wäre.166 Wenngleich die ihm folgenden Redner Eros in unterschiedlicher Weise charakterisieren und seine Wirkkraft verschieden beschreiben werden – die Annahme,
dass er ein Gott ist, wird vorerst nicht in Frage gestellt.
Als ein typischer Vertreter der gebildeten athenischen Oberschicht interessiert
sich Phaidros zwar für die Bildungsfragen seiner Zeit, doch seine Wissbegierde ist
bisweilen kaum von einer gewöhnlichen Neugierde zu unterscheiden, sein Denken
entbehrt der Präzision und Tiefenschärfe philosophischer Gedankenführung.167 Vielmehr bezieht er sich in seiner Rede auf das konventionell Gegebene, den Mythos und
die Knabenliebe. Um seinen Darstellungen Gewicht zu verleihen, verweist er zunächst auf die traditionelle, griechische Theologie und beruft sich auf angesehene
163 Platon, Symposion 177b.
164 Es ist zwar einzuräumen, dass dem Eros in Griechenland außer in Thespiai in Böotien kein eigener Kult zukam (vgl. Ries 2003, S. 37) und die „Götter des olympischen Hofstaats ein[en] gewisse[n] Vorzug“ in der Verehrung genossen, dass Eros jedoch von den Poeten und Rednern unbeachtet geblieben sei, ist unzutreffend. (Piras 1997, S. 46; Einfügung F.T.).
165 Ries 2003, S. 38; Hervorhebung im Original.
166 Platon, Symposion 178a-178c.
167 Vgl. Piras 1997, S. 45.
47
Größen wie Homer, Hesiod, Parmenides und Akusilaos.168 In verherrlichendem Ton
rühmt er den Gott als alt und ehrwürdig, seinem Wirken spricht er edle Taten zu.169
So würden weder Verwandtschaft, Ansehen noch Reichtum „die Scham vor dem
schändlichen und das Bestreben nach dem schönen“170 und damit ein rechtes und
schönes Leben garantieren können. Dies bewirke einzig die Liebe, ausdrücklich die
paiderastische Liebesbeziehung zwischen einem gutgesinnten Jüngling und einem
wohlmeinenden Liebhaber, in der die Liebenden einander zur Tugendhaftigkeit anspornten. Eros begeistere sowohl Erastes als auch Eromenos zur Tapferkeit, da es
beiden nämlich die größte Schmach bereiten würde, als schlecht oder feige vom liebenden Widerpart erkannt werden zu müssen.171 Phaidros komprimiert Eros also
nicht nur in die Gestalt eines Gottes, sondern singularisiert ihn zudem zu einer Form,
der Paiderastie, wie sie im klassischen Griechenland praktiziert wurde.
So wiederholt die Rede des Phaidros zwar nur Gewissheiten des common sense,
sie eröffnet jedoch in ihrer schemenhaften Skizzierung des Eros auch den Blick auf
einige Aspekte des platonischen Konzepts vom Pädagogischen Eros. Die abstrakteste
Wahrheit bedarf des konkret Ausgestalteten. Phaidros Rekurs auf die historische Gegebenheit des männlichen Eros zwischen Erastes und Eromenos als höchste Form der
Liebe betont vor allem die erzieherische Wirkung der Beziehung zu sittlichem Verhalten, also zur Tugendhaftigkeit, im Besonderen zur Tapferkeit.172 Damit spricht der
Liebling des Eryximachos zugleich die enge Verbindung zwischen Knabenliebe und
Kriegstüchtigkeit an. Es war nämlich dem archaischen Kriegeradel eine der vor-
168 Bruno Snell konstatiert, dass Platon „in keinem anderen Werk ... so viel von allgemeingriechischen Meinungen und von fremden philosophischen Anschauungen zu Worte [hat] kommen lassen wie im Symposion.“ (Snell 1953, S. 206; Einfügung F.T.). Während Phaidros Hesiod
zitiert und Gedanken aus dem Hippolytos des Euripides wiederholt, knüpft Pausanias an dorische
Erziehungsvorstellungen an, Eryximachos stützt sich auf die Elementenlehre des Empedokles
und die Philosophie des Heraklit, Aristophanes stellt seine Kunstfertigkeit als Komödiendichter
vor und Agathon beweist sein rhetorisches Geschick als Sophist. Vgl. ebd.
169 Wiederum stützt sich Phaidros auf die Erzählungen vergangener Zeiten. Beispielhaft zitiert er die
Geschichten von Alkestis und Admetos, von Orpheus und Eurydike sowie von Achill und
Patroklos. Vgl. Platon, Symposion 179b-180a.
170 Ebd., 178d.
171 Ebd., 178d-178e. Phaidros’ Idee eines einzig aus Liebhabern und Lieblingen bestehenden Staates
oder Heeres, dessen Tapferkeit mit Sicherheit den Sieg über jede gegnerische Streitmacht davon
tragen würde, erinnert an die miteinander homoerotisch verbundenen Krieger der „Heiligen
Schar von Theben“, die in der Schlacht von Chaironeia 338 v. Chr. bis auf den letzten Thebaner
gegen den siegreichen Makedonenkönig Philipp II kämpfte. Vgl. Reinsberg 1989, S. 172.
172 Phaidros: „Ich behaupte nämlich, daß einem Manne, welcher liebt, wenn er dabei betroffen würde daß er etwas schändliches ... täte oder ...erduldete ... weder von seinem Vater gesehen zu werden soviel Schmerz verursachen würde noch von seinen Freunden noch von sonst irgend jemand
als von seinem Liebling. Und dasselbe sehen wir von dem Geliebten, daß er sich vorzüglich vor
den Liebhabern schämt, wenn er bei etwas schlechtem gesehen wird.“ (Platon, Symposion 178d178e).
48
nehmlichen Aufgaben des kampferfahrenen Liebhabers, dem geliebten Knaben das
Kriegshandwerk zu vermitteln. Die paiderastische Beziehung gewährleistete jedoch
nicht nur die Geschicklichkeit des Jünglings im Kampfe, sondern förderte auch das
unermüdliche Streben nach Tapferkeit und Mut von Seiten des männlichen Erwachsenen.173
Abb. 4: Die Tyrannenmörder
Harmondios und Aristogeiton
Die Akzentsetzung auf die beiderseitige Bemächtigung und Erhaltung von Tugend
qualifiziert Eros bereits an dieser Stelle – neben seinen in der Rede des Phaidros
zwar unausgesprochenen, aber doch mitzudenkenden körperlichen Momenten – als
einen wechselseitigen Bezug und als einen „Zeugungsakt“ von „geistiger Natur“.174
Die zwei für den platonischen Eros zentralen Eigenheiten leuchten folglich schon in
der ersten Rede auf, verblassen jedoch in der summarischen Aneinanderreihung aus173 Der Bildhauer Antenor erbaute zu Ehren des wohl berühmtesten homoerotischen Paares, den
beiden Tyrannenmördern Harmondios und Aristogeiton, ein körpergroßes Denkmal, das sowohl
die kraftvolle Tapferkeit des Jünglings als auch die Tapferkeit des kriegskundigen Mannes zum
Ausdruck bringt. Außerdem steht die Figurengruppe für die Kraft der Tugend, die in einer vom
männlichen Eros getragenen Beziehung wirkt. Allerdings wurde der Mord an dem Tyrannen Peisistratossohn Hipparchos in der attischen Demokratie politisch umgedeutet und mythologisiert,
denn der eigentliche Grund für den Gewaltakt war eine Liebesaffäre (vgl. Barceló 2004, S. 84).
„Die kühne Tat des Aristogeiton und Harmondios wurde um einer Liebesgeschichte willen unternommen. Aristogeiton war der Liebhaber des Jüngeren, dem auch Hipparchos vergeblich
nachstellte. In seinem Zorn suchte er Harmodios durch die Schande zu treffen, die er dessen
Schwester antat. Sie sollte Korbträgerin in einem Festzug sein, wurde aber zurückgewiesen. Da
entschlossen sich die beiden Freunde zum rächenden Mord.“ (Lesky 1976, S. 81).
174 Stenzel 1961, S. 201; Hervorhebung F.T.
49
schließlich realer Gegebenheiten, die Phaidros in seinem Bemühen sozial erwünschtes Verhalten zu zeigen, repetiert. Seine Aussagen bleiben letztlich dem Bereich der
Doxa, des bloßen Meinens verhaftet, das Akzidentielle wird nicht weiter in Frage
gestellt.175 So erkennt Phaidros auch nicht die Kompliziertheit der moralisch durchaus problematischen Praxis der Knabenliebe, die er unbekümmert als wechselseitig
und asymmetrisch zugleich charakterisiert. „In der Tat ... vergelten sie [die Götter] es
[mehr], wenn ... der Geliebte dem Liebhaber anhängt, als wenn der Liebhaber dem
Liebling. Denn göttlicher ist der Liebhaber als der Liebling, weil in ihm der Gott
ist.“176 Diese überaus heikle Definition, der zufolge der Jünglings zum Lustobjekt
des Mannes wird, wird in der Rede des Pausanias mild korrigiert, da sie, um die Foucaultsche Vokabel zu gebrauchen, die „’Antinomie des Knaben’ in der griechischen
Moral der aphrodísia“177 verkennt.
2.6 Pausanias – Lob des Eros uranios, Laudatio der rechtmäßigen
Knabenliebe
Der Redewettstreit ist eröffnet. Pausanias Rede belebt den Geist des alten Adels und
folgt zugleich einer typisch sophistischen Argumentationsweise. „Nicht recht gut, o
Phaidros, scheint der Gegenstand unserer Reden bestimmt zu sein ... Denn wenn es
nur einen Eros gäbe, dann wäre das ganz schön. Nun aber gibt es eben nicht nur Einen“178, behauptet Pausanias, sondern es müsste zwischen zwei wesenhaft unterschiedlichen Eroten differenziert werden. Entsprechend der sophistischen Rhetorik179
stützt auch Pausanias seine Rede auf den traditionellen Mythenstoff und macht damit
keinen Unterschied zu dem jungen Phaidros, dessen Darstellung er zu berichtigen
beabsichtigt. Vielmehr bezwecken beide Redner durch Rückgriff auf althergebrach175 Platon übte zeitlebens scharfe Kritik an der griechischen Theologie. Gerhard Krüger interpretiert
den Dialog Symposion als einen weiteren Versuch des Philosophen, die traditionellen Götter zu
entmachten: Platons „Lob des Eros feiert die Befreiung von den alten Göttern.“ (Krüger 1924, S.
29). Piras baut auf dieser These auf und erkennt Phaidros als „Vorredner einer neuen Programmatik im Umgang mit den alten, der offiziellen griechischen Theologie verhafteten mythologischen Topoi.“ (Piras 1997, S. 46; Hervorhebung F.T.).
176 Platon, Symposion 180a-180b.
177 Foucault 1995, S. 280.
178 Platon, Symposion 180c.
179 Pausanias bringt sowohl sophistische Redegewandtheit als auch sophistische Argumentationsfiguren in seine Rede ein. Um eine unmittelbare Wirkung beim Zuhörer zu erzeugen, stützt er sich
auf den bekannten griechischen Sagenstoff, zugleich analysiert er jedoch Eros als ein soziologisches und zugleich psychologisches Problem. Die ambivalente Beziehung der Sophisten zur Tradition wird in der Rede des Pausanias besonders deutlich. „Vor allem aber erweist sich seine Zugehörigkeit zur Sophistik an jener Selbständigkeit des Denkens, welche die Anerkennung mythischer Macht – hier ist es die des Eros – durch die Autonomie des menschlichen Urteils relativiert.“ (Ries 2003, S. 41).
50
ten Sagenstoff Authentizität in ihrer Beweisführung, dabei erweist sich der Bezug
auf die griechische Theologie letztlich doch nur als ein arbiträres Unterfangen, denn
die Wahl der Geschichten bleibt, wie die Erzählungen selbst, zufällig, die bunten
Bilder des Mythos führen – und das ist typisch für Platon – nicht zur Wahrheit.
Dennoch lassen sie das Akzidentielle der sozialen Praxis verschwinden und als
gottgewollt, von höchster Macht eingerichtet, erscheinen. Eros sei eine gedoppelte
Gottheit und gleiche damit der zweifachen Liebe, die in Athen walte, erklärt Pausanias. „Wir wissen nämlich Alle, daß es ohne Eros keine Aphrodite gibt; wenn also
diese nur Eine wäre, so würde auch Ein Eros sein, da nun aber deren zweie sind, muß
es auch einen zweifachen Eros geben.“180 Die beiden Aphroditegestalten sind grundlegend verschieden und müssten auch dem Namen nach als andersartig markiert
werden. Während die ältere, mutterlose Tochter des Uranos, entstanden aus den Genitalien des Urgottes, die himmlische Aphrodite genannt wird, sei die jüngere, Tochter des Zeus und der Dione, die gemeine Göttin, die Aphrodite Pandemos. Ihr Gehilfe
Eros bewirke, dass das triebhafte Verlangen des gemeinen Mannes nach der sexuellen Vereinigung aufbegehrt, wahllos nach Knaben wie auch nach Frauen. „Und
schlecht ist eben jener gemeine Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele; wie
auch er nicht einmal beständig ist, da er ja keinen beständigen Gegenstand liebt.“ 181
Das ist das Werk des gemeinen Eros, des Eros Pandemos. Der himmlische Eros oder
Eros uranios hingegen, Begleiter der Aphrodite Urania, sei von weitaus besserer
Qualität, denn er verschenke seine Kraft in der edlen Liebe zum Knaben, aus der
wahre Freundschaft zu entstehen vermag. Zwar entzünde auch er sich an der körperlichen Schönheit des Jünglings, lebe jedoch in der innigen Seelengröße der beiden
Liebenden. Freiwillige, körperliche „Dienstbarkeit“ des Eromenos sei nur in einem
einzigen Falle nicht schimpflich, dann nämlich, wenn sie der Tugend wegen dem
Erastes gewährt würde. „Denn das ist bei uns Sitte, wenn jemand will einen Andern
ergeben sein, weil er glaubt besser durch ihn zu werden es sei in irgend einer Einsicht oder in einem andern Teile der Tugend.“182
Pausanias versucht in seiner Argumentation also „qua göttlicher Beweismittel“183
die Ursprünge der Paiderastie freizumachen und deren soziale Praxis zu legitimieren.
Mit der doppelten Personifizierung des Eros als gemeiner und himmlischer Gott
180
181
182
183
Platon, Symposion 180d.
Ebd., 183e.
Ebd., 184c.
Piras 1997, S. 53.
51
nehmen die im gesellschaftlichen Kontext gewissenhaft unterschiedenen Formen der
Knabenliebe, die unrechtmäßige (êdikow ¶r≈w) und die rechtmäßige (d¤kaiow ¶rvw),
mythische Gestalt an. Angepasst an die sozialen Erwartungen verwirft Pausanias
erstere, wohingegen er letztere rühmt.
Zugleich verweist die Differenzierung des Eros in zwei Gottheiten auf die moralische Komplexität, die der paiderastischen Beziehung, wie bereits gezeigt werden
konnte, inhärent war. Die Alltagsgewissheiten des jungen Phaidros, seine singulären
Erfahrungen, die in seine Rede absolut gesetzt wurden, erscheinen nunmehr problematisch, denn Pausanias’ Enkomion thematisiert auch die unterschiedlichen Meinungen, Sitten und Gesetze, die außerhalb Athens die Praxis der Knabenliebe reglementieren sowie die Schwierigkeit der Athener, genau zu ermessen, ob die paiderastische
Liebe eher zu missbilligen oder doch anzuerkennen sei.184 Dabei erweist sich Pausanias Rede zwar durchaus als eine soziologische Analyse, doch deren Bezug auf göttliche Mächte dient vielmehr der Rechtfertigung sozialer Tatsachen, als dass sie ein
hinlängliches Erklärungsmuster bietet.185
2.7 Aristophanes – Eros ist Sehnsucht nach Ganzheit
Nachdem Pausanias und Eryximachos (dessen Rede hier unberücksichtigt blieb) Eros
angemessen zu preisen versuchten, sind nun die Künstler – Aristophanes der Komiker und Agathon der Tragiker – an der Reihe. Der Komödiendichter beginnt in scharfer Abgrenzung zu seinen beiden Vorrednern, denn er sagt, er habe „im Sinne ganz
anders zu reden“ als sie: „Mir scheinen die Menschen durchaus die wahre Kraft des
Eros nicht inne geworden zu sein.“186 Pausanias und Eryximachos hatten zwar Eros
als einen großen Gott gelobt, doch zugleich waren Sophist und Mediziner auch in
aufklärerischer Manier um Erklärung und Entzauberung dieser den Menschen treibenden Macht bemüht. Aristophanes’ Rede hingegen ist mythisch und „’erklärt’“ in
letzter Konsequenz „nur das Bestehen eines Rätsels.“187
Aristophanes erzählt: Die Natur des Menschen selbst ist krank. Der Mythos des
Dichters führt in eine Zeit, in der das Menschengeschlecht noch unbeschädigt und
seiner Ursprünglichkeit nicht beraubt war, denn es existierten nicht nur zwei, sondern
184
185
186
187
Siehe Kapitel 1.8.5: „Werbung als Bewährung“.
Vgl. Platon, Symposion 182a-183d.
Platon, Symposion 189c.
Krüger 1924, S. 121.
52
„erstlich ... drei Geschlechter von Menschen“, das männliche, das weibliche und das
mannweibliche und „[f]erner war die ganze Gestalt eines jeden Menschen rund, so
daß Rücken und Brust im Kreise herumgingen.“188 Diese Kugelwesen hatten vier
Hände, zwei Gesichter, vier Ohren, zweifache Schamteile und bewegten sich Rad
schlagend geschwind auf ihren acht Gliedmaßen fort. „An Kraft und Stärke nun waren sie gewaltig und hatten auch große Gedanken“, die so groß waren, „daß sie sich
einen Zugang zum Himmel bahnen wollten um die Götter anzugreifen.“189 Doch der
olympische Göttervater Zeus kam ihrem Streben rasch zuvor und ersann sich für
dieses frevelhafte Verhalten der Menschen eine besonders schwere Strafe, er zerschnitt sie in zwei Teile.190 Augenblicklich umfasste jede Menschenhälfte die zu ihr
gehörende andere in unstillbarer Sehnsucht nach ihrer einstigen Ganzheit so innig
und fest, dass sie unglücklicherweise alsbald „über dem Begehren zusammen zu
wachsen“, starben, da „sie nichts getrennt von einander tun wollten.“191 Als Zeus
dies sah, erbarmte er sich schließlich und verlegte die Schamteile der entzwei geteilten Menschen nach vorne, damit ihre Umarmung jeden der beiden Erfüllung bringen
würde und sie somit zumindest für eine gewisse Zeit voneinander lassen könnten, um
ihr übriges Leben zu besorgen.192 Erst seitdem ist Eros – der Wunsch des Menschen,
seine ursprüngliche Natur wieder zu erlangen. Die erotisch liebende Seele sehnt sich
also vornehmlich nach Ganzheit, der sexuelle Liebesgenuss selbst ist sekundär, vielmehr Surrogat als das Eigentliche – wenngleich die Menschen irrtümlicherweise
auch meinten, ihre Geschlechtlichkeit triebe sie zu einander.193 „Hievorn ist nun dies
188 Platon, Symposion 189d-189e.
189 Ebd., 190b-190c.
190 „Denn jetzt, sprach er [Zeus], will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie
schwächer sein, und doch zugleich nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind, und aufrecht sollen
sie gehen auf zwei Beinen. Sollte ich aber merken, daß sie noch weiter freveln und nicht Ruhe
halten wollen, so will ich sie, sprach er, noch einmal zerschneiden, und sie mögen dann auf einem Beine fortkommen wie Kreisel.“ (Ebd., 190d; Einfügung F.T.).
191 Ebd., 191a-191b.
192 Im Aristophanischen Mythos wird die Art des Liebesverlangens der Menschen auf deren jeweils
ursprüngliche Geschlechtlichkeit zurückgeführt. Während also heterosexuell liebende Menschen
einstige mannweiblichen Kugelwesen waren, existierten die aktuell in lesbischen Paaren lebenden Frauen als weibliche, Männer liebende Knaben und Knaben liebende Männer wiederum
wären vormals männlichen Geschlechts gewesen. Die bisexuelle Liebe wird somit nicht thematisch. Es bleibt also fraglich, auf welches Geschlecht beispielsweise verheiratete Männer, die einerseits ein paiderastisches Verhältnis pflegen, andererseits der Prostitution bei Hetären nachgehen, wesenhaft zu verweisen wären. Außerdem erscheint die Hierarchisierung der Liebenden hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung – lesbisch, heterosexuell und schließlich paiderastisch als
am wertvollsten – in der mythischen Konstruktion durchaus unschlüssig, vielmehr gesetzt. Vgl.
ebd., 191c-193d.
193 Vgl. ebd. 192c-192d. Wiesbrecht Ries macht in seiner Interpretation des Symposion auf den
Zusammenhang zwischen Ganzem und Eros bei Platon aufmerksam (vgl. Ries 2003, S. 55). Im
VI. Buch der Politeia wird nämlich der Mensch, der von philosophischer und zugleich erotischer
53
die Ursache, daß unsere ursprüngliche Beschaffenheit diese war und wir ganz waren,
und dies Verlangen eben und Trachten nach dem Ganzen heißt Liebe.“194
So ist Eros in der mythischen Erzählung des Komödiendichters weder einer der
ältesten Götter, noch ein zweifacher Gott oder eine uralte kosmogonische Gewalt,
wie es Eryximachos behauptet hatte, sondern bloß die „lächerliche Folge eines lächerlichen Unternehmens“, den Halbmenschen „in der wunderlichen Strafe für die
einstmalige Hybris“ mitgegeben.195 Beschäftigt mit der Suche nach dem zu ihnen
passenden Bruchstück stehen die Menschen nicht mehr in der Gefahr, sich gegen die
Götter zu erheben und somit eine erneute Zweiteilung erleiden zu müssen, im Gegenteil dürfen sie auf Eros hoffen, der sie zu ihrer ursprünglichen Natur führe, um sich
mit dieser wieder einen zu können.196 „Als Streben nach der Ganzheit bindet Eros die
Kraft und hemmt so die Dreistheit der Menschen gegen die Götter. ... Nunmehr verfügt wieder Eros über die Menschen, aber nicht wie bei Phaidros, in selbständigem
Walten, sondern als ‚List’ der Götter.“197 Eros wird den gestraften Menschen zum
strategischen Führer nach der verlorenen Hälfte, ist ihnen Arzt und Tröster zugleich,
doch heilen – und darin liegt das Tragische im komischen Mythos des Aristophanes
– vermag er sie nicht, der Mensch bleibt irreversibel lädiert, seine Natur defizitär.198
„Es gab einmal eine Harmonie zwischen Mensch und Kosmos, aber die Auflösung
dieser Ordnung ließ den Menschen so dauerhaft beschädigt zurück, daß selbst das,
wovon er sich Heilung verspricht, ihn nicht wiederherstellen könnte. ... Aristophanes
[erzählt] eine lustige Geschichte mit einer traurigen Botschaft.“199
Zudem erweist sich Eros mitunter als irrtumsanfällig, nur selten finden die zusammen gehörigen Halbmenschen zueinander, so dass es mit Blick auf die gegebenen Verhältnisse wohl das Beste sei, so Aristophanes, einen Knaben zu lieben, „ei-
194
195
196
197
198
199
Natur ist, charakterisiert. „Aber auch dieses musst du ja erwägen, wenn du unterscheiden willst
eine philosophische Natur und eine die es nicht ist. – Was doch? – Daß nicht etwa eine, ohne daß
du es merkst, auch an unedlem Anteil habe. Denn Kleinigkeit ist wohl ganz vorzüglich einer Seele zuwider, welche überall das ganze und vollständige anstreben will, göttliches und menschliches.“ (Platon, Politeia 485e-486a).
Ebd. 193a. „Eben weil der Mensch sein ursprüngliches ‚Selbst- und Ganzsein’ nicht in sich selbst
hat, ist er immer vom Eros bewegt.“ (Ries 2003, S. 52).
Schrastetter 1966, S. 100.
„Von so langem her also ist die Liebe zu einander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.“ (Platon, Symposion 191d; Hervorhebung F.T.).
Schrastetter 1966, S. 100.
Eros ist „der menschenfreundlichste unter den Göttern, da er den Menschen Beistand und Arzt ist
in demjenigen aus dessen Heilung die größte Glückseligkeit für das menschliche Geschlecht erwachsen würde.“ (Platon, Symposion 189d; Hervorhebung F.T.).
Benardete 1993, S. 56, S. 58; Einfügung F.T.
54
nen Liebling zu finden, der jedem nach seinem Sinne geartet ist.“200 Allerdings erscheint es ihm dabei – im Gegensatz zu Pausanias – recht müßig, den moralischen
Wert von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Knabenliebe zu bestimmen und so bejaht er „in den Fragmenten der Urmänner nicht das ‚Recht’ der Paiderastie, sondern
die Stärke und die rätselhafte Komik der Leidenschaft.“201
Mit Sokrates werden nun gänzlich neue Aspekte in das Gespräch gebracht. In
Abwandlung eines berühmten Denkerspruchs lässt es sich vielleicht am besten so
formulieren: Während Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes und Agathon
die gängigen Moralvorstellungen über Eros und die paiderastische Bezugnahme nur
verschieden interpretiert haben, kommt es Sokrates darauf an, sie zu verändern.
2.8 Sokrates
Der Abend ist schon fortgeschritten. Nicht vom Wein, von Worten sind die Symposiasten berauscht und brechen nach der Rede des Sophisten Agathon begeistert in
einen lauten Beifallssturm aus. Die Gäste haben gesprochen, den stets different charakterisierten Eros als Gott gelobt und seine Werke gewürdigt, doch am schönsten
und geschmeidigsten mutet das Enkomion des gefeierten Tragödiendichters an –
„jedenfalls für den Eindruck und die Meinung.“202 So scheint Agathon bereits den
Gewinn des nächtlichen Redewettstreits davon zu tragen, denn sein Lob des Eros
stellt den Höhepunkt in der Reihe der gehaltenen Reden dar, die damit einer „Klimax“203 gleicht, einer „kunstvoll dramatische[n] Steigerung“.204 Doch nun tritt mit
dem letzten Redner „an die Stelle des Glanzes der Kunst ... der nüchterne Ernst der
Philosophie“205: Sokrates.
Die literarische Figur Sokrates gilt in den platonischen Dialogen als die Personifikation der Philosophie selbst. Unermüdlich unterredet sie sich mit wechselnden Protagonisten in Form von Frage und Antwort. Sokrates diskutiert über die Bestimmung
allgemeiner Begriffe, um mittels logischer Beweisführung zur Wahrheit gelangen zu
können. Durch die einzeln auftretenden Dialogpartner des Sokrates werden nicht nur
die verschiedenen Perspektiven auf ein gestelltes Problem veranschaulicht, sondern
200
201
202
203
204
205
Platon, Symposion 193c.
Krüger 1924, S. 127.
Krüger 1924, S. 130f.
Ebd.
Erler 1999, S. 1192.
Ries 2003, S. 60.
55
zugleich gewinnen die platonischen Schriften an Lebendigkeit und Dynamik. Allerdings versuchte Platon mit der Schöpfung seiner literarischen Dialoge nicht nur unterschiedliche Betrachtungsweisen auf philosophische Fragen kenntlich zu machen,
sondern wollte vor allem auch das geistige Vermächtnis seines Lehrers, den einzigartigen Menschen Sokrates und dessen Wirkung auf seine Zeitgenossen darstellen.206
Die in den platonischen Schriften argumentierenden Persönlichkeiten, wie auch die
Person Sokrates selbst verweisen also auf realhistorische Existenzen, wobei zugleich
der Konstruktcharakter der interagierenden Figuren im literarischen Werk selbst erhalten bleibt. So kommen beispielsweise attische Bürger, Knaben wie Männer, Vertreter der Athener Oberschicht, Sophisten, Dichter, Fremde, gelegentlich sogar Mitglieder der platonischen Familie zu Wort und prüfen, erörtern, bestätigen oder streiten mit Sokrates, diesem absonderlichen Menschen, dem kritischen Frager, scharfsinnigen Denker und mitunter lästigen Mahner.
Doch wer war Sokrates? Schwierigkeiten zu einem historischen Sokratesbild zu
gelangen, liegen gewiss nicht in einem Mangel an Informationen begründet, da es
eine Vielzahl von Schriften über Sokrates gibt, die einige seiner Schüler – namentlich Platon, Xenophon, Antisthenes und Aischines von Sphettos – mit der Absicht
verfasst haben, die Persönlichkeit ihres charismatischen Meisters nachzuzeichnen.
Das Problem besteht vielmehr darin, dass die Berichte über Sokrates in den vorhandenen Schriften seiner Eleven kaum mehr von deren Denkweise und Sinnesart zu
trennen sind, während Sokrates selbst nichts schriftlich fixiert hat. Die Schüler freilich variieren in ihren Meinungen über ihren Mentor teilweise erheblich.207 Wenngleich sich in den zeitgenössischen Quellen also nur wenige stichhaltige Hinweise
zum historischen Sokrates ausfindig machen lassen, rekurriert die Forschung, um die
Person des Philosophen überhaupt fassbar machen zu können, hauptsächlich auf die
Dialoge Platons und die Werke Xenophons, wobei Platon als der vertrauenswürdigere Zeuge von beiden gilt. Während Xenophon Sokrates als den „tugendhafte[n] Polite[n]“ zeichnet, „der durch sein Leben alle Anwürfe widerlegt, die zu seinem Tode
führten“, zeigte Platon Sokrates als „Denker, ... der um die Klärung tragender Wertbegriffe ringt und (in seinen späteren Dialogen) die Ideenlehre entwickelt.“208 Im
zähen Ringen um die Frage nach der realhistorischen Person Sokrates verzichtet Olof
206 Vgl. Jaeger 1959, Bd. II, S. 64f.
207 Vgl. ebd., S. 64-66.
208 Lesky 1993, S. 556.
56
Gigon sogar fast gänzlich auf den Anspruch, Aussagen treffen zu können.209 Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass sich – trotz der vielen Ungeklärtheiten und der berechtigten Zweifel an den Erinnerungen der genannten Zeugen – einiges mit Gewissheit, anderes nur mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen lässt.
Sicher ist vor allem, dass Sokrates als befremdlich wahrgenommen wurde. 470 v.
Chr. als Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phainarete geboren,
ging er nicht dem Beruf seines Vaters nach, sondern bezog sich – entgegen der Tradition – stets auf die Arbeit seiner Mutter und verstand seine Tätigkeit des unablässigen Fragens als Maieutik, also als Hebammenkunst.210 Dazu ging er meist unaufgefordert auf den Markt oder ins Gymnasion und suchte mit seinen Mitmenschen, am
liebsten mit Knaben und jungen Männern, das Gespräch, um sie nach ihren Meinungen und Ansichten auszufragen, mit ihnen über Grundfragen des Lebens zu diskutieren und sie letztendlich ihres Unwissens zu überführen. Die Methode des Sokrates,
zunächst nach den Überzeugungen des Dialogpartners zu fragen, dann seine Aussagen logisch zu prüfen und schließlich dessen geltend gemachtes Wissen durch Widerlegung als fehlerhaft auszuweisen, ist als sokratische Elenktik bekannt. Die daraufhin in eine Aporie, also in eine Rat- und Ausweglosigkeit, geratenen Gesprächspartner sind nunmehr unsicher über das, was vor der Untersuchung noch selbstverständlich zu sein schien. Wenngleich einige der von Sokrates Befragten, ihrer alltäglichen Gewissheiten beraubt, verärgert auf sein bisweilen „inquisitorische[s] Ausfragen“211 reagieren, so gelangten doch andere zur Bewusstsein ihres Nichtwissens und
entwickelten folglich den Eifer, nach wahrem Wissen zu streben. Sokrates Ansinnen,
geltende Normen und herrschende Auffassungen seiner Zeit in Zweifel zu ziehen, ist
nämlich davon bestimmt, das dem Menschen Gute zu suchen, denn das Gute käme
der Seele des Menschen wesenhaft zu. Das Gute ist allerdings nicht von außen gegeben, sondern kann nur im Bemühen des Einzelnen um philosophische Einsicht gewonnen werden. Dieses Bemühen ist Sorge um die Seele, §pim°leia cux∞˚. „In denkbar größtem Gegensatze zum adeligen Weltbild [wird also] der Wert des Menschen
von Macht und Gütern und äußerer Anerkennung völlig gelöst und in die Seele verlegt, die sein kostbarster Besitz und zugleich seine größte Verpflichtung ist.“212
209 Zum gesamten Abschnitt vgl. Lesky 1993, S. 556-559.
210 Vgl. zum folgenden Abschnitt Fischer 1998, S. 14-21; Lamer/Kroh 1995, S. 693-694; Lesky
1993, S. 559-564.
211 Fischer 1998, S. 18.
212 Lesky 1993, S. 563; Einfügung F.T.
57
Sokrates Skeptizismus gegenüber dem menschlichen Wissen gründete letztendlich
auf seinem Glauben, dass einzig Gott im Besitz wahren Wissens (sof`¤a) sei, während
der Mensch selbst sich diesem nur in Liebe zum wahren Wissen und zur göttlichen
Weisheit (filosof`¤a) annähern könne. Somit verstand sich Sokrates, von dem konsequenterweise keine geschlossene Lehre ausging, auf der Suche nach Wahrheit nur als
Helfer, der im dialektischen Gespräch mit seinem Dialogpartner und durch geschicktes Erfragen den anderen seiner Gedanken entbinde und auf dem Weg zur Einsicht
und zur Selbsterkenntnis beistehe.213
Obwohl sich Sokrates zeitlebens als ein loyaler Polisbürger erwies, der gewissenhaft seinen politischen Pflichten nachkam und sich den staatlichen Gesetzen unterordnete, irritierte er doch viele seiner Zeitgenossen durch seine Person und sein Wirken so sehr, dass er ihnen „als Träger jener Kräfte erscheinen [musste], die alte Traditionen zersetzt[en] und Unruhe und Ungewißheit heraufgeführt hatten.“214 Im Jahre
399 v. Chr. wird Sokrates wegen Asebie und Verführung der Jugend angeklagt und
schließlich zum Tode verurteilt.
2.8.1 Von der schönen Rede zum Gespräch über das Wahre
Aus den obigen Darstellungen ist deutlich geworden, dass zur Rekonstruktion des
historischen Sokratesbildes der Rückgriff auf die platonischen Dialoge nur ein platonisches Sokratesbild liefern kann, insofern Erinnerung an und Idealisierung des
Meisters in Platons Schriften unauflöslich miteinander verwoben sind. Auch ist es
nunmehr unzulässig weiterhin von der sokratisch-platonischen Erostheorie zu sprechen, weil es eben nicht möglich ist, genau zwischen der Philosophie Sokrates’ und
ihrer Interpretation und Weiterführung in Platons Schrift zu differenzieren, so dass
im Weiteren also von der im eigentlichen Sinne sokratisch-platonischen Erostheorie
die Rede sein wird.
Die literarische Figur Sokrates entspricht im Symposion ihrer bekannten Rolle, der
des Philosophen, der auf der Suche nach der Wahrheit von seinen Mitmenschen als
213 „Von meiner Hebammenkunst nun gilt übrigens alles, was von der ihrigen; sie unterscheidet sich
aber dadurch, daß sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen, und daß sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt, und nicht für Leiber. Das größte aber an unserer Kunst ist dieses,
daß sie im Stande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings Mißgestaltetes und Falsches zu gebären im Begriff ist; oder Gebildetes und Echtes. Ja auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen, ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits Viele vorgeworfen, daß ich Andere
zwar frage, selbst aber nichts über irgend etwas antworte, weil ich nämlich nichts kluges wüsste
zu antworten, darin haben sie Recht. Die Ursach davon aber ist diese, Geburtshülfe leisten nötiget mich der Gott, erzeugen aber hat er mir gewehrt.“ (Platon, Theaitetos 150b-150c).
214 Lesky 1993, S. 561; Einfügung F.T.
58
befremdlich, faszinierend und eigentümlich zugleich wahrgenommen wird. Mit Vergnügen hatten sich die übrigen Gäste des Agathon an dem Redeagon des Abends
beteiligt, während sich Sokrates gleich in dem Moment, in dem er zu Wort kommt,
als Prunkredner disqualifiziert und gesteht: „ich halte nun keine Lobrede nach dieser
Weise; ich könnte es auch nicht. Indessen die Wahrheit, wenn ihr wollt, die will ich
euch wohl sagen nach meiner Art, nicht wie eure Reden waren.“215 Die Symposiasten verzichteten auf Wein und berauschten sich am Worte. Sokrates Anspruch, nun
auch noch die nüchterne Wahrheit zur Grundbedingung seines Lobes zu machen,
verspricht zwar, Eros zu erkennen, stellt aber auch einen grundlegenden Bruch mit
den Bedürfnissen seiner Vorredner dar, von denen einige Sokrates – in gewisser
Weise nicht unberechtigt – als „Spielverderber“ wahrnehmen. Denn die anderen beabsichtigten, sich an diesem Abend zu zerstreuen und an ihrer Selbstdarstellung Gefallen zu finden; sie hatten sich am konkurrierenden Moment ihres Zeitvertreibs erfreut und bemühten sich, eine schöne Rede über Eros zu halten (eÔ l°gein). Sokrates
hingegen geht es um die Sache. Er möchte Wahres sprechen (élhy∞ l°gein) und durch
den philosophischen Dialog, die Dialektik, also gemeinsam mit den anderen, zur
Wahrheit finden.216 So bittet er Phaidros, den Symposiarchen des Abends, Agathon
zunächst noch einige Fragen stellen zu dürfen. Sein Wunsch wird ihm, wenn auch
zähneknirschend, gewährt.217 „Schon äußerlich macht es Sokrates ganz anders als die
anderen. Er tritt nicht unvermittelt als Redner den Hörern gegenüber, sondern er
stellt zuvor die Verbindung mit ihnen her, indem er sich mit Agathon – durch ihn
aber mit allen – über die bestehende Situation einigt.“218 Allein durch das formale
Vorgehen des Sokrates steht sein Beitrag also außer Konkurrenz.
Im Gespräch mit Agathon beabsichtigt Sokrates sowie schon sein Vorredner, zunächst das Wesen und erst danach die Werke des Eros darzustellen. Damit geht es
215 Platon, Symposion 199a-199b.
216 Vgl. Rehn 1996, S. 83.
217 Vgl. Platon, Symposion 198d-199c. – In der Sekundärliteratur wird Sokrates’ Anspruch, die
Wahrheit über Eros sagen zu wollen, ausnahmslos positiv bewertet, wobei dessen Absicht auch
als deplaziert bewertet werden könnte. Der kleinen Gesellschaft ging es um ein abendliches Vergnügen, die Gäste wollten feiern und nicht philosophieren. Aus dieser Perspektive wirkt Sokrates’ Ansinnen durchaus unsozial und seine Integration als stadtbekannter Kritler sowie das Gewähren seiner Bitte von Seiten der übrigen Symposiasten als generös. Generell zeigt sich in den
Texten über das Symposion, dass Sokrates Person, sein Auftreten, Verhalten und seine Rede einseitig bewertet werden. Dadurch geht die Ambivalenz der Figur Sokrates zum Nachteil seiner
Sozietät verloren, die fast durchgängig als weniger verständig charakterisiert wird. Wenngleich
in Platons Schrift eine Idealisierung des Sokrates tendenziell angelegt ist, bleiben jedoch der
Blick der anderen auf Sokrates und ihre durchaus begründeten Ressentiments ihm gegenüber
nicht verstellt.
218 Krüger 1948, S. 140; Hervorhebung im Original.
59
auch gleich zu Beginn der Unterredung um die Frage, was es denn eigentlich mit
Eros auf sich hat. In dem kurzen elenktisch von Sokrates geführten Gespräch zeigen
sich eklatante Widersprüche in den zuvor gehaltenen Enkomien und Eros erweist
sich schließlich als ein Verlangen, das sich auf etwas bezieht, dessen es ermangelt.
„Nicht wahr, Liebe ist zuerst Liebe zu etwas und dann Liebe zu dem wonach jemand
ein Bedürfnis hat? – Ja, habe [Agathon] gesagt.“219 Somit ist zunächst einmal zugestanden, dass Eros als Verlangen notwendigerweise stets Bedürftigkeit und Mangel
bedeutet und außerdem immer eine Relation impliziert, da er auf ein Objekt ausgerichtet ist. Im weiteren Verlauf des Dialogs erinnert Sokrates daran, dass Agathon
bereits das zweite wesentliche Merkmal des Eros nannte, als er in seiner Rede davon
sprach, dass Liebe stets Liebe zur Schönheit sei. Nach Einbeziehung und Anerkennung der erzielten Ergebnisse wäre Eros somit sowohl des Schönen als auch des Guten bedürftig, denn das Gute sei zugleich schön. Indem er nach dem Guten und
Schönen begehrt, erscheint Eros selbst nicht länger als gut und schön, so dass sich
bereits im Gespräch mit Agathon der Verdacht aufdrängt, dass die Enkomien aller
Redner, die Eros als Gott ehrten und in der Knabenliebe wirken sahen, hinfällig werden könnten.220 Sokrates stellt die Frage nach dem Wesen des Eros und erzwingt eine
„Umwendung der Blickrichtung von den eigenen schattenhaften erotischen Wahrnehmungen und Empfindungen“ zum „Ursprung“ erotischer Gefühle, „dem wirkenden Eros selbst.“221
Mit Sokrates wechselt die Methode, mit der das Thema des Abends behandelt
wurde; das spielerische Sprechen, die unverbindliche Rhetorik wird abgelöst durch
prüfendes Fragen, durch die sokratische, nach Gründen fragende Philosophie. Der
schroffe Gegensatz von Vortrag und Gespräch, von Rhetorik und Philosophie steuert
auf die Pointe zu, dass der zuvor noch gefeierte Sophist Agathon nach dem Gespräch
mit Sokrates ernüchtert beteuern muss: „Ich mag am Ende wohl nichts von dem verstehen o Sokrates, was ich damals sagte.“222
219
220
221
222
Platon, Symposion 200e-201a; Einfügung F.T.
Vgl. Platon, Symposion 201a-201c.
Gutmann 2003, S. 177.
Platon, Symposion 201b.
60
2.8.2 Diotima – Zugang zu göttlichem Wissen
„Und so will ich dich denn jetzo lassen und eine Rede über den Eros welche ich einst
von einer Mantineerin Namens Diotima gehört habe ... wiederholen.“223 Genau betrachtet, wird Sokrates jedoch keine Rede referieren, sondern sich vielmehr eines
Gesprächs erinnern, das einst die zur geistigen Schau berufene Priesterin Diotima
mit ihm als jungem Mann über Eros geführt hatte. Die komplizierte Abstufung des
Berichts über das abendliche Symposion bei Agathon – Platon beruft sich als Autor
auf die Erzählung des Apollodoros, der seine Erzählung wiederum auf die Erzählung
des Aristodemos stützt – wird durch die Ausführungen von Sokrates, der im Folgenden von der Begegnung mit Diotima erzählt, nochmals um eine Perspektive erweitert. Nunmehr entrückt das Geschehen in eine ideale Ferne. Es ist der letzte Schritt,
der, nachdem mehrere Erkenntnisstufen genommen wurden, schließlich ins Innerste
des Werkes führt. Insofern die dichterische Architektur und der philosophische Inhalt
des Dialogs, wie zuvor dargelegt, wechselseitig aufeinander verweisen, wird augenfällig, dass in der Mitte der dramatisch gestalteten Schrift das êduton, das Allerheiligste offenbart wird.224 Es sind Sokrates’ Ausführungen, die genau in der Mitte des
platonischen Dialogs liegen. Die Unterredung mit Agathon, in der die Schwächen
des Erosbegriffs der vorangegangenen Reden deutlich werden, lässt bereits die
Grundzüge der sokratisch-platonischen Erostheorie erkennen225, die daraufhin im
Gespräch zwischen Sokrates und der weisen Seherin nachgezeichnet und letztlich in
Diotimas großer Rede ausgestaltet werden. Mit „dieser Struktur“ bereitet Platon „auf
subtile Weise den Inhalt von Diotimas Lehre vor: wie Sokrates zugleich als Vermittler zwischen Diotima und seinen Zuhörern fungiert und dabei selbst in der Mitte zwischen sof`¤a und Unreflektiertheit steht, so wird im Folgenden eine zugleich ontischfunktionale und qualitative metajÊ-Stellung zur entscheidenden Auszeichnung des
Eros.“226
223 Ebd., 201d.
224 Vgl. Schmidt-Berger 1997, S. 139; Sier 1997, S. 6. – Die ersten fünf Enkomien entwickelten
zunächst Gedanken zu der Frage nach Eros und rekurrierten auf das sozial Gegebene, sie bewegten sich im Bereich der dÒja und gaben letztlich nur bloße Meinungen wieder, wobei Sokrates –
auf der Suche nach der Wahrheit – Wesentliches aus den Beiträgen seiner Vorredner aufgreift
und seine Zuhörer in den Bereich §pistÆmh und schließlich zur élÆyeia zu führen sucht: Wahrheit ist bei Platon nur mittelbar und über einzelne Stufen zu erlangen. Siehe Kapitel: „Auf dem
Weg zur Wahrheit – zum Rahmendialog des Symposion“.
225 Vgl. Rehn 1996, S. 85.
226 Sier 1997, S. 3; Hervorhebung im Original.
61
Doch wer ist Diotima, dass ihr als Frau höchste Autorität zugesprochen wird? Allein die Übersetzung ihres Namens „die Zeus-Geehrte/-Ehrende“,227 aber auch die
Angabe, sie käme aus Mantineia, einer Stadt im östlichen Arkadien, deren Bezeichnung an den Wortstamm manteÊv anklingt und soviel bedeutet wie „einen Götterspruch weissagen“, sind Hinweise auf ihre außergewöhnliche Handlungskompetenz.228 Sie ist Mystagogin und hat folglich Zugriff auf göttliches Wissen, das für die
Wahrheit ihrer Worte bürgt. Platon, der sie nun als weise Lehrerin seines Meisters
agieren lässt, die nicht nur Sokrates, sondern auch andere als ihre Schüler über Eros
belehrte, also „in Liebessachen unterrichtet“ habe,229 stellt in seinem dramatisch gestalteten Symposion auf ihre realhistorische Existenz ab. Als Sokrates ihre Opferhandlungen für den zehnjährigen Aufschub der in Athen ausgebrochenen Pest verantwortlich annonciert und damit einen Ausweis ihres Könnens gibt, der ihre Sachverständigkeit noch gesteigert erscheinen lässt, schwimmen Zeichen ihrer realhistorischen
Existenz und literarische Fiktionen – ähnlich wie in der dramatis personae Sokrates –
ineinander. Wenngleich sich die Kontroverse um die Historizität der fremden Seherin
in Platons Symposion wohl nicht entscheiden lässt, gilt doch die vorgetragene Rede
der literarischen Figur Diotima zweifellos als platonische Lehre.230 Das Wissen der
Diotima, die nicht nur als Mystagogin, sondern im Weiteren auch als Philosophin
auftritt, geht über den Bereich sokratischen Denkens hinaus.231 Es ist Platon, der
„Allgemeinbegriffe zu selbständigen Wesenheiten, die von der Erfahrungswelt abgetrennt sind, ... zu ‚Ideen’“ erhebt. „Das Symposion und der zeitlich benachbarte
‚Phaidon’ sind die ersten Schriften, in denen Platon die Welt der Ideen als Ziel und
Zentrum seines Philosophierens entwirft. Hier stehen wir am Ursprung des Idealismus.“232
Darin ist also einer der Gründe zu sehen, dass Sokrates, der nach Wissen strebende Philosoph, im Symposion hinter der weisen Diotima zurücktreten wird.233 Sokrates beginnt sich nach dem Gespräch mit Agathon nun an die Begegnung mit der
227 Ebd., S. 8.
228 Vgl. Piras 1997, S. 85, Fußnote 148. – „[D]ie Gestalt der Seherin [verweist] auf die Pythia und
damit auf jene im Delphischen Heiligtum akkreditierte Instanz, die Sokrates einst als den weisesten aller Menschen bestätigt hatte.“ Ebd., S. 92; Einfügungen F.T.
229 Platon, Symposion 201d.
230 Vgl. Sier 1997, S. 8.
231 Zu der Eigenheit Diotimas als Philosophin und Mystagogin vgl. Krüger 1978, S. 144f.
232 Schmidt-Berger 1997, S. 140.
233 Die Frage nach der Funktion der schillernden Diotima-Figur in Platons Symposion wird wohl
immer umstritten bleiben. Claudia Piras stellt in einem knappen Überblick weitere Interpretationsansätze vor. Vgl. Piras 1997, S. 87-94.
62
Priesterin aus Mantineia zu erinnern. „Es dünkt mich also am leichtesten es so
durchzunehmen, wie damals die Fremde mich ausfragend es durchging.“234 Augenblicklich wechselt die Szene und es kommt zum „überraschende[n] Rollentausch des
Sokrates vom souveränen Elenktiker im Dialog mit Agathon zum etwas naiven Schüler Diotimas.“235 Zudem ist es eine im historischen Kontext äußerst ungewöhnliche
Lehrkonstellation, von der Sokrates berichtet, denn hier tritt eine Frau selbstbewusst
einem Mann als Gesprächführerin und Lehrerin gegenüber und unterrichtet ihn über
Eros. Insbesondere im Hinblick auf den homoerotischen Kontext der vorhergehenden
Reden, die im grellsten Kontrast zu der referierten Situation zwischen Sokrates und
Diotima stehen, verstärkt sich der Eindruck der Exzeptionalität des Lehrgesprächs
zwischen Philosoph und Mystagogin.236
2.8.3 Die Offenbarung der Diotima – das Wesen des Eros
„Solches o Phaidros und ihr übrigen, sprach Diotima und habe ich ihr geglaubt, und
wie ich es glaube suche ich es auch Andern glaublich zu machen“, bekennt Sokrates
den anwesenden Symposiasten.237 Der in den früheren Dialogen als Aporetiker in
Szene gesetzte Sokrates spricht im Symposion als Überzeugter der religiösen Dogmatik Diotimas, in die er einst eingeweiht wurde und nunmehr auch andere aufsucht,
um ihnen das göttliche Wissen der Priesterin zu vermitteln. Wie Sokrates beim abendlichen Trinkgelage Agathons Rede widerlegt, so entkräftete auch Diotima damals den nach wahrem Wissen strebenden jungen Mann, der Eros als großen und
schönen Gott lobte, und offenbarte ihm, dass Eros weder schön noch gut sei.238 In
Verwirrung geraten und verfangen im einem „streng dualistisches Weltbild“,239
schließt Sokrates mit der Bemerkung, Eros – seiner göttlichen Attribute beraubt –
könnte womöglich hässlich und schlecht sein – und verkennt dabei dessen Wesen.
„Folgere also nicht“, sagt Diotima, „was nicht schön ist sei hässlich, noch was nicht
gut sei schlecht. Eben so auch vom Eros, da du doch selbst eingestehst er sei weder
gut noch schön, glaube deshalb dennoch nicht, daß er häßlich und schlecht sein müs-
234 Platon, Symposion 201e, Hervorhebung F.T.
235 Sier 1997, S. 8.
236 Vgl. Piras 1997, S. 90f. „So unterstreicht auch das Verhältnis zu Diotima ... die ironische Pointe,
daß im ‚Klub’ der Symposiasten unvermutet eine Frau als die eigentliche Sachverständige erscheint, vor deren Einsicht die männliche Weisheit sich recht kümmerlich ausnimmt.“ Vgl. Sier
1997, S. 11.
237 Platon, Symposion 212b.
238 Vgl. ebd. 201e.
239 Piras 1997, S. 95.
63
se, sondern etwas, sagte sie zwischen beiden.“ Eros sei seinem Wesen nach zwischen
dem Guten und Schlechten, zwischen Wissen und Unkenntnis, zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen: „Was also, o Diotima? – Ein großer Dämon, o Sokrates.
Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem sterblichen.“240
Eros ist kein Gott. Eros ist ein Daimon, dessen Wesenserfüllung darin bestehe,
zwischen getrennten Sphären „zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern
was von den Menschen und den Menschen was von den Göttern kommt. ... In der
Mitte zwischen beiden ist es also die Ergänzung, daß nun das Ganze in sich selbst
verbunden ist.“241 Zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen vermittelnd, ist
Eros beständig auf dem Wege und zwischen diesen beiden Bereichen – somit auch
zwischen dem wahren Wissen und der Weisheit auf der einen Seite und der Unwissenheit und dem Unverstand auf der anderen Seite – fortwährend unterwegs, so dass
im Gespräch zwischen Sokrates und Diotima nunmehr das philosophische Wesen des
Eros deutlich wird. Gleich dem Philosophen überwindet Eros nämlich die Grenzen
zwischen voneinander getrennten Welten und verbindet sie zu einem Ganzen, indem
er das Gespräch, diάlektow, zwischen ihnen anstößt und somit das einander Entgegengesetzte zur Synthese führt.242 Der Philosoph, der zwar nicht über göttliches Wissen verfügt, sich jedoch seines Nichtwissens bewusst ist, strebt nach Wissen und ist
sich gewahr, dass Philosophie kein Besitz, sondern immer nur ein Sich-Nähern an
wahres Wissen sein kann, verkörpert wie Eros selbst das dynamische Prinzip.243 Nun
werden auch die Gründe für Sokrates’ untypische Äußerung zum Beginn des Trinkgelages einsichtig, er würde sich auf „nichts als Liebessachen ... verstehen.“244 Die
Aporie des sokratischen Gesprächs stellt nämlich die notwendige Bedingung dar, um
das eigene Nichtwissen überhaupt zu erkennen und die eigene Bedürftigkeit nach
Weisheit und – insofern Weisheit und Wissen zum Schönen gehören245 – zum Schönen zu empfinden, so dass sich die Liebe zur Weisheit und zum Schönen überhaupt
240 Platon, Symposion 202d.
241 Ebd., 202e. – „Im Gegensatz zum Alten und Neuen Testament, aber auch zum altgriechischen
Mythos betont Platon den Abstand zwischen Gott und Mensch.“ (Ries 2003, S. 64; Einfügung
F.T.).
242 Vgl. Schmidt-Berger 1997, S. 145.
243 Vgl. Ries 2003, S. 65-68. „Kein Gott philosophiert oder begehrt weise zu werden, sondern ist es,
noch auch wenn sonst jemand weise ist philosophiert dieser. Eben so wenig philosophieren auch
die Unverständigen oder bestreben sich weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein
dünkt.“ (Vgl. Platon, Symposion 204a).
244 Platon, Symposion 177e.
245 „Denn die Weisheit gehört zu dem schönsten und Eros ist Liebe zu dem schönen; so daß Eros
notwendig weisheitliebend ist, und also als philosophisch zwischen den Weisen und Unverständigen mitten inne steht.“ (Ebd., 204b).
64
erst entwickeln kann. Dadurch wird „die ‚erotische’ Dimension der Elenktik“ fasslich. „Sie will Menschen zu Liebhabern der Erkenntnis und des Schönen machen, sie
gleichsam ‚erotisieren’, indem sie ihnen ihren Mangel vor Augen führt und ihnen
dazu verhilft, sich ihrer wahren Bedürfnisse bewußt zu werden.“246
2.8.4 Das Telos des Eros
Bereits zu diesem Zeitpunkt werden Neudefinition und Umbewertung des Erosbegriffs in der sokratisch-platonischen Erostheorie augenfällig. Eros wird im Gegensatz
zum traditionellen griechischen Erosbild nicht als Gott verehrt, sondern als Daimon
vorgestellt, dessen Sein unvollkommen anmutet: weder gut noch schlecht, weder
schön noch hässlich. In seinem Mangel liegt allerdings auch seine Stärke, in Sehnsucht nach dem Wahren, Guten und Schönen, dem Göttlichen und Vollkommenen
wird seine philosophische Natur und sein Fergendasein erkennbar, als Mittler agiert
er rastlos zwischen dem Sterblichen und Unsterblichem, sein Wesen ist ein zwiespältiges – einerseits vom Göttlichen abgegrenztes, andererseits von diesem abhängiges.
Dabei erweist sich das Wissen um Eros selbst als unbegründbar und unableitbar,
denn es ist göttlichen Ursprungs, offenbart durch die fremde Mystagogin Diotima.
Das Wesen des Eros ist somit anschaulich geworden. „Wohl denn Freundin, ... du
hast wohl gesprochen. Wenn nun aber Eros ein solcher ist, welchen Nutzen gewährt
er den Menschen?“247 Welchen Nutzen kommt also dem menschlichen Verlangen
nach dem – eigentlich nie vollkommen zu erreichenden – Wahren, Guten und Schönen zu? Im dialektischen Gespräch zwischen Priesterin und Philosoph zeigt sich,
insofern ein vom Eros Ergriffener seine Mangelhaftigkeit zu überwinden sucht, er
unmittelbar auch das Gute erstrebt, dessen Teilhabe seine Glückseligkeit, eÈdaimonίa,
garantiert.248 Der Wille, nicht nur zeitweilig, sondern immer im Besitz des Guten zu
sein,249 ist letztlich allen Menschen gemeinsam, „daraufhin ist das ganze menschli-
246 Rehn 1997, S. 88.
247 Platon, Symposion 204d.
248 „[N]ach Sokrates’ Ansicht [ist] alles Wollen des Menschen an sich notwendig ein Wollen des
Guten. Der Eros wird damit aus einem bloßen Sonderfall des Wollens zu dem sichtbarsten und
überzeugendsten Ausdruck jener Grundtatsache aller platonischen Ethik, daß der Mensch niemals begehren kann, was er nicht für sein Gut hält.“ (Jaeger 1959, Bd. III, S. 261; Einfügung
F.T.).
249 „Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. ... Dieser
Wille nun und diese Liebe, glaubst du daß sie allen Menschen gemein sind, und das Alle immer
wollen das Gute haben? Oder wie meinst du? – So, sprach ich, daß dies Allen gemein ist. ... So
geht denn alles zusammengenommen die Liebe darauf, daß man selbst das Gute immer haben
will.“ (Platon, Sympsion 205a, 206a).
65
che Leben entworfen. Nur in der Teilhabe am Guten ... kann [der Mensch] sein Leben und sein Selbst verwirklichen. Das Streben nach dieser Selbstverwirklichung ist
Eros, die Liebe. Sie äußert sich im Begehren des Schönen.“250
Denn dem Menschen bleibt das letztendliche Ziel (t°low) des Eros, die absolute
Glückseligkeit, qua Menschsein verwehrt, nur Götter sind in dessen Besitz. Wenn
auch nicht unmittelbar, so wird der Mensch doch durch das eroshafte Verlangen dem
Höchsten, dem Göttlichen, den platonischen Ideen entgegen geführt, denn es reißt
ihn „immer wieder aus dem resignativen Bewußtsein [seines] Mangelzustandes, aus
der Gefahr der Apathie“ heraus und beflügelt ihn „zu lebendigem Wirken“.251 Wie
gestaltet sich dieses lebendige Wirken aus, auf welche Weise gehen Liebende der
Liebe eigentlich nach? Sokrates weiß keine Antwort auf Diotimas Frage, die es ihm
daraufhin verrät: „Es ist nämlich eine Ausgeburt in dem Schönen sowohl dem Leibe
als der Seele nach. ... Alle Menschen ... sind fruchtbar sowohl dem Leibe als der Seele nach, und wenn sie zu einem gewissen Alter gelangt sind so strebt unsere Natur zu
erzeugen. Erzeugen aber kann sie in dem hässlichen nicht sondern nur in dem schönen. Des Mannes und Weibes Gemeinschaft nämlich ist Erzeugung. Es ist aber dies
eine göttliche Sache, und in dem sterblichen Lebenden etwas unsterbliches die Empfängnis und die Erzeugung.“252 Zusammengefasst: Eros ist Liebe zum Guten, denn
als ein Verlangen begehrt er im steten Besitz des Guten zu sein, weil das Gute der
Seele wesenhaft zukommt. Die Teilhabe am Guten garantiert dem vom Eros Erfassten somit Selbst-Verwirklichung, mithin Glückseligkeit. Das menschliche Dasein ist
aber nicht von Dauer, sondern per se der Vergänglichkeit preisgegeben. Durch Zeugung und Empfängnis im Schönen hat der Mensch dennoch Anteil an der nur den
Göttern eigenen Ewigkeit. Er hinterlässt ein ihm Gleichendes – im Bereich des Körpers sind es die leiblichen Kinder, die eine Art von Unsterblichkeit sichern, im Bereich der Seele sind es sowohl die durch geistige Zeugung entstandenen gewaltigen
Werke der Tugend (also Weisheit, Besonnenheit und Gerechtigkeit) als auch die der
Kunst, um sich „einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten ... zu erwerben“.253
Dadurch also, dass der zwischen Sterblichem und Unsterblichen vermittelnde Grenzgänger Eros vorgibt, das „Versprechen der potentiellen Teilhabe an der Unsterblich-
250
251
252
253
Gutmann 2003, S. 184; Einfügung und Hervorhebung F.T.
Schmidt-Berger 1997, S. 144; Einfügung F.T.
Platon, Symposion 206b-206c.
Platon, Symposion 208c. „Und auf diese Weise wird alles sterbliche erhalten, nicht so daß es
durchaus immer dasselbige wäre wie das göttliche, sondern indem das abgehende und veraltende
ein anderes neues solches zurückläßt wie es selbst war.“ (Ebd. 208a-208b).
66
keit einzulösen ... entfaltet [er] seine Wirkung noch vor dem eigentlichen Akt der
Zeugung und Geburt.“254
Wenn zunächst auch Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt der
Nachkommenschaft mit der Hervorbringung schöner Gedanken und guter Taten in
einem Atemzug als Werke des Eros bezeichnet werden, durch die der Mensch am
Göttlichen, Unvergänglichen und Ewigen Anteil hat und demzufolge auch „das Geschlechtliche mit dem Sakralen“255 verbunden ist, lässt sich doch bereits in der Unterredung zwischen der Mantineerin und Sokrates, später noch nachdrücklicher in der
referierten Rede der Diotima, eine „eindeutige Bevorzugung des Bereichs der Seele“256 gegenüber dem Bereich des Körpers erkennen. Denn Tiere wie Menschen, die
sterbliche Natur überhaupt, erstrebt durch die körperliche Erzeugung leiblicher Kinder die Regeneration der Gattung und sichert folglich den Fortbestand des Lebens.
Doch das eroshafte Verlangen des Menschen erschöpft sich nicht darin, nur körperlich ein Wesen seiner eigenen Art entstehen zu lassen, sondern treibt auch dazu,
geistig und pädagogisch zu zeugen, also Einsichten und Erkenntnisse in der Wandelbarkeit des seelischen Geschehens der Generationen neu in die Welt zu setzen und
zugleich zu erhalten. „Nur durch die körperliche Fortpflanzung und das pädagogische Zeugen und Hervorrufen ‚schöner Gedanken’ und Tugenden bei den Heranwachsenden kann der Mensch seinem individuellen Streben nach Wahrheit und Tugend eine über die sterbliche Einzelexistenz hinausgehende Kontinuität verleihen.
Der Eros ist nicht nur Garant für die Erhaltung der Menschengattung, sondern
zugleich unverzichtbares Fundament aller Pädagogik. Denn allein der pädagogische
Eros kann die Wahrheitsfrage und das Problem der Areté vor dem menschlichen
Schicksal der Vergänglichkeit bewahren.“257 Insofern allerdings das „Aufbewahren
seelischer Inhalte im beständigen Wechsel der Erlebnisse“ als des Menschen „eigentümliche Form der Unsterblichkeit“258 vorgestellt wird, repräsentiert die sokratischplatonische Erostheorie ein Plädoyer für die Präferenz der geistigen Zeugung gegenüber der leiblichen Reproduktion, wie im nächsten Unterkapitel noch detaillierter
ausgeführt wird.
Rückblickend ist die Ähnlichkeit der im Symposion entwickelten Erostheorie mit
der geburtshelfenden Kunst des Sokrates, der Maieutik, auffallend. Eros ist die
254
255
256
257
258
Piras 1997, S. 108; Einfügung F.T.
Ries 2003, S. 72.
Piras 1997, S. 101.
Müller 1993, S. 48f; Hervorhebung F.T.
Ries 2003, S. 76.
67
Macht, die den Menschen veranlasst, durch Bewusstwerdung seines eigenen Mangelzustandes das ihm wesenhaft zukommende Gute zu erstreben, das jedoch nicht
durch äußere Güter besessen werden kann, sondern dem sich nur im unermüdlichen
und leidenschaftlichen Bemühen um wahres Wissen zu nähern ist. An diesem Punkt
scheint die Eroshaftigkeit der sokratischen Elenktik auf, denn es ist vornehmliche
Aufgabe des Philosophen, seinem Gesprächspartner ein Empfinden für die eigene
Mangelhaftigkeit zu vermitteln, ohne dabei Resignation hervorzurufen und ihn vielmehr zu einem Liebhaber göttlicher Weisheit zu machen. Im Dialog selbst wird er
sein Gegenüber von dessen ihm eigenen latent vorhandenen Gedanken entbinden.
sokratische Maieutik und platonische Philosophie zielen also im Gegensatz zur Sophistik nicht auf die bloße Vermittlung von Kenntnissen ab, sondern versuchen dem
Wesen des Menschen gerecht zu werden, indem der unabschließbare Prozess des
Strebens nach dem Wahren, Guten und Schönen in seiner Dynamik zunächst in Gang
gesetzt und schließlich bewahrt werden soll.259 Platons Philosophie beansprucht
letztendlich erotisch zu sein: „Eros als ein philosophisches Ereignis und umgekehrt:
die Philosophie als Ausdruck und Praxis des Eros.“260
2.8.5 Der Stufengang vom sinnlich Schönen zur Erkenntnis des Schönen
selbst
Bisher konnte gezeigt werden, dass in der sokratisch-platonischen Erostheorie das
eroshafte Verlangen nicht auf Sinnlichkeit beschränkt bleibt, sondern vielmehr im
ideellen Bereich als wirkmächtig identifiziert wird, so dass also die Bewegung des
Daimon Eros vom schönen Körper zum geistig Schönen bereits fasslich geworden
ist. In der nun folgenden Skizzierung der berichteten Rede der Diotima sollen die je
einzelnen Schritte des erotischen Stufengangs, die einer Mysterienschau gleichen,
kurz nachgezeichnet werden.
259 „Eros, als Liebe des Guten verstanden, ist zugleich der Trieb zur wahren Wesenserfüllung der
menschlichen Natur und damit Bildungstrieb im tiefsten Sinne des Wortes.“ (Jaeger 1959, Bd. III, S. 262).
260 Rehn 1996, S. 89. An der Stelle im Symposion, als Diotima von der Gemeinschaft zwischen
einem gerechten und besonnenen Mann und einem körperlich und seelisch schönen Jüngling berichtet, wird unübersehbar, dass hier die sokratische Maieutik beschrieben wird. Der Ältere sucht
seinen Gesprächspartner auf, um „Reden über die Tugend“ zu halten und „darüber wie ein trefflicher Mann sein müsse und wonach streben. ... [I]ndem er den Schönen berührt ... und mit ihm
sich unterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugungslustig in sich trug, und indem
er anwesend und abwesend sein gedenkt, erzieht er auch mit jenem gemeinschaftlich das erzeugte. So daß diese eine weit genauere Gemeinschaft mit einander haben als die eheliche und eine
festere Freundschaft, wie sie auch schönere und unsterblichere Kinder gemeinschaftlich besitzen.“ (Platon, Symposion 209b-209c).
68
„So weit nun o Sokrates vermagst du wohl auch in den Geheimnissen der Liebe
eingeweiht zu werden; ob aber wenn jemand die höchsten und heiligsten, auf welche
sich auch jene beziehen, recht vortrüge, du es auch vermöchtest weiß ich nicht.“261 In
seiner Abhandlung zum platonischen Symposion macht Werner Jaeger gerade auf
diese Stelle aufmerksam, an der Diotima Zweifel an Sokrates bekundet, vermögend
genug zu sein, nun auch die letzten Weihen entgegenzunehmen. Es ist zu vermuten,
dass Platon hier wohl sokratisches Denken hinter sich lässt und seine eigenen Gedanken als Ideenlehre entwickelt.262 So ist Diotima nun nicht mehr mit Sokrates im
Gespräch, sondern belehrt ihn dogmatisch über den geistigen Aufstieg eines vom
wahren Eros Ergriffenen, der aus innerem Impuls, oder durch einen anderen geführt,
sich auf den Weg macht, um letztlich das „Schöne selbst rein lauter und unvermischt“263 zu erkennen. Die jeweiligen Objekte der Liebe ändern sich zwar im Hergang der erotischen Anabasis, doch die zum Höchsten hinaufziehende Kraft Eros
„bleibt prinzipiell dieselbe“, unabhängig davon, ob sie sich auf konkrete Körper oder
abstrakte Ideen richtet.264
Obwohl Eros schrittweise bis zur Ideenschau vergeistigt, kann er sich nur am
sinnlich Schönen entzünden. Platons Diotima stellt das Wohlgefallen an der körperlichen Schönheit an den Anfang des sich im Zeichen des Eros vollziehenden Erziehungs- und Bildungsprozesses, so dass also die gebräuchliche Rede von der platonischen Liebe nur zu einem Schlagwort verkürzt wurde.265 Auf der ersten Stufe wendet
sich der Liebende nur einem schönen Körper zu, er bedarf also nur eines schönen
Menschen, den er „mit schönen Reden befruchte[t]“.266 Alsbald schon geht er „dem
in der Idee schönen nach“ und entdeckt auf der folgenden Stufe bereits die Liebe zu
allen schönen Körpern. „Liebhaber aller schönen Leiber“ geworden, verlässt ihn
daraufhin auch die „gewaltige Heftigkeit für Einen“ und er empfindet im nächsten
261 Platon, Symposion 219e-210a.
262 „Diotima äußert Zweifel, ob [Sokrates] fähig sein werde, die größeren Weihen zu empfangen und
zum Gipfel der letzten Schau aufzusteigen. Da diese Schau die Idee des Schönen zum Gegenstand hat, liegt der Gedanke nahe, daß Plato durch diese Bemerkung andeuten wollte, wie weit die
Erörterung sich in sokratischen Bahnen bewegt, und von wo an sie über Sokrates hinausgeht.“
(Jaeger 1959, Bd. III, S. 264; Einfügung F.T.).
263 Platon, Symposion 211e.
264 Der „am schönen Körper orientierte Eros“ wird nicht durch einen „am Seelischen orientierten
Eros abgelöst .... Der Eros selbst, die Kraft in uns, bleibt prinzipiell dieselbe. Doch die Richtung,
in der sich die Kraft entfaltet, die Orientierung, entwickelt sich durch zunehmende Einsicht.“
(Gutmann 2003, S. 203).
265 Vgl. Müller 1993, S. 49.
266 Platon, Symposion 210a.
69
Schritt „die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher ... als die in den Leibern“,267
so dass der Erotiker der dritten Stufe von der Faszination des rein Sinnlichen befreit
nun vornehmlich die Seele liebt und sich ihrer Erziehung durch schöne Reden
(lÒgoi) widmet.268 Auf der vierten Stufe erblickt er auch das „Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten“ und ferner in den Erkenntnissen selbst (§pistÆmh). In diesem Stadium beginnt der Erosergriffene jedoch, „die Schönheit des Leibes für etwas
geringes“ zu erachten, denn er hat das „vielfältig Schöne schon im Auge“ und empfindet nicht mehr in „knechtischer Weise die Schönheit eines Knäbleins oder irgend
eines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung“, sondern in Überwindung der vier
Stufen macht er sich zum letzten Ziel auf. In „ungemessenem Streben nach Weisheit“ schaut er auf der „hohe[n] See des Schönen“ schließlich das göttlich Schöne
selbst – „an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend“ – die Idee des
Schönen.269
Die metaphysische Erfahrung, die am Ende des von Diotima beschriebenen Liebesweges steht, entzieht sich jeglicher Begrifflichkeit, insofern bei einem solchen
Widerfahrnis philosophische Einsichtigkeit und religiöses Erleben in eins fallen und
die Grenzen sprachlicher Vermittlung aufbrechen. „Plötzlich, also irrational, erscheint dem wahren Erotiker das staunenswerte Höchste selbst, wie in den Mysterien
dem staunend Hinaufschauenden. Der Dialektiker hingegen vermag ... das vielfach
Zerstreute zu einer Idee zusammenzuschauen.“270 So lässt Platon nicht ohne Grund
das schönste Erlebnis rechter Eroskunst und die höchste philosophische Erkenntnis
als Offenbarung einer Priesterin verkünden. Die Seherin in Platons Symposion belehrt jedoch nicht nur über „Liebessachen“271 und leuchtet den Weg philosophischer
Erkenntnis, sondern der von ihr verkündete Stufenweg repräsentiert gleichzeitig eine
Werteskala.272 „In dieser Stufenfolge rangiert die Liebe zu Personen weit unterhalb
der Liebe zu Allgemeinbegriffen“, so dass, so Ute Schmidt-Berger, „in Platons Wertung ... eine dem Idealismus innewohnende Gefahr [zu erkennen ist]: die dominie267 Ebd., 210b.
268 „Nächstdem aber muß er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den
Leibern, so daß, wenn einer dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm
das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen.“ (Platon, Symposion 210b-210c).
269 Platon, Symposion 210c-211b.
270 Schmidt-Berger 1997, S. 149; Hervorhebung F.T.
271 Platon, Symposion 201d.
272 „In dieser Stufenleiter ist nur der Gedanke der Hierarchie, bis zum ‚Schönen selbst’, eigentümlich platonisch, nicht die Aufzählung der Arten an sich. Auch daß jede dieser Arten von kala ‚geschaut’ werden und eros erwecken, gibt gemeingriechische Anschauung wieder.“ (Patzer 1982,
S. 108; Hervorhebung im Original).
70
rende Ausrichtung auf das Allgemeine, auf die Idee, kann auf Kosten des Persönlichen und damit letztlich auch des Humanen gehen.“273 Demgegenüber bewertet Michael Gutmann den platonischen Stufenweg als Hinwendung zum Menschen selbst.
Zunächst einmal erachtet er die gängige Interpretation von „Körperfeindlichkeit oder
Körperignoranz“274 in der sokratisch-platonischen Erostheorie als unzutreffend, wobei er selbst jedoch eine Thematisierung der expliziten Abwertung des Körperlichen
auf der vierten Stufe der Anabasis vermeidet. Vielmehr betont er die Körperschönheit als conditio sine qua non für den Vollzug des erotischen Aufstiegs, in dessen
Verlauf sich der Erotiker verstärkt der seelisch-geistigen Schönheit zuneige, ohne
aber die sinnliche Schönheit zu disqualifizieren.275 „Diese Entwicklung vollzieht sich
in der erotischen Zuwendung zu etwas weit Schönerem als dem menschlichen Körper, in der erotischen Zuwendung zum Menschen selbst. Diotimas Eros bezieht sich
auf den Menschen in der Dauer seines Lebens, nicht nur auf die (wenigen) Jahre
vollendeter körperlicher Blüte. Diotimas Eros entwickelt sich mit dem Menschen und
er entwickelt den Menschen.“276 In diesem Zitat wird offensichtlich, dass Gutmann
die im Symposion explizit gemachte Hierarchisierung des platonischen Stufengangs
übernimmt und gleichzeitig den Idealismus Platons zugunsten des Humanen deutet,
wohingegen Ute Schmidt-Berger in diesem Zusammenhang eher das Primat des Intelligiblen problematisiert.277
Aus den bisherigen Darstellungen der sokratisch-platonischen Erostheorie und der
in diesem Zusammenhang skizzierten Diskussion der Frage des platonischen Idealismus ist nunmehr die Eigenschaft der Sublimation als ein weiteres wesentliches
Merkmal des Daimon Eros nicht mehr zu übersehen.278 Als ein Verlangen beschränkt
273 Schmidt-Berger 1997, S. 146; Einfügung F.T.
274 Gutmann 2003, S. 194.
275 Die geringere Achtung der Sinnlichkeit gegenüber dem Ideellen im erotischen Stufengang des
Symposion ist nicht abzustreiten. Dazu: Platon, Symposion 210c-211b.
276 Gutmann 2003, S. 195; Hervorhebung F.T.
277 Walter Müller skizziert in einem kurzen historischen Abriss die Rezeptionsgeschichte des antiken Eros, den das Christentum „zum Laster entarten“ ließ. Es fiel schließlich „der Schatten des
Sündhaften ... auf die beiden untersten Sprossen der platonischen Stufenleiter“, so dass die tendenziös im platonischen Idealismus angelegten Gefahren Gestalt annahmen. (Müller 1993, S.
50f.).
278 In der Sekundärliteratur wird der Begriff „Sublimation“ verwendet, um die vergeistigende Wirkung des primär triebhaften Verlangens in der sokratisch-platonischen Erostheorie deutlich zu
machen (vgl. z.B. Piras 1997, S. 121; Lesky 1976, S. 99f.; Schmidt-Berger 1997, S. 145f.). Den
Begriff Sublimation prägte Sigmund Freud und fasste darunter das psychische Phänomen, dass
der Sexualtrieb „der Kulturarbeit außerordentliche Kraftmengen zur Verfügung [stellt] und dies
infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können,
ohne an Intensität abnehmen zu können. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprüngliche sexuelle
Ziel gegen ein anderes nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes zu vertauschen,
71
sich Eros denn nicht nur auf die Hervorbringung leiblicher Nachkommen, sondern
strebt – auf den einzelnen Stufen mit differenter Bezüglichkeit – geistig und pädagogisch im Schönen zu zeugen, um an der Unsterblichkeit Anteil zu haben. Die Hinwendung zu einem schönen Knaben ist bereits als ideeller Akt zu verstehen, da mit
diesem keine Kinder, sondern einzig schöne Gedanken und gute Taten gezeugt werden können. „Wenn also jemand vermittelst der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art sich auf die Liebe zu legen ... von diesem einzelnen schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige.“279
Eros wird als die sich am Sinnlichen entzündende Kraft nicht nur in die sokratischplatonische Pädagogik integriert, sondern für ideelle Ziele fruchtbar gemacht, denn
Eros initiiert den Aufschwung der Seele letztendlich bis zum Abstraktesten, den platonischen Ideen. Allerdings ist „nicht der Bezirk, in dem [Platon die] Sublimierung
des Eros wirksam sieht, ... das Wesentliche, sondern die Tatsache, daß dieser hier aus
dem rein sinnlichen Bereiche in den einer geistig-seelischen Hingabe gehoben wurde. ... Fast scheint es überflüssig zu sagen, daß die Sublimierung des Eros ... ohne
weiteres von der Bindung der Ideenlehre abgezogen und auf so gut wie alle Gebiete
menschlicher Tätigkeiten und menschlicher Beziehungen ... übertragen werden
kann.“280
2.8.6. Eros und Pädagogik
Eigenschaften und Wesen des Eros, sein Ziel und der stufenartige Aufstieg des vom
Eros Ergriffenen wurden in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt. Dabei sollte
deutlich geworden sein, dass das von Platon im Symposion vertretende Erosverständnis untrennbar mit der historischen Person und literarischen Figur Sokrates verbunden ist, die im Dialog selbst als ideale Verkörperung des philosophischen Eros auf
die Bühne gebracht wurde.281 Zur Vergegenwärtigung: der Erosbegriff der sokra-
die Fähigkeit zur Sublimierung.“ (Freud GW VII, S. 150. Zitiert nach: Peters 1997, S. 512f.; Einfügung F.T.). Obwohl Anachronismus und Manko des Begriffs im Kontext der metaphysischen
Konzeption Platons und dessen Misslichkeit in Anbetracht der daimonischen Wesenhaftigkeit
des Eros evident sind, soll der Terminus aus Mangel an trennschärferen Begriffen im Weiteren
beibehalten werden.
279 Platon, Symposion 211b-211c; Hervorhebung F.T.
280 Lesky 1976, S. 99f.; Einfügung F.T.
281 Leider musste in der Darstellung der sokratisch-platonischen Eroskonzeption auf den von Diotima erzählten Geburtmythos des Daimon Eros verzichtet werden. In diesem werden die Eigenschaften des Eros – „arm ... bei weitem nicht fein und schön, ... vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend“, aber auch „tapfer, keck und
72
tisch-platonischen Konzeption wird grundlegend neu definiert, insofern Eros nicht
mehr als ein Gott den Menschen lenkt, sondern als Daimon in ihm die Sehnsucht
nach allem Göttlichen weckt. Diese Sehnsucht setzt jedoch das Bewusstsein der eigenen Mangelhaftigkeit voraus, um das Vollkommene überhaupt als erstrebenswert
zu empfinden. Sokrates war es, der im dialektischen Gespräch nicht nur seine Dialogpartner auf ihr bloß vermeintliches Wissen aufmerksam machte, sondern vorerst
sich selbst als der Sache unkundig annoncierte. So ist es im erotischen Stufengang
auch der Liebende, der vom Eros Ergriffene, der einen schönen Körper, eine schönen
Seele, eine schöne Beschäftigung begehrt, um zum Guten zu gelangen. „Der Liebende, nicht der Geliebte, ist der zuerst Aufsteigende. Er steigt auf ... durch Eros zur
erkennenden Liebespraxis getrieben, als ‚Schüler’ des Eros.“282 Eros selbst wird also
zur treibenden, zur erziehenden Kraft – das ist der pädagogische Eros sokratischplatonischer Provenienz.283 Insofern wird auch Sokrates’ Behauptung, er sei nie irgendjemandes Lehrer gewesen, verständlich, denn er selbst begriff sich nicht als belehrend, sondern – der anderen und der Unterredung bedürftig – als belehrt.284 So
zieht es ihn hin zu den an Körper und Seele schönen Knaben und jungen Männern
und indem er sich mit ihnen unterhält, „erzeugt und gebiert er, was er schon lange
zeugungslustig in sich trug“.285 Vom Liebhaber selbst geht also keine erziehende
Wirkung aus, sondern im Gespräch, in Rede und Widerrede sind alle Beteiligten –
insofern sie das dem Menschen zukommende Gute durch philosophische Einsicht
erstreben und Liebhaber der Weisheit sind (filosof`¤a) – vom Eros Erzogene. Der
Geliebte wird also nur dann erzogen, zum Höchsten emporgezogen, wenn er zum
Liebhaber – zu einem Erosergriffenen – wird. Aus diesem Grunde bekennt Sokrates,
dass der Mensch „nicht leicht ... einen besseren Helfer finden könnte als den Eros“,
282
283
284
285
rüstig, ein gewaltiger Jäger, ... sein ganzes Leben lang philosophierend“ – auf seine Herkunft zurückgeführt. Er ist der Sohn der Penia, der Armut, und des Poros, also des Reichtums und der
Wegsamkeit. Die Beschreibung des Daimon gleicht der Gestalt des Sokrates aufs Haar. (Vgl.
Platon, Symposion 203b-204c).
Gutmann 2003, S. 206.
„Hier ist nicht mehr an die erzieherische Wirkung des Liebenden auf den Geliebten zu denken,
von der vorher die Rede war ..., sondern der Eros wird jetzt als die treibende Kraft geschildert,
die für den Liebenden selbst zum Erzieher wird, dadurch, daß sie ihn von der niedrigeren Stufe
stets zur höheren emporführt.“ (Jaeger 1959, S. 265).
„Eigentlich aber bin ich nie irgend jemandes Lehrer gewesen; wenn aber Jemand, wie ich rede
und mein Geschäft verrichte Lust hat zu hören, Jung oder Alt, das habe ich nie Jemanden mißgönnt.“ (Platon, Apologie 33a-33b).
Platon, Symposion 209c.
73
um „wahre Tugend [zu] erzeug[en] und auf[zu]zieh[en]“ und „das göttlich schöne
selbst in seiner Eigenartigkeit zu schauen.“286
Abb. 5: Platonischer Eros
286 Platon, Symposion 211d-212b.
74
2.9 Der pädagogische Eros in Platons Symposion und der
pädagogische Eros der klassischen Knabenliebe –
Zusammenfassung und Vergleich
„Darum auch, behaupte ich, sollte jedermann den Eros ehren, und ehre ich auch
selbst alles was zur Liebe gehört, ... und preise jetzt und immer die Macht und Tapferkeit des Eros so sehr ich nur vermag.“287 Wenngleich Sokrates zum Schluss seiner
Rede das Sein und Wirken Eros’ lobt, wie es zuvor Agathon und seine Gäste taten,
so ist es doch kein Enkomion im eigentlichen Sinne und auch Eros ist ein anderer als
der, den die übrigen Symposiasten vorstellten. Im Folgenden sollen die Ergebnisse
bezüglich der sokratisch-platonischen Eroskonzeption in Platons Symposion kurz
zusammengefasst und unmittelbar mit dem Erosverständnis der Knabenliebe – vertreten durch die sokratischen Vorredner – verglichen werden. Die dem zweiten
Hauptkapitel vorangestellten Fragen sollen dazu als Leitfaden dienen.288
Als erstes sollen die unterschiedlichen pädagogischen Ziele des sokratischplatonische Eros und der Paiderastie zusammengefasst werden, wobei kurz auf das
philosophische Konstrukt der platonischen Ideen einzugehen ist.
Thema des abendlichen Trinkgelages ist Eros. Bis auf Sokrates erkennen die referierenden Symposiasten Eros ausnahmslos als einen schönen und mächtigen Gott
und repetieren somit traditionelle Mythologievorstellungen ihrer Zeit. Während der
junge Phaidros, der Politiker, der Arzt und die beiden Dichter im Agon des Abends
ihre Prunkreden auf Eros halten, bittet der struppige Philosoph nicht Lobendes, sondern Wahres über Eros sprechen zu dürfen. Der Philosoph beansprucht die Wahrheit
zu sagen und beruft sich zugleich auf die weise Priesterin Diotima, deren göttliches
Wissen nicht weiter in Frage zu stellen ist. Im Gespräch mit der fremden Seherin
enthüllt sich das intermediäre Wesen Eros’: Eros ist ein Daimon. Seine Wesenserfüllung findet das Mängelwesen – denn Eros ist weder schön noch hässlich, weder gut
noch schlecht – darin, zwischen den Sterblichen und Unsterblichen, dem Unvollkommenen und Vollkommenen, Unwissen und Wissen zu vermitteln. Insofern Eros
selbst nicht wissend ist, doch nach göttlichem Wissen strebt, offenbart sich im Weiteren auch sein philosophisches Wesen, das zwischen den getrennten Sphären dolmetscht und sie zu einem Ganzen verbindet. Die Synthese zwischen den beiden Wel-
287 Ebd., 212b.
288 Vgl. Kapitel 2.1: „In diesem [dem 2. Kapitel] zu behandelnde Fragen“.
75
ten gelingt schließlich dadurch, dass Eros die Zeugung im Schönen provoziert – im
Bereich des Körpers gebiert der eroserfasste Mensch leibliche Nachkommen, im Bereich der Seele bringt er gute Taten und schöne Gedanken hervor und gelangt
schließlich über einzelne Stufen zu unwandelbaren, ewigen und immateriellen Wesenheiten. Der sokratisch-platonische Eros zieht in einem hierarchisch aufgebauten
Stufengang den wahrhaft Ergriffenen aus der Welt des Körperlichen und des Scheins
in die Welt des Intelligiblen und des Seins, also zu den platonischen Ideen des Wahren, Guten und Schönen. Der Eros der Diotima ist von sublimierender Kraft.
Im Unterschied zum Daimon Eros, der sich auf ein überzeitliches und moralisch
ungebundenes ‚Gut’ bezieht, wirkt der göttliche Eros des Phaidros und des Pausanias
am vortrefflichsten in der sozial reglementierten und sozial kontrollierten Institution
der Paiderastie. Aus den zuvor dargestellten Ergebnissen der Sekundärliteratur wurden somit die realhistorischen Bezüge der Schrift erkennbar, insofern nämlich in der
patriarchalen Struktur der Polisgesellschaft klassischer Zeit die rechtmäßig ausgeübte
Knabenliebe als einzig wahrhafte Liebe galt. Als Gegenstand moralischer Normierung und ethischer Problematisierung stand der paidon eros jedoch in untrennbarer
Abhängigkeit zur geltenden Moral, die die körperliche Anziehung eines erwachsenen
Mannes zu einem Knaben nur legitimieren konnte, wenn jener seine Bemühungen
darauf lenkte, seinen Liebling zu einem tugendhaften Polisbürger zu erziehen. Das zu
erstrebende Ziel einer paiderastischen Bezugnahme war also nicht auf eine metaphysische Idee ausgerichtet, sondern bestand darin den Heranwachsenden mit seiner
zukünftigen Rolle vertraut zu machen und ihn zu polisförderlichem Verhalten, insbesondere zur Mäßigung, zu erziehen. Das Kulturphänomen Knabenliebe beansprucht
also keine Überzeitlichkeit, sondern zeigt sich im Gegenteil als das Ergebnis eines
sozialen Aushandlungsprozesses.
Demzufolge binden trotz differenter Zielsetzungen sowohl der pädagogische Eros
der Knabenliebe als auch der pädagogische Eros sokratisch-platonischer Provenienz
die originär impulsiven, triebhaften Energien des Menschen und stellen sie in den
Dienst ideeller Zwecke. Die Knabenliebe entwickelt sich von einem sexuell nuancierten Erziehungsverhältnis zu einer dauerhaften Freundschaftsbeziehung, die von
den höchsten gesellschaftlichen Werten der klassischen Polis getragen wird und wiederum die Sozietät der Polis nutzbringend beeinflusst. Der pädagogische Eros im
Stufengang des Symposion setzt ebenfalls bei den „schönen Gestalten“ an und macht
die sinnliche Anziehungskraft schöner Knaben explizit; nach einigen Zwischen76
schritten richtet er sich auch auf die „schönen Sitten und Handlungsweisen“, erstrebt
aber letztendlich ein von allem Konkreten gereinigtes Abstraktum – das „göttliche
schöne selbst“.289 In beiden Fällen verliert die Sinnlichkeit im pädagogischen Prozess
an Bedeutung, während sittliche und geistige Zielsetzungen an Geltung gewinnen.
Dennoch divergieren paiderastischer und sokratisch-platonischer Eros entschieden,
und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Ausrichtung auf das Telos. In der Knabenliebe
nämlich ist „Eros selbst ... der eigentliche Zweck, dem auch das erzieherische Wirken
dient“, wohingegen der Daimon Eros „zum Mittel [wird], das zu einem ... höchsten
Zweck erzieht.“290 Doch der von Diotima als Mittler zwischen den Welten der Sterblichen und Unsterblichen offenbarte Eros ist noch mehr als nur Mittel zum Zweck –
er ist erziehend. Er ist die treibende, die erziehende Kraft, ohne die der Aufschwung
zum Geistigen überhaupt nicht möglich wäre. Während sich folglich der paidon eros
über erzieherische Maßnahmen legitimiert, garantiert der sokratisch-platonische
Eros die Erziehung zum Höchsten.
In diesem Zusammenhang werden auch die wesentlichen Differenzen zwischen
einer pädagogischen Beziehung, die vom sokratisch-platonischen Eros getragen
wird, und einem Erziehungsverhältnis zwischen Erastes und Eromenos, nach denen
oben im Kapitel 2.1 gefragt wurde, ersichtlich. Primärer Impuls zur Aufnahme einer
paiderastischen Liebesbeziehung zu einem minderjährigen Jüngling war vornehmlich
dessen körperliche Schönheit, die auf den älteren Mann eine erotische Anziehungskraft ausübte, wobei jedoch auch ersichtlich wurde, dass Körperschönheit nur in
Verbindung mit einer zu erahnenden Potenzialität an innerer Schönheit wirkmächtig
wurde. Einzig die erzieherischen Bestrebungen des Erwachsenen, seinen Liebling
insbesondere durch sein ehrenvolles Beispiel zu sittlicher Vortrefflichkeit anzuhalten, rechtfertigten schlussendlich die Etablierung der Knabenliebe als Institution, in
der das in Aussicht gestellte generöse Gewähren der sexuellen Lust des Mannes von
Seiten des geliebten Knaben Anreiz zugleich für das durchaus anspruchsvolle Erziehungsgeschäft des Erastes bedeutete. Wie dargelegt, basierte die pädagogische Interaktion anfangs auf einer sozial intentionalisierten Asymmetrie, von der sich im gelungenen Fall die Liebenden allmählich zu emanzipieren versuchten, um ihr gemeinsames Verhältnis, das sukzessive körperlicher Zuwendung entsagte, schließlich in
eine lebenslange und innige Freundschaft münden zu lassen. Dementsprechend for-
289 Platon, Symposion 210a-212a.
290 Schmidt-Berger 1997, S. 157f.; Hervorhebung F.T.
77
derten die moralischen Kodizes der Polis, dass in der eigentlichen paiderastischen
Bezugnahme der Erastes seinem Zögling die geltenden Normen und Werte der athenischen Oberschicht, in der das agonale Prinzip durchaus bestimmend war, vermittelte. Wenn auch der liebende Mann dadurch, dass er seine eigene sittliche Vorzüglichkeit in Gegenwart des geliebten Knaben permanent unter Beweis zu stellen hatte,
ebenso zu polisförderlichem Verhalten angeregt wurde, stand dennoch maßgeblich
der Eromenos unter pädagogischer Einflussnahme.
Im Gegensatz dazu charakterisiert sich eine sokratisch-platonische Liebesbeziehung durch Konvergenz, denn beide Partner bedürfen sich beiderseits, insofern sie im
Gespräch miteinander nach Wahrheit suchen. In der Beschreibung der zum Höchsten
führenden Anabasis, in der ausschließlich der lernende Liebhaber thematisiert wird,
ist deutlich geworden, dass nur der vom Eros Ergriffene zu erkennen fähig ist – Eros
ist Pädagoge. Es ist also durchaus unzutreffend, in diesem Kontext von einem ‚Erziehungsverhältnis’ zwischen einem Erzieher und einem Zögling zu sprechen, denn
die Liebe zum Meister, im Dialog Symposion an der Figur des Sokrates illustriert, ist
nach Abzug aller konkreten Gegebenheiten letztendlich Liebe zur Wahrheit, denn er
selbst strebt – als Personifizierung der Philosophie – ebenso, wenngleich er auch
bereits alle Stufen beschritten hat und fortwährend beschreitet, zum Wahren und ist
ein vom Eros Getriebener.
In der Paiderastie wird der ursprünglich wüste Eros durch die gesellschaftliche
Auflage zu erziehendem Verhalten verfeinert, kultiviert und sozial nutzbar gemacht,
indem die Werte der Polisgesellschaft reproduziert und schließlich auf Dauer gestellt
werden. Demgegenüber problematisiert der Eros sokratisch-platonischer Provenienz
auf der Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten und stellt das sozial Akzidentielle immer wieder in Frage, um
vielmehr zum Wesen des Menschen, dem das Gute eigen ist, vorzudringen, und dadurch das gesellschaftliche Miteinander zu optimieren. Während in der Ausübung
der rechtmäßigen Knabenliebe sowohl der Liebhaber als auch – und insbesondere –
der geliebte Knabe Sozialprestige zu gewinnen suchen, geht es in der vom Daimon
Eros durchwirkten Interaktion nicht um äußere Güter, sondern um das Bemühen um
philosophische Einsicht als das der Seele des Menschen zuträgliche Gut.
Nachdem nun die Ausgestaltung der zu vergleichenden Erosbeziehungen noch
einmal nachskizziert und zugleich die Notwendigkeit des jeweils different gefassten
Eros für beide Konzepte aufgezeigt wurde, soll im Folgenden die Frage des dritten
78
Themenschwerpunkts kurz aufgegriffen werden. Inwiefern könnte Eros im Erziehungsprozess für die Entfaltung der Persönlichkeit hinderlich werden oder sogar
zerstörerisch wirken? Aus den obigen Darstellungen ist anschaulich geworden, dass
in der rechtmäßigen Knabenliebe die Förderung der Persönlichkeit des heranwachsenden Eromenos in den Rahmen der Polis gestellt wurde. Die Paiderastie zweckte
als Phänomen der sozialen Oberschicht auf die Integration des Knaben ab, der unter
permanentem Bewährungsdruck stehend, nicht nur polisdienliche Absichten und
Zwecksetzungen zu entwickeln hatte, sondern auch dem aristokratischen Ideal der
Kalokagathie entsprechen musste, um als Mann eine entsprechende Position in der
elitären Gruppe einnehmen zu können. Die Persönlichkeitsentfaltung fand in dem
Maße ihren Abschluss, in dem der Heranwachsende in Konkurrenz zu seinen Altersgenossen und in der pädagogischen Interaktion mit seinem Erastes männliche Vortrefflichkeit, also körperliche Schönheit und höchste Tugendhaftigkeit, ausbildete.
Zugleich wird damit auch die Antwort auf die in diesem Kontext gestellte Frage einsichtig, ob die pädagogische Beziehung zwischen Mann und Jüngling durch den subjektiven Charakter des Eros gefährdet ist. Das Gegenteil ist der Fall: Eros ist die beide Partner zusammenführende Kraft. Eingebunden in ein überindividuelles inhaltliches Ethos wirkt sich die subjektive Attraktion nicht destruktiv, sondern konstruktiv
auf die Dyade aus, denn Eros ermöglicht überhaupt erst die Aufnahme der erzieherischen Beziehung und befähigt sowohl Erastes als auch Eromenos zur belangreichsten
Tugend: Mäßigung. Rechtmäßige Knabenliebe bedeutet nämlich – mit differenter
Ausformulierung für beide Partner – sich auf dem schmalem Grat zwischen schroffer
Sexualität und wahrer Liebe wandernd zu üben, sich weder sexuell zu enthemmen,
noch sich rigoros zu enthalten, sondern das Anständige vom Unanständigen zu trennen und zu lernen, Maß halten zu können. Das ist das Grenzgängerische des pädagogischen Eros der griechischen Knabenliebe.
Der grenzgängerische Charakter des sokratisch-platonischen Eros ist anderer Natur und kommt im Bild des Daimon, der seinen Weg zwischen zwei grundverschiedenen Welten geht, prägnant zum Ausdruck. Sein philosophisches Wesen treibt von
den weltlichen zu den göttlichen Angelegenheiten und kehrt erneut zum Profanen
zurück. So wurde verständlich, dass die Institution der Knabenliebe der sokratischplatonischen Erostheorie als Anknüpfungspunkt dient – in der Anabasis stellt die
körperliche Zuneigung zu schönen Jünglingen die erste Sprosse auf dem Weg zu den
übersinnlichen Ideen – und doch trat gleichzeitig der qualitative Unterschied zwi79
schen den verschiedenen Eroskonzeptionen hervor, denn es ist nicht der mythische
Gott, sondern bereits der mystische Daimon, der in der paiderastischen Bezugnahme
des sokratisch-platonischen Stufengangs waltet.
Abhängigkeit und Abgrenzung von der Paiderastie realhistorischer Prägung wurden also offensichtlich: während in der Knabenliebe auf die Realisierung des aristokratischen Ideals der Kalokagathia – des schönen und guten Mannes – abgezweckt
wird, treibt der Daimon Eros zu den metaphysischen Ideen des Schönen und Guten,
derer der Mensch letztendlich nur im beständigen Streben um Annäherung und nur
vorübergehend teilhaftig werden kann. Weiterhin: während die körperliche Schönheit
des Eromenos die notwendige Bedingung für die pädagogische Bezugnahme des
Erastes darstellt, sei „dem Adepten des Weges“ zu den ewig seienden Wesenheiten
„ein Geliebter recht ..., der seelisch wohl geraten ist, auch wenn dessen Körper nur
geringe Schönheit besitzt.“291 Obwohl sich der sokratisch-platonische Eros am Sinnlichen entzündet und der Leibesschönheit dementsprechend ein großer Wert beigemessen wird, stellt die Anmut des jungen Knabenkörpers im hierarchischen gestuften
Aufstieg doch nur die niedrigste Stufe dar, wohingegen der Erastes die Schönheit des
Jünglings an Körper und Seele als gleichwertig schätzt – abgesehen von der unmittelbaren Wirkung, die die körperlichen Reize des Knaben auf ihn ausüben. Außerdem: während der pädagogische Eros der Paiderastie auf das Menschenbild des vortrefflichen Polisbürgers bezogen ist und mit dessen erfolgreicher Vermittlung an sein
Ende kommt, ergreift der Eros sokratisch-platonischer Provenienz den Wahrheitssuchenden und wird zum Verlangen, in einem unabschließbaren Prozess dem Guten
und „dem eigenen wahren Selbst zur Verwirklichung zu verhelfen.“292 Fügte sich
also der subjektive Charakter des Eros einer paiderastischen Beziehung in die verbindlichen Normen und Werte der Polis – im Symposion wird das Verhältnis zwischen Phaidros und Eryximachos als ein gelingendes Beispiel institutionalisierter
Knabenliebe vorgestellt – droht auf der Suche nach der wahren Selbstverwirklichung
dem Aufsteigenden die Krisis, insofern die Gewissheiten des real Vorhandenen in
Frage gestellt werden und den Erotiker zunächst einmal in die Verunsicherung führen. In der gleichen Bewegung überschreitet er jedoch äußere Zwänge und nähert
sich der seienden Welt der Ideen, von denen die Dinge der Welt des Vergänglichen
und Akzidentiellen abhängig sind. Das Symposion zeigt Sokrates als einen Men-
291 Lesky 1976, S. 99. Dazu: Vgl. Platon, Symposion 210b.
292 Jaeger 1959, Bd. III, S. 263.
80
schen, der mit Hilfe des Pädagogen Eros sich dem wahren Sein zu nähern sucht, wohingegen Alkibiades in innerer Zerrissenheit zwischen beiden Welten scheitert, da er
sich letztendlich verweigerte, zum wahren Liebhaber, zum Erosergriffenen zu werden.
Rückblickend ist in beiden Eroskonzeptionen vor allem die Integration triebhafter
Impulse und ideeller Zwecksetzungen augenscheinlich geworden. Das Phänomen
Eros wird weder in der Knabenliebe noch im philosophischen Konstrukt als eine
unerklärliche Macht gesetzt – Homer und Hesiod symbolisierten Eros noch als finsteren und verhängnisvollen Liebesgott – sondern vielmehr logisiert oder zumindest
rationalisiert. Die triebhaften Energien des Menschen werden in ihrer spontanen
Mächtigkeit zwar nicht kontrollierbar, aber doch kontrollierbarer: der pädagogische
Eros ist ein domestizierter Eros.293
293 Vgl. Zehm 2004, 170f. Günter Zehm erörtert die These zwar nur für den sokratisch-platonischen
Eros, sie lässt sie jedoch ebenso auf die Knabenliebe beziehen, wobei die differenten Akzentuierungen im Vergleich deutlich wurden.
81
3. Gustav Wyneken – Streit für die Berechtigung des pädagogischen Eros in der modernen Erziehung
Galt in der Knabenliebe und bei Platon Eros noch als unverzichtbares Fundament der
Pädagogik, steht gegenwärtig die Unvereinbarkeit erotischer und pädagogischer Interaktionen wohl außer Zweifel – Eros hat seine „Legitimation und konstitutive Bedeutung für Erziehung und Bildung“ im christlich-abendländischen Gedankenhorizont letztendlich verloren.294 Die wiederkehrenden Versuche, den pädagogischen
Eros durch weitere Verfeinerungs- und Domestizierungsprozesse wieder in die Erziehung einzubeziehen und dienstbar zu machen, führten fast ausschließlich dazu, die
tabuisierten erotischen Momente des pädagogischen Eros zu suspendieren oder ihn
verschleiert zur „pädagogischen Liebe“ oder „zur Liebe zum Kind“ gesellschaftlich
einzupassen.295
Abb. 6: Gustav Wyneken (1875-1964)
294 Müller 1993, S. 51.
295 „Vom Pädagogischen Eros wird heute nur noch im übertragenen Sinne gesprochen, wenn Lehrer/innen ... über die Ausstrahlung verfügen, ihre Schüler/innen so für den Unterricht einzunehmen, daß ein Lernen gelingt. Hierin findet sich die Idee der Erotik nicht nur instrumentell missbraucht, sondern auch jämmerlich auf eine Technik verkürzt.“ (Lautmann, 1995, S. 5). – Eine
theoretisch gehaltvolle Bearbeitung der Nähethematik in pädagogischen Berufen heute und in der
Bildungsgeschichte unternimmt Werner Helsper, wenn er „Nähe versus Distanz“ zu konstitutiven
professionellen Antinomien des Lehrerhandelns zählt. Ohne von pädagogischem Eros zu sprechen, kontextualisiert Helsper die Thematik der „pädagogischen Liebe“ historisch mit Bezug auf
die Reformpädagogik (vgl. Helsper 1996, S. 521-569, v.a. S. 521-531).
82
Gustav Wyneken (1875-1964), charismatischer wie umstrittener Reformpädagoge, dessen Ideen und Engagement auch die Jugendbewegung mit entscheidenden
Impulsen beeinflusste, stellt allerdings eine Ausnahme dar. Er war der einzige namhafte Pädagoge des 20. Jahrhunderts, der seine pädagogische Theorie unter Rückgriff
auf den platonischen Eros fundierte und sein erziehendes Handeln damit legitimierte.296 Nachdem Wyneken 1921 als Direktor der Freien Schulgemeinde Wickersdorf,
die er im Jahre 1906 zusammen mit Paul Geheeb (1870-1961) als eines der vielen
reformpädagogischen Projekte der Zeit gegründet hatte, offiziell angeklagt wurde,
sich an einigen seiner Schüler sexuell vergangen zu haben, entflammte in der Öffentlichkeit eine breite Debatte über die Problematik erotischer Freundschaften zwischen
Erzieher und zu Erziehenden, über die Knabenliebe und den pädagogischen Eros,
wie sie seitdem nicht mehr in Deutschland geführt wurde. Wyneken selbst veröffentlichte zu seiner Verteidigung das Essay Eros (1921), in dem er seine Erziehungspraxis als pädagogisches Handeln im Sinne der platonischen Knabenliebe rechtfertigt.297
Im folgenden Teil der Arbeit sollen die in den beiden Hauptkapiteln gewonnenen
Ergebnisse zur klassischen Paiderastie und zum sokratisch-platonischen Eros mit den
Ausführungen Wynekens, der sich in seiner Apologie explizit auf Platons Symposion
bezieht, verglichen werden. Dabei ist der Frage nachzugehen, ob Wyneken tatsächlich den sokratisch-platonischen Eros in seiner Erziehung zu adaptieren beabsichtigte
oder vielmehr den pädagogischen Eros der Knabenliebe zu praktizieren suchte. Letzteres legen nicht nur die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nahe, sondern seine Schrift
selbst, in der er sich ausdrücklich auf die sozialhistorische Institution der Knabenliebe, auf die „Paiderastia“, bezieht.298 Gleichzeitig soll die Frage mitdiskutiert werden,
inwieweit Eros, dem Wyneken eine große Bedeutung in seiner Pädagogik einräumte,
mit den Grundsätzen der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zu vereinbaren war.
Eine Skizze des pädagogischen Konzepts der Schule und eine kurze Darstellung der
Geschehnisse um Wynekens Prozess werden vorangestellt.
296 Ebd.; Wyneken grenzt sich scharf von jeder enterotisierten Auffassung des Eros als „Liebe zum
Kind“ ab: „Wir meinen keine Gernhaberei und Nettigkeit, Onkelväterlichkeit, Wohlwollen und
sogenannte Freundschaft und Kameradschaft mit den jungen Menschen, im Gegenteil, es war nötig, aus diesen pseudoerotischen Getue herauszukommen und deutlich den Eros zu bekennen, als
den allein erlösenden und zeugenden.“ (Wyneken 1922, S. 61).
297 Vgl. Maasen 1992, S. 170; vgl. Maasen 1995, S. 38.
298 Wyneken 1922, S. 3.
83
3.1 Wynekens ‚Jugendkultur’ und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf
Aufgewachsen in einem orthodox-lutherischen Pfarrhaus und Schüler der Königlichen Klosterschule Ilfeld am Harz, entschied sich Gustav Adolf Wyneken zum Ende
seines Studiums der Theologie, Nationalökonomie, Germanistik und Klassischen
Philologie für den Lehrberuf. Im Jahre 1900 begann er im von Hermann Lietz (18681919) gegründeten ersten deutschen Landerziehungsheim in Ilsenburg seinen Dienst
als Lehrer.299 Mit der Konstituierung des Erziehungsheims entstand die Landerziehungsheimbewegung als Teil der reformpädagogischen Ambitionen im ausgehenden
19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Erneuerung erkannten die unter dem Namen „Reformpädagogik“ zusammengefassten Bestrebungen in einer „neuen Erziehung“, die sich im Zeichen ausdrücklicher Gegnerschaft zu der Institutionalisierung und Formalisierung schulischen Lernens im Wilhelminischen Kaiserreich gruppierten. In Abgrenzung zum Bildungssystem der Zeit,
das nach reformpädagogischer Überzeugung zur Verflachung und Mechanisierung,
zu Konkurrenz und geistloser Geschäftigkeit des Menschen beitrage, suchten einzelne Pädagogen und Reforminitiativen mit teilweise disparaten Konzepten und Projekten die ‚alte Schule’ umzugestalten.300
Die Reformideen von Hermann Lietz berührten im Grunde die gängigen Topoi reformpädagogischer Aspirationen: „die ‚Entwicklung’, die ‚Natur’ und die ‚Individualität’ des Kindes“301 und waren von Cecil Reddies (1858-1932) New School Movement beeinflusst, in der es unternommen wurde, durch die „‚natürliche’ Entwicklung
der Jungen“, „Emotionalität und Körperlichkeit“, wie auch durch „Zusammenarbeit“
anstelle von Konkurrenz den „‚neuen Menschen’ und eine ‚neue Gesellschaft’“ zu
schaffen. Der ‚neue Mensch’ Lietzscher Prägung sollte vor allem den Kontakt zur
Natur wiederfinden und durch körperliche Arbeit auf dem Feld und durch handwerkliche Tätigkeiten zum ‚bäuerlichen Menschen’ gebildet werden, wobei ein von der
Gesellschaft isoliertes Erziehungsheim die idealen Erziehungsmöglichkeiten dafür
bieten würde. Der Unterricht in der Schule sollte hier nationalistische Gefühle für
Volk und Heimat erwecken und die Vaterlandsliebe kultivieren.302
299
300
301
302
Kupffer 1970, S. 37f., S. 41f., S. 49.
Vgl. Baumgart 2001, S. 121-123.
Ebd., S. 121.
Vgl. Maasen 1995, S. 44-48. „Lietz hatte mit seinen Erziehungsheimen viel Erfolg.“ Nachdem
Ilsenburg zu einer Schule „für die Unterstufe, Haubinda für die Mittelstufe und Bieberstein für
die Oberschule“ organisiert wurden, gab es um 1920 „rund vierzig Schulen, die trotz mancher
Unterschiede zum großen Teil auf das Konzept von Lietz zurückgingen.“ (Ebd., S. 48).
84
Obwohl Wyneken in der Gründung des ersten Landerziehungsheims den Versuch
erkannte, die „Eigenwelt der Erziehung“ zu befördern und zugleich die Autonomie
der Schule zu sichern, sah er sich doch bald gedrängt, eine „eigene Stätte der Kultur“, in der die Jugend Verwirklichung finden sollte, zu errichten.303 Nachdem Lietz
die Leitung in Haubinda übernahm und Wyneken als stellvertretender Leiter in Ilsenburg blieb, kam es zunehmend zu Konflikten zwischen dem Begründer der Landerziehungsheime und anderen Lehrern, die grundlegende Kritik an der Konzeption
der Schulen nicht berücksichtigt sahen und nach Selbstständigkeit strebten. Wyneken, Paul Geheeb, August Halm, Martin Luserke und einige weitere Mitarbeiter
gründeten im Jahre 1906 die Freie Schulgemeinde Wickersdorf in der Nähe von
Saalfeld, die sich von den Lietzschen Landerziehungsheimen abzugrenzen suchte.304
Wyneken selbst beabsichtigte mit der Gründung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf seiner Idee der ‚Jugendkultur’ einen realen Ort zu geben, von dem aus „die
Wirklichkeit der Außenwelt von der Idealität seines Anliegens überzeugt [würde]
und der Geltungsbereich seines Entwurfs erweitert werden [könnte].“305 Abgelegen
im Thüringer Wald fand Wyneken, im Unterschied zu vielen reformpädagogischen
Projekten, die mit der Hinwendung zur Natur vornehmlich die Abwendung vom modernen Stadtleben mit all seinen negativen Konsequenzen intendierten, die geeignete
Atmosphäre zur Kontemplation, in der die Eleven der ‚neuen Schule’ „das ‚Geistig
Höhere’ erfahren“ könnten.306 Der Mensch hätte nämlich gegenüber dem ‚objektiven
Geist’ die Verpflichtung der Dienstbarkeit, nicht nur um seiner eigenen Menschwerdung willen, sondern auch zur Weiterentwicklung des ‚Geistes’ selbst.307 Der Jugend, begriffen als Lebensabschnitt und als Lebensideal, die nach den letzten Gründen und nach dem Unbedingten fragt, die neue Werte und Maßstäbe setzt und der
303 Hohmann 1966, S. 68.
304 Vgl. Kupffer 1970, S. 51-54; Maasen 1995, S. 49f.; Näf 2003, S. 89f. – In der hauptsächlich von
Wyneken und Halm verfassten Programmschrift der Schulgemeinde werden unter anderem gefordert: „die besondere schulische Betreuung ausländischer Schüler, das System des EpochenUnterrichts, die Erteilung des Religionsunterrichts nur als historische Unterweisung, nicht als
Gesinnungsunterricht, ein Kanon der zu verehrenden Musiker, Künstler, Dichter ..., die Vertiefung der philosophischen und naturwissenschaftlichen Bildung und ein stärkerer erzieherischer
Einsatz der Mitarbeiter. Pläne solcher Art gingen über die Lietzsche Form des Landerziehungsheims weit hinaus.“ (Kupffer 1970, S. 53f.).
305 Hohmann 1966, S. 81; Einfügung F.T. – Zum folgenden Abschnitt vgl. Wild 1997, S. 117-119;
Maasen 1995, S. 51-54; Hohmann 1966, S. 66-72.
306 Maasen 1995, S. 52.
307 Vgl. Hohmann 1966, S. 65f. „’Wer dem Geist dient, ihn schützt und steigert, der arbeitet, soweit
ein Glied der Welt es kann, mit an der Welterlösung.’“ (Wyneken, Gustav, Schule und Jugendkultur, 4/Jena 1928, S. 10. Zitiert nach: Hohmann 1966, S. 66.). Wyneken promovierte 1898 mit
einer Arbeit über „Hegels Kritik Kants“; möglicherweise liegt hier die Inspiration für seine eigene Lebensphilosophie.
85
Zukunft entgegenstrebt, käme es wesenhaft zu, eben diesen Geist aufzusuchen und
zu bereichern. Allerdings sei es der Jugend zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich ein jugendgemäßes Leben zu führen und zugleich eine ‚Jugendkultur’, also eine
im eigentlichen Sinne vom objektiven Geist aus abhängige und doch neue Kultur zu
entfalten, denn traditionelle Erziehungsinstanzen würden aus egoistischen Motiven
einem solchen Unterfangen permanent entgegenarbeiten. Staat, Kirche und Familie,
die materielle Werte über geistige stellten, hätten letztendlich den Anspruch verwirkt
„Kulturträger zu sein oder gar das Wachstum geistigen Lebens als Erziehungsmächte“ zu fördern.308 Zudem zielten deren pädagogische Maßnahmen gemeinhin auf die
Ausmerzung alles Kindlichen, die Adoleszenz würde als bloßes Durchgangsstadium
zum Erwachsenendasein disqualifiziert, der Jugendliche zu Unehrlichkeit und Heuchelei erzogen und somit ‚altgemacht’ werden.309 Jugend sei jedoch eine autonome
Lebensphase, mit eigenen Rechten und von spezifischem Wert. Diesem gerecht zu
werden, vermöge einzig – unter der Bedingung grundlegender Veränderungen – die
Institution Schule, denn in ihrer Macht stehe es, das geistige Leben zu steigern und
die Jugend mit der „Domäne des Geistes“ vertraut zu machen.310
Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf wäre, so Wyneken, der „’geometrische Ort
der neuen Jugendkultur.’“311 Herausgelöst aus familiären Bindungen und kirchlichen
Verpflichtungen, aufgenommen in eine zwar staatlich konzessionierte, jedoch nicht
staatlich bevormundete Schule wäre den Heranwachsenden hier der Raum gegeben,
in dem sie ihre Jugend, verstanden als Lebenstyp und als geistiges Phänomen, leben
und entwickeln könnten. Die Schulgemeinde vermittle nämlich nicht nur höhere Kultur, also klassische Musik, große Kunst und Dichtung, sondern würde zugleich die
Bedingungen dafür schaffen, dass Jugend ihre eigene Kultur hervorbringen könnte,
wodurch schließlich die Unvereinbarkeit zwischen bestehender und jugendlich neuer
Kultur aufgehoben wäre. Während sich die Jugendbewegung zur Volkskultur hinge-
308 Hohmann 1966, S. 67.
309 „Jugend [hat] ihren eigenen Sinn, ihre eigene Schönheit, ihren eigenen Wert ... und darum ein
Recht auf eine eigene diesem ihrem Sinn und Wert gemäße Lebensordnung ... bisher bestand Erziehen im künstlichen Zerstören der Jugendlichkeit im künstlichen Altmachen, jetzt soll Erziehen
gerade Herausarbeiten des Sinnes und der Idee der Jugend sein.“ Wyneken 1922, S. 60; Einfügung F.T. – Vgl. auch Wild 1997, S. 118f.; Hohmann 1966, S. 68-72.
310 Maasen 1995, S. 54.
311 Wyneken, Gustav, Was ist ‚Jugendkultur’? Öffentlicher Vortrag. Mit einem Nachtrag über den
‚Anfang’. München 1914. Schriften der Münchner Freien Studentenschaft, Hf. 1, S. 32. Zitiert
nach: Herrmann 1985, S. 228. Wyneken bezeichnet die Freie Schulgemeinde Wickersdorf auch
„als eine Pflanzstätte neuen Menschentums“, die „in keiner Weise den Charakter einer Erwerbsanstalt“ besitzen würde, sondern ihren „erzieherischen Auftrag“ ... von der „Idee, von dem Geist,
dem es in der Welt dienen wollte“, empfangen hätte. Wyneken 1922, S. 50; S. 55.
86
zogen fühlte und auch Lietz’ Pädagogik um den Begriff des ‚Volkes’ kreiste, stritt
Wyneken für eine Bildung des ‚Geistes’, die in der Freien Schulgemeinde durch das
Anknüpfen an humanistische Traditionen und die Förderung der intellektuellen Bildung Form gewann und letzten Endes nur durch den ‚genialen Erzieher’, also den
Intellektuellen und Künstler, Ausdruck finden könne.312 Unter diesen Gegebenheiten
würde die Chance eröffnet sein, dass die Jugend zu einer kulturellen Weltanschauung
gelangen könnte.313
Die ‚neue Schule’, die der Jugend ihre Eigenheiten zubilligt und ihnen ihre Rechte
einräumt, müsse sich nach Wyneken also nicht nur räumlich von den alten Erziehungsmächten distanzieren, sondern hätte auch die Beziehung zwischen Lehrern und
Schülern neu zu organisieren.314 Im Gegensatz zur Schule der bürgerlichen Gesellschaft, deren Erziehung zwischen Subjekten und Objekten unterscheide, gäbe es in
Wickersdorf ausschließlich Freunde derselben geistigen Arbeit, die Gemeinschaft
selbst hätte erziehenden Charakter. Im gleichen Atemzug müsse jedoch zugestanden
werden, dass die Jugend allein nicht in der Lage sei, eine Kultur – insofern sie geistige Bildung ist – zu generieren, sondern es bedürfe eines ‚genialen Menschen’, einer
Führerpersönlichkeit, die die Macht besitzt, die heranwachsende Generation mit dem
‚objektiven Geist’ in Verbindung treten zu lassen. In der Freien Schulgemeinde wurde dementsprechend die Figur des Lehrers abgelöst durch den ‚Führer’, der um sich
‚Kameradschaften’ von untereinander befreundeten Schülern vereinte und mit ihnen
einen sehr persönlichen Umgang pflegte, so dass Erwachsene und Jugendliche nicht
nur eine Schulgemeinschaft, sondern eine Lebensgemeinschaft bildeten. Hatte bereits
die isolierte Lage des Erziehungsheims, die zur Stärkung des Miteinanders beitragen
sollte, den Eindruck erwecken können, dass diese Kommune „nach der Art der klösterlichen Orden“ lebe, bestätigt die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Erzieher
und zu Erziehendem als die zwischen Führer und Gefolgschaft, zwischen Meister
und Jüngern eben diesen Eindruck.315 Die Ausübung von Religiosität in säkularisierten Formen der Gemeinschaft gab Anstoß zu den Vorwürfen, dass die Freie Schulgemeinde sektiererischen Charakters sei und die Schüler hier zu Weltfremdheit erzo312 „Wer seine Kinder Erziehern anvertraut, die nicht nur pädagogische Aufträge entgegennehmen
und erledigen, sondern frei und schöpferisch ihres Amtes walten, der erkennt ... an, daß die Erziehung und die Zielsetzung in der Erziehung Sache der begnadeten, schöpferischen Erzieher
ist.“ Wyneken 1922, S. 56.
313 Vgl. Maasen 1995, S. 50, S. 54f.; Herrmann 1985, S. 228-231.
314 Zum folgenden Abschnitt vgl. Kupffer 1970, S. 55; S. 24-27; Hohmann 1966, S. 74-81; Maasen
1995, S. 52-58; Wild 1997, S. 126-131.
315 Herrmann 1985, S. 228.
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gen würden.316 Wynekens Absicht bestand jedoch darin, die „gemeinschaftsbildende,
verpflichtende und prägende Funktion des Religiösen“, aber nicht dessen Inhalt aufzugreifen. Obwohl seine Form der Religion durchaus dem Christentum ähnelt, bezieht er sich doch „nur äußerlich“ auf sie, denn sie ist letztendlich nur „auf ein Gefüge von Imperativen für die rechte Haltung und Gesinnung zusammengeschrumpft.“
Ein Gefolgsmann kann Tugenden der Gläubigkeit, des Gehorsams oder der Wahrheit
„daher nicht aus eigener Verantwortung üben, sondern bleibt von Fall zu Fall auf die
Interpretation durch den Stifter angewiesen. Wynekens religiöse Ambition stellt also
im wesentlichen eine Funktion seines Geltungswillens dar.“317 Allerdings verlangte
Wyneken nicht nur als Religionsstifter Beachtung, sondern stilisierte sich zudem
noch zum genialen Erzieher-Führer mit missionarischem Sendungsbewusstsein, dem
es gegeben sei, der Jugend ihren eigenen Weg zu offenbaren – einen Weg, an dessen
Ziel letzten Endes die Realisierung Wynekenscher Ideen lauerte. Sinnfällig, dass sich
das Versprechen einer Erziehung zu autonomer Jugendlichkeit und der Anspruch auf
unumschränkte Führerschaft in greller Widersprüchlichkeit unvereinbar gegenüber
standen.318
3.2 Gustav Wyneken vor Gericht
Machtkämpfe zwischen Wyneken und Geheeb um den Führungsanspruch in Wickersdorf endeten nach zähen Streitigkeiten und öffentlichen Bloßstellungen schließlich 1909 mit dem Weggang Paul Geheebs, der im folgenden Jahr die Odenwaldschule in Oberhambach nahe Heppenheim gründete. Beschwerden gegen die Unterrichts- und Erziehungsmethoden zwangen allerdings auch Wyneken wenige Monate
später, die Freie Schulgemeinde zu verlassen.319 Wegen radikaler Reformbestrebun-
316 Vgl. Maasen 1995, S. 57.
317 Kupffer 1970, S. 182; Hervorhebung im Original.
318 „Wyneken führte die von ihm beeinflußte Jugend gründlich hinters Licht; er gaukelte ihr einen
jugendlichen Freiraum vor, der von ihm in der beschriebenen idealisierten Weise nie beabsichtigt
gewesen war, da er bei der tatsächlichen Ausführung seiner Ideen immer selbst in den Mittelpunkt rückte. In einer derart konstituierten ‚Jugendkultur’ strebte letzthin alles zum diktatorischen Übergewicht des Erzieher-Führers; das Eigenrecht der Jugend zerrann.“ Wild 1997, S. 128.
319 Vgl. Näf 2003, S. 90; Kupffer 1970, S. 55-63. – Wyneken wurde unter anderem vorgeworfen,
dass er die „Schüler intellektuell [überfordere, er] ermuntere sie zum Phrasengebrauch, führe sie
zu unzureichenden Examensleistungen und vertrete eine autoritäre Haltung, die nur seine private
Meinung als Wahrheit gelten lasse.“ (Ebd., S. 59; Einfügung F.T.). – Wyneken erkennt die
Gründe seiner Entlassung anderswo: „Im Jahre 1910 wurde ich von einer Bureaukratie, vor der
ich nicht kriechen wollte, ... aus meiner Gründung Wickersdorf vertrieben, gegen den einmütigen
Widerspruch meiner Mitarbeiter, der Wickersdorfer Jugend ... und der großen Mehrheit der Elternschaft.“ (Wyneken 1922, S. 27).
88
gen in seiner Position im Berliner und Münchener Kultusministerium unhaltbar geworden, wurde ihm 1919 die Rückkehr nach Wickersdorf ermöglicht, um dort wieder
die Leitung zu übernehmen. Doch auch seine zweite Wirkungszeit in der Freien
Schulgemeinde währte nicht lange.320
Ende 1920 wurden gegen Wyneken Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs
laut. Wie es hieß, hätte er den zwölfjährigen Heinz Herrmann und den siebzehnjährigen Viktor Behrens aus seiner Kameradschaft zum Geschlechtsverkehr gezwungen.321 Der Hilfslehrer Kurt Hoffmann hatte ein Protokoll aufgesetzt, in dem die beiden Jungen mit ihrer Unterschrift die Vorwürfe bestätigten.322 Nachdem Wyneken
überstürzt von Wickersdorf abgereist war, stellte er sich einige Tage danach der Untersuchungskommission der Schule, in der Lehrer, Schüler und die betroffenen Knaben gemeinsam Klarheit über die Vorfälle zu gewinnen beabsichtigten. Befragungen
von Herrmann und Behrens ließen jedoch Zweifel an der Richtigkeit des vorgefertigten Protokolls aufkommen, das beide Schüler nach nur flüchtigem Lesen unterzeichnet hätten. Wyneken selbst bekannte zwar, die Jungen nackt umarmt zu haben, gab
jedoch an, keine sexuellen Handlungen an ihnen vollzogen zu haben. Die Mehrheit
der Lehrer und Schüler verbürgte sich in einzelnen Resolutionen für Wyneken; dennoch legte er die Leitung der Schulgemeinde, deren Ansehen er nicht beschädigen
wollte, nieder. Kurz darauf verfügte das Staatsministerium für Kirchen- und Schulsachen von Sachsen-Meiningen seine Entlassung. Der neue Direktor Martin Luserke
berief noch am gleichen Tag die besorgte Elternschaft ein, um sie über die Vorkommnisse zu unterrichten, die genau genommen auf persönliche Rivalitäten zwischen Wyneken und anderen Lehrern im Kollegium zurückzuführen seien und letztendlich die Schulgemeinde als Ganzes schädigen sollten. Ängste von Seiten der Eltern, die Kinder könnten womöglich zur Homosexualität erzogen werden, begegnete
Luserke mit ausführlichen Darlegungen zur pädagogischen Funktion erotischer Beziehungen zwischen Erzieher und Erziehendem in der Reformschule, wobei er
320 Vgl. Maasen 1992, S. 173f. „So übernahm ich nach neunjährigem Exil Ostern 1919 wieder die
Leitung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. ... Ein neuer Kreis der Jugend scharte sich um
mich. ... Da wurde ich, nach anderthalbjähriger Wirksamkeit, wiederum gezwungen, mein Werk
und die Jugend, die mich liebte zu verlassen.“ (Wyneken 1922, S. 28). – Wyneken verweist in
seiner Schrift Eros mehrfach auf das bedrohliche ‚Außen’, die bürgerliche Gesellschaft, von der
zumeist Gefahren für sein großes Werk zu befürchten sind und betont die Integrität der Schule.
Vorwürfe innerhalb der Schulgemeinde gegen seine Person wären letztlich nur auf gemeinen
Verrat zurückzuführen.
321 Zum folgenden Abschnitt vgl. Maasen 1995, S. 127-145; Kupffer 1970, S. 129-134; Maasen
1992, S. 174-180; Geuter, S. 196-201.
322 Im Protokoll werden weitere Namen von Schülern aufgeführt, die angeblich von Wyneken zum
Geschlechtsverkehr genötigt worden wären. Vgl. Addj 1143. Zitiert nach: Maasen 1995, S. 129.
89
zugleich die sorgsame Unterscheidung zwischen Sexualität und Erotik betonte.323
Die Eltern unterstützten schließlich eine offizielle Erklärung, in der Wyneken das
Vertrauen im Namen der Schulgemeinde Wickersdorf ausgesprochen wurde. Die
daraufhin von Wyneken gegen Kurt Hoffmann eingereichte Anzeige wegen Verleumdung beim Landgericht Rudolstadt wurde allerdings ad acta gelegt, wohingegen
vom Staatsanwalt Bernhardt der ehemalige Direktor der Schulgemeinde selbst nach
§174 StGB angeklagt wurde, unzüchtige Handlungen an seinen minderjährigen
Schülern ausgeübt zu haben. In der Öffentlichkeit löste der Prozess heftige Diskussionen aus, denn dem Fall Gustav Wyneken kam eine über seine Person hinausweisende allgemeine Bedeutung zu, insofern die Vorkommnisse in Wickersdorf letztlich als
Exempel für die sich daran anschließende kontroverse diskutierte Frage der gesellschaftlichen Sexualnorm dienten.324
Entgegen Wynekens Wunsch wurde die Öffentlichkeit während der Verhandlungen aufgrund einer „vermeintlichen Gefährdung der Sittlichkeit“ ausgeschlossen.325
Während Behrens seine schwerwiegenden Behauptungen aus dem Protokoll Hoffmann vor Gericht zurücknahm, blieb Herrmann bei seinen belastenden Aussagen.
Wyneken verteidigte sich mit dem Argument, dass der Hilfslehrer seine Person zu
schädigen versuchte und die Jungen manipuliert hätte, um seine Verleumdungen inhaltlich füllen zu können. Zudem würden die pädagogischen Beziehungen zwischen
dem Erzieher-Führer und den Knaben gänzlich missdeutet werden, insofern in der
bürgerlichen Gesellschaft Nacktheit und Intimität unmittelbar gleichgesetzt würden
mit Sexualität, im konkreten Falle mit Homosexualität. Die Geschehnisse in Wickersdorf, die von Psychiatern, Medizinern und Juristen nur fehlinterpretiert werden
könnten, würden sich jedoch mit Berücksichtigung des pädagogischen Konzepts der
Schule letztendlich als unbedenklich herausstellen, denn die erotische Bindung einer
pädagogischen Freundschaft wäre, so Wyneken, praktizierter platonischer Eros.
Trotz seiner ausführlichen Darlegungen zu dem Thema Pädagogik und Eros wurde
323 „’Erotische Beziehungen in der Erziehungsgemeinschaft bestehen fortwährend. Eine solche Beziehung ist eine Neigung mit großer Innigkeit und Wärme. Diese Beziehungen sind etwas sehr
Wichtiges, Zartes, Feines, das man nicht unter Begriffe bringen kann. Die Grenzlinie des Sexuellen wird da leicht gestreift. Ich verstehe hier die Besorgnis, daß die Sachlage mißbraucht wird. ...
Der Erzieher muß alles tun, daß diese Grenze nicht überschritten wird.’“ (Luserke, Martin, Protokoll des Elterntages [AddJ 1144, S. 12]; zitiert nach: Maasen 1995, S. 137).
324 Eine Darstellung der verschiedenen Presseerklärungen, Meinungen und Urteilsbekundungen verschiedener Institutionen, insbesondere der deutschen Homosexuellen-Organisationen, findet sich
bei Thijs Maasen 1992, S. 181-191. Dazu auch Kupffer 1970, S. 131f.
325 Maasen 1995, S. 141. – Zum folgenden Abschnitt vgl. Maasen 1995, S. 127-145; Kupffer 1970,
S. 129-134; Maasen 1992, S. 174-180; Geuter, S. 196-201.
90
Wyneken 1921 vom Rudolstädter Landgericht wegen Verstoßes gegen §174 Ziffer 1
StGB und §176 Ziffer 3 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, da das
Gericht den Tatbestand strafbarer sexueller Handlungen in einem Autoritätsverhältnis schließlich als erfüllt ansah.326 Das Berufungsverfahren führte zum gleichen Urteil, das allerdings 1923 von der Thüringer Regierung wieder aufgehoben wurde.
3.3 Die Apologie des Gustav Wyneken: Eros – nur welcher?
Von den Wandervögeln bis zu den deutschen Homosexuellen-Organisationen, der
Fall Wyneken beschäftigte und irritierte die zeitgenössische Öffentlichkeit.327 Die
differenten Auffassungen der damaligen Diskussionskreise sollen jedoch weniger
interessieren als die Frage, auf welche antike Konzeption Wyneken eigentlich rekurriert, wenn er den pädagogischen Eros in den Dienst seiner auf „Neuschöpfung“ ausgerichteten, „genialen Erziehung“ stellt und gleichzeitig seine strafrechtlichen Handlungen mit Bezug auf den pädagogischen Eros vor Gericht zu rechtfertigen versucht.328 In der Sekundärliteratur und in den unmittelbaren Reaktionen auf den Prozess werden die Begriffe „Knabenliebe“, „platonische Knabenliebe“, „platonischer
Eros“, „pädagogischer Eros“ und „antiker Eros“ teilweise synonym verwendet, um
Wynekens Verständnis vom Eros darzulegen. Fokus der folgenden Ausführungen
soll daher Wynekens Verteidigungsrede sein, mit der er 1921 vor Gericht auftrat und
326 An dieser Stelle sei ein größerer Ausschnitt aus der Urteilsbegründung angefügt, nicht allein um
die Schwere der Handlungen Wynekens abschätzen zu können, sondern auch um eine Vorstellung zu bekommen, auf welche Art und Weise Wyneken den pädagogischen Eros realisiert wissen wollte. In der Urteilsbegründung heißt es: „’Im Sommer küßte der Angeklagte den Viktor
Behrens bei verschiedenen Gelegenheiten auf den Mund und sprach ihm sein Wohlgefallen aus.’
Die Initiative sei dabei von Wyneken ausgegangen. Er hätte den Jungen mit auf sein Zimmer genommen, es daraufhin abgeschlossen und den Jungen aufgefordert, sich auszuziehen: ‚Behrens,
der sich ganz im Banne, unter dem Einfluß des Angeklagten befand, tat dies. ... Sie legten sich
beide auf ein Ruhelager, sie umarmten sich dort und hielten sich mit den Beinen umschlungen,
der Angeklagte küßte Behrens auf den Mund und ins Gesicht, streichelte ihn und drückte ihn an
sich.’ Als Beweis für Wynekens sexuelle Absichten hieß es: ‚Der Geschlechtsteil des Angeklagten lag dabei auf dem Bauche des Jünglings.’ Bei der anderen Umarmung zwischen Wyneken
und Heinz Herrmann trat dem Gericht zufolge die sexuelle Komponente noch deutlicher hervor:
Während eines Ausflugs hatte Wyneken mit Herrmann in demselben Zimmer geschlafen und den
Jungen aufgefordert, sich auszuziehen und zu ihm ins Bett zu kommen: ‚Der Angeklagte nahm
inzwischen ein Handtuch oder Badetuch, das unten – am Fußende des Bettes – lag und breitete es
in seinem Bette aus. Auf dieses Tuch legte er sich dann mit dem Knaben, steckte seinen Geschlechtsteil, der steif und groß war, zwischen die Beine des Knaben und bewegte dort den Geschlechtsteil einige Male hin und her, wobei er tief atmete; dabei wurden die Schenkel des Knaben durch die ausspritzende Samenflüssigkeit des Angeklagen naß. Der Angeklagte trocknete die
Schenkel des Knaben ab und hieß ihn wieder in sein Bett gehen. Das tat der Knabe.’“ (Urteilsbegründung vom 30. August 1921, Nr. J 3952/20 [AddJ 1163]. Zitiert nach: Maasen 1995, S. 146).
327 Vgl. Maasen 1992, S .181-187; Kupffer 1970, S.131-133.
328 Badry 1976, S. 310.
91
die öffentlichkeitswirksam noch am gleichen Abend erschienen ist: Eros. Mit Berücksichtigung der erörterten Themen in den beiden vorangehenden Hauptkapiteln
soll anhand einzelner Ausschnitte der Schrift Wynekens gezeigt werden, von welchem antiken Vorbild aus gedacht der Reformpädagoge das traditionelle ErzieherZögling Verhältnis verändern wollte.
3.4 Der pädagogische Eros Wynekenscher Provenienz
„Erst die Anwendung solcher bordellmäßigen Begriffsjuristik auf den echten Eros ist
eine wirkliche Unzüchtigkeit“, schreibt Wyneken in seinem Essay Eros, das er nicht
nur zu seiner Verteidigung vor Gericht und Öffentlichkeit, sondern auch mit dem
Ziel verfasst hatte, die moralischen Grundsätze der bürgerlichen Gesellschaft und
deren Erziehungssystem radikal zu kritisieren.329 Mit aufgeladenem Pathos und bisweilen verquerer Begrifflichkeit präsentiert sich Wyneken ganz in der Pose des Märtyrers, dessen höherer Auftrag darin besteht, gegen die Dekadenz des Bürgerlichen
und für eine neue Erziehung, eine neue Generation und einen neuen Menschen zu
kämpfen.330 So zeige sich die Verderbtheit der gegenwärtigen Gesellschaft auch exemplarisch an den überzogenen Reaktionen der Öffentlichkeit sowie an der Kleingeistigkeit der Behörden, die sich erdreistet hätten, seine Beziehungen zu den Wickersdorfer Jungen in Paragraphen einzupassen und die tiefe Verbundenheit zwischen ihm und seinen Schülern nur unter den gängigen Schemata des sexuellen
Missbrauchs zu deuten. Das Hauptanliegen der apologetischen Schrift Eros besteht
aus diesem Grunde auch darin, die Konzeption des pädagogischen Eros gegen eine
sexuelle Wahrnehmung zu verteidigen und der Öffentlichkeit die Bedeutung einer
paiderastischen Bezugnahme aufzuschließen, wobei Wyneken sowohl auf die antike
Institution der Knabenliebe als auch auf den platonischen Eros Bezug nimmt.
In diesem Kontext kritisiert Wyneken vor allem die verkürzte Rezeption der griechischen Antike, deren kulturelle Leistungen nur zensiert Eingang in das deutsche
329 Wyneken 1922, S. 39.
330 „Einige standen auch erschüttert vor meinem Schicksal und sprachen von seiner Tragik. Ihnen
habe ich gesagt: ‚Weinet nicht über mich, sondern weinet über euch und über eure Kinder.’ Mir
mag widerfahren was da will: dieses Schicksal fühle ich wohl als ein tiefes Leid ..., aber gewiß
nicht als einen Sturz.“ (Wyneken 1922, S. 70). Weiter: „Ich bin Eroberer; aber ich kämpfe nicht
für mich, sondern für den Geist, der mich gesandt hat. Ich tue mein Werk, tue es in meiner Art ...
möge ein Zeitalter aufhorchen, das beständig nach einem neuen geistigen Adel Ausschau zu halten vorgibt“ (ebd., S. 63). Zum Topos des ‚neuen Menschen’ bei Wyneken ebd., S. 42f. – Vgl.
zum Diskurs um den „Neuen Menschen“ in den deutschen Reformbewegungen der vorletzten
Jahrhundertwende Scholz 2002, S. 45-48.
92
Bildungssystem gefunden hätten, so dass die eigentliche Idee griechischer Bildung
und Erziehung lediglich in Fragmenten, gleichsam in bürgerlicher Lesart adaptiert
worden sei und folglich depraviert wäre. „Wenn Kultur ein Ganzes, Einheitliches ist,
so ist schwer zu sagen, mit welchem Recht man beim Studium, bei der Übermittlung
und bei der Verherrlichung der Antike einen so wesentlichen Faktor einfach auslassen durfte, ohne das Ganze zu verfälschen“.331 Wyneken meint hier die Paiderastie
und beginnt den Versuch, Eros als maßgebliche Größe in die pädagogische Praxis
seiner Zeit zu integrieren, wobei er einerseits an die traditionelle Affinität der Deutschen zum Griechentum anknüpfen und andererseits den tabuisierten Bereich von
Sexualität, Erotik und Sinnlichkeit thematisieren kann.332
Wynekens Vorhaben, Eros als erzieherische Kraft zu begründen, zu modifizieren
und praktisch werden zu lassen, stützt sich folglich auf die antike Knabenliebe, die er
in seiner Abhandlung als hehre pädagogische, vom paidon eros getragene Interaktion
vorstellt und zugleich gegen den Vorwurf des sexuellen Übergriffs verteidigt. „Paiderastia – ich wähle das griechische Wort, weil es ein gleichbedeutendes und gleichwertiges im Deutschen nicht gibt, denn von der ‚Päderastie’ ist die Paiderastia etwa
so weit verschieden, wie das Gymnasion vom Gymnasium – heißt Liebe zu Knaben,
auf Knaben gerichteter Eros.“333 Wyneken verweist auf die griechische Knabenliebe,
nicht nur um wesentliche Merkmale des pädagogischen Eros, also seine zeitgleiche
Abhängigkeit und Abgegrenztheit von Sexualität, an einem realhistorischen Beispiel
aufzuzeigen, sondern auch um die erotische Beziehung zwischen Erzieher und zu
Erziehendem pädagogisch zu rechtfertigen und dem medizinisch-psychiatrischen
Erklärungsmuster zu entziehen.334 So zeichnet Wyneken großtönend und unter Auslassung einer detailreichen Analyse die Beziehung zwischen Erastes und Eromenos
grundlegend als ein „sinnlich bedingtes“, doch „geistiges Freundschaftsverhältnis“,
in dem beide Partner, vornehmlich jedoch der Knabe, zu Wehrhaftigkeit und Tugend
331 Ebd., S. 8.
332 „Wynekens Interesse für die griechische Antike kann nicht unabhängig von der Bildungstradition
gesehen werden, in der die antike Kultur als Gegengewicht zur modernen Gesellschaft fungierte.
Nach seiner Auffassung konnte die deutsche Kultur, die ihre Wurzeln in der griechischen Antike
habe, nicht an der Bedeutung des Pädagogischen Eros vorbeigehen, dem eine wichtige Funktion
bei der Tradierung von Kultur zukomme.“ Maasen 1995, S. 77.
333 Wyneken 1922, S. 3.
334 In diesem Kontext weist Wyneken neben den vergeistigenden Aspekten auch auf sexuelle Momente in der Knabenliebe hin: „Eros ... ohne irgendein automatisches Mitklingen der Sexualität
ist nicht möglich.“ (Wyneken 1922, S. 24). „Damit bekennt er sich – ohne es direkt auszusprechen – zu einem Erziehungsverhältnis, das auch den Geschlechtstrieb gleichsam in Kauf nehmen
könne, wenn es nur von Liebe zur Jugend und von erzieherischer Verantwortung getragen sei.“
(Kupffer 1970, S. 133).
93
angehalten werden und überhaupt „die griechische Gesellschaft die Knabenliebe ...
als eine einfache seelische Gegebenheit [hinnahm], ... sich ihrer [erfreute] und dem
Staatswohl nutzbar [machte].“335 Der pädagogische Eros, gegenwärtig diskreditiert,
erweist sich im antiken Griechenland, Dessin deutscher Bildungsideen, als gesellschaftlich legitimiert, im Weiteren sogar als „ein integrierender Bestandteil der antiken Kultur in der Zeit ihrer höchsten Blüte und reinsten Entfaltung.“336 Historisch
belegbar sei damit eine Erziehung, die Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Erotik nicht
aus-, sondern einschließt, körperlich schöne, seelisch edle und geistig hohe Menschen hervorbringt, die schöpferisch tätig sind und neue Werte schaffen; – wohingegen eine entsinnlichte und enterotisierte Pädagogik nur mechanisierte Bürger eines
Staates reproduziere. Die Griechen, „eine Adelsmenschheit, wie es keine zweite gegeben hat“, hätten noch um den unverzichtbaren erzieherischen Wert des Eros gewusst.337
Umso verlogener erscheint Wyneken das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft, in deutschen Lehranstalten das Kind klassisch zu bilden. Zwar lernten die
Schüler deutscher Gymnasien Altgriechisch und müssten antike Autoren auswendig
vorbeten können, um zu ‚Griechendeutschen’ zu werden; sie verkümmerten jedoch
über alledem zu kopflastigen Krüppeln, anstatt einen „hellenischen Geist“ aufzunehmen, der kraftvoll Eigenes schaffe. Der Reformpädagoge projektiert in Abgrenzung zur ‚alten Schule’ eine „aufs Ganze des Menschen gerichteten Erziehung“, in
der sowohl Körper als auch der Geist ihre Berechtigung erfahren, um „einen neuen
Menschentyp“ zu schaffen, „dessen Körperlichkeit beseelt, dessen Geistigkeit blutdurchströmt ist.“338 Dazu ist ihm die Knabenliebe der Antike zwar Anregung für eine
335 Wyneken 1922, S. 7, S. 13; Einfügung F.T. In Wynekens Essay werden durchaus aufklärerische
Aspekte deutlich. Selbst berühmte Altertumswissenschaftler weigerten sich in dieser Zeit, mit
unverstelltem Blick auf „dieses so beherrschende griechische Kulturphänomen“ zu schauen und
moralische Bedenken auszublenden. (Patzer 1982, S. 8). Harald Patzer skizziert in seiner Einleitung zur griechischen Knabenliebe die Irritationen, die das Phänomen der Paiderastie bei Philologen und Historikern noch Anfang des 20. Jahrhunderts hervorrief. Dabei zeigt er, wie deren
Moralempfinden zu einer verzerrten Wahrnehmung der sozialhistorischen Institution führte und
Tabuisierungen Vorschub leistete. Allerdings sticht der 1907 erschienene Aufsatz von Erich Bethe „Die dorische Knabenliebe“ unter den gängigen Abhandlungen der Zeit hervor, insofern der
Autor nämlich bemüht ist, sich in seiner Untersuchung von modernen Werturteilen zu distanzieren und vielmehr zu ergründen, wie die Griechen selbst die Knabenliebe beurteilten. „Bethes
neue Sichtweise war ein Vorgriff auf die Zukunft, der für seine wissenschaftlichen Zeitgenossen
noch außerhalb des Tragbaren war.“ (Ebd., S. 13). Wyneken bezieht sich in seiner Apologie auf
zwei wissenschaftliche Schriften – Hauptreferenz ist die von Erich Bethe.
336 Wyneken 1922, S.8.
337 Ebd., S. 17.
338 Ebd., S. 23, S. 21f. „Wenn man den Jungen die Köpfe abschneiden und diese auf die Pulte stellen
und für sich allein unterrichten könnte, hätte man die Körper ... gar nicht nötig. Da die Gehirne
94
Körper bejahende und geistige Bildung, doch dient sie ihm dennoch nicht als eine zu
vervielfältigende Vorlage, da sie letztlich doch nur ein „geschichtliches Beispiel“ für
den pädagogischen Eros sein könne und nichts „äußerlich zu Kopierendes, oder überhaupt Wiederholbares“ sei. „Der Eros selbst ist ewig und unsterblich, aber seine
Erscheinung wird in verschiedenen Kulturen und Gemeinschaften verschieden
sein.“339 Kurzum, Wyneken proklamiert in seiner Apologie, Eros den ihm gebührenden Platz in der Pädagogik wieder einzuräumen, wobei die Knabenliebe der griechischen Archaik und Klassik dem Reformpädagogen nicht nur Inspiration für eine
sinnliche Erziehung ist, sondern auch als Bestätigung für die Annahme dient, dass
die paiderastische Bezugnahme sowohl einen gelingenden Erziehungsprozess gewährleistet als auch Knaben zu vortrefflichen Männern bildet. Die Moderne müsse
freilich selbst ihre eignen Ausdrucksformen des pädagogischen Eros finden – ein
Prozess, an dessen Anfang Wyneken seine Erziehung setzt.
Hochachtungsvoll und mit großem Pathos bezieht sich Wyneken auch auf die Eros-Konzeption des platonischen Dialogs Symposion. „Der platonische Eros [gehört]
zu den heiligen Gütern der Menschheit. Seine große Leistung für die Menschheit
aber ist die Erziehung.“340 Mit einem längeren Zitat aus der Rede der Diotima, in der
die Seherin die sokratische Maieutik als erotische Pädagogik beschreibt, illustriert
Wyneken den erziehenden Eros, dessen wesentliche Merkmale an dieser Textstelle
genannt werden: Eros entzündet sich am Sinnlichen, in concreto an der Schönheit des
Knaben und Eros ist von sublimierender Kraft, der Knabenliebhaber zeugt mit dem
Jüngling „schönere und unsterblichere Kinder“ als die des Leibes.341
Wenngleich Wyneken an einigen ausgewählten Stellen den platonischen Eros feiert und diesen gelegentlich einen „Dämon“ nennt, so beansprucht doch die Diskussion der realhistorischen Paiderastie einen weitaus größeren Raum in seiner Schrift, so
dass nunmehr der Eindruck entsteht, Wyneken stelle zwar auf die vergeistigenden
Aspekte des pädagogischen Eros ab, sähe aber vornehmlich solche sinnlichen Ele-
aber als Anhängsel noch einen Körper haben, werden für diesen ein paar Turnstunden in den
Schullehrplan eingeschoben. So ist es typisch für eine fortgeschrittene Zeit, die körperliches und
geistiges Dasein ‚schon’ ordentlich trennen kann.“ (Ebd., S. 20). Weiter: Es wäre ein „Irrtum zu
glauben, unsere ‚klassische’ Bildung habe etwas mit antiker Kultur zu tun oder vermittle antiken
Geist. ... Wie lernen Griechisch, wir lernen allerlei über die Griechen, aber nichts von den Griechen ... aber was geht dabei von ihrem inneren Wesen uns ins Blut über?“ (Ebd., S. 23).
339 Ebd., S. 25.
340 Wyneken 1922, S. 47; Einfügung F.T.
341 Wyneken bezieht sich auf Platons Symposion 209b-209c, belegt aber die Stelle nicht. Wyneken
1922, S. 48.
95
mente in der Erziehung vernachlässigt, für die letztlich doch die realhistorische Knabenliebe Vorbild sei.342
Aus den bisherigen Auszügen der Schrift Eros ist deutlich geworden, dass Wyneken den pädagogischen Eros als eine Beziehungsform fasst, die in der Geschichte
immer wieder eine neue Gestalt gefunden hat, wobei jedoch sein Wesen in den
wechselnden Ausprägungen stets unverändert blieb. In der Knabenliebe und im platonischen Dialog Symposion wäre Eros nicht nur in seiner ursprünglichen, sondern
auch in schöner Form praktiziert oder doch zumindest konzipiert worden.
Wyneken orientierte sich in seiner Erziehung am antiken Griechentum, beabsichtigte aber zugleich eine eigene vom Eros getragene pädagogische Praxis zu begründen, also eine „neue Erziehung, Erziehung im Sinn der Zukunft, der Erlösung, des
neuen Lebens“, denn nur sie besäße das Potential „den neuen Menschen ... zu schaffen.“343 Der neue Mensch, der als Knabe nicht mehr „Zögling“ oder „Schüler“, sondern in „den großen Zeugungsprozeß neuen Lebens“ hineingerissen worden wäre,
würde unausbleiblich durch seinen inneren Adel, seine charakteristische Hoheit und
schöpferische Tatkraft gegenüber dem mechanischen und versachlichten Begriffsdogmatiker der Gegenwart hervorstechen.344 Denn während die „Berechnungspädagogik“ der bürgerlichen Gesellschaft in Familie, Schule und Kirche nur zu Stillstand
und Geistlosigkeit erziehe, würde der geniale, freie und berufene Erzieher-Führer
motiviert durch die Schönheit der Jugend und beseelt durch Eros, „Dämon“, „Urphänomen“, „Geschenk der Götter“, die erwählten Knaben erkennen und mit ihnen
durch einen „heiligen Bund“, „wie durch Blutgemeinschaft“ verbunden sein, um
leidenschaftlich das „neue Leben, das ... nach seiner Verwirklichung und Entfaltung
drängt“, zu schaffen.345
342 So ist auch sein Plädoyer für eine neue Körperkultur und ein gewandeltes Verhältnis zur Nacktheit zu verstehen: „Nacktheit nicht kennen heißt den Körper nicht kennen. ... Die Scheu vor dem
nackten Körper ist eine Giftquelle in unserer Zivilisation; sie speist unzählige perverse Triebe
und niedrige Gelüste.“ Vgl. ebd., S.20-24, hier S. 22.
343 Wyneken 1922, S. 42f.
344 Ebd., S. 43, S. 62f.
345 Ebd., S. 64, S. 27, S. 60, S. 45, S.64f. „Durch das Führertum, und nur durch dieses, vollzieht sich
die höchste und wertvollste Erziehung, die einzige, die wahrhaft menschenbildend und darum
schöpferisch ist.“ (Ebd., S.52). „Ich weiß wohl, ein Wagnis ist mit einem solchen Verhältnis immer verbunden. ... Die eigentliche Gefahr besteht vielmehr in dem Ernst der Entscheidung, der
eine Umkehr zum Gemeinen und Platten, zur breiten bürgerlichen Straße nicht mehr gestattet.“
(Ebd., S. 59).
96
Wyneken verstand sich selbst als den Erzieher-Führer par excellence.346 Angetreten, um angeblich gegen Ungleichheit und Herrschaft in der pädagogische Praxis zu
kämpfen und der Jugend zu einer eigenen Kultur zu verhelfen, war das anscheinend
auf Gleichheit und Freundschaft basierende Verhältnis zwischen Wyneken und seinen Schülern tatsächlich als eine Beziehung konzipiert, in der von den Knaben bedingungslose Unterwerfung unter die Direktiven des ‚genialen Meisters’ gefordert
und jede Kritik unter den Verdacht des Verrats am großen Plan der Welterlösung
gestellt wurde. Die erotische Bezugnahme von Erzieher und Zögling wird nicht als
ein Prozess der sukzessive herzustellenden Autonomie des Heranwachsenden verstanden, sondern als unauflösliches Abhängigkeitsverhältnis konstruiert, dessen Gestaltung der Willkür und beliebigen Interpretation des Führers freigegeben ist. Die
Perspektive des Knaben wird nicht thematisch, die Frage, „ob die Knaben Zärtlichkeiten, Verführungen, sexuelle Manipulationen oder Übergriffe mögen“ und „wie sie
mit dem Rollenwechsel (vom Erzieher zum Liebhaber) umgehen“, wird nicht gestellt.347 Appelle, dass es die Einzigartigkeit der Beziehung erfordere, öffentlichen
Diskussionen und Kontrollen entzogen zu werden, zielen nur auf eine zusätzliche
Immunisierung der Herrschaft des Erzieher-Führers gegen Kritik und zwecken somit
auf die Betonierung der asymmetrischen Beziehungsstruktur ab.348 Ein derartiges
Erziehungsverhältnis erinnert weder an die erotische Bezugnahme der rechtmäßigen
Knabenliebe, die nach einigen Jahren in eine gleichberechtigte Freundschaft eingeht,
noch an eine sokratisch-platonische Liebesbeziehung die sich durch Konvergenz beider Partner auszeichnet.349
346 „Weil ich gewagt habe, zu lieben, ohne innere Bängnis und Hemmung meinem Dämon und meiner Natur vertrauend, darum wurde mir die Schau zuteil und die Berufung, den Anfang zu machen mit der Erlösung der Jugend und mit der Bereicherung unserer Kultur um diesen großen ewigen, aber verkannten Wert.“ (Ebd., S. 61).
347 Kiper 1994, S. 112.
348 Vgl. Wyneken 1922, S. 40, S. 57.
349 Ein Vertreter der Berliner Eltern hatte im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Wyneken zu
bedenken gegeben: „Es ist eben anders, ob man alles leugnet, oder ob man es damit entschuldigt,
bei den Griechen sei es auch so gewesen.“ (Protokoll des Elterntages [AddJ 1145, S. 12f.]; zitiert
nach: Maasen 1995, S. 137).
97
Fazit
Gott, Daimon, Missetäter. In der vorliegenden Arbeit wurden drei pädagogische
Konzeptionen vorgestellt, die sich auf Eros als konstitutives Moment von Erziehung
beziehen, sich gleichzeitig aber in der je konkreten Ausgestaltung der Frage nach
Vereinbarkeit von Erotik und Pädagogik voneinander unterscheiden. In den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit konnten die Divergenzen und Konvergenzen der angesprochenen Erziehungsmodelle detailliert deutlich gemacht werden, wobei in jedem
Fall ersichtlich wurde, dass eine Erziehung, die unter das Vorzeichen des pädagogischen Eros gestellt ist – zumindest in der Außenperspektive – als problematisch
wahrgenommen wird: nicht nur in der Moderne, sondern auch schon in der Antike.
Für die griechische Knabenliebe konnte nachgewiesen werden, dass ihre Praxis in
höchstem Maße einer strengen sozialen Kontrolle und permanenten Problematisierung unterstand, um das Moment des Sexuellen, das impulssetzend für die Beziehungsaufnahme zwischen Mann und Knaben war, auf seinen Initiativcharakter zu
beschränken und in der weiteren Entwicklung der Beziehung zwischen Erastes und
Eromenos zu verfeinern, pädagogisch und sozial nutzbar zu machen (Kapitel 1).
Platon rekurriert in seinem hierarchisch aufgebauten Stufengang auf den pädagogischen Eros der zeitgenössischen Knabenliebe, modifiziert diesen jedoch grundlegend, zu einem vergeistigenden Phänomen. Die als bedrohlich wahrgenommene
sinnliche Motivation in der Paiderastie besitzt bei ihm dennoch eine herausragende
Bedeutung. Sie stellt die notwendige Bedingung, um überhaupt ein Bestreben zum
Intelligiblen zu entwickeln; Sinnlichkeit und Körperlichkeit stehen zugleich aber
auch für eine zu überwindende Stufe auf dem Weg zum geistig Hohen (Kapitel 2).
„Durch diese intellektuale Sinngebung gliederte er [Platon] die dunklen Mächte in
den Kosmos seiner Erziehung ein, den sie zu sprengen drohten.“350
Das wesentliche Merkmal des pädagogischen Eros, von Sexualität zwar abhängig,
zugleich aber auch abgegrenzt zu sein, verleiht dieser erzieherischen Praxis den Charakter eines Kippbildes, wie zuletzt noch einmal am Fall Gustav Wynekens deutlich
geworden ist. Wynekens „Transformationsversuch, die Erotik für die Pädagogik
[wieder] verwendungsfähig zu machen“, ist letztendlich „gescheitert.“ Diskreditiert
durch eine die eigene Willkür legitimierende Pädagogik wird Wynekens Absicht, die
350 Rabbow 1960, S. 59; Einfügung F.T.
98
Erziehung zu erotisieren, heute und auch schon in Wynekens Zeit als „verantwortungslos“ und „geschickt getarnte Jugendverführung“ bewertet.351 Die Lektüre seiner
apologetischen Schrift Eros, in der Wyneken seine Vorstellungen über ein verändertes Erzieher-Zöglings-Verhältnis darlegt, lässt die emotionale Überfrachtung erahnen, mit der der Leiter der Schulgemeinde Wickersdorf seine Schüler beanspruchte
und überforderte. In „schwülstigen Kaskaden der Selbstinszenierung“, symbolisch
aufgeladen, quasi-religiös überhöht und antifeministisch eingefärbt, produziert Wyneken eine aus leeren Worthülsen bestehende ‚neue Pädagogik’, die an seine Person
gebunden ist und größtenteils inhaltslos bleibt.352
Wynekens Apologie Eros ist in der Geschichte der Pädagogik nicht die letzte Bezugnahme auf eine erotisch fundierte Pädagogik geblieben. Von einer partiellen Rezeption Wynekens ausgehend, haben die Theoretiker der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik den Terminus des pädagogischen Bezuges geprägt; Professionalisierungsund Schultheorien unserer Tage diskutieren „Antinomien des Lehrberufes“ und bearbeiten die spezifische Problematik von Nähe und Distanz zwischen Schüler und Lehrer. Ein Blick auf die in dieser Arbeit diskutierte Geschichte zeigt, wie weit zurück
sich diese Probleme zurückverfolgen lassen.
351 Wild 1997, S. 142, S. 140; Einfügung F.T.
352 Ebd., S. 139.
99
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Bildnachweis
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http://www.prometheus-bildarchiv.de/, 15.04.2007.
Abb. 1: Erregter erastés wirbt um einen erómenos. Attische rotfigurige Platte, 530430 v.Chr., Oxfort. In: Christes, Johannes/Klein, Richard/Lüth, Christoph (Hg.),
Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike. Darmstadt 2006, S. 65.
Abb. 2: Grabstele eines jungen Mannes, der mit seinem Eromenos dargestellt ist;
Marmor, um 470 v. Chr. Rhodos, Großmeisterpalast. In: Katalog der Ausstellung
im Gropius-Bau, Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit. Berlin 2002, S.
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Abb. 3: Symposion, griechische Vasenmalerei, um 460-450 v. Chr., Außenbild einer
Schale. In: Delius, Christoph u.a., Geschichte der Philosophie von der Antike bis
heute. Köln 2000, S. 13.
Abb. 4: Die Tyrannenmörder Harmondios und Aristogeiton. In: Barceló, Pedro,
Kleine griechische Geschichte. Darmstadt 2004, S. 85.
Abb. 5: „Platons Akademie“. Fussbodenmosaik aus Pompei. 1. Jh. v. Chr., Nationalmuseum, Neapel. In: Georgios, Papadogeorgos, Berühmte Männer des antiken Griechenlands. Athen 2003, S. 51.
Abb. 6: Gustav Wyneken. In: Kupffer, Heinrich, Gustav Wyneken. Stuttgart 1970,
vordere Einbandseite.
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