Inhaltsverzeichnis Spurenfinden in Seelze

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Inhaltsverzeichnis Spurenfinden in Seelze
Migration_in_Seelze
Inhaltsverzeichnis
• 1 Spurenfinden in Seelze
• 2 Von Dörfern zur Stadt
• 3 Migration in Meldebüchern
• 4 Eisenbahn ? Motor der
Entwicklung
• 5 Abenteuer Recherche ? Conti in
Seelze
• 6 Zwangsarbeiter in Seelze
• 7 Neue Heimat Seelze
• 8 Seelze-Süd ? zu jung für
Historiker?
Spurenfinden in Seelze
Die neuere Geschichte ist auch eine Geschichte der Wanderung und der Mobilität von Menschen. Im 19.
Jahrhundert verstärkten sich die Wanderungen aber im Vergleich zu den Jahrhunderten zuvor auf ein
ungeahntes, großes Maß. Zunächst wanderten die Menschen nach Amerika aus, später auch in die neu
entstehenden Industriezentren Deutschlands. Es war ein doppeltes Geschehen: in den Heimatländern, meist
abgelegene ländliche Gebiete, gab es nicht genügend Arbeit, in den Zielgebieten dagegen bestand die
Möglichkeit, durch harte Arbeit eine bessere Existenz aufbauen zu können. So zogen die Menschen quer
durch Europa, von den wenig attraktiven agrarischen Gebieten in die teilweise weit entfernt liegenden
Zentren.
Wer bei diesen ?Zentren? aber immer nur an Großstädte oder riesige Industriereviere wie das Ruhrgebiet
denkt, übersieht, dass es auch kleinere Industriegebiete gab. Eines davon, Seelze bei Hannover, war noch um
1850 ein kleines Dorf. Mit der in Hannover um 1850 einsetzenden Industrialisierung wurde aber auch Seelze
für Unternehmen interessanter. Etwa um die Jahrhundertwende zogen mehrere Firmen aus der benachbarten
Provinzhauptstadt hierher, wo es billiges Bauland gab und außerdem eine wichtige Eisenbahnlinie den
notwendigen Anschluss an die Märkte herstellte. Seelze und das benachbarte Letter entwickelten sich
innerhalb weniger Jahre zu mittelgroßen Städten mit einer zahlreichen Industriearbeiterschaft. Hiervon
handeln die folgenden Texte. Sie zeigen, woher die Menschen kamen, wie viele es waren und weshalb sie
kamen. Denn im Verlauf des 20. Jahrhunderts kamen sie nicht mehr nur, weil es hier Arbeit gab, sondern
auch, weil sie aus ihrer alten Heimat vertrieben wurden. Die folgenden Texte basieren auf einer Arbeit von
Studierenden des Historischen Seminars, die in Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum Seelze-Letter
erfolgte. Sie dient u.a. der Vorbereitung einer Ausstellung, die im nächsten Jahr in Seelze-Letter gezeigt
werden soll. Praxisnahe Arbeiten wie diese haben eine lange Tradition hier in Hannover am Historischen
Seminar. Schon seit über 20 Jahren erforschen angehende Historikerinnen und Historiker die Geschichte
ihrer Region und veröffentlichen ihre Arbeitsergebnisse in Form von Büchern, Aufsätzen oder Websites, sie
beteiligen sich an der Erarbeitung von Präsentationen und Ausstellungen. Auf diese Weise lernen sie nicht
nur die akademische Lehre kennen, sondern auch, wie in Archiven gearbeitet wird, sie arbeiten in kleinen
Gruppen und sie werden gezwungen, ihre Ergebnisse so aufzubereiten, dass sie auch von Nichthistorikern
verstanden werden.
Inhaltsverzeichnis
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Prof. Dr. Karl H. Schneider
Von Dörfern zur Stadt
Wenn man sich mit der Geschichte der Stadt Seelze beschäftigt, merkt man sehr schnell, dass es die Stadt
Seelze in der heutigen Form noch gar nicht lange gibt. Die nach der Verwaltungs- und Gebietsreform 1974
zu einer Großgemeinde zusammengefassten 11 Dörfer wurden erst 1977 zur Stadt Seelze. Ebenso fällt sofort
auf, dass die verschiedenen Stadtteile nicht nur räumlich, sondern auch in Bezug auf ihre Einwohnerzahlen,
recht weit auseinander liegen. Dies war keineswegs immer so, sondern ist das Ergebnis von historischen
Entwicklungen, die während der Industrialisierung besonders Ortsteile Letter und Seelze begünstigten.
Den wichtigsten Zugang zu den historischen Einwohnerzahlen bieten zu Beginn statistische Handbücher, wie
z. B. die statistischen Handbücher des Königreichs Hannover oder, während der Preußenzeit, der Provinz
Hannover. Ebenso bietet das Werk von Gustav Uelschen "Die Bevölkerung in Niedersachsen 1821 - 1961"
eine erste Datenbasis. Jedoch wird gerade an diesem Werk verdeutlicht, wie wichtig auch die selbstständige
Quellenanalyse für Historiker ist, da Sekundärliteratur fehlerhaft sein kann. Die Auswertung der Akten aus
dem niedersächsischen Hauptstaatsarchiv ergab schließlich minimale bis erhebliche Abweichungen von den
Zahlen Uelschens.
Auch wenn die "Zählung der Volksmenge und der Wohngebäude" aus dem 19. Jahrhundert Abweichungen
zu den Daten Uelschens aufwies, so bestätigte sich doch zumindest die Gesamtentwicklung der Seelzer
Dörfer. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegten sich noch alle Dörfer zwischen 130 und ca. 400
Einwohnern. Erst die Industrialisierung brachte um 1900 den entscheidenden Entwicklungsschub für Seelze
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und Letter. Nachdem in Seelze bereits 1847 ein Bahnhof gebaut wurde, wirkte sich dieser Verkehrsanschluss
besonders positiv aus, als zwischen 1898 und 1902 die Chemische Fabrik Riedel-de Haën entstand. Auch
Letter profitierte stark von der Industrialisierung um die Jahrhundertwende. Hier entstanden 1903 ein Werk
von Continental und zwischen 1906 und 1909 der damals größte Rangierbahnhof Norddeutschlands. Verlief
die Bevölkerungsentwicklung in den Seelzer Dörfern bis dahin recht homogen, so entwickelten sich Letter
und Seelze nun sprunghaft, während sich die übrigen Dörfer weiter nur langsam entwickelten. Bei Ausbruch
des 2. Weltkriegs 1939 zählten Letter und Seelze jeweils ca. 3800 Einwohner, während Dedensen als größtes
der übrigen Dörfer nur etwa 600 Einwohner hatte. Nach dem Krieg hatten alle Seelzer Dörfer einen großen
Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen, was hauptsächlich auf den Zuzug von Flüchtling und Vertriebenen
zurückzuführen ist. Während Letter und Seelze sich weiter stark vergrößerten und in der Spitze über 12.000
bzw. 10.000 Einwohner zählten, so blieben Dedensen, Gümmer, Lohnde und Velber zwischen 2000 und
3000 Einwohnern stehen. In den übrigen Dörfer leben bis heute auch weiterhin unter 1000 Einwohnern.
Es ist eindeutig, dass die Entwicklung von Letter und Seelze ohne die Eisenbahn, die den Industriebetrieben
den Verkehranschluss sicherte, nicht ihre heutige Größe erreicht hätten. Vielmehr würden sich beide Ortsteile
wohl mehr oder weniger auf dem Niveau von Lohnde oder Dedensen befinden. Stattdessen zählt die Stadt
Seelze heute um die 35.000 Einwohner, wobei allein Letter ein Drittel dazu beiträgt. Seelze und Letter
können heute auf eine bewegte Industriegeschichte zurückblicken, die exemplarisch dafür ist, welchen
großen Einfluss die Eisenbahn während der Industrialisierung haben konnte.
Migration in Meldebüchern
Die Forschung zur Migration enthält ein weites Feld an Fragen. Eine der Quellen diese zu klären, sind die,
auf den ersten Blick recht trockene, da statistische, An- und Abmeldebücher der Städte und Gemeinden. Sie
enthalten Informtaionen (wie etwa den Namen, das Geschlecht, das Alter, den Beruf und Geburstort), die uns
nähere Erkenntnisse über Migrationsprozesse liefern.
Meldebuch Seelze
In unserem Fall beschäftigten wir uns mit den Gemeinden Seelze und Letter in der Zeit von 1899 ? 1907.
Von den rund 3.300 verzeichneten Personen waren Ÿ männlichen und nur Œ weiblichen Geschlechts, von
denen die Mehrheit unverheiratet und zwischen 20 bis 30 Jahre alt waren. Neben dieser jungen und
ungebundenen Gruppe gesellte sich eine nicht minder große Gruppe von verheirateten - meist älteren Personen, die auf der Suche nach besserer Arbeit und Entlohnung, mal kürzer, mal länger in Seelze und
Letter verblieben. Religiös hätten sie ihre Heimat in der lutherischen Gemeinde finden können, da rund 60%
der Einwohner evangelisch-lutherisch waren.
Viele Zugezogene dürften in Seelze und Letter ohnehin nur geringe Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung
gehabt haben, denn die Mehrzahl der verzeichneten Personen stammten aus der heutigen Region Hannover.
Ihnen standen jedoch eine beachtliche Gruppe aus den Ostgebieten des damaligen deutschen Reiches zur
Seite und weisen den beiden Gemeinden dadurch einen kleinen Platz in der damaligen ?Westwanderung? zu.
In unserem Untersuhungszeitraum melden sich auch etliche Italiener, Österreicher, Russen und Niederländer
(jeweils in den Grenzen bis 1918) neu an, die beim Bau des Rangierbahnhofs beteiligt waren.Damit gehörten
die letztgenannten Gruppen zu dem Teil der Gemeldeten, die, ab 1903 stetig anwachsend, schon bald alle
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anderen Berufe in den Schatten stellten ? den Arbeitern. Jene führten durch ihren vermehrten Zuzug zu einer
Verzerrung der Statistik, denn in Letter und Seelze nahm sowohl die Anzahl der Beschäftigten in der
Landwirtschaft, als auch die im Handwerk prozentual ab, obwohl ihre Anzahl weiterhin zunahm. Doch der
?massenhafte? Zuzug ? im Grunde blieben nur 1000 Personen dauerhaft in den vorher kleinen Dörfern ? von
Arbeitern, veränderte vor allem Seelze, das sich in einen kleinen Industriestandort verwandelte.
Zusammen mit der männlichen Arbeiterschaft, kamen, wenn auch nur sehr selten verzeichnet, die ersten
Arbeiterinnen. Doch wurden die meisten Frauen, selbst wenn sie gearbeitet haben sollten, weiterhin als
Ehefrauen in den Meldebüchern geführt, was den Anschein erweckt, als wären die Berufsperspektiven für
Frauen, zumindest in den untersuchten Gemeinden, weiterhin durch die klassischen Berufszweige ?
Landwirtschaft, Haushalt und Kindererziehung-, bestimmt gewesen.
Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, dass der typische Migrant für Seelze und Letter männlich,
zwischen 20-30, lutherisch, ledig, von Beruf Arbeiter und zum größten Teil aus der Region Hannover war.
Eisenbahn ? Motor der Entwicklung
Nicole Rogl
Magnet für Arbeiter und Impulsgeber für die Wirtschaft ? der Eisenbahnanschluss prägte maßgeblich die
Entwicklung des Ortes. Seelzes verkehrsgünstige Lage am Schnittpunkt der Ost-West- und der
Nord-Süd-Verkehrslinien sowie die Anbindung an die Autobahn wirkt sich bis heute positiv aus. Von 1847
bis 1892 war Seelze einziger ?Anhalt? auf der Strecke Hannover?Wunstorf, dann bekam Dedensen und 1915
schließlich Letter einen Haltepunkt.
Um das stetig wachsende Verkehrsaufkommen im Raum Hannover zu bewältigen, mussten effektive
Maßnahmen getroffen werden: im Frühjahr 1905 begannen die Bauarbeiten der Güterumgehungsbahn Seelze
? Wunstorf, ab 1906 wurde der Rangierbahnhof in Seelze errichtet. Seelzes Wandlung vom
landwirtschaftlich geprägten Dorf zur Eisenbahnerstadt war somit unaufhaltsam, denn ? wie Akten des
Bezirkauschusses zeigen - es waren viele Bauern gezwungen ihr Ackerland zu verkaufen oder wurden sogar
enteignet. Der heutige Ortsteil Letter erfuhr durch die Nähe zur 1878 eröffneten Ausbesserungswerkstatt
Leinhausen früher als Seelze einen starken Zustrom an Eisenbahnarbeitern, noch bevor die Bevölkerung auch
dort durch die Bauerbeiten anstieg. Die Auswertungen der Meldebücher belegen eine Zuwanderung von
zumeist ledigen männlichen Erdarbeitern, insbesondere aus Holland und Italien, die ab 1905 die Bahndämme
aufschütteten. In Seelze meldeten sich im ausgewerteten Zeitraum von 1905 bis 1907 etwa 250 vorwiegend
italienische und niederländische Arbeiter neu an. Jedoch ist davon auszugehen, dass auch viele Tagelöhner,
die zuvor für Bauern in der näheren Umgebung tätig waren, beim Bau der neuen Verkehrsader beteiligt
waren.
Das Foto wurde vermutlich 1907 oder während des ersten Weltkriegs aufgenommen.
Durch den rasanten Anstieg der Bevölkerung herrschte in Seelze extreme Wohnungsnot. Nach
Unstimmigkeiten mit der Gemeinde entstand eine Kooperation zwischen der Deutschen Reichsbahn und der
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Heimstätten-Baugenossenschaft, die schließlich die Entstehung der Häuser an der Döteberger- und
Heimstättenstraße, die sogenannte ?Heimstätte?, hervorbrachte, die von 1923 bis 1933 gebaut wurden. In
Letter entstanden um 1909 etwa 60 Neubauten. Somit rückte Letter räumlich immer näher an den
Rangierbahnhof heran. Die Deutsche Bahn AG wurde erst spät ein einheitliches Unternehmen. Auf dem
anvisierten Weg an die Börse wurde historischen Dokumenten leider nicht viel Wert beigemessen. Über den
Betrieb auf dem Rangierbahnhof gibt es ausreichend Material, doch leider liegen keine Akten vor, die den
Bau des Rangierbahnhofs in Seelze zum Gegenstand haben.
Heute hat der Rangierbahnhof als Arbeitgeber an Bedeutung verloren. Beschäftigte der Rangierbahnhof 1988
noch ca. 1200 Mitrabeiter so waren es Ende 2005 noch 395. Wichtiger Standortfaktor ist die Eisenbahn
dennoch, bewältigt der Nahverkehr doch täglich die Seelzer Pendlerströme in die Landeshauptstadt.
Abenteuer Recherche ? Conti in Seelze
?Die Continentalwerke Hannover eröffneten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Zweigstelle in Seelze.
Neben der Nutzung zur Wiederaufbereitung von Materialien diente dieses Werk im späteren Verlauf als
Lagerstätte. Der Zeitraum der Nutzung der Anlage kann zwischen 1902/1903 und 1931/32 bzw. dem Zweiten
Weltkrieg datiert werden.? Mit diesen Informationen starten wir in ein historisches Abenteuer ohne zu
wissen, wie kompliziert, schwierig und undurchschaubar der Dschungel an Fakten und widersprüchlichen
Informationen sein kann.
Doch bevor wir zu ersten Ergebnissen kamen, galt es zunächst ganz andere Hindernisse zu überwinden. Am
Beginn unserer Recherche stand der Besuch im Hauptstaatsarchiv Hannover. Durch die Hilfsbereitschaft
eines Archivars fanden wir einen Artikel des im Hannoverschen Couriers vom 12. April 1907, der über den
Zukauf von Gelände der Conti berichtet sowie über die Errichtung eines Erholungsheims der Continental am
28. Mai 1911.
In einem Jubiläumsband der Continental, in dem die Inbetriebnahme der Zweigstelle auf 1903 datiert ist,
fanden wir außerdem ein Foto der Fabrik. Da die Geschäftsberichte der Conti in der Landesbibliothek als
vermisst gelten und wir vergebens die Archive der lokalen Presse durchforsteten, geisterten in unseren
Köpfen verschiedene ?Verschwörungstheorien? herum: gab es bei so vielen Hindernissen wohl etwas im
Continentalwerk Seelze zu verbergen? Diese wilde Annahme wurde zusätzlich von einem kurzen Gespräch
mit dem Archivar des Continentalswerkes, der die Zweigstelle als reine ?Lagerstätte? titulierte genährt.
Gleichzeitig sprach der Conti-Archivar von ein paar wenigen Beschäftigten, was sich mit unserem Vorwissen
von bis zu 300 Mitarbeitern keineswegs deckte.
Durch einen Bericht in den ?Seelzer Geschichtsblättern? bekamen wir eine neue Spur. Über den
Augenzeugenbericht von einem alten Seelzer stießen wir auf den Hinweis, dass Juden als Zwangsarbeiter in
dem Werk tätig gewesen sein müssen. Erneut drängte sich die Frage nach dem wirklichen Sinn und Zweck
des Seelzer Continentalwerkes auf. Seit einem Besuch im Seelzer Stadtarchiv und einem Treffen mit einem
Seelzer, der über eine gut sortierte Postkartensammlung vefügt, bereichern Augenzeugenberichte sowie
einige Original-Fotos unser kleines Sammelsurium an Informationen und Fakten. Doch damit kamen wir
dem eigentlichen Ziel, der genauen Eingrenzung und Beschreibung des Continentalwerkes, nur sehr
zögerlich auf die Spur.
Hoffnung setzen wir jedoch noch in Gespräche mit alten Seelzern, die wir bald zu diesem Thema befragen
wollen, wer weiß ? vielleicht fängt das Abenteuer dann erst richtig an.
Falk Melzer und Sascha Roder
Eisenbahn ? Motor der Entwicklung
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Zwangsarbeiter in Seelze
Die Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs und die damit verbundene zwangsweise Mobilisierung
von Millionen von Menschen prägte die Stadtbilder in der Zeit von 1939 bis 1945. Die massive
Arbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik wurde vor allem durch die weitreichende Aufrüstung in
den ersten Jahren des Dritten Reichs beseitigt. Bedingt durch die besseren Erwerbsmöglichkeiten in den
großen Rüstungsbetrieben der Städte setzte eine Landflucht ein, welche die Landwirtschaft den
aufkommenden Arbeitskräftemangel am ehesten spüren ließ.
Da die im Ausland angeworbenen freiwilligen Arbeitskräfte bei weitem nicht ausreichten, um den Mangel zu
beheben, wurde die Zwangsverpflichtung von Arbeitern in den von der Wehrmacht okkupierten Gebieten die
Regel. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren die deutsche Industrie, das Handwerk sowie die
Landwirtschaft von der Zwangsarbeit abhängig. Seelze und die umliegenden Ortsteile bildeten hier keine
Ausnahme.. Die Zwangsarbeiter kamen bei den großen Industriebetrieben wie Riedel-de Haën ebenso zum
Einsatz wie auf den Bauernhöfen in der Seelzer Umgebung. Die Herkunft der Zwangsarbeiter war hierbei
sehr vielfältig. Anfangs kamen die meisten von ihnen aus Polen. Zum Ende des Krieges leisteten größtenteils
Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Seelze Zwangsarbeit. Für diesen Teil des Projektes ist die
Quellenlage leider schwierig, eine vollständige Anmeldung der Zwangsarbeiter bei der Gemeinde Seelze ist
nicht erfolgt.
In erster Linie waren die in Seelze beschäftigten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in Lagern im Ort
untergebracht. Diese waren meist direkt an die Arbeitsorte angeschlossen, ein Beispiel hierfür sind die beiden
Barackenlager in direkter Nähe der Fabrik Riedel-de Haën. Die Unterbringungs- bzw. Haftbedingungen und
die Entlohnung richteten sich meist nach der Herkunft der Arbeiter und danach, ob sie Zwangsarbeiter oder
arbeitende Kriegsgefangene waren. Die Unterkünfte wurden teilweise durch Wehrmachtseinheiten oder auch
durch Betriebsangehörige des Arbeitgebers bewacht.
Nach Ende des Krieges haben alle Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, einschließlich ihrer Kinder, die
teilweise in Seelze geboren wurden, den Ort verlassen. ,,Geblieben? sind nur jene, die bei Arbeitsunfällen,
durch Selbstmord oder z.B. bei Bombenangriffen ums Leben kamen.
Die Gemeinde Seelze und die Stadt Hannover erreichen seit dem Zusammenbruch des Ostblocks zahlreiche
glaubwürdige Briefe, in denen ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter mehr oder weniger detailliert
über ihre Zeit in Seelze berichten. Die Briefe sind teilweise Bittschriften zwecks finanzieller Unterstützung,
oftmals aber auch nur Nachfragen nach verstorbenen Angehörigen und Bestätigungen über deren
Anwesenheit im Ort. Offizielle Entschädigungen gab es bis vor 3 Jahren noch nicht. Erst im Jahr 2002 wurde
ein diesbezüglicher Fond eingerichtet, an dem sich auch der heutige Eigner der ehm. Riedel-de Haën Werke,
die Firma Honeywell, beteiligt.
Sascha Schweitzer und Thomas Lange
Neue Heimat Seelze
Zu Beginn der 1980er Jahre lebten etwa 77 Millionen Menschen außerhalb ihres Herkunftslandes. Für den
Anfang des 21. Jahrhunderts wird die Zahl der Migranten auf etwa 150 Millionen weltweit geschätzt. Die
regionalen und innerstaatlichen Bewegungen und Ortswechsel dazunehmend, steigt die Zahl rapide.
Mobilität und Migration gehören zu den alltäglichen Erfahrungswelten der Menschen. Das Beispiel von
Seelze, wo Ende 2002 ca. 2.544 Migrantinnen lebten, macht es anschaulich. In der Ausstellung werden auch
Interviews mit Zuwanderern einen wichtigen Platz haben. Sie sollen darlegen, welchen Weg die
Zuwanderern genommen haben und aus welchen Gründen, mit welchen Ängsten und Hoffnungen sie nach
Seelze gekommen sind. Ein Interview wollen wir in diesem Rahmen einmal vorstellen.
Zwangsarbeiter in Seelze
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Migration_in_Seelze
"Ich stamme aus Wolhynien, einem Gebiet im westlichen Teil der heutigen Ukraine. Als ich dort im März
1934 geboren wurde, gehörte Wolhynien zur Republik Polen. In unserem Dorf lebten ukrainische, jüdische
polnische und deutsche Familien. Die meisten Deutschen waren evangelisch-lutherisch, einige auch
Baptisten. Ihre Vorfahren waren im 19. Jahrhundert hierher eingewandert. Ich wuchs bei Pflegeeltern auf, die
untereinander niederdeutsch (?plattdeutsch?) sprachen, mit mir aber hochdeutsch. Sie hatten einen eigenen
Bauernhof, zu dem 12 Desjatinen (etwa 13 ha) eigenes Land gehörten.
Wie es im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden war, okkupierte die Sowjetunion im Herbst 1939 das
damalige Ostpolen bis zum Bug. Die Wolhynien-Deutschen sollten in den westlichen Teil Polens, den das
Deutsche Reich okkupiert hatte und der nun ?Reichsgau Wartheland? hieß, umgesiedelt werden. Im Januar
1940 wurden wir mit Pferdeschlitten zum Bahnhof Kostopol gebracht; mit der Eisenbahn ? zuerst in
ungeheizten Viehwaggons, ab Brest in Personenwagen ? ging es weiter nach Lodz. Nach einiger Zeit im
Lager wurden wir mit der Eisenbahn in das Sudetenland transportiert und auch dort wieder in einem Lager
untergebracht. Vor dieser Reise hatten wir die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.
Im Juni 1940 wurde uns ? wie auch anderen deutschen Familien aus Wolhynien ? im ?Warthegau? ein
Bauernhof zugewiesen. Die polnischen Eigentümer waren erst ganz kurz zuvor hinausgesetzt worden und
hatten alles zurücklassen müssen: Möbel, Geschirr und auch das Vieh. Als mein Pflegevater den Hof unter
diesen Umständen nicht übernehmen wollte, sagte ein deutscher Beamter zu ihm: ?Wenn Sie nicht wollen ?
Wir können auch anders.? Mein Pflegevater hat daraufhin erklärt, er werde den Hof nur ?verwalten?, also
nicht als eigenen annehmen (so hat er es mir später erzählt).
Als sich im Januar 1945 die Front näherte, beluden wir einen Pferdewagen mit Betten, Kleidung und
Lebensmitteln und flohen in einem Treck bis kurz vor Leipzig. In einem Dorf kamen wir bei Bauern unter.
Die Einheimischen nahmen uns sehr unwillig auf. Die ganze Familie ? meine Pflegeeltern, die Großmutter
und ich ? musste in einem Zimmer hausen. Freunde aus Leipzig versorgten uns mit dem Nötigsten:
Kochtöpfen, Geschirr und Bettzeug. Im September 1945 mussten wir in ein Sammellager bei Naumburg
umziehen, von dort aus sollten die Russlanddeutschen in die Sowjetunion zurückgeführt werden. Die Leute
aus Wolhynien blieben aber schließlich davon verschont, während die Schwarzmeer-Deutschen
abtransportiert wurden.
Nach einer Woche, in der wir unter freiem Himmel kampiert hatten, kehrten wir in unsere vorherige
Unterkunft zurück, wo man uns allerdings erst nicht wieder aufnehmen wollte. ?Unser? Bauer sperrte einfach
den Hof zu, als wir mit unserem Pferdewagen vor dem Tor standen. Mein Pflegevater hat dann aber
durchgesetzt, dass wir wieder einziehen durften. Als in der Sowjetischen Besatzungszone im Rahmen der
?Bodenreform? die Gutsbesitzer enteignet wurden und ihr Land Siedlern übertragen wurde, sollte auch mein
Pflegevater einen Hof übernehmen. Er hat sich anfangs dagegen gewehrt, da er mit dem Pferd, das wir aus
Polen mitgebracht hatten, ein kleines Fuhrunternehmen begonnen hatte. Ihm wurde aber gedroht, dass man
ihm das Pferd wegnehmen werde, wenn er nicht ?Neusiedler? werden wolle. So haben wir dann im Februar
1946 eine Bauernstelle mit 5 Hektar erhalten. 1950 mussten wir den Hof in eine ?Landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaft (LPG)? einbringen.
Ich ging noch bis 1948 zur Schule. Danach habe ich zuerst in der Landwirtschaft meiner Pflegeeltern
gearbeitet und anschließend in einer Schuhfabrik in Weißenfels. 1956 fuhr ich nach Hannover, um eine
Cousine zu pflegen, die Hilfe brauchte. Nach kurzer Zeit lernte ich meinen heutigen Mann kennen, der in
Letter wohnte, und so blieb ich hier."
Justyna Turkowska und Horst Henze
Neue Heimat Seelze
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Seelze-Süd ? zu jung für Historiker?
Wenn man sich mit der Geschichte einer Stadt beschäftigt, darf der Blick auf die heutige Situation natürlich
nicht fehlen. Doch ist das Neubaugebiet Seelze-Süd nur ein aktuelles Thema? Nein, denn Seelze Süd ist
sogar als Siedlungsplatz bekannt und es fand eine Ausgrabung statt, bevor das ?neue? Seelze-Süd in
Erscheinung treten konnte. Wir haben dies zwar nicht zu unserem Hauptthema gemacht aber ist es nicht
interessant zu sehen, dass dieser Ort schon damals für eine Siedlung ausgewählt wurde?
Unser Hauptaugenmerk liegt auf dem, wie man jetzt sagen müsste, neuen Seelze-Süd. Woher kommen die
Menschen, die in diesem neuen Stadtteil wohnen? Warum fiel die Entscheidung auf das Neubaugebiet in
Seelze? Diese neue Siedlung gab uns die Möglichkeit, Mobilität mit eigenen Augen zu erleben und ein
bisschen nach ihren Gründen zu forschen. Während sonst Siedlungsgeschichte eher der Rekonstruktion
verschiedener Menschenleben gleicht, war es hier möglich ?live? dabei zu sein.
Doch auch für das ?neue? Seelze-Süd gab es Planungen und Planer, die Vergleiche auf verschiedenen
Ebenen durchführten um festzustellen, ob ein neues Wohngebiet eher in Seelze Süd oder zum Beispiel am
Heisterberg nahe Letter entstehen sollte. Diese Vorauswahl noch mal durch Unterlagen nachvollziehen zu
können und die Entwicklung der Siedlung zu sehen, war sehr interessant. Geschichte zum Anfassen.
Antje Lenhardt und Ilka Daerr
Seelze-Süd ? zu jung für Historiker?
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