Die Tyrannei des Realismus

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Die Tyrannei des Realismus
Die Tyrannei des Realismus
von Adrienne Shaw
http://www.paidia.de/?p=5531
(22. April 2015)
Die Tyrannei des Realismus
Übersetzt von
Elisabeth Heeke
Geschichtstreue in Assassin’s Creed III 1
Ich muss zugeben, dass mich mit Assassin’s Creed eine Hassliebe verbindet. Jedes Spiel der
Serie ist schön. Die atemberaubenden Landschaften, architektonischen und historischen
Details, die akrobatische Spielfigur und das (größtenteils) reibungslose Gameplay sind außerordentlich stimulierend. Sicherlich gab es vielfache Kritik am repetitiven Ablauf des ersten
Spiels. Und die in der Gegenwart oder nahen Zukunft spielenden Szenen und das Konzept der
an den Film Matrix erinnernden Animus-Maschine, die als Deus ex Machina auftritt um zu
erklären, warum der Spieler als Desmonds Ahne auf Datenbanken mit umfassenden
historischen Informationen zugreifen kann, sind in der Tat etwas abgedroschen (allerdings
nicht mehr als in den meisten Computerspiel-Plots).
In diesem Essay untersuche ich Assassin’s Creed III (eigentlich das fünfte Spiel der Serie),
das während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges spielt. Natürlich enthält der Text
viele Spoiler. Aus Platzgründen verzichte ich auf eine Spielzusammenfassung, über die Links
und Videos können zusätzliche Details erfahren werden. Die wichtigsten Eckpunkte: Der
Protagonist des Hauptspiels ist Ratohnhaké:ton oder Connor, ein Mitglied des Stammes der
Kanien’kehá:ka (Mohawk). Er ist der Sohn von Haytham Kenway (der Spielfigur zu
Spielbeginn) und Kaniehti:io oder Ziio (ebenfalls ein Mitglied des genannten Stammes).
Achilles Davenport ist der Mentor, der ihn zum Assassinen ausbildet.
Authentizität & Kritik
Wenn man die gewundenen Straßen im Nahen Osten zur Zeit der Kreuzzüge und den
architektonischen Detailreichtum im Italien der Renaissance in den ersten beiden Spielen
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gewohnt ist, sind das koloniale Boston und New York mit ihrer Schlichtheit als Schauplatz wohl
weniger aufregend, selbst wenn sie historisch korrekt wiedergegeben sind. AC III behält den
Geist der Serie jedoch insofern bei, als es einen kritischen Blick auf historische Ereignisse
bietet. Doch bei aller Spielfreude ärgert mich die Art, wie Authentizität dafür verwendet wird,
Kritik zu unterwandern und zu umgehen, während zugleich die Möglichkeit verspielt wird, eine
neue, dramatischere Interpretation der historischen Ereignisse zu erarbeiten. Besonders in AC
III fühlt man sich hin und her geworfen, wenn Szenen einer sensiblen Auseinandersetzung mit
historischen und kulturellen Aspekten willkürlich zwischen abgenutzten Topoi und Annahmen
darüber, wer spielt, stehen.
Die Macher des Spiels sind sich augenscheinlich der politischen Dimension in der Darstellung
der gewählten Erzählung bewusst. AC III beginnt, wie alle Spiele der Serie, mit einem
Disclaimer: „Von historischen Ereignissen und Charakteren inspiriert. Die Mitglieder des
Design-, Entwicklungs- und Produktionsteams für dieses fiktionale Spiel vertreten
verschiedene Kulturen und Glaubensrichtungen.“ Diese Aussage ist ein Überbleibsel aus dem
ersten Spiel der Serie, das während des dritten Kreuzzuges im Nahen Osten spielt. Selbst in
AC II und seinen verschiedenen Sequels ist die katholische Kirche zentral für den Konflikt im
Spiel. In AC III wurde die Serie jedoch ins koloniale Neuengland zur Zeit des Amerikanischen
Unabhängigkeitskrieges verlegt, wodurch die Betonung von Religion im Disclaimer
merkwürdig
erscheint
(besonders
weil
die
religiösen
Einstellungen
der
Kanien’kehá:ka-Figuren, Kolonisten und europäischen Streitkräfte im Spiel kaum diskutiert
werden oder wichtig für die Spielhandlung wären).
Der Disclaimer hat zwei Funktionen. Die erste ist der offensichtliche Versuch, durch die
Herausstellung der Diversität der eigenen Gruppe die Kritik an der Darstellungsweise anderer
Gruppen zu entschärfen. In diesem Zusammenhang betonte ein Großteil der Berichterstattung
zu AC III in der Presse, dass Kulturberater der Kanien’kehá:ka beim Spieldesign herangezogen wurden, um eine authentische und realistische Darstellung zu sichern. 2
In vielen dieser Artikel wird die zentrale Rolle von Thomas Deer, dem Kulturbeauftragten des
Kahnawake Language and Culture Centre, bei der Sicherung einer sensiblen und genauen
Darstellung der Sprache und Kultur der Mohawk/Kahnawake hervorgehoben. Das Skalpieren
war zum Beispiel in einer frühen Phase der Spielentwicklung eine Spielmechanik, die
herausgenommen wurde, als Deer darauf hinwies, dass daie Praxis des Skalpierens von den
Mohawk nicht praktiziert wurde (Plunkett). Berater waren notwendig, denn – ungeachtet der
Betonung von Diversität im Disclaimer – gibt der Creative Director Alex Hutchinson zu: „Unser
Team besteht aus Menschen aus aller Welt, aber wir sind uns sehr bewusst, dass wir trotzdem
nicht viel mehr als ein Haufen weißer Typen mittleren Alters sind.“ (zitiert nach Newman)
Ein weiteres, subtileres Ziel des Disclaimers ist es, eines der beeindruckendsten Merkmale der
Serie hervorzuheben: die Sorgfalt in Bezug auf Authentizität, vor allem in Form von
historischer Detailtreue. Diese ist in der Tat die zugrundeliegende Logik des Spielsettings.
Jade Raymond, die führende Produzentin von Ubisoft bei einem Großteil der Serie,
bezeichnete in einem Interview über das erste Spiel dieses als „Phantastik… Indem man eine
Erzählung in der Wirklichkeit verankert, erhöht man ihre Glaubwürdigkeit.“ (El-Nasr et al. 6).
Die historische Verankerung des Spiels bereichert die Erzählung auf eine Art, die nicht immer
offensichtlich ist. Das Theaterstück, das zu Beginn des Spiels im Hintergrund gespielt wird, als
der Spieler in der Rolle von Haytham Kenway einen Mord begeht, ist beispielsweise John
Gays „The Beggar’s Opera“. Das ist eine interessante Wahl, da diese Oper den britischen
Adel und die Regierung kritisiert und damit den revolutionären Rahmen unterstützt, der im
weiteren Spielverlauf großen Raum einnimmt. All diese Informationen stehen über die
Animus-Datenbank zur Verfügung und sind jedem Spieler zugänglich, der bereit ist, sie trotz
der kleinen Schriftart zu lesen.
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Historische Authentizität
Die Forderung nach Authentizität kann natürlich immer auf den Prüfstand gestellt werden. Die
Mohawk-Berater für das Spiel gehören zur Stammesgruppe Kahnawake, die in Quebec lebt
(der Heimat des Ubisoft-Teams, das das Spiel entwickelt hat). Dies ist ein anderer Stamm als
der im Spiel, den Kanien’kehá:ka/Ganienkeh, einem jüngeren Stamm, der sich von anderen
Mohawk-Stämmen abgespalten hat und 1974 Siedlungsland im Staat New York
zurückforderte. 3
Man könnte den Authentizitätsanspruch der Firma zudem leicht angreifen, wenn man darauf
hinweist, dass Connor einen Schauspieler der Crow als Stimme und Vorbild hat, nämlich Noah
Bulaagawish Watts (die anderen Kanien’kehá:ka-Charaktere sind Mitgliedern des
Kahnawake-Stammes nachempfunden). Sind diese Varietäten wirklich so wichtig, wenn man
bedenkt, dass alle Mohawk-Stämme von den Kolonialmächten umgesiedelt wurden? Ist es
relevant, von welchem Stamm amerikanischer Ureinwohner der Schauspieler ist? Es mag
amüsant sein, diese Fragen zu diskutieren, aber letztendlich ist es irrelevant.
Ob die Spielmacher nun „wahrheitstreu“ sein wollten oder nicht, wir müssen immer genau
betrachten, wie sie ihre Geschichte erzählen. Wie King und Krzywinska bemerken: „Sobald
Entscheidungen getroffen werden, welches Material berücksichtigt werden soll, wie mit ihm
umgegangen werden soll und welche Aktivitäten die Spieler meistern müssen, um erfolgreich
zu sein, werden besondere Assoziationen – oder die Möglichkeit solcher Assoziationen –
aufgerufen“(172). Dean Chan behauptet beispielsweise, dass Macher von Kriegsspielen
problematische Darstellungen von Gruppen häufig mit Authentizitätsansprüchen rechtfertigen,
besonders wenn die Spiele auf historische Ereignisse referieren (Chan 24-30). Dass Araber,
Nazis oder der Vietcong im Spiel die Feinde sind, wird einfach als realistische Darstellung von
Kriegen, an denen die USA beteiligt waren, abgetan. Betrachtet man die politisch scheinbar
weniger heikle Darstellungsform in AC III, stellt man schnell fest, dass Philadelphia
bemerkenswerterweise fehlt. Bedenkt man, dass die Stadt wichtiger Schauplatz zahlreicher
zentraler Ereignisse während des Unabhängigkeitskrieges war, erscheint dies als
schwerwiegendes Versäumnis, und als Bewohner von Philadelphia fühlte ich mich (kurzzeitig)
durch die Auslassung beleidigt. Die Designer schoben die Schuld auf die ebenen, breiten
Straßen und den Quadratraster-Grundriss der Stadt und argumentierten, dass das Navigieren
dort im Vergleich zu den europäischeren Städten New York und Boston langweiliger sei
(Dyer). Hier zeigt sich auf bedeutsame Weise, wie Entscheidungen bezüglich Design und
Gameplay die Darstellung von Geschichte sogar dann einschränken, wenn diese
entscheidend für Erzählung und Gameplay eines Spiels ist.
Diese wechselseitige Beziehung von authentischer Geschichtsdarstellung und Gameplay wird
darin sichtbar, wie das Spiel die Figur Achilles dafür einsetzt, Ratohnhaké:tons Anwesenheit
im kolonialen Boston zu verheimlichen. Als er mit seinem Mentee für Besorgungen in Boston
ankommt, überwältigen die Stadtansicht, Geräusche und Gerüche der „großen Stadt“
Ratohnhaké:ton. Achilles aber erinnert ihn daran, dass die Möglichkeiten Bostons „nur für
Wenige“ verfügbar sind. Hier benennt er Ratohnhaké:ton in Connor um, hier sagt er ihm, dass
seine Haut hell genug ist, dass er „als jemand mit Spanischem oder Italienischen Blut
durchgehen könnte“. Achilles lässt dem eine Reihe von Ausführungen folgen, die versuchen,
die lange Geschichte von Rassekategorisierungen und –hierarchisierungen zu umspannen,
ohne wirklich irgendwas zu erklären: „Lieber für einen Spanier gehalten werden als für einen
Indianer. Und beides immer noch besser als ich“.
Das Spiel umgeht die direkte Auseinandersetzung mit dem Thema Rasse weitestgehend,
soweit sie das Gameplay behindern könnte. Als Connor zum Beispiel zum ersten Mal den
Kolonialwarenladen betritt, wird ihm mit mehr Misstrauen begegnet als zuvor Haytham (der
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weißen Spielfigur zu Beginn des Spiels). Nachdem Samuel Adams Connor jedoch beibringt,
Steckbriefe abzureißen, Stadtschreier zu bestechen und die städtischen Drucker dazu zu
bringen, Meldungen abzuändern, um seinen Bekanntheitsgrad zu reduzieren, erscheint es mir
doch merkwürdig, dass solche Taten das Misstrauen gegenüber Connor oder die erhöhte
Wachsamkeit der Wachen in seiner Gegenwart in irgendeiner Weise verringern würden.
Visuelle Details wie Rußspuren hinter Wandleuchtern oder Baumschatten auf dem Waldboden
stehen in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass Connors Aussehen im Spiel die meiste
Zeit irrelevant erscheint.
‚Volle Synchronisierung’
Das Spiel setzt sich natürlich auch aktiv kritisch mit der dargestellten Geschichte auseinander
(das ist eines der Dinge, die ich an der Serie schätze). Die Geschichte der Loyalisten in der
Animus-Datenbank bietet zum Beispiel tatsächlich eine der präzisesten kritischen Geschichtsdarstellungen im Spiel. Tatsächlich sind die britischen Streitkräfte in der Datenbank häufig
positiv oder zumindest verständnisvoll gezeichnet (und es ist beachtenswert, dass die
Spielfigur, die diese Aufzeichnungen zusammenstellt, selbst Brite ist). Und der Eintrag über
den Atlantik in der Animus-Datenbank (nachdem Haytham nach Boston aufbricht) verliert nur
wenige Worte über europäische Reisende, bevor er einen ganzen Abschnitt den qualvollen
Reisen afrikanischer Sklaven über den Atlantik widmet. Das Thema Sklaverei und die dazu im
Widerspruch stehende Politik wohlhabender weißer Männer, die ihre Freiheit fordern und
zugleich andere versklaven, wird in den Dialogsequenzen des Spiels wiederholt aufgegriffen.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dieser Diskussion der Sklaverei in der Datenbank ein
Witz folgt, der sexuelle Belästigung verharmlost. Durch das gesamte Spiel zieht sich eine Kritik
populärer Darstellungen amerikanischer Geschichte, die fast immer durch das Gameplay oder
taktlosen Humor untergraben werden. Viele dieser Witze wurden offensichtlich geschrieben
um zu implizieren, dass Spieler und Autor sich gleichermaßen mit einer bestimmten Art
Männlichkeit identifizieren (was nicht heißt, dass diese besondere Männlichkeit auch
tatsächlich Teil der Geschlechtsidentität von Spieler oder Autor sein muss; auch Frauen
können über sexistische Witze lachen, aber deswegen sind sie nicht weniger sexistisch). Der
Spieldialog spielt beispielsweise in der zweiten Interaktion mit dem Spieler Benjamin Franklins
Frauengeschichten und sexistische Denkweise herunter. Hier sehen wir am deutlichsten, dass
Forderungen nach Feingefühl zwar im Authentizitätsdiskurs umgesetzt werden, aber nicht
durch konsequente Überlegungen bezüglich Design-Entscheidungen (mit Ausnahme derer, für
die ein Berater hinzugezogen wurde).
Durch die Fixierung der Serie auf oberflächliche Authentizität, die historische Detailtreue und
die Recherchen während der Entwicklung, übersehen wir zudem den problematischsten und
zugleich aussagekräftigsten Punkt in Bezug auf unseren Blick auf die Geschichte in der
Spielerzählung. Nämlich dass der zentrale Spielkonflikt der zwischen den Briten und den
"Patrioten" (Unterstützern der Unabhängigkeit) ist. Das zeigt sich zum Beispiel in dem
Moment, als Connor erfährt, dass das Land, auf dem sein Dorf liegt, im Zuge des 1768
zwischen Irokesen und William Johnson (zu Spielbeginn Verbündeter von Haytham)
geschlossenen Abkommens verkauft wurde. Seine erste Station, nachdem er das Kriegsbeil in
die Säule auf Achilles’ Veranda geschlagen hat, bei den Mohawk ein Ritual bei der
Kriegserklärung, ist Boston, wo er auf Geheiß von Samuel Adams eine Reihe von Missionen
erfüllt. Das führt schließlich dazu, dass Connor sich an der Boston Tea Party beteiligt. Was als
Mohawk-zentrierter Handlungsstrang und historische Vergeltungsgeschichte begann, lässt aus
Connor nur eine andere Spielfigur in der Widerstandsstrategie der Patrioten werden. Die
darauf folgende kurze Mission, in der Connor Mitglieder seines Stammes rettet, ist dagegen
ziemlich passiv.
Serienproduzent Jane Raymond betont für das erste Spiel, dass es sich um Fiktion handelt:
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„Wir haben uns viele Freiheiten genommen, eine revisionistische Methode anzuwenden und
an den Persönlichkeiten und Motivationen von Charakteren zu feilen“ (El Nasr et al. 7). Das
Spiel bietet diese Revision teilweise dadurch, dass die popularisierten Versionen der
gezeigten Geschichten kritisch betrachtet werden. Die Serie wählt in AC III den
Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Hintergrund und das Spiel übernimmt die
Perspektive eines amerikanischen Ureinwohners als Protagonist, um die im Konflikt
angeführten Argumente sowohl der Briten wie der Patrioten einer genauer Prüfung zu
unterziehen. Besonders als Conner erneut auf Haytham trifft, untersucht das Spiel die Seiten
des Krieges genauer. Haytham weist darauf hin, dass die meisten Patrioten egoistische,
wohlhabende, weiße Landbesitzer mit eigenen Sklaven sind. Connor bleibt mit seinen
Anhängern auf der Seite der Patrioten, bis er von General Washingtons Mitteilung an John
Sullivan hört, die zur Zerstörung aller Irokesensiedlungen aufruft. In der darauf folgenden
Mission soll Connor die Kanien’keha:ka, die auf der Seite der Briten stehen, mit
nicht-tödlichen Mitteln aufhalten – zumindest wenn der Spieler „volle Synchronisierung“ (d.h.
der spielmechanische Ausdruck der Serie für Geschichtstreue) erreichen möchte. Dadurch,
dass das Spiel diese Wahl erlaubt, bringt es den Spieler in eine interessante Position. Das
Spiel hindurch muss der Spieler zahllose britische Soldaten auf die unterschiedlichsten Arten
töten. In dem Hin und Her zwischen Kritik an den Briten und Kritik an den Kolonisten kann der
Spieler nie wirklich wählen, zu wessen Gunsten er kämpft. Bei den (sehr) wenigen Missionen,
in denen das Volk der Kanien’kehá:ka vorkommt, sind alle außer einem Tod optional.
Möglichkeiten der Emanzipation
Durch das ganze Spiel hindurch ist Ratohnhaké:ton/Connor – auch wenn er ein klassischer
Spielheld ist – eine tragische Figur. Der Tod von Ratohnhaké:tons Mutter zu Beginn des Spiels
ebnet den Weg für eine anti-koloniale Vergeltungsgeschichte, die Möglichkeit, die Kämpfe
dieser Zeit durch die Augen eines Kanien’kehá:ka-Helden neu zu betrachten. Das ist jedoch
nicht genau das, was das Spiel liefert. Connor hilft dem altbekannten historischen Verlauf fast
immer weiter und ist nicht in der Lage, alternative Verläufe für sein Volk aufzuzeigen. Das
Ende der Geschichte seines Volkes ist bereits geschrieben. Das Einzige, was das Spiel
beleuchtet, ist das Ausmaß der Gräueltaten, die die Briten und Patrioten ihnen antaten (und
auch das könnte noch genauer diskutiert werden).
Die finale Filmsequenz des Spiels ist besonders aufschlussreich in Bezug auf die Spannung
zwischen den verschiedenen Zielen von Spielerzählung und Spielmechanik. Wenn man den
fast zwanzigminütigen Abspann absitzt, sieht man eine finale Szene. Ratohnhaké:ton steht am
Dock in Boston und Kolonisten werfen Steine nach den sich zurückziehenden britischen
Schiffen und schreien ihre Freude über ihre Freiheit heraus. Dann dreht er sich um und sieht
zwei afrikanische Sklaven, die verkauft werden, und sein Blick spiegelt die Scheinheiligkeit
dieser neuen „freien Welt“ der Patrioten. Er hat auch herausgefunden, dass sein Volk nach
Westen verdrängt wurde, weil die Regierung ihr Land einem Kolonisten zugewiesen hat. Das
Spiel endet mit eben jener Ambivalenz, die ich während des Spielens empfand. All meine
Bemühungen im Spiel haben nicht das bewirkt, was ich beabsichtigte. Das Ende war sicherlich
sehr realistisch, aber warum musste es das gerade auf diese Art sein?
Die Kritik der Authentizität gilt hier nicht der Qualität der Recherche oder des Designs, sondern
eher der Tatsache, dass die Fokussierung auf Authentizität darüber hinwegtäuscht, dass das
Spiel eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte widerspiegelt, die als interessant für die
Zielgruppe angenommen wurde. Das wird in dem Add-on „Tyrannei von König Washington“
(DLC) besonders deutlich, in dem der Spieler als Ratohnhaké:ton in einer alternativen Welt an
der Seite seines Volkes und seiner in dieser Version nicht gestorbenen Mutter kämpft, um das
Land von einem wahnsinnigen George Washington zu befreien. In einem Spiel, das auf
historische Detailtreue ausgelegt ist, ist diese anti-koloniale Vergeltungsphantasie einfach
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keine Option für das Hauptspiel. Nur in einem hyperfiktionalen Add-on ist eine alternative
Geschichte möglich, in der die amerikanischen Ureinwohner siegreich sein dürfen. Und selbst
dort kehrt die Erzählung letzten Endes zur Normalität zurück und Amerika steht da wie immer.
Das ist die Tyrannei des Realismus, welche Spiele, die nur auf Fragen der historischen
Authentizität fixiert sind, anstatt auf die Möglichkeit der Emanzipation, versuchen müssen zu
überwinden. Sie ist zudem bezeichnend für die Art und Weise, wie sich Unternehmen
aufgrund gedachter Zielgruppen zu stark einschränken, welche Geschichten sie erzählen.
Wenn wir uns nur neue Blicke auf das Gewesene vorstellen können, verspielen wir die
Chance uns vorzustellen, was sein könnte.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien:
El-Nasr Magy Seif, Maha Al-Saati, Simon Niedenthal und David Milam: „Assassin’s Creed: A
Multi-cultural Read” Loading… 2 (2), 2008.
King Geoffrey & Tanya Krzywinska: Tomb Raiders & Space Invaders: Videogame Forms &
Contexts. New York: I.B. Tauris, 2006: 172.
Chan, Dean. 2005. „Playing with Race: The Ethics of Racialized Representations in
E-Games“, IRIE 4 (2005): 24-30.
Anmerkungen
1
Die englische Originalfassung des Texts, welche am 29.10.2014 auf der Website unseres kanadischen
Kooperationspartners First Person Scholar veröffentlich wurde, finden Sie unter:
http://www.firstpersonscholar.com/the-tyranny-of-realism/
2
Siehe: Reid McCarter and Jordan Rivas, „Let’s talk about how Assassin’s Creed III depicts the American
Revolution“, Nightmare Mode (December 2012); Luke Plunkett, „Assassin’s Creed III used to have scalping“, Kotaku
(December 5, 2012); Jared Newman, „Assassin’s Creed III’s Connor: How Ubisoft avoided stereotypes and made a
real character“, Time Tech (September 5, 2012); Michael Venables, „The awesome Mohawk teacher and consultant
behind Raonhnhaké:ton“, Forbes (November 25, 2012)/
3
„Ganienkeh, 33 Years Later.“ http://www.ganienkeh.net/33years/
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