Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters (Hg.)
DAS DÄMONISCHE
Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters (Hg.)
DAS DÄMONISCHE
Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit
nach Goethe
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
Jan Van Treeck
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
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Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5488-1
INHALT
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
Einleitung: Dämonen, Dämonologien und Dämonisches:
Machtkämpfe, Verteilungsstrategien .............................................. 9
I.
BETTINA SCHLÜTER
daemon.exe – Szenarien von Dienst und Herrschaft im
21. Jahrhundert ............................................................................. 27
NIKLAUS LARGIER
Ästhetik der Disfiguration. Ein Essay zur Versuchung
des Antonius durch die Dämonen................................................. 43
ANDREAS GÖßLING
„Göttliche Reiter auf tanzenden Menschenpferden“.
Über Besessenheit im Voodoo ..................................................... 53
II.
ROLAND BORGARDS
Morphologischer Dämon. Zur ersten Strophe von Goethes
Urworte. Orphisch ........................................................................ 65
CORNELIA ZUMBUSCH
Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes
Wilhelm Meisters Wanderjahren .................................................. 79
ANGUS NICHOLLS
The Goethe Complex: Hans Blumenberg on
Das Dämonische ........................................................................... 97
III.
RÜDIGER CAMPE
„Der Dämon des Laplace“. Über die Nachträglichkeit des
Beobachters im System der Welt ............................................... 123
MAXIMILIAN BERGENGRUEN
Dämonomanie. Verfolgungswahn, Magnetismus und
Vererbung in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann ....................... 145
DANIEL WEIDNER
„Ungeheure Gespenster am mitternächtlichen Himmel“.
Heinrich Heines Dämonen am Ende der Literatur ..................... 173
PETER FENVES
Kierkegaard and the Definition of the Demonic ................................... 193
AAGE A. HANSEN-LÖVE
Dämonik des Banalen – Idyllen des Grauen(s):
Gogol – Stifter – Gončarov ........................................................ 201
ERNST OSTERKAMP
Dämonisierender Realismus. Bemerkungen zu
Theodor Storms Erzählkunst ...................................................... 227
IV.
KIRK WETTERS
The Luciferian and the Demonic in Georg Lukács’
Die Theorie des Romans............................................................. 243
LARS FRIEDRICH
Das dämonische Werktheater. Hofmannsthals Selbstinterpretationen .. 267
HARUN MAYE
Paradoxien der konservativen Revolution. Das Dämonische
der Kultur bei Thomas Mann und Oswald Spengler .................. 291
VIVIAN LISKA
Against Melancholy. On the Demonic in
Gershom Scholem ...................................................................... 311
EVA AXER
Alldeutig, zweideutig, undeutig. Walter Benjamins ‚Bezwingung‘
dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay ............................ 325
ETHEL MATALA DE MAZZA
Schneegestöber und Abfall. Residuen des Dämonischen in
Siegfried Kracauers Essay über die Photographie...................... 345
V.
HANS-CHRISTIAN VON HERRMANN
Dämonie der Technik. Max Benses Geistesgeschichte der
Mathematik ................................................................................. 363
ARNE DE WINDE
Die Physiognomik des Dämonischen: Wilhelm Fraengers
Bildlektüren ................................................................................ 373
RUDOLF HELMSTETTER
Tangentiale Dämonologie. Heimito von Doderer ................................. 395
CHRISTIAN MEIERHOFER
Русский Демонзм – Russische Dämonie.
Über Viktor Pelewins Buddhas kleiner Finger, seine literatur- und
philosophiegeschichtlichen Bedingungen und das Dämonische als
Variable einer Romantheorie ...................................................... 417
AUTORINNEN UND AUTOREN .................................................... 437
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
Einleitung
Dämonen, Dämonologien und Dämonisches:
Machtkämpfe, Verteilungsstrategien
I.
Wenn es Dämonen gibt, dann schon ziemlich lange. Gegenwärtig erfreuen sie
und allerhand Dämonisches sich besonderer Beliebtheit im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (etwa bei Philip Pullman1), in der Esoterik und in
Computerspielwelten, die der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Suarez
in seinen Romanen weiterdenkt.2 Ob sie im Unvordenklichen hausen oder in
den dislozierten Untiefen digitaler Welten, immer noch und immer wieder
sind Dämonen unruhig-beunruhigende Zwischenwesen, die keiner Sphäre eindeutig zugeordnet werden können: Sammelplatz für das, was sich nicht versammeln lässt, eine Kategorie für Zwei- und Mehrdeutiges.3 Angesichts der
derzeitigen Konjunktur von Ambivalenztheorien,4 eines neu erwachten Interesses an politisch-theologischen Fragestellungen (Sloterdijk, Agamben,
Žižek) und schier grenzenloser Faszination für Mischwesen (Engel, Androide,
Gespenster, Monster und andere ‚Hybride‘) überrascht, dass ausgerechnet das
von Goethe im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit für die Moderne sozusagen salonfähig gemachte Dämonische jenseits der Goethe-Philologie bislang
selten befragt wurde.5 Die seit Paul Tillichs Studie von 1923, wenn nicht abgebrochene, so doch latent gewordene, Diskussion ist aufzunehmen und zu vertiefen mit dem Ziel, einen vernachlässigten, aber offenbar bis in die jüngste
Gegenwart beharrenden Komplex mit großer Streubreite neu zu beleuchten.
Dabei gilt es zunächst, die stattliche Fülle seiner Kontexte und Konstellierun-
1
2
3
4
5
Vgl. Philip Pullman, His Dark Materials, Trilogy, New York, 1995, 1997, 2000.
Vgl. Daniel Suarez, Daemon, New York, 2006. Vgl. auch Bettina Schlüters Beitrag im vorliegenden Band.
In der vom Großmeister H.P. Lovecraft so definierten „weird literature“ von Horror und ‚gothic‘ hatten Dämonen und Dämonisches freilich schon länger ihren festen Platz. Gegenwärtig
scheint sich auch die Philosophie in Gestalt der ‚new‘ oder ‚speculative realists‘ auf dieses
Erbe zu besinnen. Vgl. Abyssus Intellectualis. Spekulativer Horror, hg. v. Armen Avanessian
u. Björn Quiring, Berlin, 2013.
Vgl. Amphibolie, Ambiguität, Ambivalenz, hg. v. Frauke Berndt u. Stephan Kammer, Würzburg, 2009.
Vgl. Paul Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen,
1926; Angus Nicholls, Goethe’s Concept of the Daemonic: After the Ancients, Rochester,
2006; Kirk Wetters, Demonic History from Goethe to the Present (erscheint 2014).
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LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
gen nach Goethe zu rekonstruieren, um den Nachweis zu führen, dass das
Dämonische sein Wesen oder Unwesen bis heute treibt.
Dies geschieht im vorliegenden Band unter zwei einschränkenden Voraussetzungen: unter Verzicht auf Vollständigkeit zugunsten exemplarischer Analysen und, damit verbunden, nach Maßgabe der Entscheidung, die personalisierten Dämonen der paganen Antike und die Dämonologien des christlichen
Mittelalters vom Dämonischen seit Goethe zu trennen und sich auf Letzteres
zu konzentrieren. Diese Entkoppelung von Dämonen und Dämonischem, mit
der wir einem Vorschlag Kirk Wetters folgen6, ist heuristischer Art. Das ist im
Folgenden zu erläutern, zunächst in Gestalt einer so kursorischen wie vorentschiedenen Sichtung des hier weitgehend ausgeschlossenen Materials. Ihr Anspruch kann nicht sein, in der Einleitung nachzuholen, was im Band ausfällt.
Aber die Entscheidung für das Dämonische statt der Dämonen ist zu plausibilisieren (II, III, IV) und vor diesem Hintergrund sind das Anliegen des Bandes
und die Anordnungslogik seiner Beiträge zu formulieren (V).
II.
An einer Stelle im ersten Gesang der homerischen Ilias, die als einer der ältesten Belege für den Gebrauch des Wortes gelten kann, ist von Dämonen denkbar beiläufig die Rede. Nachdem die Göttin Athene im Streit zwischen Achill
und Agamemnon vermittelnd interveniert und eine gewalttätige Eskalation
verhindert hat, kehrt sie in den Olymp zurück, „an die Stätte des donnernden
Zeus, zu den anderen Göttern [meta daímonas allous].“7 Für den flüchtigen
Übergangsmoment, da die Göttin in den Olymp zurückkehrt, reicht dem Erzähler diese knappe Umschreibung seiner Bewohner, um die Athene-Episode
zu beschließen und zu dem Streit zwischen den beiden griechischen Helden
zurückzukehren. Götter werden zu Dämonen in dem Moment, da sich der Erzähler von ihnen abwendet, sozusagen hinterrücks. Wenngleich der Göttervater Zeus gesondert erwähnt wird, unterschlägt der Erzähler (im griechischen
Original) seinen Eigennamen und rückt damit auch ihn in eine Reihe mit den
„anderen Göttern“, die im weiteren Verlauf der Ilias Partei für die eine oder
andere Seite ergreifen und sich ins Kriegsgeschehen einschalten werden. Die
Wendung, mit der Homer Dämonen als Synonym für Götter in die epische
Sprache einführt, verzichtet auf eine olympische Hierarchie und göttliche Gewaltenteilung; auch Bestimmungen des Verhältnisses von göttlichen und
menschlichen Wirkungssphären werden ausgespart. „Dämonen“ – das sind die
„anderen Götter“, oder auch: Götter anders als im Stand ihrer reinen Göttlichkeit. Ihr Wesen und ihr Einfluss auf die irdischen Begebenheiten sind noch offen und in jeder Situation neu zu beschreiben. – Das ist vielleicht nicht ‚der‘,
6
7
Vgl. Wetters, Demonic History, 1. Kapitel.
Homer, Ilias, gr.-dt., übers. v. Hans Rupé, 9. Aufl., München, Zürich, 1989, I, v. 222.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
11
aber ‚ein‘ Anfang, der für Dämonen und Dämonisches gleichermaßen lange
verbindlich bleibt. Es gibt sie nicht, sondern sie werden jeweils erst.
Obwohl die zitierten homerischen Dämonen unspezifisch bleiben (und deshalb schon Indikator eines Unspezifischen sein könnten, das modern Kontingenz heißt), zeichnen sich in dieser Episode der homerischen Ilias bereits
die beiden Wege ab, welche die Rede von den Dämonen in der platonischen
Philosophie nehmen wird. So kann man einerseits Athenes, Achill von seinen
Plänen abratende, Rede im sogenannten daimonion des Sokrates der Apologie
wiedererkennen. Angeklagt, Dämonen und damit „anderen“8 Göttern Glauben
zu schenken, die Jugend zu verführen und sich den öffentlichen Staatsangelegenheiten entzogen zu haben, beruft sich Sokrates bei seiner Verteidigung auf
eine innere Stimme (phone), „welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir
von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie.“9 Bei Homer und bei Platon reden Dämonen den Menschen etwas aus und ab. Doch ist
aus der Achill im homerischen Epos sinnlich erscheinenden Göttin bei Platon
ein körperloses akustisches Phänomen geworden. War das Erscheinen der
Göttin im Epos an eine einmalige Situation gebunden, in der sie nur Achill
sichtbar war, wird der sokratische daimon zur Stimme einer immer gleichen
Abrede. Bleibend sein eigen nennen darf sie jedoch dieser und nur dieser Sokrates. Bei Platon ist aus dem generischen daimon die Signatur sokratischer
Individualität geworden.10
Andererseits kann man der vermittelnden Tätigkeit der homerischen Athene
eine Affinität zu der Funktion nachsagen, die in Platons Symposion dem ‚dämonischen Eros‘ zugewiesen wird. Ausgehend von der Frage, warum Eros
nicht die gleiche Verehrung wie die anderen Götter genieße, hält schließlich
auch Sokrates eine Lobrede auf den Gott der Liebe. Unter Berufung auf die
Ausführungen einer gewissen Diotima bezeichnet er das Wesen des Eros als
einen „großen Dämon (daímón mégas)“ und bestimmt als die Wirkungskraft
„alles Dämonischen (daimónion)“: „zu dolmetschen und zu überbringen den
Göttern, was von den Menschen und den Menschen, was von den Göttern
kommt, der einen Gebete und Opfer, und der anderen Befehle und Vergeltung
8
9
10
Platon, Apologia Sokratous/Des Sokrates Verteidigung, in: Ders., Werke in acht Bänden, gr.dt., bearb. v. Heinz Hofmann, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt, 1973, Bd. 2,
S. 17a-42a, hier: 26a.
Ebd., 31a.
Innerhalb einer Geschichte dämonischer Individualität wäre eine entscheidende Differenz
zwischen Antike und Moderne daran festzumachen, dass die abratende Stimme des platonischen Dämons sich zu einer affirmativen Kraft wandelt. So nicht zuletzt in Goethes Erläuterungen zu seinem auch für diesen Band einschlägigen Gedicht „Urworte Orphisch“: „In diesem Sinne einer nothwendig aufgestellten Individualität hat man einem jeden Menschen seinen Dämon zugeschrieben, der ihm gelegentlich ins Ohr raunt was denn eigentlich zu thun
sei, und so wählte Sokrates den Giftbecher, weil ihm ziemte zu sterben.“ (J.W.v. Goethe,
„Urworte Orphisch“ [Kunst und Altertum II, 3 (1820)], in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe,
Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden [Frankfurter Ausgabe], 1. Abt., Bd. 20: Ästhetische
Schriften 1816-1820, hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt am Main, 1999, S. 491-497, hier:
S. 494.
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LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
der Opfer.“11 Während in der Ilias die Intervention der Göttin im Streit der irdischen Helden punktuell blieb, wird das daimónion in Platons Symposion
zum dauerhaften Institut einer Vermittlungsinstanz zwischen Göttern und
Menschen. Die nähere Erläuterung dieser Vermittlungstätigkeit hängt unmittelbar mit der doppelten Bestimmung der Schönheit zusammen. Vorbereitet
durch allgemeine Bemerkungen zur poiesis, wird das Schöne zunächst auf die
Zeugungskraft beschränkt und diese als dasjenige Vermögen bestimmt, in dem
die Menschen an der Idee göttlicher Unsterblichkeit teilhaben. In einem zweiten Schritt indessen wird das Schöne vom körperlichen Akt gelöst und der
Idee eines Göttlich-Schönen unterstellt, die es am Ende eines Stufengangs zu
schauen und als das Wahre zu erkennen gilt.12 Erscheint auch Eros zunächst
noch als ein Dämon unter anderen, die zwischen Göttern und Menschen vermitteln, so verwandelt sich der Gott der Liebe schließlich in eine Theorie
‚poetischer‘ Zeugungskraft, um letztlich in das Ideal göttlicher Erkenntnis einzugehen. – Das ist wohl noch nicht die Umstellung von den vielen Dämonen
auf ein Dämonisches, bereitet ihr aber den Boden und darf auch als symptomatisch für den Anteil gelten, den Dämonisches seinerseits am Sein und Werden von Göttlichem hat.
Die Doppeldeutigkeit des Dämonischen und der Dämonen bei Platon liegt
darin, dass das sokratische daimónion als spezifisches Merkmal von Sokrates’
Persönlichkeit einerseits zur Signatur irreduzibler Individualität wird, dass
aber andererseits mit der ‚dämonischen‘ Vermittlung zwischen Göttern und
Menschen genau umgekehrt ein tendenziell abstraktes, jedenfalls auf Verallgemeinerbarkeit drängendes, Konzept vorliegt. Unter dieser doppelten Voraussetzung konnte Platon weder eine Dämonologie (wie das Christentum)
noch eine Theorie des Dämonischen (wie die Moderne) entwickeln. Wenn im
Timaios die Seele als ein von Gott mitgegebener „Schutzgeist (daimona)“13
bezeichnet wird, in dem jedes Individuum an der göttlichen Unsterblichkeit
teilhat, dann lassen sich die beiden platonischen Konzeptionen zwar wiedererkennen, doch ihre Synthese bleibt aus. Auch das Dämonische Goethes (im Unterschied zu den Dämonen) wird sie nicht leisten, sondern das Problem verschieben.
Schon die neuplatonische Rezeption verlängert und verschärft es zugleich.
Die intrinsisch heterogene Konzeption des daimónion soll durch Vertauschung
jeweiliger Eigenschaften homogenisiert werden, aber entsprechende Systematisierungsversuche scheitern. So schreibt Xenokrates den Dämonen nicht nur
gottgleiche Kraft, sondern auch störende menschliche Emotionen zu, was zur
folgenreichen Unterscheidung von guten und bösen Dämonen führt (die modern, auch schon bei Goethe, zu der Frage wird, wie man mit seinen Dämonen
11
12
13
Platon, Symposion/Gastmahl, in: Ders., Werke in acht Bänden, Bd. 3, S. 172-223, hier: 202de.
Ebd. 206b-207a u. 210a-212c.
Platon, Timaios, in: Ders., Werke in acht Bänden, Bd. 7, 17-92, hier: 90a-d.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
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umgeht, ob man sie sich dienstbar zu machen weiß oder ihnen unterliegt).
Während Xenokrates die Dämonen immerhin noch als selbständige Mittlerwesen versteht (wie der platonische Eros eines war), handelt es sich nach Philon
um zwei gegensätzliche Prinzipien, die in jedem Individuum beheimatet sind
(wie im platonischen Sokrates). Apuleius schließlich verbindet die beiden
Funktionen der Dämonen – als Vermittler und als Seelenbeschützer –, kappt
aber den Bezug zu Platons daimónion. Im Titel seines Buches wurde der Verweis auf den platonisch-sokratischen Dämon getilgt: De Deo Socratis.14
Man darf vermuten, dass in derartigen Systematisierungs- und Homogenisierungsbemühungen um die dämonische Vermittlungstätigkeit schon die Kohärenz des Ganzen auf dem Spiel stand. Die Gefährdung des antiken Kosmos
– was immer ihr Anlass oder Ursprung gewesen sein mag – zeichnet sich dort
ab, wo die Dämonen ihre Kraft verlieren und ihre Funktion defekt wird. So
fragte sich Plutarch, warum mit der Verödung Griechenlands auch „die Orakel
gänzlich versiegt sind wie Bäche und ein großes Verdorren der Wahrsagekunst das Land erfaßt hat“.15 Die Crux dieser Beobachtung ist, dass die Götter
am Verfall übermenschlicher Seherkunst ja nicht unbeteiligt gewesen sein, für
den Verfall irdischer Orakel aber auch nicht allein oder vollständig verantwortlich gemacht werden können. Da sie sowohl göttliche wie menschliche
Eigenschaften besitzen, aber eben deswegen keiner der beiden Sphären ganz
angehören, müssen es nach Plutarch Dämonen sein, die den Orakeln eigentlich
vorstehen und diese zum Verstummen gebracht haben. Wenn „die Dämonen,
die über die Orakel und Weissagungsstätten gesetzt sind, vergehen“, dann sind
auch die Orakel zum Verfall bestimmt; sollten jedoch die Dämonen „nach
langer Zeit wiederkommen“, dann würden auch die Orakel „wieder erklingen
wie Musikinstrumente, wenn die Künstler hinzutreten und sie spielen.“16 Der
Vergleich der Orakel mit der Musik ist bezeichnend. Wie der Ton in der Musik stellen die dämonischen Orakel ein zum Vergehen bestimmtes Werden dar.
Selbst und gerade in der Mantik,17 und damit dort, wo die antike Kultur über
ihre Gegenwart hinausweist, scheint sie über ihren eigenen Untergang verfügen, ihn beschreiben und auf diese Weise einholen zu können. Auch darin besteht eine Herausforderung für das Christentum und seine Konkurrenz mit der
Antike um Deutungshoheit.
14
15
16
17
Vgl. Art.: „Dämonologie“, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike in 16 Bänden, hg. v.
Hubert Canick, August Pauly, Manfred Landfester, Stuttgart, 1996-2003, Bd. III, Sp. 265269, hier: Sp. 267f.
Plutarch, „Über die eingegangenen Orakel [De defectu oraculorum]“, in: Ders., Über Götter
und Vorsehung, Dämonen und Weissagung. Religionsphilosophische Schriften, übers. v. Konrad Ziegler, Zürich, Stuttgart, 1952, S. 106-168, hier: S. 110.
Ebd., S. 124.
Vgl. Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Zur Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt
am Main, 1992.
14
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
III.
Wenn die Anfänge des Christentums weder als völliger Neuansatz noch als
Verlängerung der antiken Welt begriffen werden können, dann hat das seinen
Grund auch darin, dass die christliche Lehre Antworten auf Fragen parat hat,
die vordem nicht gestellt worden waren.18 Das Frühchristentum verfestigt sich
zur dogmatischen Lehre, indem es aus dem Materialbestand der antiken Tradition einen Fragenkatalog generiert, auf den nur es selbst die gültigen Antworten immer schon gegeben hat. Hans Blumenberg hat dieses Verfahren, mit
dem die Systemstellen von Frage und Antwort verkehrt werden, als genuin
christlichen Kunstgriff der inversio19 und andernorts als „tolle Pseudomorphose“20 beschrieben. Das Verfahren führe zwar zu einer „Abmagerung“ mythologischer Bestände, aber auf die entscheidende Frage, wie die Schöpfung
angesichts der Übel der Welt nicht nur gerechtfertigt werden könne, sondern
gedacht werden müsse, konnte die Patristik anstelle einer Antwort einen Mythos liefern, an dem die inversio-Technik sinnfällig wird: Aus dem untergehenden Morgenstern, der den Griechen unter dem Namen eosphoros bekannt
gewesen war, macht Origenes einen Gegenspieler Gottes, der den Kampf um
die Schöpfung verliert und unter dem römischen Namen Luzifer den Engelssturz bewirkt. Sofern dieser Gegengott als christliche Antwort auf die dualistischen Welterklärungsmodelle neuplatonischer oder gnostischer Provenienz
identifizierbar ist und die Geltung dieser Modelle durch ihn implizit fortgeschrieben wird, erklärt sich die geringe Beachtung, die Bibel und Patristik dieser Figur schenken. Obwohl der Mythos vom Ursprung des Bösen von Beginn
an von seiner Verdrängung begleitet wird, widmet sich das Christentum seinen
Konsequenzen umso eifriger in der Dämonenlehre. Das duale Prinzip des göttlichen Gegenspielers kann so hinter einem Vervielfältigungsdispositiv verschwinden, das zur Signatur der Dämonen wird: Sie sind bekanntlich Legion.21
18
19
20
21
Vgl. Hans Blumenberg, „Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition“, in: Typologie, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt
am Main, 1988, S. 141-165, hier: S. 144.
Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main, 1979, S. 202f. Interessant ist diesbezüglich der für das Thema einschlägige Eintrag „Geister (Dämonen)“ im Reallexikon für
Antike und Christentum. Denn indem hier einerseits von Proklus behauptet wird, dass er die
Dämonen „als die abgestufte Repräsentanz einer göttlichen Hierarchie“ begriffen habe und
sich überdies durch eine „scholastische Klarheit der theoretischen Aussage“ auszeichne, während andererseits entschieden wird, dass „die Macht der Dämonen durch das Heilswerk Christi grundsätzlich gebrochen“ ist, wird offensichtlich, dass auch die antike Dämonenlehre aus
christlicher Perspektive rekonstruiert wird und damit einmal mehr zur Anwendung kommt,
was auf dem Prüfstand hätte stehen sollen: der Kunstgriff der inversio. (Art.: „Geister [Dämonen]“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 9, 1976, Sp. 546-761, hier: Sp. 667
u. 710).
Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, in: Philosophische Rundschau 6,
1958, S. 94-120, hier: S. 118.
Dämonisch (und nicht luziferisch) ist an Dämonen schon der Tatbestand, dass sie in unbestimmbarer Vielzahl auftreten. Der Topos geht auf eine berühmte Stelle im Markus-
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
15
Indem an die Stelle der Auseinandersetzung mit dem Einen der Diskurs über
die Vielen tritt, wird in der christlichen Dämonologie zugleich das Verfahren
sichtbar, mit dem die Patristik sich die Tradition der anderen wie die eigene
aneignet. Als Figuren der Verkehrung avancieren die Dämonen zu einer Art
‚Inkarnation‘ der inversio.
Im achten Buch von De Civitate Dei (das sich wie eine Einführung in die
griechische Philosophiegeschichte liest) adelt Augustinus die platonische Philosophie als Antizipation des biblischen Schöpfungs- bzw. Gottesbegriffs.
Schon die im elften Kapitel behandelte Frage, „ob Plato Jeremias oder das Alte Testament gekannt hat“22 , lässt die Erzähltechnik der inversio deutlich hervortreten. Während Platons Dichterkritik immer wieder für den Nachweis in
Anspruch genommen wird, dass die fiktionale Entstellung göttlicher Eigenschaften nicht gottgewollt, sondern nur dämonisch induziert sein könne, werden die eigentlichen Geschütze gegen die platonische Götterlehre auf dem
Feld des Neuplatonismus in Stellung gebracht. Hatte Apuleius den Dämonen
eine affektbewegte Seele, einen vernünftigen Geist, einen luftigen Leib sowie
eine ewige Lebensdauer zugesprochen, so enthüllt sich der prekäre Status der
Dämonen nicht erst in ihrer Vermittlungstätigkeit, sondern schon darin, dass
mit ihrer Existenzbehauptung eine völlige Verkehrung des christlichen Trinitätsschemas Gestalt gewinnt. In diesem Sinne erklärt Augustinus, „daß diese
falschen und trügerischen Mittler gewissermaßen mit dem Kopf nach unten
aufgehängt sind, da sie ihren niederen Teil, den Leib, mit den höheren Wesen,
aber ihren höheren, die Seele, mit den niederen Wesen gemeinsam haben, da
sie mit den himmlischen Göttern in ihrem dienenden Teile verbunden, aber
mit den irdischen Menschen in ihrem herrschenden Teile unselig sind!“23 Dass
dieses Bild der Dämonen als Figuren einer buchstäblichen Verkehrung indessen nur unter der Voraussetzung Bestand hat, dass der Leib als der dienende
und die Seele als der herrschende Teil bezeichnet werden, sucht Augustinus
sogleich mit einem autorisierenden Zitat des römischen Historikers Sallust zu
versichern.24 Dadurch wird das zwiespältige Verhältnis der Patristik zu ihrem
Verfahren der inversio besonders deutlich markiert. Denn einerseits wird mit
der penetranten Denunziation der dämonischen Vermittlungsfiguren im Namen einer voraussetzungslosen Wahrheit eine Ausstreichung der inversio und
damit desjenigen Verfahrens betrieben, mit dem sich die Patristik die antike
Tradition aneignet und auf dem das Argument dämonischer Verkehrungslogik
22
23
24
Evangelium zurück, wo Jesus den besessenen Gerasener nach dessen Namen fragt und zur
Antwort bekommt: „Legion heiße ich, denn wir sind viele.“ (Mk, 5,10) Auf diese Szene sowie das Pluralitätsdispositiv der dämonischen Rede werden wir weiter unten aus anderer Perspektive zurückkommen. Vgl. außerdem dazu Jean Starobinski, „Der Kampf mit Legion“, in:
Ders., Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung, Frankfurt am Main, Berlin, Wien, 1978, S. 81-139, bes.: S. 103ff.
Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei], übers. v. Wilhelm Thimme, eingel. u.
komm. v. Carl Andresen, München, 1977, Bd. 1, XIII., 9, S. 389.
Ebd., IX, 9, S. 440.
Vgl. ebd.
16
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
wesentlich beruht. Andererseits jedoch verschwinden bei Augustinus weder
die Dämonen noch der Rekurs auf antikes Material; im Gegenteil: Die Dämonen bleiben als unselige Mittler erhalten, die den Zugang zur Erlösung versperren. Eben deshalb müssen sie durch wiederholten Rekurs auf die Bestände
der vorchristlichen Tradition stets neu produziert werden, um das Ende der
Zeiten aufzuschieben und derart den eschatologischen Abstand wieder herzustellen. Ohne den Widerstandsdienst der Dämonen wäre die christliche Heilslehre ein defektes Orakel.
Wenn die christliche Lehre die gnostische Disjunktion zwischen einem bösen Demiurgen und einem erlösenden Heilsgott nur abwehren kann, indem sie
wie Paulus den Ursprung aller Übel und Laster in die Zuständigkeit einer sich
verselbstständigenden Weltverwaltung verschiebt25, dann wird damit auch
deutlich, warum das Luziferische und die Dämonologie aufeinander verwiesen
bleiben und nicht zu trennende Probleme darstellen. Allerdings wären christliche Dämonologien hinsichtlich ihrer politischen oder epistemologischen Implikationen selber dahingehend zu untersuchen, ob sie den Grund über den Effekt (also das Luzifer-Problem über die Dämonen) oder umgekehrt den Effekt
über den Grund (also den Dämonendiskurs über das Luzifer-Problem) rekonstruieren. So sieht der Hexenhammer (1487), dessen Dämonologie über Jahrhunderte Grundlage der Inquisition bleiben sollte, in der Hexe nicht nur eine
‚Entartung‘ der aristotelischen Zeugungs- und Seelenlehre; das Buch sucht
überdies den Unterschied zwischen Ketzern und Dämonen dergestalt zu fixieren, dass jene nur gegen einen bestimmten Glaubensartikel verstießen, während diese die Geltung des einen Gottes überhaupt herausforderten26 und durch
ihren Gegenbund mit dem „Säer allen Neides“27 ihren luziferischen Ursprung
verrieten. Umgekehrt führt die cartesische Begründung neuzeitlicher Subjektivität mit ihrem radikalen Außenweltskeptizismus die Figur eines genius malignus ein, dessen Täuschungs- und Manipulationsmacht Fähigkeiten beerbt,
welche frühneuzeitliche Dämonologien den Dämonen zugeschrieben haben.28
Während hier wie dort der Dämon und die Dämonen isoliert betrachtet Figurationen des Bösen darstellen, so ist das wahrhaft Dämonische aber die Technik der Inversion, jenes Spiel, mit dem die Hybris des Einen die Sünde der
Vielen möglich macht und die Sünde der Vielen auf die Hybris des Einen als
ihren verborgenen Grund verweist.
25
26
27
28
Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 209f. (Im Folgenden unter der Sigle „AM“ mit entsprechender Seitenzahl im laufenden Text zitiert).
Vgl. Gerburg Treusch-Dieter, „Hexe – Seele – Dämon“, in: Die Seele. Ihre Geschichte im
Abendland, hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf, Weinheim, 1991,
S. 145-164, hier: S. 153.
Jakob Sprenger, Heinrich Institoris, Der Hexenhammer [Malleus maleficarum], 5. Aufl.,
München 1986, I, 39.
Vgl. Maximilian Bergengruen, „Genius malignus: Descartes, Augustinus und die frühneuzeitliche Dämonologie“, in: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550-1850,
hg. v. Carlos Spoerhase, Dirk Werle, Markus Wild, Berlin, New York, 2009, S. 87-108.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
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Diese Doppeldeutigkeit kommt auf andere Weise auch an dem Ort zur Geltung, den Giorgio Agamben der Dämonologie in seiner Genealogie des Regierungsbegriffs eingeräumt hat. Agamben führt die Idee der Regierung und damit das Paradigma moderner Politik auf jene zwei Ämter der Engel zurück,
wie sie in patristischen und scholastischen Traktaten von Pseudo-Dionysos bis
Thomas von Aquin eingeführt und zusammengedacht wurden: einerseits ein
gouvernemental-bürokratisches Amt, in dem die Engel auf Erden das Werk
der Vorsehung vollstrecken; andererseits ein assistierendes, schauendes Amt,
in dem die Engel Gott als Gesetzgeber der Vorsehung verherrlichen. Die
Übertragbarkeit dieses ‚Engelsministeriums‘ auf das Paradigma weltlicher
Macht entscheidet sich an der Frage, ob mit dem Jüngsten Gericht nicht jedes
Prinzip der Weltregierung außer Kraft gesetzt wird. An dieser Schwelle hat
die Dämonologie, wie Agambens Lektüre der Angelogie des Thomas von
Aquin zeigt, ihren Ort. Während die Engel am Tage des Jüngsten Gerichts in
der Tat ihr Verwaltungsamt niederlegen, führen die Dämonen ihre Exekution
der Höllenstrafen nicht nur bis in alle Ewigkeit fort, sondern bereiten den Seligen das Vergnügen, sich an den Strafen der Verdammten zu ergötzen. Für
Agamben heißt das, dass „die Idee der ewigen Regierung (also das Paradigma
der modernen Politik) eine infernale Idee ist.“29
IV.
Ob die dämonische Inversionstechnik modern verabschiedet oder überwunden
wurde, ist nicht grundsätzlich, sondern von Fall zu Fall, in jedem Kontext und
damit in jedem der hier versammelten Beiträge neu zu entscheiden. Gegen einen Bruch mit der Funktionslogik der Inversion spricht, dass Dämonen schon
früh genau die Operationen figurieren, die auch modern bei Umbesetzungen
und Umdeutungen, Verschiebungen, Verkehrungen und Umkehrungen fällig
werden, einschließlich der Hypotheken, die das zwangsläufig bedeutet.30 Mindestens daran hat auch Goethe nichts ändern können (oder wollen), als er aus
den vielen Dämonen ein Dämonisches machte. So liest man noch bei Lukács:
„Die vertriebenen und die noch nicht zur Herrschaft gelangten Götter werden
Dämonen: ihre Macht ist wirksam und lebendig, aber sie durchdringt die Welt
nicht mehr oder noch nicht“.31 Wer sich in der Moderne für die latente Anwesenheit überwunden geglaubter, verdrängter, vergessener oder auch erst noch
29
30
31
Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie
und Regierung (Homo Sacer II.2), übers. v. Andreas Hiepko, Frankfurt am Main, 2010,
S. 196.
Vgl. Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am
Main, 2002.
Georg Lukács, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen
der grossen Epik, Darmstadt, Neuwied, 1965, S. 86 (Zitate im Folgenden unter Angabe der
Sigle TdR mit entsprechender Seitenzahl im laufenden Text).
18
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
heraufziehender Mächte interessiert, kann auf dämonische Dienste kaum verzichten. Dass Dämonen in der Moderne also einigermaßen bruchlos zu einem
kulturhistorischen und kulturtheoretischen Interpretament werden konnten,
verdankt sich in dieser Perspektive ihren vormodern eingeborenen Zügen.
Dass dazu auch weiterhin die Problematik der Vielen und des Einen gehört,
belegt ein Beispiel aus der jüngst vergangenen (Post)Moderne. Friedrich Kittler hat seine Einleitung zum wohl ersten deutschen Zeugnis des Poststrukturalismus ins Zeichen der Dämonen-Austreibung im Markus-Evangelium gestellt, um die Geschichte der Moderne zu erzählen: „Jesus aber zwang den
Geist, Laut und Namen zu geben. Die Antwort: Legion heiße ich, denn unser
sind viele.“32 Dass Jesus diesen Dämonen erlaubt, den Menschen, in dem sie
als „unsaubere[r] Geist“33 bisher gehaust hatten, zu verlassen und in die weidenden Säue zu fahren, die sich daraufhin ins Meer stürzen, wird von Kittler
in ein Emblem der damals jüngsten Austreibung der vielen Geister zugunsten
des einen Geistes umgedeutet: „Es war die Bildungsreform der Jahre 1770 bis
1800 […], die die großen bunten Wolken über dem Abendland, jüdische, griechische, römische, in Luft auflöste. Zahllose Geistergeschichten sind damals
verstummt. An die Stelle der vielen Geschichten ist Die Geschichte in der
Einzahl getreten“34 und an die Stelle der Geister Der Geist, „dem fortan alle
Felder und alle Wege des Wissens anbefohlen sind“.35 Das darauf folgende
Wuchern der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert wird, so will es Kittlers raffiniert parodistisch verkehrende Indienstnahme der biblischen Erzählung, erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts vom Strukturalismus gekreuzt, der
(wie ein Dämon) von dem Einen Geist abfällt, um sich den Abfällen des Wissens und dem Wissen als Abfall zuzuwenden. Aber, so lautet der poststrukturalistische Einwand, auch die strukturalistische Kombinatorik folgt noch dem
Begehren nach dem Einen des universalen Diskurses, das schon Sokrates
trieb, den dämonischen Eros der Idee preiszugeben. Dagegen war 1980 eine
neuerliche „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ zu propagieren. Antwort auf die Frage, wer die Sau oder Säue waren, in die jener
ausgetriebene Geist gefahren sein könnte, ist Kittler schuldig geblieben. –
Wenn damit immerhin angedeutet ist, dass Erbschaften der Dämonologie keineswegs funktionslos geworden sind (und besonders häufig dort zum Einsatz
kommen, wo es um Neuanfänge und neue Einsätze geht), dann macht das die
Entscheidung, die vielen Dämonen und das Dämonische systematisch zu trennen, natürlich sehr fragwürdig.
Die Entscheidung rechtfertigt jedoch der Umstand, dass bei und seit Goethe
tatsächlich etwas Neues hinzugekommen und seither im Spiel ist. Damit ist
32
33
34
35
Friedrich A. Kittler, „Einleitung“, in: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften.
Programme des Poststrukturalismus, hg. v. dems., Paderborn, München, Wien, Zürich, 1980,
S. 7-14, hier: S. 7.
Ebd.
Ebd., S. 8.
Ebd.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
19
nicht die Psychologisierung des Phänomens gemeint, obwohl auch sie auf
Goethes Identifikation einzelner Personen wie Napoleon, Christus oder die
Egmont-Figur zurückgehen mag. Auch das ist in gewisser Weise neu, aber es
ist nicht entscheidend für den Umgang mit dem Dämonischen in der Moderne.
Schwerer wiegt jedoch, dass der tradierte Komplex aufgrund des Bewusstseins
von Kontingenz nicht nur neue Aufgaben übernehmen kann, sondern auch anders gedacht werden muss. Unter den Bedingungen der Aufklärung, des Systems und der Systeme, der Medien, der Technik und der Wissenschaft, der
Romanform, der kulturwissenschaftlich-geistesgeschichtlichen Theoriebildung, aber auch der nicht-westlichen Kulturen – und all das sind Orte, an denen das Dämonische in diesem Band aufgesucht wird – verschiebt sich etwas
in der Funktionslogik des Dämonischen. Unabhängig davon, ob das Dämonische subjekttheoretisch, charakterologisch-psychologisch, geschichtsphilosophisch oder romantheoretisch verhandelt wird, geht es stets um Modelle für
den Umgang mit Kontingenz, als unerwartetes Erbe und ungewollte Hypotheken (einschließlich paganer und christlicher Dämonenlehren) und vor allem
um ungewisse Gegenwart und offene Zukunft.
Praktisch (und theoretisch sowieso) ist uns Kontingenz heute längst so vertraut geworden wie es den alten Griechen der Kosmos wohl kaum je, dem
strengen Calvinisten die unerbittliche Vorsehung jedoch sehr wohl gewesen
sein mag.36 Auch deshalb ist Goethes ausweichende Umschrift des Dämonischen im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit als locus classicus von Kontingenz heute kaum noch zu erkennen:
Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es
hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch,
denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles,
was uns begrenzt schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.37
Symptom des in dieses Dämonische weniger eingedrungenen als in ihm verdichteten Bewusstseins von Kontingenz sind nicht nur die Tempuswechsel,
nicht nur die negativ ausschließenden Formulierungen, die dem Kontur verleihen sollen, was keine hat, sondern vor allem die das Gesagte unmittelbar wieder relativierenden Verben: es glich, es schien, es deutete. Die bei aller Volatilität und inhärenter Heterogenität doch verlässliche Kategorie für Mehrund Zweideutiges ist damit selbst so mehrdeutig geworden, dass sie auch die
36
37
Zu Kontingenz bei Blumenberg und Luhmann vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen, 2002, S. 10f. u.
16.
Johann Wolfgang v. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Ders., Sämtliche
Werke [Frankfurter Ausgabe], 1. Abt., Bd. 14, hg. v. Klaus-Detlev Müller, Frankfurt am
Main, 1986, S. 839f.
20
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
unter Umständen gemeinte Kontingenz nicht länger hegen kann. Dieser Überschuss, und nicht die vermeintliche Neutralisierung der Vielen in einem nicht
personalisierten Abstraktum, markiert ein Ende der Dämonologien und den
Anfang einer Theorie des Dämonischen oder auch: dämonischer Theorie. In
dieser Perspektive ist das Dämonische nicht (nur) ein (beim alten Heiden Goethe gewiss gut aufgehobenes) vormodernes Relikt, das sich anachronistisch
erhalten hat und bestenfalls in den Inversionen der Karikatur oder Parodie
weiterwirkt. Doch es erschöpft sich auch nicht in seiner Funktion als MetaMetapher historischer Aneignungs- und Umdeutungsprozesse. Vielmehr ist
das Dämonische als Kristallisationsort für die Herausbildung kontextspezifischer Verhandlungen und Theoretisierungen von Kontingenz zu verfolgen.
Dazu gehört wesentlich, dass „das Dämonische“, wie Blumenberg wiederholt betont, „eine gegenüber dem Moralischen exotische Kategorie“ darstellt
und sinnvoller in einem „nicht eindeutig bestimmbaren Zwischenreich“ (AM,
521) des Ästhetischen zu verorten ist. Dort eröffnet sich dem Dämonischen
ein Spielraum, in dem sich auch seine grotesk-komische Seite entfalten kann.
Sie zeigt sich nicht nur in der Literatur – in Friedrich Theodor Vischers Auch
Einer oder in Heimito von Doderers Die Dämonen –, sondern mittelbar auch
in Blumenbergs Goethe-Interpretation. Goethes minutiös rekonstruierte Rollentauschstrategien nähern sich der Komödie spätestens dort, wo Napoleon,
auf den Goethe die Rolle des Prometheus übertragen hatte, sein Schicksal in
Gestalt seines Todes einholt. Mit der Formel ‚Politik ist das Schicksal!‘ war
Napoleon für Goethe zur schlechthin dämonischen Figur jenseits moralischer
Maßstäbe geworden. Als er gestorben ist, bemerkt Goethe zu Eckermann:
Wenn man bedenkt, „daß ein solches Ende einen Mann traf, der das Leben
und Glück von Millionen mit Füßen getreten hatte, so ist das Schicksal, das
ihm widerfuhr, immer noch sehr milde; es ist eine Nemesis, die nicht umhin
kann, in Erwägung der Größe des Helden, immer noch ein wenig galant zu
sein.“38 Während Goethe noch im Tod Napoleons eine Kraft am Werk sieht,
durch die der dämonische Korse sein Schicksal zwar nicht mehr politisch, aber
einmal mehr zu seinen Gunsten zu wenden weiß, verweist die Rede vom ‚galanten Schicksal‘ auf die Notwendigkeit moralischer Beurteilung. „Die Überlegung“, so Blumenbergs Kommentar dieser Stelle, „schließt mit einer ‚Moral‘, die doch das Moralische zum Maßstab für Napoleon zu machen sich nicht
entschließen kann“ (AM, 541). Zu werten und doch auf Moral zu verzichten,
ist nach Walter Benjamin das Metier der Komödie. Ohne Moralisierung oder
Psychologisierung der Person ist die Komödie für Benjamin jene Form, in der
ein Charakter „sonnenhaft im Glanz seines einzigen Zuges“39 sich wie ein Kö38
39
Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, in: Goethe, Sämtliche Werke [Frankfurter
Ausgabe], II. Abt., Bd. 12, hg. v. Christoph Michel unter Mitwirkung v. Hans Grüters, Frankfurt am Main, 1999, S. 382 (10. Februar 1830).
Walter Benjamin, „Schicksal und Charakter“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf
Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt am Main, 1977, S. 171-179, hier:
S. 178.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
21
nig entfalten kann und der Ort, wo auch ein König seinem Schicksal eine ironische Wendung gibt. Dies ist der Witz der Goethe’schen Beschreibung. Zwar
kann die galante Wendung des Schicksals als weiterer Beleg für Napoleons
Dämonie gelten, doch erscheint das Schicksal damit selbst im Lichte eines
Charakterzuges, welches auf den Tod des ‚Schreckensmannes‘ „den Schatten
der komischen Handlung wirft.“40
Während Goethes Verhältnis zu Napoleon Züge einer Charakterkomödie
prägen, tritt der Zusammenhang von Kontingenz bzw. Schicksal und Komik in
Lukács’ Romantheorie kräftiger hervor. Kaum tritt der Held des modernen
Romans an die objektiv missverstehbar gewordene Welt heran, versieht er sich
an ihr und handelt an ihr vorbei. In der Moderne stehen keine Instanzen bereit,
diese immer auch komische Verwirrung aufzulösen. Darin offenbart sich für
Lukács „am deutlichsten der ungöttliche, der dämonische Charakter dieses Besessenseins, zugleich aber seine dämonische, verwirrende und faszinierende
Ähnlichkeit mit dem Göttlichen“. (TdR, 99) Lukács kennt allerdings einen
(gelungenen) Roman, der diese Lage nicht nur ironisch reflektiert, sondern der
Romanform zum Durchbruch verhilft, jenen „erste[n] große[n] Roman der
Weltliteratur am Anfang der Zeit, wo der Gott des Christentums die Welt zu
verlassen beginnt“ (TdR, 103). Aus dem Gott, der unter den Bedingungen versinkenden Christentums „nur wie ein Dämon erscheinen konnte, ist in Wahrheit ein Dämon geworden, der […] die Rolle Gottes zu spielen sich anmaßt“
(TdR, 103). Von dieser ungeheuerlichen Inversionslogik sagt Lukács, dass
hier „das tiefste Wesen der dämonischen Problematik“ (TdR, 104) getroffen
sei, „daß das reinste Heldentum zur Groteske, der festeste Glauben zum
Wahnsinn werden muß, wenn die Wege zu einer transzendentalen Heimat ungangbar geworden sind; daß der echtesten und heldenhaftesten, subjektiven
Evidenz keine Wirklichkeit entsprechen muß.“ (TdR, 104)41
Das bei Cervantes an „Ineinander von Poesie und Ironie, Erhabenheit und
Groteske“ (TdR, 104) Erreichte habe sich, so Lukács, niemals mehr wieder
gezeigt, denn was immer mit Dostojewski am Ende der Theorie des Romans
heraufdämmert, Roman oder Literatur ist es für Lukács nicht mehr. Aber vielleicht hat auch Lukács die Ambivalenz des Dämonischen als Ausdruck einer
Kontingenz, derer man sich bewusst zu sein glaubt und die genau dieses Bewusstsein unmöglich macht, unterschätzt. Anders: Er hat die Möglichkeiten
der Literatur unterschätzt. Denn die dämonische Problematik wurde etwa zur
selben Zeit, als Lukács die Theorie des Romans abfasste, erneut über- und unterboten. Walter Benjamin war der Überzeugung, dass Franz Kafka „die Figur
40
41
Ebd.
Zur Affinität dieser Theorie des Romans zu derjenigen Blumenbergs vgl. Hans Blumenberg,
„Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Nachahmung und Illusion (Poetik
und Hermeneutik I), hg. v. Hans Robert Jauß, 2. Aufl., München, 1969, S. 9-27, hier: S. 19
(Fußnote 11).
22
LARS FRIEDRICH, EVA GEULEN, KIRK WETTERS
des religiösesten Menschen […] nicht selbst geschaffen wohl aber erkannt“42
habe, und zwar „in niemand anderem als Sancho Pansa“.43 Dieser habe sich,
schreibt Benjamin, von „der Promiskuität mit dem Dämon erlöst“, „indem es
ihm gelang, ihm einen anderen Gegenstand als sich selber zu geben“.44 (Das
Modell einer derartigen Delegation hat Goethe in seiner Begegnung mit Napoleon in Erfurt 1806 bereitgestellt). Kafkas Sancho Pansa
gelang es im Laufe der Jahre, in den Abend- und Nachtstunden, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane seinen Teufel, dem er später den
Namen Don Quichote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos
die verrücktesten Taten ausführte, die aber mangels ihres vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho
Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortungsgefühl dem Don Quichote auf seinen Zügen und hatte davon eine
große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.45
Das Dämonische muss nicht immer dämonisch aussehen oder wirken. Es kann
auch wie eine Pointe verpuffen. So schrieb Doderer in seinen Dämonen, es sei
„kennzeichnend für alles Dämonische, daß es zwar ungeheures Aufhebens
macht und viel Bewegungen schafft, niemals aber noch irgendwem irgendwas
danach in der Hand gelassen hat.“46
V.
Auch deshalb ist das Dämonische für die zwei Jahrhunderte nach Goethe einer
Ideen- oder Begriffsgeschichte prinzipiell gar nicht und auch einer Metapherngeschichte nur sehr bedingt zugänglich. Wer den Abenteuern und „verrücktesten Taten“ dieses Konzeptes in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts folgen möchte, kann weder von einer sich gleich bleibenden Funktionslogik noch von radikalen Paradigmenwechseln ausgehen, sondern hat sich
intensiv auf die jeweiligen Kontexte einzulassen. Daraus erklärt sich zum einen die heterogene Fülle der Verhandlungsorte des Dämonischen in diesem
Band, zum anderen aber auch ihre ‚gleichmütige‘ Anordnung. Auf thematische Zusammenstellung (etwa: Medien – Technik – Literatur) wurde ebenso
verzichtet wie auf die geläufigen Zäsuren (1800, 1900, 2000) zugunsten einer
schlichten Chronologie. Allerdings wird mit dem I. Abschnitt ein exzentrischer Auftakt gewagt. Bettina Schlüters Beitrag zu den digitalen „daemons“
42
43
44
45
46
Walter Benjamin, „Franz Kafka. Beim Bau der Chinesischen Mauer“, in: Ders., Gesammelte
Schriften. II. 2., S. 676-683, hier: S. 682.
Ebd.
Ebd.
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt
am Main, 2002, S. 38.
Heimito von Doderer, Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München, 1995, S. 1028.
DÄMONEN, DÄMONOLOGIEN UND DÄMONISCHES
23
im 21. Jahrhundert markiert den Fluchtpunkt unserer Überlegungen in der Gegenwart. Kontrapunktisch ihr zur Seite tritt Niklaus Largiers Essay zur Versuchung des heiligen Antonius über einen von uns sonst vernachlässigten Gegenstand. Andreas Gößlings Erläuterungen zur Voodoo-Kultur Haitis erinnern
daran, dass Dämonen, Götter und Dämonisches keine Domäne des Westens
sind.
Der II. Abschnitt setzt dann mit drei Studien zu Goethe ein, die über im engeren Sinne Goethe-philologische Explikationen des Dämonischen hinausgehen. Auch hier hat zunächst die Rezeption das Wort mit Angus Nicholls Beitrag zur Deutung des Goethe-Theorems bei Blumenberg in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts analysiert Roland Borgards die Dämonstrophe der „Urworte. Orphisch“, während Cornelia
Zumbusch das Dämonische als Webmuster in Wilhelm Meisters Wanderjahre
aus der Theorie in die literarische Praxis zurückführt. Im III. Teil geht es um
das (lange) 19. Jahrhundert jenseits von Goethe: in der Wissenschaft bei Laplace (Rüdiger Campe), der Romantik (Maximilian Bergengruen und Daniel
Weidner) bis zu Kierkegaard (Peter Fenves). Zu unserer eigenen Überraschung entpuppte sich das Dämonische als für die realistische Literatur ausgesprochen interessante Kategorie, die in der zweiten Hälfte dieses Abschnittes
mit den Beiträgen von Aage Hansen-Löve und Ernst Osterkamp erhellt wird.
Der IV. Abschnitt gilt dann den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in
denen sich das Dämonische über das politische Spektrum verteilt: Lukács
(Kirk Wetters), Hofmannsthal (Lars Friedrich), Spengler und Thomas Mann
(Harun Maye), natürlich Benjamin (Eva Axer, Vivian Liska) und schließlich
Kracauer (Ethel Matala de Mazza). Der V. und letzte Abschnitt führt wie der
III. noch einmal Technik, Literatur und Kunstgeschichte zusammen und repliziert mittelbar auf jenen: Fraengers Bildlektüren (Arne de Winde) und Max
Bense (Hans-Christian von Herrmann); Rudolf Helmstetters Dodererlektüre
nimmt Lukács auf und Christian Meierhofer schlägt mit dem russischen Autor
Viktor Pelewin den Bogen zurück zum 21. Jahrhundert.
Die hier versammelten Aufsätze gehen zum überwiegenden Teil zurück auf
Beiträge einer im Juli 2011 in Bonn veranstalteten Tagung. Sie und die Drucklegung dieses Buches wurden im Rahmen eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung an Kirk Wetters verliehenen Forschungsstipendiums von der
Stiftung und dem Welcome Center der Universität Bonn finanziert. Für diese
Unterstützung möchten wir uns als Herausgeber nachdrücklich bedanken. Unser Dank gilt auch den Frankfurter Hilfskräften und Mitarbeiterinnen für ihre
redaktionelle Hilfe: Tim Albrecht, Karin Bauer-Stephan, Insa Braun, Alexandru Bulucz, Angela Gencarelli, Maria Kuberg, Judith Mohrmann und Daniela
Voss.
Frankfurt a. M. und New Haven im Mai 2014
I.
BETTINA SCHLÜTER
daemon.exe – Szenarien von Dienst und Herrschaft
im 21. Jahrhundert
Abb. 1: Stanley Kubrick, 2001: A Space Odyssey, GB/USA/FR 1968.
Der wohl berühmteste match cut der Filmgeschichte zieht auf prägnante Weise mehrere hunderttausend Jahre Evolutions- und Menschheitsgeschichte auf
einen Moment zusammen und bildet in Anlehnung an Traditionen des Science
Fiction Genres der 50er und 60er Jahre zugleich eine ironische Hommage an
technikphilosophische Positionen der vorausgehenden Jahrzehnte. „In dem
Übergang zum ersten Werkzeug“ setzt – so ließe sich Stanley Kubricks Montage aus 2001: A Space Odyssey daher legitimerweise mit den Worten Ernst
Cassirers
paraphrasieren
–
eine
„Weltwende
der
Erkenntnis“
1
ein, denn der „regelmäßige Gebrauch“ des Werkzeugs vermag die „Schranke“ einer „Vorstellungsart“ zu durchbrechen, in dem noch „persönliche, dämonisch göttliche Mächte“ „das Geschehen“ geleitet haben: Im Gebrauch des
Werkzeugs „kündigt sich“ daher „die Götterdämmerung der magischmythischen Welt an.“2 Die Transformation des Werkzeuggebrauchs in Technik setzt ihrerseits eine weitere Stufe gesteigerten Distanzierungs- und Abstraktionsvermögens voraus: „[A]uch das Flugproblem konnte erst endgültig
gelöst werden, als das technische Denken sich von dem Vorbild des Vogelflugs freimachte und das Prinzip des bewegten Flügels verließ.“3 In Kenntnis
der Prinzipien von Aerodynamik, Rückstoßeffekten, Gravitationsgesetzen und
Umlaufbahnen kann dann auch die Form der Flugmaschinen (wie Kubrick
seinem Publikum vorführt) freier – und dies heißt: nicht zuletzt nach der
„Norm des ‚Schönen‘“ als „Sieg der ‚Form‘ über den ‚Stoff‘“4 ästhetisch gestaltet werden.
1
2
3
4
Ernst Cassirer, „Form und Technik“ (1930), in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Birgit
Recki, Bd. 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), Hamburg, 2004, S. 139-183, hier:
S. 158.
Ebd., S. 160.
Ebd., S. 169.
Ebd., S. 178.
28
BETTINA SCHLÜTER
Abb. 2: Stanley Kubrick, 2001: A Space Odyssey, GB/USA/FR 1968.
Mit der Erfindung der Maschinensprache, die nur zwei klar voneinander unterscheidbare Zustände kennt und den Binärcode als basale Konstituente nahezu inflationär sich ausdifferenzierender Technologien nutzt, wird, in Weiterführung der zuvor angesprochenen Entwicklung, eine im Prinzip nicht mehr
überbietbare Stufe der Ablösung oder des „Lossagens“ von den „Vorbildern“,
die „die Natur unmittelbar zu bieten vermag“,5 erreicht – eine Entwicklung,
die (Cassirers Überlegungen aufnehmend) „magisch-mythisches“ Denken daher weitgehend suspendieren müsste. Dass es sich nicht so verhält, dass vielmehr das Magische und insbesondere das Dämonische nahezu ubiquitär in digitalen Technologien präsent sind, soll dieser Beitrag im Folgenden darlegen.
Das Dämonische ist, so die These, diesen Technologien (und damit auch den
Strukturen der Informationsgesellschaft) in doppelter Weise inhärent: zum einen als Prozess und zum anderen als Figuration dieses Prozesses, d.h. als Modus einer Formgebung, deren verschiedene Spielarten ebenso sinnfällig wie
historisch entdifferenzierend an das vorgängige Repertoire des Dämonischen
anknüpfen.
Abb. 3: BSD-Daemon, Maskottchen von Berkeley Software Distribution-Unix.
Eine sehr offenkundige und prägnante
Spielart dieser Dopplung begegnet Computeranwendern in der Gestalt eines kleinen
freundlichen Dämons, eines Maskottchens,
das Informatiker sich als spielerisches Abbild eines spezifischen Typus von Computerprogrammen erschaffen haben. Es stellt
die bildliche Figuration einer programmiertechnischen Operation dar, die immer dann
zum Einsatz gelangt, wenn Rechner hochgefahren, eine Software gestartet, Befehle eingegeben, Daten verarbeitet werden.
Die Rede ist von speziellen Programmen – von daemonen –, die im Hintergrund automatisierte Befehlsketten ausführen und den Benutzer damit von
5
Ebd., S. 169.
DAEMON.EXE – SZENARIEN VON DIENST UND HERRSCHAFT
29
Echtzeitinteraktionen entlasten, auf diese Weise überhaupt erst die Differenz
zwischen Programmierern und Benutzern, Experten und Laien erzeugen und
damit die massenhafte Verbreitung von Personal Computern allererst ermöglichen. Mit anderen Worten: Ohne diese unsichtbaren Daemonen, die auf diesem Sektor unentwegt ihre hilfreichen Dienste ausführen, wäre die Gesellschaft – Kubricks Zeitsprung um ein gutes Stück verkürzt – wieder auf den
Stand einer Industriegesellschaft zurückversetzt.
Diese ‚Daemonenerschaffung‘1 – oder um es präziser zu formulieren: die
Verwandlung eines Prozesses in einen Daemon (to daemonize) – lässt sich
folgendermaßen umreißen: Am Anfang des mehrstufigen Verfahrens steht ein
einfacher Kopiervorgang (fork off); die Kopie (child) wird sodann aus der direkten Verknüpfung mit dem Hauptprozess (parent) gelöst und einem anderen
Prozess (change directory) zugewiesen. Diese Adoption wird von mehreren
Vorgängen begleitet: Zum einen werden die Verbindungen zwischen child und
parent vollständig gekappt; des Weiteren wird, damit keine Interferenzen der
internen Adressierung entstehen, der Ausgangsprozess gelöscht (kill parent);
und schließlich wird der neu generierte Prozess aus Sicherheitsgründen dem
Zugriff von Endanwendern entzogen (mask-Befehl), zugleich aber für Signale
von außen sowie für Signale anderer Prozesse empfänglich gemacht (lock-Befehl). Der neu geschaffene Daemon wird in seinen Funktionen überwacht (logBefehl), diese Überwachung kann aber auch automatisiert erfolgen, d.h. wiederum einem anderen Daemon (syslog-d) übertragen werden.
Durch die ‚Daemonisierung‘ eines Prozesses wird – die Ergebnisse der beschriebenen Verwandlung zusammengefasst – eine direkte Interaktion zwischen Mensch und Maschine durch einen automatisiert ablaufenden Hintergrundprozess ersetzt, auf den nur noch andere Prozesse oder in Sonderfällen
mit speziellen Rechten ausgestattete Benutzer Zugriff haben. Der normale
Endanwender kommuniziert daher nur noch auf höchst vermittelte Weise – in
der Regel über Anwendungsprogramme – mit den Daemonen, die im Hintergrund ihre Dienste (meist Routineaufgaben) verrichten; er zahlt für die Einfachheit der Interaktion aber auch den Preis, dass sich diese Prozesse, insbesondere die nicht immer konfliktfreie Interaktion zwischen den Daemonen wie
auch Interferenzen mit Spielarten der Face-to-Face-Kommunikation, weitgehend seiner Kontrolle entziehen (und sich damit zugleich bereits eine subversive Verkehrung der Machtverhältnisse zwischen Daemon und Endanwender
andeutet).
1
Die folgenden Erläuterungen folgen den Ausführungen von Doug Potter, „How to daemonize
in Linux“, http://www.theorie.physik.unizh.ch/~dpotter/howto/daemonize (letzter Zugriff:
10.10.2012).
30
BETTINA SCHLÜTER
Abb. 4: Cartoon von Ritsch &
Renn. Schlagseite aus c't-Magazin 3
(2011), Hannover: Heise.
Prozesse werden zu autonom
agierenden Befehlsfolgen verkettet, die wechselseitig als
Auslöser neuer Operationen
dienen, also unablässig füreinander Output in neuen Input
transformieren. Diese von den
Daemonen bevorzugte Kommunikationsform der Interprozesskommunikation ist gleichwohl
umweltsensibel – und dies gilt
sowohl für fremde Daemonen,
die z.B. über das Internet auf
den Rechner zugreifen, als auch
für Eingaben der Anwender.
Daemonen können uns entsprechend auch über Umweltereignisse, beispielshalber die
gescheiterte Zustellung einer Mail, informieren.
Wesentlich für die Affinität zwischen dem Dämonischen und digitalen
Technologien ist, auf die Ausgangsthese zurückkommend, eine spezifische
Eigenschaft von Programmiersprachen, die dem geschilderten Typ der Interprozesskommunikation zugrunde liegt. Der Programmcode ist – mit den Worten des Autors Neal Stephenson ausgedrückt – „eine Sprache mit magischer
Kraft.“ „Heutzutage“, so Stephenson in seinem Roman Snow Crash, „glauben
die Menschen nicht mehr an so etwas. Das heißt, außer im Metaversum, wo
Magie möglich ist. Das Metaversum ist eine Struktur, die aus einem Code besteht. Und ein Code ist eine Form von Sprache – die Form, die Computer verstehen.“2 Diese Sprache kann daher unmittelbar auf die (simulierte oder reale)
physikalische Umwelt einwirken. In Stephensons Diagnose kehrt somit das
Magische, d.h. die machtvolle Kraft der Sprache, umfassende (virtuelle) Welten zu erschaffen (wie sie uns heute beispielshalber in Second Life3 begegnen),
in die Technik zurück. Diese magisch-performative Kraft basiert jedoch nicht
auf einem einheitlichen Sprachsystem, sondern auf Übersetzungsprozessen
zwischen verschiedenen Sprachstufen: von der Maschinensprache auf der untersten Ebene angefangen, über vielfältige Varianten der Programmierspra-
2
3
Neal Stephenson, Snow Crash, München, 2002, S. 245.
http://secondlife.com/ (letzter Zugriff: 10.10.2012).