Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der

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Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der
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Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina
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3. Begründung der
Eintragung
3.a Kriterien, nach denen die Eintragung vorgeschlagen wird
>
�� ���
361
3.b Vorgeschlagene Erklärung zum aussergewöhnlichen ��
> ���
363
3.c Vergleichende Analysen (einschliesslich des Erhaltungs-
zustands ähnlicher Güter)�
> 367
���
3.c.1
> ���
367
3.c.2 Bahnvergleich
> ���
374
3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich > 420
���
3.c.4 Gesamtschau des Vergleichs > ���
457
3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit
(und Begründung für die Eintragung nach diesen Kriterien)
universellen Wert
Identifizierung der Vergleichsobjekte >
�� ���
465
3. Begründung der Eintragung > Inhaltsverzeichnis
359
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Albulastrecke > Die Steilstufe zwischen Bergün/Bravuogn und Preda
bedingte eine aufwändige Linienführung mit zahlreichen Kunstbauten.
Ein Personenzug der Rhätischen Bahn passiert den Albulaviadukt III.
Foto Geiger/Rhätische Bahn
3. Begründung der Eintragung > 3.a Eintragungskriterien
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3.a Kriterien, nach denen die Eintragung
vorgeschlagen wird (und Begründung für die Eintragung nach diesen Kriterien)
Das Gut wird nach den Kriterien i, ii und iv ge-
ausgehende Rezeption der Berge als sublimes
mäss Nr. 77 der Operational Guidelines for the
Erlebnis zwischen Natur, Kultur und Technik.
Implementation of the World Heritage Convention
angemeldet mit folgender Begründung:
Kriterium i
Kriterium iv
Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft
Albula/Bernina» ist in aussergewöhnlicher Wei-
Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft
se sowohl ein einzigartiges als auch ein typisches
Albula/Bernina» ist ein aussergewöhnliches
Beispiel einer in eine (Hoch-)Gebirgslandschaft
Meisterwerk, entstanden aus einem einzig-
integrierten Eisenbahn: Die Albulabahn ist mit
artigen kreativen Zusammenspiel von inge-
ihrer spektakulären Streckenführung und den
nieurmässiger Höchstleistung, technischer
original erhaltenen Kunstbauten von beeindru-
Innovation und handwerklicher Perfektion,
ckender technischer Leistung und Struktur ein
sowie dem Ausschöpfen der sich bietenden
herausragendes Objekt aus der Glanzzeit der
Möglichkeiten finanzieller und wirtschaft-
Hochgebirgsbahnen und wurde von Beginn an als
licher, aber auch sozio-kultureller Entwicklun-
harmonisch in die Landschaft eingefügter Trans-
gen und der spektakulären Naturschönheit zu
portweg wahrgenommen; die Berninabahn ist als
einem Gesamtkunstwerk. Die «Rhätische Bahn
elektrische Überlandbahn in aussergewöhnlicher
in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» ist
Höhenlage und mit extremer Steigung ein einzig-
ein einmaliges Zeugnis aus der Glanzzeit des
artiges Beispiel für die Anwendung einer um 1900
Gebirgsbahnbaues.
höchst innovativen Technik, die bald grösste Ver-
Kriterium ii
breitung finden sollte, darüber hinaus stand die
Entwicklung ihrer Linienführung in besonderer
Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft
Weise unter dem Vorzeichen einer bestmöglichen
Albula/Bernina» bildet ein herausragendes
Abstimmung mit der umgebenden Landschaft.
Beispiel für die touristisch geprägte, alpine
Als eine ein ganzes Gebirge querende Bahn ver-
Kulturlandschaft: Die Bauten der Bahn in der
bindet die Albula/Bernina-Linie drei Sprach- und
von bedeutenden kulturellen und natürlichen
Kulturräume und steht bis heute im originalen
Werten gezeichneten Landschaft und die vom
Vollbetrieb mit Personen- und Güterbeförderung.
Bahnbau ausgelösten räumlichen und kulturellen Entwicklungen bilden emblematisch die
Tourismusgeschichte im Alpenraum ab und
zeigen gleichzeitig – und für die weltweite Kulturgeschichte exemplarisch – die von Europa
3. Begründung der Eintragung > 3.a Eintragungskriterien
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Berninastrecke > Die kühne Streckenführung bei der
Alp Grüm ermöglicht ein eindrückliches Landschaftserlebnis. C. Gilli /Rhätische Bahn
3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung
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3.b Vorgeschlagene Erklärung zum ausserge-
wöhnlichen universellen Wert
Der Vorschlag «Rhätische Bahn in der Kultur-
linie wurde subtil in die vielfältige Kultur-
landschaft Albula/Bernina» umfasst die Ei-
landschaft eingebettet und wirkt bis heute als
senbahnlinie als technisches Denkmal sowie
Bereicherung. Die Berninabahn konnte als Pro-
integrativ die in ihren Grenzen präzis definierte
dukt des auf italienische Initiative entstehenden
umgebende Kulturlandschaft. Der grenzüber-
Kraftwerkbaus und der Energiegewinnung für
schreitende Perimeter der Stätte widerspiegelt
die lombardische Metropole Mailand realisiert
alle sich wechselseitig beeinflussenden bau-
werden und nutzte das dadurch verfügbare Ka-
lichen, technischen, kulturellen und natürlichen
pital aus. Zudem sollten die Belange des Touris-
Faktoren des Phänomens Eisenbahn in einem
mus Berücksichtigung finden und das Trassee
weiteren Kontext.
so angelegt werden, dass sich vom fahrenden
Zug aus ein Bergerlebnis einstellen konnte. Die-
Der aussergewöhnliche universelle Wert der
ser speziellen Ausgangslage wurde mit der An-
«Rhätischen Bahn in der Kulturlandschaft Al-
wendung einer neuen Technologie begegnet, die
bula/Bernina» kann mit mehreren Argumenten
Hochgebirgsbahn nämlich als elektrische Über-
begründet werden: Die Bahn und die umge-
landbahn gebaut. Die «Rhätische Bahn in der
bende Landschaft bilden ein sich gegenseitig
Kulturlandschaft Albula/Bernina» ist ein aus-
bedingendes Gesamtkunstwerk. Der Bau der
sergewöhnliches Beispiel eines Meisterwerks,
Bahnlinie wurde durch ein ungemein kreatives
das durch einzigartiges, vielfältiges Zusammen-
Ausnutzen von technischen, wirtschaftlichen
spiel von Wirtschaft, Polititik, Technik, Kultur
und sozio-kulturellen Einflüssen möglich: Auf
und Natur erschaffen werden konnte.
politischer Ebene war der Zusammenhalt der
unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen
In ihrer Komplementarität – durch die Kom-
Gebiete des Kantons Graubünden ein wichtiges
bination zweier verschiedener Gattungen von
Ziel; dieser konnte mit dem Bahnbau gefördert
Gebirgsbahnen, einerseits mit Scheiteltunnel
werden. Die Albulalinie wurde zwar der Topo-
(und den bautechnisch ebenfalls aufwändigen
graphie wegen als Schmalspurbahn angelegt,
Spiraltunnels) und andererseits als offen über ei-
dennoch aber wie eine (normalspurige) Haupt-
nen Pass geführte Überlandbahn – ist die Albu-
linie konzipiert und betrieben. Das Ziel war die
la/Bernina -Linie ein zugleich einzigartiges wie
einfache Erreichbarkeit des Engadins, und zwar
typisches, herausragendes Beispiel einer Bahn
im Sommer wie im Winter. So trug die Bahn zur
im Gebirge. Sie ist von höchster baugeschicht-
Weiterentwicklung eines neuen Wirtschafts-
licher Bedeutung und Qualität; darin liegt auch
zweiges bei – des Winter(sport)tourismus; der
ihre weltweite Anerkennung begründet, die ihr
Tourismus als solcher sollte in der Folge zur
schon zur Zeit der Inbetriebnahme gezollt wur-
Leitbranche der Region avancieren. Die Bahn-
de. Von den bereits auf der Liste des Welterbes
3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung
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figurierenden Gebirgsbahnen unterscheidet
ten. Die baulich gestalteten Möglichkeiten zur
sie sich wesentlich: Die Albulalinie stellt als
Landschaftswahrnehmung während der Bahn-
aufwändig konstruiertes und handwerklich
fahrt sowie die bereits während des Baus vor-
exzellent erstelltes Meisterwerk den Typ der
genommene Landschaftsgestaltung durch die
Gebirgsbahn aus der Glanzzeit des Eisenbahn-
Bahn sind einzigartig. Auf kurzer Strecke kön-
zeitalters dar. Mit ihrer grossen Anzahl an
nen vielfältige und spektakuläre Naturphä-
steinernen, in Höhe und Länge variierenden Vi-
nomene, Kulturlandschaftstypen mit jeweils
adukten, den bautechnisch komplexen, teilwei-
typischen agrikulturellen Nutzungen und sehr
se übereinander liegenden Kehrtunnels sowie
bedeutende Denkmäler erfahren werden: Von
dem langen Scheiteltunnel, der architektonisch
der hochalpinen Gletscherwelt der Bernina bis
wertvollen und sorgfältigen Gestaltung der
zum südlich geprägten Val Poschiavo und Velt-
Hochbauten und schliesslich auch dem Betrieb
lin, vom mondänen Tourismusort St.Moritz bis
weist sie alle Charakteristika einer Hauptlinie
zur ursprünglichen alpinen Agrarlandschaft in
auf, auch wenn sie als Schmalspurbahn gebaut
Bergün/Bravuogn, vorbei an einer Vielzahl cha-
wurde. Bei der Berninabahn wiederum, einer
rakteristischer Profan- und Sakralbauten können
elektrischen Überlandbahn in grosser Höhe und
die Reisenden, dank der modernen Technik, qua-
mit der extremen Steigung von 70 ‰, wurde
si im Zeitraffer den Alpenraum in seiner ganzen
technisches Neuland beschritten. Die Albula/
Reichhaltigkeit erfahren. Die «Rhätische Bahn
Bernina-Strecke entspricht einem besonderen
in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» zeigt
Typ von «Gebirgsbahn»: Auf lediglich rund
emblematisch diese Synthese von Natur, Kul-
130 km und mit einer maximalen Höhendiffe-
tur und Technik, die bedeutenden Einfluss auf
renz (1’550 bzw. 1’700 m) überwindet sie ein
die weltweite Rezeptionsgeschichte der Alpen
Gebirge in seiner Gesamtheit. Als grenzüber-
ausgeübt hat. Sie kann als kulturgeschichtlich
schreitende Linie bedeutet sie ein verbindendes
exemplarisch gelten.
Moment in einer trennenden Topographie: Auf
Gleichzeitig – und eng mit dem Aspekt der Land-
kurzer Strecke durchfährt sie vielfältige Land-
schaftswahrnehmung verbunden – ist das Gut
schaftsformen und mehrere Klimazonen sowie
hervorragendes Beispiel für die Entwicklung der
drei verschiedene, sich in Sprache und Tradition
touristisch geprägten, alpinen Kulturlandschaft.
unterscheidende Kulturräume.
Die breite, ganzjährige Nutzung der Landschaft
für den «Fremdenverkehr» wurde erst durch
Schon zur Zeit des Bahnbaus wurde die zu
den Bahnbetrieb möglich. Qualitätsvolle kultur-
durchfahrende Landschaft als von ausserge-
landschaftliche Elemente wie Spazier- und Wan-
wöhnlicher, schutzwürdiger Qualität qualifiziert:
derwege, Aussichtspunkte mit mechanischen
Die adäquate Einpassung der Bahninfrastruk-
Aufstiegshilfen wie auf Muottas Muragl oder der
tur wurde denn auch stark gewichtet, gleich-
bei seiner Erbauung höchstgelegene Golfplatz
zeitig war die Streckenführung selbst – vor
Europas in Samedan (1’700 m ü.M, gegründet
allem im Falle der Berninabahn – darauf ange-
1893), sowie weitere bauliche Zeugen, wie die
legt, die Landschaft dem Reisenden möglichst
prägnanten Grand Hotels, machen diese Kultur-
in ihrer ganzen Grossartigkeit zu präsentie-
landschaft mit der Bahn zu einem ausserordent-
ren und ihm so ein Landschaftserlebnis zu bie-
lichen Repräsentanten des alpinen Tourismus.
3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung
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Die Kulturlandschaft Albula/Bernina ist in ihren prägenden Elementen ausserordentlich gut
erhalten. Auch die ganze Bahninfrastruktur
(Linienführung, Kunst- und Hochbauten) befindet sich in sehr gutem, originalem Zustand.
Dies ist insofern einzigartig, als die Bahn nach
wie vor voll in Funktion steht: Als Regelbahn
täglich nach Fahrplan in Betrieb, dient sie wie
vor 100 Jahren heute noch dem Personen- und
Gütertransport. Sie verfügt ausserdem über
einen einzigartigen Bestand an historischem
Rollmaterial.
Während die UNESCO-Welterbestätte «Semmeringbahn» den Beginn der bahntechnischen
Erschliessung von Gebirgen markiert, repräsentiert die Albula/Bernina-Linie die Glanzzeit des
Gebirgsbahnbaues: Erst mit der Entwicklung
von mechanischen Tunnelbohrmaschinen in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten lange Tunnelbauwerke sowie Spezialtunnel
(z.B. Spiraltunnel) mit vertretbarem zeitlichen
und finanziellen Aufwand errichtet werden. Der
alpine Gebirgsbahnbau fand mit dem Ersten
Weltkrieg sein Ende, danach wurden keine neuen alpenquerenden Bahnen mehr fertig gestellt;
Spiraltunnel werden im heutigen Eisenbahnbau
nicht mehr errichtet.
3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung
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Berninastrecke > Der 2’253 m ü.M. hohe Berninapass wird von der
Bahn in offener Linienführung überquert. Der Bahnreisende erhält
so uneingeschränkten Einblick ins Hochgebirge.
P. Donatsch / Rhätische Bahn
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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3.c Vergleichende Analyse
3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
Die vergleichende Analyse hat zum Ziel, für die
spezielle Bedeutung der Albula/Bernina-Linie,
potentielle UNESCO-Welterbestätte «Rhätische
was die wechselseitige Beziehung zwischen
Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina»
einem technischem Bauwerk und dessen Um-
den Nachweis von deren aussergewöhnlichem
gebung betrifft. Die zum Vergleich herange-
universellem Wert im länder-, zeiten- und kul-
zogenen Objekte sind deshalb ebenfalls unter
turübergreifenden Sinne darzulegen. Es sollen
dem Gesichtspunkt von «Eisenbahnlinien in
sowohl die Eigenheiten als auch die Gemein-
der sie umgebenden Landschaft» ausgewählt
samkeiten, gleichsam das Einzigartige und das
und analysiert worden. Generell muss voran-
Typische in Bezug auf vergleichbare Objekte
gestellt werden, dass eine Eisenbahnstrecke in-
herausgearbeitet werden.
klusive Kulturlandschaft eine Neuheit in der
Der Vergleich erfolgt systematisch und nach
UNESCO-Welterbeliste darstellen würde: Alle
transparenten Kriterien. An erster Stelle steht
bisher eingetragenen Eisenbahnen wurden als
die Auswahl der Objekte für einen detaillierten
Eisenbahnstrecken ohne die umgebende (Kul-
Vergleich. Der vorliegende Fall ist insofern viel-
tur-)Landschaft aufgenommen, weshalb die
schichtig, als neben der Albula/Bernina-
Kernzone derzeit jeweils nur das Eisenbahn-
Bahnstrecke auch die sie umgebende Kultur-
trassee umfasst. Bei der Semmeringbahn ist der
landschaft vorgeschlagen wird und damit tat-
Einbezug der umgebenden Landschaft in das
sächlich zwei unterschiedliche Gattungen zur
Welterbe vorgesehen, wobei eine präzise Ein-
Diskussion stehen: ein bahntechnisches Denk-
grenzung (räumlich und in weiterer Folge auch
mal und eine Kulturlandschaft. Die zur Dis-
betreffend dem Schutz) sich noch in Ausarbei-
kussion stehende Kandidatur verweist auf die
tung befindet.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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Typisierung
Die Auswahl der mit der Albula/Bernina-Linie
Zur Identifizierung der Vergleichsobjekte wurde
vergleichbaren Eisenbahnstrecken wurde auf-
eine international besetzte Expertengruppe ein-
grund der Typisierung getroffen, wie sie anläss-
gesetzt, welcher Prof. Dr. Robert Lee (Sydney,
lich der 1st World Railway Heritage Conference
Australien), der Technikhistoriker Mag. Günter
vom 16. März 1998 (vgl. dazu die ICOMOS-
Dinhobl (Wien, Österreich), der Industriehisto-
Studie Railways as World Heritage Sites, 1998)
riker Dr. sc. techn/dipl. Arch. ETH Hans-Peter
angeregt worden war. Der damalige Vorschlag
Bärtschi (Winterthur, Schweiz) und der Spezi-
zielte auf die Unterteilung von Bahnlinien in:
alist für die Geschichte der Rhätischen Bahn,
>
Hauptlinien (main lines)
Gion Caprez (Chur, Schweiz), angehörten. Der
>
Kolonialeisenbahnen (colonial lines)
Leiter des «Institute für Railway Studies &
>
Bergeisenbahnen (mountain lines)
Transport History», Prof. Dr. Colin Divall (York,
>
Schmalspureisenbahnen (narrow gauge).
England) übernahm die Aufgabe einer Expertise,
bzw. der externen Beratung im Zusammenhang
Entsprechend dieser Kategorisierung wurde
mit der Untersuchung.
im Rahmen der Tagung die spätere UNESCO-
In einem ersten Schritt wurde das Untersu-
Welterbestätte «Semmeringbahn» in Österreich
chungsgebiet in sechs (Welt)Regionen aufgeteilt:
als Hauptlinie sowie als Bergeisenbahn gewertet
>
Ozeanien, Ost- und Südasien
und die ebenfalls in die UNESCO-Weltereblis-
>
Süd- und Westasien
te aufgenommenen indischen Bahnen «Darjee-
>
Afrika
ling» und «Nilgiri» als Kolonialeisenbahnen,
>
Südamerika
als Bergeisenbahnen und als Schmalspurei-
>
Nord- und Mittelamerika
senbahnen. Auch die Albuba/Bernina-Strecke
>
Europa
lässt sich unter den genannten Gesichtspunkten drei verschiedenen Klassen zuordnen: Es
handelt sich um eine Schmalspureisenbahn,
um eine Bergeisenbahn und – in ihrem Abschnitt zwischen Thusis und St. Moritz – strukturell auch um eine Hauptlinie (Anpassung
der Streckenparameter und Bauausführung an
Hauptlinien-Standards, vgl. Kap. 2.a.3). Diese
Zusammensetzung – eine schmalspurige Hauptlinie im Gebirge – war für die Wahl der internationalen Vergleichsobjekte ausschlaggebend.
Mit zwei bewusst gewählten Ausnahmen blieb
die Auswahl also auf Bahnen beschränkt, welche eben diese Kriterien erfüllen.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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Spezialfall Bergeisenbahn
Tourismus, für landwirtschaftliche Belange oder
Im Falle der Kategorie Bergeisenbahn ist auf eine
für den Bergbau. Sie wurden teilweise auch iso-
Differenzierung hinzuweisen, die sich im deut-
liert, d.h. ohne Verkehrsanbindung an überre-
schen Sprachraum eingebürgert hat: die Unter-
gionale Eisenbahnen errichtet. Im Falle einer
scheidung zwischen Gebirgsbahn und Bergbahn.
touristischen Nutzung stehen sie zumeist nur saisonal in Betrieb. Bergbahnen sind also mit der
Bergbahnen
Albula/Bernina-Linie nicht vergleichbar und fal-
Bergbahnen dienen der wirtschaftlichen Er-
len daher für die hier angestrebte Analyse ausser
schliessung von Bergregionen, sei es für den
Betracht.
Auswahl an hochgelegenen Bergbahnen
Land
Verbindung
Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
USA/Col.
Manitou Springs - Pike‘s Peak (Manitou & Pike‘s Peak) Normal, Z 4302, Pike‘s Peak
USA/Col.
Silver Plume – Mt. McClellan
914 mm J
4159, Mt. McClellan
Schweiz
Kleine Scheidegg – Jungfraujoch (Jungfraubahn)
Meter, Z
3454, Jungfraujoch
Schweiz
Zermatt – Gornergrat (Gornergratbahn)
Meter, Z 3088, Gornergrat
Deutschland
Garmisch-Partenkirchen –Zugspitze (Bayrische Zugspitzenbahn)
Meter, Z 2650, Schneeferner
Schweiz
Brienz – Rothorn
800 mm, Z
2349, Rothornkulm
Schweiz
Alpnachstad – Pilatus-Kulm (Pilatusbahn)
800 mm, Z
2070, Pilatus
Schweiz
Lauterbunnen – Grindelwald (Wengernalpbahn)
800 mm, Z
2061, Kleine Scheidegg
Australien
Perisher Blue (Skitube underground 1986)
Meter, Z
2054, Perisher Blue
Schweiz
Glion – Rochers-de-Naye
800 mm, Z
1973, Rocher de Naye
Schweiz
Wilderswil – Schynige-Platte 800 mm, Z
1967, Schynige Platte
Spanien
Ribas-Caralps – Nuria
Meter, Z 1964, Nuria
USA/NH
(Bretton Woods) – Mount Washington
Normal, Z 1918, Mount Washington
Frankreich Chamonix – Montenvers
Meter, Z 1913, Montenvers
Österreich
Puchberg – Hochschneeberg
Meter, Z
1798, Hochschneeberg
Schweiz
Arth – Rigi
Normal, Z 1750, Rigi-Kulm
Österreich
Brannenburg – Wendelstein
Meter, Z 1723, Wendelstein
Schweiz
Capolago – Monte-Generoso
800 mm, Z
1620, Monte Generoso
Schweiz
Aigle – Leysin Meter, Z 1453, Leysin
England
Llanberis – Snowdon Mountain
800 mm, Z
1064, Snowdon
Japan
Yokogawa – Usui Toge 1067 mm*, Z J 940, Usui Toge
Z = Zahnstange;
1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
* 3,5 feet, auch Kapspur genannt
J stillgelegt
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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Gebirgsbahnen
In Fürst‘s Lexikon Der Verkehr auf dem Land
Im deutschen Sprachraum hat sich für Bahnen,
(Bd. II) aus dem Jahr 1924 findet sich eine Auf-
die ein Gebirge in seiner Gesamtheit überqueren,
listung jener Elemente der Streckenführung
der Begriff Gebirgsbahn eingebürgert. Gebirge
von Gebirgsbahnen, durch welche die Überwin-
waren für die Menschen lange Zeit ein Hindernis
dung der grossen Höhenunterschiede ermöglicht
und wirkten trennend für die auf beiden Seiten
wird:
liegenden Regionen, wo sich – trotz teilweise ge-
> Spitzkehren
ringer räumlicher Distanzen – unterschiedliche
> Bergumfahrungen
kulturelle Entwicklungen und Ausprägungen er-
> Untertunnelung
geben haben; dies manifestiert sich auch in der
> Rundkehre in Seitental
verschiedenartigen Gestalt der einzelnen Kul-
> Kehr- und Spiraltunnel
turlandschaften. In diesem Sinne kommt den
All diese Faktoren berücksichtigend, muss die
Gebirgsbahnen aus kultureller, bzw. kulturland-
Albula/Bernina-Linie als Gebirgsbahn klassifi-
schaftlicher Sicht oftmals eine besondere Be-
ziert werden.
deutung zu, bilden sie doch die technologische
Verbindungsinfrastruktur topographisch voneinander getrennter Kulturräume. In den Alpen
etwa ist der südliche Kulturraum romanisch geprägt, der nördliche hingegen alemannisch.
Meistens sind Gebirgsbahnen in grössere, überregionale Eisenbahnnetze (z.B. Bahnen im
Flach- und Hügelland) eingebunden. Gemäss der
von Victor Röll herausgegebenen Enzyklopädie
des Eisenbahnwesens, einem 1912 erschienen
Standardwerk, zeichnen sich Gebirgsbahnen
durch folgende Merkmale aus:
> Starke andauernde Steigungen
> Zahlreiche Bögen
> Aufwändige Führung an steilen Hängen hoch über der Talsohle
> Erreichen einer bedeutenden Höhe
> Aufwändige Sicherungsmassnahmen gegen
Schneeverwehungen und -lawinen, sowie gegen Steinschlag und Murgänge
> Bisweilen auch Überquerung bedeutender
Taleinschnitte und Gewässer, die wegen
drohender Überschwemmung des Bahn-
trassees korrigiert werden müssen.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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Vergleichsobjekte >
1 Yunnan-Bahn
2 Darjeeling-Bahn
3 Nilgiri-Bahn
4 Eritrea-Bahn 5 Guayaquil & Quito Railway
6 Denver&Rio Grande Railroad
7 Train Jaune
8 Semmeringbahn
9 Gotthardbahn
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Vietnam / China
Indien
Indien
Eritrea
Ecuador
USA
Frankreich
Österreich Schweiz
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Auswahl
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> Dichte an Tiefbauten (Tunnels, Brücken,
Eine Liste aller existierenden Gebirgsbahnen
Einschnitte, Dämme): (a) sehr hoch; (b)
würde mehr als 1000 Objekte umfassen. 170
hoch; (c) niedrig.
Bahnlinien erwähnt Ascanio Schneider in seinem
> Ausrüstung: (a) mit seltener/früher/innova-
1967 erstmals erschienenen und bisher einzigar-
tiver Energieversorgung; (b) mit weitgehend
tig gebliebenen Überblickswerk Gebirgsbahnen
originalen oder mit stark veränderten Hoch-
Europas allein für Europa. Im Zuge einer wei-
bauten; (c) mit Rollmaterial aus der Bau-
teren Eingrenzung kamen daher nur Gebirgs-
oder Elektrifizierungszeit.
bahnen mit Scheitelpunkten über 1’000 m ü.M.
oder 3’250 feet in die engere Auswahl. Diese Ab-
Für den detaillierten Vergleich erfolgte nach
grenzung wird auch in englischen Publikationen
Beratungen in der Expertengruppe die Ein-
verwendet, etwa im Guiness Book of Rail Facts
grenzung der Auswahl auf eine Bahn für jede
von 1979. Auch dann standen noch mehr als 100
Weltregion. Aufgrund der aussergewöhnlichen
technisch vergleichbare Strecken zur Diskussion;
Bedeutung Europas sowohl für die Entwick-
dabei konnten einzelne Strecken, wie etliche der
lung der Eisenbahn im 19. und frühen 20. Jahr-
seit 1960 eröffneten Bahnstrecken in China mit
hundert als auch für den modernen Tourismus
Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. man-
wurden für diese Weltregion drei Objekte aus-
gels konkreter Angaben nicht erfasst werden. In
gewählt. Die schon in der UNESCO-Welter-
Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern von Fahr-
beliste eingetragenen Eisenbahnen wurden
plancenter-News, einer Zeitschrift, welche die
ebenfalls als Vergleichsobjekte aufgenommen.
aktuellsten Entwicklungen von Eisenbahnstre-
Dies erklärt den Einbezug der Semmeringbahn,
cken ausserhalb Europas zusammenfasst, wurden
deren Kulminationspunkt unter 1’000 m ü.M.
für die jeweiligen Weltregionen die entsprechend
liegt.
den erwähnten Kriterien für den Vergleich mit
Folgende Bahnen wurden für die Ausarbeitung
der Albula/Bernina-Linie am besten geeigneten
eines detaillierten Vergleiches ausgewählt:
Objekte ausgewählt und weiter bearbeitet. Die
> Ozeanien, Ost- und Südostasien: Yunnan-
verbliebenen 46 Objekte wurden auf transparente Weise nach den folgenden detaillierten
Vergleichskriterien vertieft untersucht und an-
Bahn, Vietnam/China
> Süd- und Westasien: Darjeeling- und Nilgiri-Bahn, Indien
schliessend gewertet:
> Afrika: Eritrea-Bahn, Eritrea
> Bauzeit: (a) Frühe Hochgebirgsbahnen bis
> Südamerika: Guayaquil & Quito Railway,
und mit Gotthardbahn (1882); (b) Bahnbauten
bis zum Ersten Weltkrieg (vor 1915) oder (c)
jüngere Bahnbauten ab 1915.
> Schwierigkeit und Attraktivität der Einbettung der Strecke in die Topographie.
> Trassierung: (a) weitgehend original; (b) verändert; (c) stark verändert.
Ecuador
> Nordamerika: Denver & Rio Grande Railroad (insbes. Cumbres & Toltec Scenic Railway), USA
> Europa: Train Jaune, Frankreich
> Europa: Semmeringbahn, Österreich
> Europa: Gotthardbahn, Schweiz
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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Durchführung des Vergleiches
Vergleichs erfolgt in diesem Abschnitt eben-
Die Durchführung der vergleichenden Ana-
falls aufgrund eines standardisierten Unter-
lyse selbst erfolgte – insbesondere im Hin-
suchungsrasters, der vier Bereiche umfasst:
blick auf die Nominierung als «Eisenbahn
«Agrikultur», «Bauwerke», «Transportwege»
mit umgebender Kulturlandschaft» – in Form
und «Wahrnehmung». Auch hier wird zum
einer aufgeteilten Darstellung der technik-
Schluss ein Vergleich mit der Albula/Bernina-
geschichtlichen/wirtschaftsgeschichtlichen
Linie vorgenommen.
sowie der kulturlandschaftlichen Bedeutung
der Vergleichsbahnen (vgl. Kap. 3.c.2 und
3.c.3). Dieses zunächst nach Gebieten aufgeteilte Wissen wird erst im dritten Schritt zusammengeführt und führt zur Gesamtschau
des Einzigartigen und des Typischen des
Albula/Bernina-Bahnkorridors.
Bahnvergleich
Der erste Teil der Analyse betrifft den Vergleich der ausgewählten Bahnenstrecken, wobei
jedem Abschnitt ein Überblick der Eisenbahnen
in der entsprechenden Weltregion vorangestellt ist. Hierbei sei explizit auf den Pioniercharakter der Arbeit hingewiesen, besonders
auch, was die tabellarischen Zusammenstellungen betrifft. Darauf folgt eine detaillierte,
nach einheitlichem Raster durchgeführte Untersuchung der ausgewählten Bahnstrecken,
die folgende Punkte umfasst: «Baugeschichte», «Streckenführung und Bahnbauten» sowie
«Betrieb und Ausrüstung». Den Schluss des
Kapitels bildet jeweils ein Vergleich mit der
Albula/Bernina-Linie.
Kulturlandschaftsvergleich
Der zweite Abschnitt des internationalen Vergleichs ist den (Kultur-)Landschaften gewidmet, welche die Eisenbahnstrecken umgeben,
bzw. in welche die Eisenbahnstrecken eingebettet sind. Die systematische Erfassung des
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte
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3.c.2 Bahnvergleich
Ozeanien, Ost- und Südostasien
von Bauschwierigkeiten erst im Jahr 1916 end-
Das bevölkerungsreiche Ostasien und der dünn
gültig in Betrieb genommen werden konnte. Die
besiedelte «fünfte Kontinent» Australien wur-
«Transib» ist die älteste ostasiatische Haupt-
den erst spät mit Eisenbahnen erschlossen. Die
bahn im Dauerbetrieb. Sie führt auf dem Ab-
hervorragendsten Leistungen auf diesem Gebiet
schnitt zwischen Chita und Ulan Ude auf über
sind in Japan und China zu verzeichnen.
1’000 m ü.M.
Ab 1872 entstand auf allen vier Hauptinseln Ja-
In Australien und Neuseeland weisen die meis-
pans ein Bahnnetz in Kapspur (1’067 mm). Auf
ten Gebirgsbahnen Kulminationspunkte unter
Honshu bestehen mehrere Querverbindungen
1’000 m ü.M. auf; eine Ausnahme bildet der so
mit ausgesprochenem Gebirgsbahncharakter.
genannte «Great Zig Zag», die älteste Gebirgs-
Das 1964 eröffnete, für den Hochgeschwindig-
strecke in dieser Weltregion (eröffnet 1868) und
keitsverkehr bestimmte normalspurige Netz
das bekannteste Bahndenkmal Australiens. Er
Shinkansen («Neue Fernstrecke») markiert den
führt über die Great Dividing Range der Blue
wohl wichtigsten Meilenstein im Eisenbahnver-
Mountains mit dem Scheitelpunkt in einer Hö-
kehr nach dem Zweiten Weltkrieg. Es umfasst
he von 1’114 m ü.M. in das Lithgow Tal. Das
nicht nur zwei der längsten Tunnel überhaupt,
ursprüngliche Trassee wurde 1910 durch eine
sondern auch die weltweit dichteste Abfolge
direkte Linienführung ersetzt; heute wird auf
von erdbebensicheren Kunstbauten.
der älteren Strecke ein Museumsbahnbetrieb
China hat nach dem Zweiten Weltkrieg das Ko-
geführt, welcher jedoch nicht die ursprüngliche,
lonialbahn-Netz aus der zweiten Hälfte des 19.
normale Spurweite aufweist, sondern in der
Jahrhunderts wieder instand gestellt. Die Ge-
schmaleren Kapspur (1’067 mm) wiederaufge-
birgsbahnen zur Erschliessung des Landesin-
baut wurde.
nern wurden mit Ausnahme der Yunnan-Bahn
Das Bahnnetz Südostasiens ist geprägt von den
alle nach 1950 eröffnet. Die jüngste, erst 2006
kolonialistischen Bemühungen, eine durchge-
in Betrieb gesetzte chinesische Gebirgsbahn
hende Meterspurverbindung von Indien nach
verbindet das chinesische Kernland mit Tibet
China zu bauen. Der fehlende Abschnitt dieser
und überwindet einen 5’000 m hohen Pass; kei-
Strecke zwischen Thailand und Myanmar (Bur-
ne andere Bahn weltweit führt auf eine solche
ma) wurde während des Zweiten Weltkriegs
Höhenlage. Zum chinesischen Bahnnetz gehö-
von Japan erbaut, das damals weite Gebiete
ren heute auch der mandschurische Abschnitt
Südostasiens besetzt hielt. Teilstücke dieses
der zwischen 1891 und 1903 erbauten Transsi-
südostasiatischen Meterspurnetzes sind als Ge-
birischen Eisenbahn, wie auch deren «Umge-
birgsbahnen zu charakterisieren.
hungsstrecke», die Amur-Eisenbahn, die nach
Das Bahnnetz Indonesiens geht auf die Zeit der
dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) von
niederländischen Kolonialherrschaft zurück –
Russland errichtet worden war und aufgrund
es war dies das erste und ursprünglich auch das
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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dichteste im gesamten asiatischen Raum. Etli-
Zahnradbahn zu den Kohlegruben in West-Su-
che der dazugehörenden Strecken weisen Ge-
matra, denn sie führt vom Meereshafen auf eine
birgsbahncharakter auf. Erwähnenswert ist die
Höhe von 1’154 m ü.M.
Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Ozeanien, Ost- und Südostasien (für China Auswahl)
Land
Verbindung Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
China
Qinghai/Xining – Lhasa (Tibetbahn)
Normal
5072, Tangula
2006
China
Wuwei – Shibalipu (Seidenstrasse)
Normal
2400, Shibalipu 1962
China
Urumqi – Kasachstan (Seidenstrasse)
Normal
2400, Tunnel Wushaoling
2006
China
Lanzhou – Xiling
Normal
2300, Xiling
1960
China
Chendu – Kunming
Normal
2300, Samala
1970
Vietnam, China
Haiphong – Kunming (Yunnan-Bahn)
Meter
2026, bei Yiliang
1910
China
Nanning – Kunming
Normal
2000, Kunming
1998
China
Peking – Suiyuan Normal
1585, Suiyuan
1970
China
Baotou – Lanzhou Normal
1560, Lanzhou
1958
China
Xian – Lanzhou Normal
1560, Lanzhou
1952
China
Zhongwei – Baoji – Lanzhou
Normal
1560, Lanzhou
1960
Vietnam
Thap Cham – Da Lat
Meter, Z
1463, Da Lat
1933
Japan
East Koumi – Nobeyama (JR East Koumi Line)
1067 mm*
1345, Nobeyama
1919
Myanmar
Mandaly – Myitkyina (Burma Railways)
Meter 1405, Kalaw
1921
Indonesien
Padang – Kota Baru (West-Sumatra Coal Mine)
1067 mm*, Z
1154, Kota Baru
1891
Australia
Lithgow Valley – Clarence Tunnel (Great Zig Zag) Normal, 1067 mm*
1114, Blue Mountains
1868
Russland
Ulan Ude – Chita
1040, Jablonovyi 1900
1)
*
Z
2)
1524 mm
Eröffnung 2)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
3.5 feet, auch Kapspur genannt
Zahnstange
Yunnan-Bahn, Vietnam/China
Baugeschichte
Die Wahl der Yunnan-Bahn als Vergleichsobjekt
Die Yunnan-Bahn verbindet die vietnamesische
zur Albula/Bernina-Linie erfolgte aufgrund fol-
Hafenstadt Haiphong mit dem auf einem Hoch-
gender Kriterien:
plateau zwischen den Flüssen Yangste und Yu-
> vergleichbare Bauzeit
an Jiang auf 1’900 m ü.M. gelegenen Kunming
> Schmalspur
(ehem. Yunnan Fou), der Hauptstadt der chine-
> hervorragende zeitgenössische Bauarbeits-
sischen Provinz Yunnan. Kunming, ein altes
und Ingenieurleistungen
Handelszentrum, hatte mit der französischen
> Überwindung von großen Höhendifferenzen
Kolonialisierung Indochinas und der englischen
(mehrere Vegetationsstufen)
Expansion in Ostindien im letzten Viertel des 19.
> noch in Betrieb stehend
Jahrhunderts an strategischer Bedeutung gewon-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Kaiyuan
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0
C
H
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10 km
I
N
A
8 Tunnels
Milati-Pass, 1700 m ü.M.
Tche-Tsouen 1630 m ü.M.
Lo-Chouei-Tong, 1552 m ü.M.
13 Tunnels
Ko-Kou, 1380 m ü.M.
Pono-Tou
68 Tunnels
Yunnan-Bahn
Po-Tchai, 388 m ü.M.
Tunnel
Brücke
La-Ha-Ti
Station
Fluss
Nam-Ti
Böschung / Damm
Bergspitze
Lao Cai (Vietnam)
Yunnan-Bahn > Gebirgsabschnitt.
H.P. Bärtschi
Yunnan-Bahn >Brücke bei km 83 mit
Bauzug. Aufnahme 19o6.
Edition Si-An
Yunnan-Bahn > Aufnahmegebäude in
Haiphong, erbaut 1903. Aufnahme 2003.
H.P. Bärtschi
Yunnan-Bahn > Brücke im Delta des
Roten Flusses. Aufnahme 2003.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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nen. Beide Kolonialmächte trieben Bahnbauten
schen Haiphong und Hanoi fertig gestellt. 1906
Richtung Yunnan voran. England baute in den
erreichte man Lao Cai. Die Vollendung der an-
1880er Jahren eine Gebirgsbahn von Rangoon
spruchsvollen Gebirgsetappe wäre ohne mehrere
bis nach Lashio im Herzen Myanmars. Von dort
Nachsubventionierungen nicht möglich gewe-
führte der Weg auf der Strasse (Burma Road)
sen. Gegen 60’000 Einheimische sollen am Bau
weiter über die Schluchten des Salweens und des
dieses ambitiösen Projektes beteiligt gewesen
Mekongs bis Dali und weiter bis Kunming. Ei-
sein; die Baustellenleiter wurden vornehmlich
ne Bahnverbindung zwischen Xiaguan bei Dali
in Italien rekrutiert. 8’000 Pferde und Maulesel
und Kunming konnte Mitte der 1990er-Jahre er-
waren als Lasttiere eingesetzt. Der Bau konnte
öffnet werden. Frankreich seinerseits errichte-
schliesslich 1910 vollendet werden.
te die Yunnan-Bahn. Die Anfänge des Projekts
reichen ins Jahr 1897 zurück, als Paul Doumer
Anschlussbahnen
in seiner Funktion als französischer General-
Zur Erschliessung der in den südlichen chine-
gouverneur der Kolonie Annam (Vietnam, Laos,
sischen Provinzen liegenden Bergbaugebiete von
Kambodscha) ein Meterspurnetz zur Erschlies-
Gejiu und Baoxiu erfolgte ab 1915 von Mengzi
sung des Kolonialreichs entwarf. Kernstück soll-
ausgehend der Bau eines 160 km langen, Y-för-
te die Ligne impériale de l‘Indochine zwischen
migen Netzes in 600 mm Spurweite. Weitere die
Phnom Penh und Yunnan werden. 1898 – 1899
Yunnan-Bahn tangierende Anschlussbahnen
führte die Société de Construction des Chemins
führten zum Höhenkurort Sa Pa bei Lao Cai und
de Fer Indochinois Vermessungsarbeiten für die
zum «Steinwald» von Shiling nahe Kunming.
Trassierung der Yunnan-Bahn durch. Die be-
Um 1970 vollendete China die normalspurige
auftragten Vermesser unter Ingenieur Guillemot
Hochgebirgsstrecke von Kunming ins nördliche
legten eine Linienführung von der Hafenbahn
Chengdu sowie eine küstennahe Linie von Nan-
in Haiphong über Hanoi und entlang des Roten
ning nach Hanoi, und 1997 konnte eine ebenfalls
Flusses bis Lao Cai (heute Vietnam) vor. Um
normalspurige Eisenbahnverbindung zwischen
die Bewältigung der dort beginnenden grossen
Nanning und Kunming eröffnet werden.
Steigung entstand eine Auseinandersetzung, die
Ein Aufschwung im Bahntransportwesen führte
noch während der Bauarbeiten zu Anpassungen
in den späten 1990er Jahren zum vorerst letzten
des ursprünglich vorgesehenen Trasseeverlaufs
Streckenneubau entlang der Yunnan-Bahn, und
führte. Schliesslich wich man vom Haupttal ab
zwar von vietnamesischer Seite: Um Hanoi bes-
und liess die Schienen den Hanglehnen meh-
ser zu erschliessen, begann die Vietnamesische
rerer Seitentäler folgen. Im schwierigsten Ab-
Staatsbahn mit dem Bau einer nördlich der Yun-
schnitt zwischen Lao Cai und Mengzi waren 149
nan-Bahn gelegenen Umgehungsbahn sowie ei-
meist kurze Tunnel geplant. Bereits vor Beginn
ner zweiten Bahn- und Strassenbrücke über den
der Bauarbeiten musste die Finanzierung 1901
Roten Fluss.
mit der Compagnie Française de Construction
des Chemins de Fer de l‘Indochine et du Yun-
Streckenführung und Bahnbauten
nan neu organisiert werden. Mit der Ausführung
Trotz vielfacher Zerstörungen durch Naturka-
der 861 km langen Bahnlinie wurde im Fluss-
tastrophen und im Zusammenhang mit diversen
delta begonnen; 1903 war der Abschnitt zwi-
kriegerischen Auseinandersetzungen in der Re-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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gion ist die einspurige Bahnlinie in weiten Teilen
sowie 107 Brückenbauten auf. Das spektaku-
im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben.
lärste Bauwerk ist die Dreigelenkbrücke über die
In Haiphong stehen noch Hafenbauten und die
Nam-Ti-Schlucht in einer Höhe von 100 m. Auch
– noch befahrbaren – Hafengleise von 1903.
gemauerte oder typisch amerikanische Brücken-
Original erhalten haben sich das klassizistische
bauten in der Trestlework-Bauweise kamen zur
Aufnahmegebäude und weitgehend auch die
Ausführung. Im Gebirgsabschnitt wurden in re-
Werkstätten (Schmiede, Dampfhammer) und
gelmässigen Abständen Kleinbahnhöfe im fran-
die Maschineneinrichtung. Die Bahnlinie ver-
zösischem Stil errichtet; davon sind die meisten
läuft bis Hanoi grösstenteils auf Dämmen über
erhalten geblieben. Sie dienten nicht als Unter-
Reisfeldern und Bewässerungskanälen. Die
stand für die Reisenden, sondern zum Schutz
Träger der drei grossen Brücken Som-Tam-Bac
der Wärter und der Betriebssicherheitseinrich-
(Spannweite 90 m), Song-Lai-Vu (120 m) und
tungen. Im Stadtbereich von Kunming, wo die
Thai-Ninh (380 m) sind weitgehend original
Bahnanlagen verlegt wurden, sind die Origi-
erhalten, deren Pfeiler und Widerlager jedoch
nalbauten der Bahn grösstenteils nicht mehr
mehrheitlich ersetzt worden. Die Linie verlässt
vorhanden.
das Flussdelta bei der Brücke über den Fluss
Unter- und Oberbau der Yunnan Bahn zeichnen
Claire (295 m). Von dort führt ein Seitenast zum
sich heute durch vielfältig improvisierte Instand-
Bahnhof von Hanoi, der in grossen Teilen neu
stellungen aus. Viele Gleisabschnitte weisen
aufgebaut worden ist. Im Gegensatz dazu verfügt
Stahlbetonschwellen auf. Sie sind jedoch oft
das nahe gelegene Depot noch über Betonske-
schlecht gewartet.
lettkonstruktionen von 1903. Die während des
Vietnamkriegs wiederholt bombardierte Brücke
Betrieb und Ausrüstung
über den Roten Fluss, ursprünglich eine Cantile-
Während der beiden Weltkriege und im Viet-
ver-Metallkonstruktion, wurde mit unzerstörten
namkrieg sollte die Yunnan-Bahn ihre Spitzen-
Trägerteilen über elf alten und 26 neuen Pfei-
frequenzen im Güterverkehr erreichen. Von 1979
lern wieder aufgebaut – ihre Länge beträgt heute
bis 1994 blieben die Abschnitte im Grenzbe-
1’513 m. Der folgende Streckenabschnitt bis Lao
reich geschlossen. Nach aufwändiger Reparatur
Cai, in dem die Bahn dem Roten Fluss entlang
dieser Teilstücke wurde die Bahn später wieder
fährt, verfügt über keine grösseren Kunstbauten.
durchgehend in Betrieb genommen. 2002 führ-
Zwischen Lao Cai und Lahadi beträgt die Stei-
ten Überschwemmungen zu grossen Schäden;
gung 10 ‰, danach 25‰. Auf den 82 km bis zum
der Gebirgsabschnitt der Bahn wurde inzwi-
1’700 m ü.M gelegenen Milati-Pass durchfährt
schen wieder instand gestellt. 2005 verkehrten
der Zug insgesamt 81 Tunnel. Die Strecke neigt
zwei Zugpaare pro Woche zwischen Kunming
sich dann bis Kaiyuan auf 1’059 m ü.M. hinun-
und Hanoi, darüber hinaus steht die Linie im
ter, um sich von dort aus zum Scheitelpunkt bei
Einzugsgebiet um Kunming und Hanoi noch
Yiliang (Kuangyuan) auf 2’026 m ü.M. hinauf-
für den Lokalverkehr in regem Gebrauch. Chi-
zuwinden. Auf den wenigen noch verbleibenden
na plant gegenwärtig den Bau einer Trans-Asia
Kilometern bis Kunming (1’900 m ü.M.) ist nur
Eisenbahnlinie von Kunming nach Singapur;
mehr eine relativ geringe Höhendifferenz zu be-
Kunming würde dadurch per Normalspurstrecke
wältigen. Die gesamte Strecke weist 172 Tunnel
mit dem Tal des Rotes Flusses verbunden. Die
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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schmalspurige Strecke für den Verkehr zwischen
nur notdürftig wieder instandgesetzt. Während
Kunming und Hanoi soll allerdings erhalten blei-
die Albula/Bernina-Strecke wie seit der Bauzeit
ben, wie das chinesische Eisenbahnministerium
als Vollbahn betrieben wird, wurde der grenz-
Ende 2004 bekannt gegeben hat.
überschreitende Betrieb zwischen Vietnam und
Um 2000 waren in Haiphong und Hanoi noch
China in den 1970er Jahren eingestellt und erst
Wagen und Dampflokomotiven aus der franzö-
in den 1990er Jahren wieder aufgenommen, al-
sischen Kolonialzeit und ihre chinesisch-viet-
lerdings nur mit geringer Zugsdichte. Die Albu-
namesischen Nachbauten zu sehen (141 Nr.
lastrecke wurde 1919 vollständig elektrifiziert,
101 – 115 SACM 1953 ff., Nr. 121 – 122 Vietnam
die Berninastrecke war von Beginn weg elek-
1961ff., Nr. 151…216 Tangshan; Nr. 231 – 301
trisch betrieben. Die Umstellung der Yunnan-
SACM 1932). Sowohl in China wie auch in
Bahn auf Diesellokomotiven erfolgte in den
Vietnam waren 1988 japanische Dampfloks
1970er Jahren. Die Albula/Bernina-Strecke ist
aus dem Zweiten Weltkrieg (131 «C12» Nr.
heute ein wichtiger Träger des öffentlichen Ver-
96 – 97 und 140 «KD55» Nr. 501…576 Kawasa-
kehrs; der Fortbestand der Yunnan-Bahn war
ki 1913 – 1926) abgestellt. Auf den Strecken der
für lange Zeit nicht gesichert, im Jahr 2004 gab
Yunnan Bahn werden heute Bo’Bo’-Dieselloks
das chinesische Eisenbahnministerium jedoch
aus den 1970er und 1980er Jahren sowie Umbau-
eine Willenserklärung zum Erhalt und Ausbau
und Neubaupersonenwagen eingesetzt.
der Strecke ab. Wie die Albula/Bernina-Bahn
scheint auch die Yunnan-Bahn über historisches
Vergleich
Rollmaterial zu verfügen.
Die Yunnan-Bahn wurde im gleichen Zeitraum
wie die Albula/Bernina-Strecke erbaut und weist
wie diese eine spektakuläre Linienführung auf:
Die Überwindung von Höhenunterschieden
konnte durch Talschleifen in Seitentäler umgesetzt werden, jedoch waren keine bautechnisch
aufwändigen Spiraltunnels oder lange Scheiteltunnels wie bei der Albulastrecke erforderlich.
Wie die Berninalinie verläuft auch die YunnanBahn offen über einen Pass und dies in nur geringfügig tieferer Lage (Milati-Pass 2’026 m ü.
M., Berninapass 2’253 m ü.M.). Ähnlich aufwändig gestaltete sich bei beiden Bahnen die
Streckenführung an den steilen Hängen hoch
über der Talsohle. Wie bei der Albula/BerninaLinie ist die Trassierung bei der Yunnan-Bahn
weitgehend original erhalten; die Bahngebäude
allerdings wurden, insbesondere in den Städten, teilweise ersetzt und auch die von Unwetterschäden betroffenen Streckenabschnitte oft
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Süd- und Westasien
dem Iran sollten alle am Konflikt Englands mit
Auf dem indischen Subkontinent begann die bri-
den Gebirgsvölkern Afghanistans und Belut-
tische Kolonialmacht bereits 1848 mit dem Bau
schistans scheitern. Auch die ab 1876 voran-
eines Bahnnetzes in der Breitspurweite von 1676
getriebene Bahnverbindung von Karachi über
mm. Es umfasste bei seiner Vollendung 30’000
Quetta, Kandahr und Herat nach Turkmenistan
km. Die Pionierstrecke von Bombay nach Thane
blieb auf afghanischem Territorium unvollen-
wurde – als erste Eisenbahnlinie Asiens – 1853
det; der zwischen 1880 und 1891 unter Feld-
eröffnet. Ab 1870 entstanden zusätzlich zum
marshall Lord Roberts of Kandahar erstellte
Breitspurnetz meterspurige Bahnlinien von ins-
doppelspurige Streckenabschnitt zwischen Si-
gesamt 26’000 km Länge. In Indien wurden
bi und Chaman erreicht auf dem Bolanpass ei-
diese in den vergangenen Jahrzehnten weitge-
nen Kulminationspunkt von 1950 m ü.M. Eine
hend auf Breitspur erweitert oder gar eingestellt.
Höhe von über 1’000 m ü.M. erreicht auch die
Dennoch sind dort beide Spurweiten heute noch
zweite von Pakistan nach Afghanistan führen-
präsent, gleich wie in Pakistan und Bangladesh.
de Gebirgsbahn, die sich in Spitzkehren zum
In Sri Lanka hingegen wird nur noch das Breit-
Khyberpass hinauf windet. Auch die 1941 voll-
spurnetz betrieben. Weit verbreitet in diesem
endete Transiran-Bahn, die ins iranische Hoch-
Gebiet waren auch Bahnen mit Spurweiten von
land und über die Ausläufer des Elbrusgebirges
762 mm und 610 mm; ihre Länge betrug gesamt-
nach Turkmenistan führt, erreicht Höhen von
haft über 5’000 km.
über 1’000 m ü.M. Gebirgsbahnen wurden
In Indien stellte besonders die Überwindung des
auch in der Türkei erbaut, zur Überwindung
Dekkan-Hochlandes die Bahnbauer vor grosse
der Gebirgsketten zwischen Mittelmeer und
Herausforderungen; keine der dort gebauten
Schwarzem Meer, über den Taurus und über das
Strecken führt jedoch über 1’000 m ü. M. Hö-
Pontinische Gebirge. Auch die Hedjaz-Bahn
hen von weit über 2’000 m ü.M erreichen in In-
und ihre Zubringer über das Libanon- und An-
dien allerdings drei Gebirgsbahnen, die jeweils
tilibanongebirge erreichen dreimal Höhen von
von einer Talregion in ein Gebirge führen, ohne
über 1’000 m ü.M.
dieses zu überschreiten: Die Darjeeling-Bahn
Eine Vision von mehreren Bahnpionieren im
im Grossraum Kalkutta, die Nilgiri-Bahn im
19. Jahrhundert war der Zusammenschluss aller
Grossraum Madras und die Kalka – Simla-Bahn
bestehenden Bahnen zu einem durchgehenden,
nördlich von Dehli. Alle diese Bahnen haben
von Europa bis Südostasien reichenden Netz.
an ihrem Ausgangspunkt Anschluss an eine
Von Westen her führten Normalspur-Bahnli-
Vollbahn.
nien durch die Türkei und den Iran. Doch das
Das Breitspurnetz im sehr gebirgigen Sri Lan-
strategische Bahnprojekt von den Mittelmeer-
ka erreicht einen Kulminationspunkt von 1’898
häfen nach Mekka aus dem letzten Jahr des
m ü.M. Die pakistanische Linie Quetta – Zhob
Osmanischen Reichs (1922) blieb unvollendet.
(Fort Sandman), Teil jenes erwähnten Eisen-
Unter deutschem Einfluss wurden immerhin
bahnnetzes in 762 mm Spurbreite, erreicht eine
die ersten Abschnitte der Bagdadbahn (Istanbul
Höhe von 2’222 m ü.M. Die diversen, von der
– Bagdad) noch vor dem Ersten Weltkrieg er-
britischen Kolonialmacht lancierten Projekte ei-
öffnet, während die gesamte Strecke erst 1940
ner Eisenbahnverbindung zwischen Indien und
in Betrieb genommen werden konnte.
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Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Süd- und Westasien
Land
Verbindung Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Eröffnung 2)
Indien
Shiliguri – Darjeeling (Darjeeling-Bahn)
610 mm
2258, Ghoom-Pass
1889
Türkei
Sivas – Kars
Normal
2256, Asit
1917
Pakistan
Zhob – Quetta
762 mm J
2222, Kan Mehtarzai
1918
Iran
Ahvaz – Tehran (Trans-Iran South Section)
Normal
2217, Nurabad
1930
Indien
Mettuppalaiyam – Udagmandalam (Nilgiri-Bahn)
Meter, Z 2203, Udagamandalam
Iran
Tehran – Gorgan (Trans-Iran Elbrus)
Normal
2112, Gaduk
1938
Indien
Kalka – Simla
610 mm
2094, Simla
1903
Pakistan
Quetta – Chaman
1676 mm
1950, Shelabagh
1891
Sri Lanka
Kandy – Badulla
1676 mm
1898, Pattipola
1894
Syria
Damaskus – Zebdãni
1050 mm
1794, Zebdãni
1895
Pakistan
Sukkur – Quetta
1676 mm
1791, Kolpur
1887
Türkei
Adana – Taurus
Normal
1494, Taurus
1920
Libanon
Beirut – Zebdãni (Libanonbahn)
1050 mm J
1487, Zhale
1895
Jordanien
Amman – Maan (Hedjaz-Bahn)
1050 mm
1128, Maan
1904
Pakistan
Peshawar – Landi Kotal
1676 mm
1068, Khyber Pass
1926
1899/1908
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
J stillgelegt
Z Zahnstange
2)
Darjeeling- und Nilgiri-Bahn, Indien
1880 war der Abschnitt bis Kurseong (1’483 m ü.
Die Wahl der Darjeeling- und der Nilgiri-Bahn
M.) fertiggestellt, 1889 die Reststrecke bis Dar-
als Vergleichsobjekte zur Albula/Bernina-Linie
jeeling (2’076 m ü.M.). Die Talstation verfügte
erfolgte aufgrund folgender Kriterien:
zur Bauzeit bereits über einen Vollbahnan-
> Schmalspur
schluss. Die Darjeeling-Bahn ist als «Steam
> innovative Lösungen (Darjeeling: «light
Tramway» konzessioniert worden. Hauptziel
railway», teilweise unter Mitbenutzung der
war die verbesserte Erschliessung Darjeelings.
Strasse; Nilgiri: Zahnradbahn)
Das gleichnamige Dorf war seit 1838 zum Hö-
> Überwindung grosser Höhendifferenzen
henkurort (Hill station) ausgebaut worden, zu-
> noch in Betrieb stehend
dem bestanden in der Gegend Teeplantagen. Die
> UNESCO-Welterbestätte
Bedeutung der Teeindustrie war schon in den
1870er Jahren gross. Der günstige Transport von
(Darjeeling seit 1999, Nilgiri seit 2005)
landwirtschaftlichen Gütern von den Bergen
ins Tal versprach hohe Gewinne. Aufgrund solDarjeeling-Bahn
cher wirtschaftlicher Überlegungen plante man
Baugeschichte
eine Bahn, deren Bau mit möglichst geringem
Die von Shiliguri nach Darjeeling führende Dar-
Kostenaufwand zu bewältigen war. Die Darjee-
jeeling-Bahn wurde in zwei Etappen errichtet:
ling-Bahn hat nach englischen Massstäben den
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
381
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Darjeeling
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Ghoom-Pass, 2258 m ü.M.
10 km
I
N
D
I
A
Tiger Hill
Tindharia
Kurseong, 1483 m ü.M.
Darjeeling-Bahn
Zigzag
Loop
Brücke
Station
Shiliguri Junction
Fluss
Böschung / Damm
Bergspitze
Shiliguri, 122 m ü.M.
Darjeeling-Bahn > Ganze Strecke.
H.P. Bärtschi
Darjeeling-Bahn > In Shiliguri bestehen
Gleise in drei verschiedenen Weiten
(610 mm, Breit- und Schmalspur). Aufnahme 1992.
H.P. Bärtschi
Darjeeling-Bahn > Linienführung als
Strassenbahn in Ghum. Aufnahme
1992.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
382
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Charakter einer «light railway» und nach deut-
nicht überschreiten. Die typischen Dampflo-
schen Massstäben den Status einer «Feldbahn
komotiven der Darjeeling-Bahn weisen zwei
im Hochgebirge».
Kuppelachsen und einen Satteltank auf dem
Kessel auf. Auf einem Sitzgestell vor der Rauch-
Streckenführung und Bahnbauten
kammer streut ein Sander von Hand Sand auf
Die Herausforderung bestand darin, eine Bahn
die Schienen, damit die Antriebsräder nicht
zu bauen, die auf 40 km Luftliniendistanz 1954
durchdrehen. Das Wagenmaterial wurde seit
Höhenmeter überwindet. Die Trassierung der
den 1980er Jahren modernisiert. Von den ver-
einspurigen, über weite Strecken entlang der
bliebenen 20 Dampflokomotiven mit Baujahren
Fahrstrasse geführten Strecke hat sich weitge-
1889 – 1925 stehen meistens nur eine oder zwei
hend original erhalten – nur in Erdrutschge-
für den Schülerzug auf der Teilstrecke Kurse-
bieten und im Bereich sehr steiler Abschnitte
ong – Darjeeling täglich in Betrieb. Das die ge-
mussten Änderungen vorgenommen werden.
samte Strecke befahrende Zugspaar (je ein Zug
Andauernde starke Steigungen, zahlreiche Kur-
in jede Richtung) mit Anschluss an die Schnell-
ven und die Führung entlang abschüssiger Hän-
linie von und nach Kalkutta wird von je einer
ge hoch über der Brahmaputra-Ebene vermögen
Diesellokomotive geführt. Die Fahrzeit hat sich
noch heute zu beeindrucken. Einige Kehrschlei-
seit der Teilung Indiens 1947 von 5¼ auf 8 Stun-
fen haben Radien von nur gerade 18 m, darunter
den verlängert. Nach den Monsunregenzeiten
befinden sich drei Spiralkehrschleifen und der
bleibt die Strecke manchmal für längere Zeit
doppelte «Batasia-Loop»; ferner gibt es Z-Spitz-
unterbrochen.
kehren. Die Bahn durchfährt das Gebiet vollständig offen, Tunnel sind keine vorhanden und
Vergleich
auch unter den Brücken – in der überwiegenden
Die Anlage der Darjeeling-Bahn, die vom Tief-
Anzahl kleine Bach-, Strassen- und Bahndurch-
land auf über 2’000 m Seehöhe führt, erfolgte im
lässe – ist nur ein bedeutendes Bauwerk zu ver-
Sinne einer «light railway» mit einer möglichst
zeichnen: die 700 m lange Eisenbrücke über den
einfachen Trassierung entlang von Strassen und
Mahanadi bei Shiliguri. Sicherungsbauten ge-
der Anlage offener Schleifen («loops») zur Hö-
gen Wassereinbrüche und Erdrutsche gibt es nur
hengewinnung unter grösstmöglicher Reduktion
in geringer Zahl.
der Anzahl an Kunstbauten. Mit der Idee eines
Bahnhöfe, Werkstatt- und Depoteinrichtungen,
möglichst geringen Kapitaleinsatzes stellt die
teilweise mit sehr alter Ausstattung, beste-
Darjeeling-Bahn für die Zeit der 1880er Jahre ei-
hen in New Jalpaiguri, Thindaria Ghum und
ne durchaus neuartige Lösung dar. Die rund 20
Darjeeling.
Jahre später errichtete Albula/Bernina-Strecke
steht diesem Grundsatz diametral gegenüber,
Betrieb und Ausrüstung
indem – im Falle der Albulalinie – die Parame-
Die geringe Spurweite von 610 mm und der be-
ter einer Hauptbahn auf eine Schmalpurstrecke
scheidene Unterbau erlauben nur den Einsatz
übertragen wurden oder – im Falle der Bernina-
leichten Rollmaterials. Die Last von drei bis
bahn – das Risiko eines elektrischen Betriebs in
vier beladenen Wagen sollte das Gewicht eines
schneereichem Hochgebirge eingegangen wur-
normalspurigen Zweiachsgüterwagens von 27 t
de. Ergänzend zur Darjeeling-Bahn stellt die
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Udagamandalam (Ooty), 2203 m ü.M.
10 km
I
N
D
I
A
Doddabetta, 2638, m ü.M.
Coonoor, 1711 m ü.M.
Kallar, 404 m ü.M.
Bhavani
Nilgiri-Bahn
Tunnel
Zahnstange
Brücke
Mettuppalaiyam, 326 m ü.M.
Station
Fluss
Böschung / Damm
Bergspitze
Nilgiri-Bahn > Ganze Strecke. H.P. Bärtschi
Nilgiri-Bahn > Übergang von
Zahnrad- auf Adhäsionsbetrieb
in Coonoor. Aufnahme 1988.
H.P. Bärtschi
Nilgiri-Bahn > Brücke bei Wellington. Aufnahme 1988.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
384
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Albula/Bernina-Linie ein einzigartiges Zeugnis
tuppalaiyam – Coonoor eröffnet werden. Die
der Entwicklung von Schmalspurbahnen dar.
Fertigstellung der Strecke bis Udagamandalam
Wie bei der Albula/Bernina-Linie ist auch bei
gelang erst nach der Verstaatlichung der Bahn,
der Darjeeling-Bahn noch historisches Rollma-
1908.
terial vorhanden; die Modernisierung des Bahnbetriebes durch die Anschaffung von neuen
Streckenführung und Bahnbauten
Personenwagen erfolgte ab den 1990er Jahren
Der Bau der meterspurigen Gebirgsbahn ge-
und seit 2000 stehen auch vier Diesellokomoti-
staltete sich ausserordentlich schwierig, führt
ven im Einsatz.
die Strecke doch durch Urwald-Gebiet und hat
auf relativer kurzer Distanz 1800 Höhenmeter
zu überwinden. Im Abschnitt zwischen Kallar
Nilgiri-Bahn
Baugeschichte
und Coonoor weist das Trassee eine Steigung
Die Nilgiri-Bahn, benannt nach dem gleich-
ren die Seitentäler aus. Durch die Konzeption
namigen Gebirgsmassiv, das sie erschliesst,
als Zahnradbahn konnte zwar auf den Bau von
führt von Mettuppalaiyam über Coonoor nach
aufwändigen Kehr- und Spiraltunnels verzich-
Udagamandalam (Ooty) auf 2’203 m ü.M. Met-
tet werden, dennoch mussten 16 Tunnelbauten
tuppalaiyam war 1872 vom indischen Eisen-
von bis zu 300 m Länge und zahlreiche Fel-
bahnnetz erschlossen worden, zehn Jahre nach
seinschnitte und -abtragungen getätigt werden.
der nahe gelegenen Stadt Coimbatore. Da-
Nach schweizerischem und deutschem Vorbild
mit wurde eine an Natur- und Kulturschätzen
– zu Studienzwecken wurde auch die Harz-
reiche Region leichter erreichbar. Im hochge-
querbahn im deutschen Blankenburg besucht
legenen Udagamandalam hatten sich einzelne
– sind Baumassnahmen gegen Steinschlag und
Vertreter der britischen Kolonialmacht bereits
Murgang getroffen worden.
vor dem Bahnbau Residenzen bauen lassen,
Bei Mettuppalaiyam überquert die Nilgi-
um sich während der Sommermonate den sub-
ri-Bahn mit einer grossen Brücke den Fluss
tropischen Verhältnissen im Tal entziehen zu
Bhavani. Mitten im Urwald befindet sich der
können. Im Jahre 1876 entwarf der Schweizer
«Adderley»-Viadukt mit Steinbogen-Vorbrü-
Ingenieur und Inhaber einer Firma für den Bau
cken und drei Blechträgern. Kleinere Brü-
von Zahnradlokomotiven, Niklaus Riggenbach,
cken gibt es auf der ganzen Strecke. Attraktiv
ein erstes Projekt für eine Zahnradbahn in das
gestaltet sich die Einbettung der Bahn in die
Nilgiri-Gebirge, das jedoch nicht angenommen
Steilhänge des Urwaldes und im oberen Ab-
wurde. Zur Ausführung kam schliesslich – un-
schnitt in das Hügelgebiet. Die Abt’schen
ter neuer Trägerschaft – eine kostengünstigere
Zahnstangenabschnitte enden in Coonoor. Die
Variante unter Anwendung eines gemischten
40 ‰-Steigung im oberen Teilstück wird im
Adhäsions- und Zahnradbetriebes (Zahnrad-
Adhäsionsbetrieb befahren.
betrieb nach System Abt). Trotzdem musste die
Die einspurige Trassierung der Nilgiri-Bahn ist
Bahnbaugesellschaft während der Bauarbeiten
vollständig original erhalten geblieben. Im obe-
1894 Konkurs anmelden. 1899 konnte von ei-
ren Abschnitt sind viele Hangsicherungen und
ner Nachfolgegesellschaft das Teilstück Met-
einige Brücken aufwändig erneuert worden.
von 80 ‰ auf und fährt in grossen Rundkeh-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Ausrüstung und Betrieb
bulalinie die konventionelle Technologie des
Heute wird die Nilgiri-Bahn vor allem als
Dampflokomotivbetriebes zur Anwendung kam,
Touristenbahn genutzt; die Abwicklung des
machte die Berninabahn mit einer radikal neu-
Güterverkehrs passiert auf der Strasse. Der Roll-
en Technologie auf sich aufmerksam: dem elek-
materialbestand umfasst eine Zahnraddampflo-
trischen Betrieb, und zwar in grossem Massstab.
komotive der zweiten Generation (Winterthur,
Dadurch wurde die Anlage von viel grösseren
Schweiz 1914), elf Dampfloks (die meisten zwi-
Steigungen möglich. Die Berninabahn bildet so-
schen 1920 und 1952 in Winterthur gebaut)
zusagen die nächste Stufe der technologischen
und einzelne Wagen aus der Gründerzeit. Das
Entwicklung nach dem Lösungsansatz der
Rollmaterial, das täglich eingesetzt wird, weist
(dampfbetriebenen) Zahnradbahn, wie ihn die
mehrheitlich neue Wagenkasten auf. Im Ab-
Nilgiri-Bahn vertritt. Der elektrische Betrieb
schnitt Conoor – Udagamandalam stehen Ad-
wurde nach dem Ersten Weltkrieg – wenn auch
häsions-Diesellokomotiven in Betrieb. Je nach
mit anderen technischen Parametern (Wech-
Saison fahren dort zwei bis vier Zugspaare pro
selstrom anstelle des Gleichstrombetriebs am
Tag; im Zahnradabschnitt kommt täglich ein
Bernina) – auch auf der Albulastrecke einge-
dampfbespanntes Zugpaar zum Einsatz (2005).
führt. Heute hat der elektrische Bahnbetrieb den
Dampflokomotivbetrieb weltweit abgelöst. Die
Vergleich
Berninabahn ist ein hervorragendes Zeugnis aus
Die nahezu zeitgleich mit der Albula/Bernina-
der Frühzeit des elektrischen Bahnbetriebes.
Linie eröffnete Nilgiri-Bahn, die vom Talboden
auf eine Höhe von 2’203 m ü.M. führt, ist unterteilt in eine Sektion mit Zahnrad- und eine solche mit Adhäsionsbetrieb. Dieser Mischbetrieb
stellt für die Zeit der späten 1870er Jahre einen
innovativen Lösungsansatz für das Unterfangen
dar, mit Dampflokomotiven auf geringen räumlichen Distanzen grosse Höhenunterschiede zu
überwinden. Diese Technologie ermöglichte es,
die Zahl an Kunstbauten gering zu halten. Im
Gegensatz zur Albula/Bernina-Linie erfolgte
bei der Nilgiri-Strecke mit dem Strassenbau eine
Verlagerung des Güter- und Personenverkehrs:
Die Nilgiri-Bahn ist heutzutage grösstenteils eine Touristenbahn. Historisches Rollmaterial ist
bis zu Wagen und Lokomotiven aus den 1920er
Jahren vorhanden, die arbeitsaufwändigen
Dampflokomotiven wurden im Adhäsionsabschnitt durch Diesellokomotiven ersetzt.
Im Vergleich zur Albula/Bernina-Strecke ist
folgendes hervorzuheben: Während bei der Al-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Afrika
che die im Südosten von Südafrika liegenden
Die erste Eisenbahn Afrikas verkehrte 1856
Gebirgszüge überwinden. Ebenfalls in Kapspur
zwischen Alexandria und Kairo. Der Traum
ist die Nigeria-Bahn ausgeführt, die vom nörd-
von einer durchgehenden Bahnverbindung zwi-
lichen Landesinneren in zwei Ästen zu den Ha-
schen der Hauptstadt Ägyptens und Kapstadt
fenstädten Lagos und Port Harcourt führt; sie
blieb unerfüllt. Die komplizierten politischen
erreicht in Mekiri ihren Kulminationspunkt auf
Verhältnisse während und nach der Kolonialzeit
1’370 m ü.M.
verhinderten einen Zusammenschluss der beste-
Im westlichen Afrika sind mit Ausnahme der
henden grossen Netze Süd- und Ostafrikas, des
Benguelabahn, jener transkontinentalen Ei-
Maghrebs, Ägyptens und des Sudans.
senbahnstrecke, die vom Atlantikhafen Lobito
Im Norden des Kontinents herrschen Normal-
in Angola über Benguela zum Bergbaugebiet
und Meterspur vor, wohingegen das von der
Shaba im Süden Kongos und in den Kupfergür-
britischen Kolonialmacht errichtete Bahnnetz
tel von Sambia führt und über einen Anschluss
im Süden in Kapspurweite (1’067 mm, bzw. 3.5
zum Pazifikhafen Beira (Moçambique) verfügt,
feet) gehalten ist.
ausschliesslich isolierte Kolonialbahnen gebaut
In Ostafrika errichteten England und Deutsch-
worden. Sie dienten dazu, das an Rohstoffen
land während der 1890er Jahre ausgehend von
reiche Landesinnere mit der Küstenregion zu
den Hafenstädten Mombasa, Tanga und Dar
verbinden. Die Landstreifen um die Sahara sind
Es Salam Bahnlinien Richtung Westen. Da-
in den küstennahen Gebieten mit Eisenbahnen
bei hatte England bezüglich der Topographie
erschlossen; in Algerien erreicht die Linie über
die grösseren Schwierigkeiten zu bewältigen.
die Atlasausläufer einen Kulminationspunkt von
Im Wettrennen um den Bahnbau zum Fuss des
weit über 1’000 m ü.M. Die lange Zeit diskutier-
5892 m hohen Kilimandscharo vollendete Eng-
te Trans-Sahara-Bahn blieb unrealisiert.
land im Jahre 1900 eine in Mombasa startende
Eine besondere Stellung nehmen die Bahnen
Gebirgsbahn mit einem Kulminationspunkt auf
am Horn von Afrika ein. Die Region rund um
nahezu 2’400 m ü.M. Der hafennahe Abschnitt
Äthiopien wurde mit dem Bau des Suezkanals
dieser Strecke ist Teil der Ugandabahn, die in
strategisch stark aufgewertet und gelangte so
rund 2’000 km eine Verbindung zwischen Ug-
ins Interessenfeld der Kolonialmächte Eng-
anda und dem Indischen Ozean herstellt. Die-
land, Frankreich und Italien. Frankreich bau-
se war 1901 bis Nairobi vollendet und erreichte
te mit Unterstützung des Schweizers Alfred
auf diesem Streckenabschnitt den Kulminati-
Ilg die Franco-Ethiopian-Bahn, die den da-
onspunkt auf 2’658 m ü.M. Ihre Fortsetzung bis
mals französischen Stützpunkt Djibouti mit der
Uganda wurde erst 1930 fertig gestellt. Östlich
äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba verbin-
des Viktoriasees führt die Ugandabahn bis auf
det; sie erreicht ihren Kulminationspunkt auf
2’783 m ü.M., den höchsten bahntechnisch er-
2’470 m ü. M. England konnte seinen Einfluss-
schlossenen Punkt Afrikas.
bereich bis 1875 von Ägypten aus bis zur eritrei-
Bedeutende Höhen erreichen auch einige Linien
schen Hafenstadt Massaua und nach Äthiopien
des südafrikanischen und des ehemals rhode-
ausweiten. Dann gelang es Italien, Stützpunkte
sischen Kapspurnetzes. Gebirgsbahncharakter
in Massaua und Mogadiscio zu errichten. Die
weisen dabei besonders jene Bahnen auf, wel-
italienischen Kolonialbehörden planten den Bau
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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1000 m
Eritrea-Bahn
E
R
I
T
R
E
A
Tunnel
Brücke
Station
Fluss
Böschung / Damm
Tunnel Nr. 27
Asmara 2349 m ü.M.
Massaua, 0 m ü.M.
Arboraba, 2064 m ü.M.
Tunnel Nr. 21
Eritrea-Bahn > Wichtiger Streckenabschnitt. H.P. Bärtschi
Eritrea-Bahn > «Bahnzirkus» bei
Arboraba. Aufnahme 2004.
H.P. Bärtschi
Eritrea-Bahn > Streckenführung
bei Embatkalla. Aufnahme 2004.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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einer Bahnstrecke in 950 mm-Spur von Massaua
über das äthiopische Hochland Richtung Soma-
nach Asmara und weiter über das äthiopische
lia vorangetrieben werden sollen. Verwirklicht
Hochland nach Addis Abeba und Mogadiscio.
wurden schliesslich die Abschnitte um Moga-
Ein zweiter Strang hätte anschliessend an das
discio und die beiden Gebirgsbahnen Massaua
von England errichtete sudanesische Bahnnetz
– Asmara und Asmara – Biscia.
durch das Gebiet des Blauen Nils wiederum
Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Afrika
Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Eröffnung 2)
Land
Verbindung Kenya
Nairobi – Kampala Meter 2783, Timboroa
1930
Kenya
Mombasa – Nairobi Meter 2658, Mau Summit
1901
Äthiopien
Dschibuti – Addis Abbeba
Meter 2470, bei Addis Abbeba
1917
Eritrea
Massaua – Asmara (Eritrea-Bahn)
950 mm 2412, Summit
1911
Kenya
Nairobi – Fort Hall Meter 2395, Kikuyu
1900
Eritrea
Asmara – Sudanes. Grenze
Meter 2349, Asmara
1920
Südafrika
Pretoria – Magaliesberg
1067 mm*
2095, Nederhorst
1902
Südafrika
Kaapmuiden – Belfast
1067 mm*
1970, Belfast
1894
Südafrika
Durban – Johannesburg
1067 mm*
1748, Johannesburg
1890
Rhodesia
Beira – Harare
1067 mm*
1688, Marandellas
1899
Madagaskar
Tamatave – Tananarive Meter 1687, Tananarive
1909
Nigeria
Ebutte Meta – Minna (Nigeria-Bahn)
1067 mm*
1370, Mekiri
1900
Algeria
El Kroub – Tuggert (Sahara – Altas)
Normal
1313, Batna
1882
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
* 3.5 feet, auch Kapspur genannt
2)
Eritrea-Bahn, Eritrea
Baugeschichte
Die Wahl der Eritrea-Bahn als Vergleichsobjekt
1890 war Eritrea zur italienischen Kolonie er-
zur Albula/Bernina-Linie erfolgte aufgrund fol-
klärt worden. Mit der Verlegung der Kolonial-
gender Kriterien:
verwaltung von Massaua nach dem 2’349 m ü.
> vergleichbare Bauzeit
M. gelegenen Asmara entstand 1897 das Projekt
> Schmalspur
für den Bau der Eritrea-Bahn. Sie wurde in der
> Überwindung von großen Höhendifferenzen
im Süden Italiens gebräuchlichen Spurweite von
> «Darjeeling of Africa» (vgl. Kap. 3.c.3)
950 mm angelegt. 1904 waren die 69 ersten Stre-
> noch in Betrieb stehend
ckenkilometer bis an den Fuss des Abessinischen
Hochlandes vollendet. Für die Trassierung des
Hochgebirgsabschnittes ab Ghinda zeichnete der
italienische Ingenieur De Corné verantwortlich.
Die Ausarbeitung der Baupläne, die 1905 vor-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
389
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lagen, oblag dem deutschen Bahnbauingenieur
auf 2’349 m ü.M. In diesem Streckenteil ist der
Schupfer. 1908 war auch die Finanzierung der
Hauptteil der insgesamt 30 Tunnels sowie 532
Bahn gesichert. Schon nach rund zwei Jahren
Brücken und Galerien zu verzeichnen. Die Stei-
konnte das erste Baulos vollendet und Ende 1911
gung des einspurigen Trassees beträgt maximal
die ganze Linie eingeweiht werden.
35 ‰, die Kurvenradien sind an keiner Stelle enger als 72 m. Im Abschnitt bei Embatkalla ist die
Anschlussbahnen
Strecke mit Kehrschleifen und Tunnel dreifach
Die Eritrea-Bahn wurde unverzüglich wei-
übereinander geführt, im so genannten «Bahn-
ter ausgebaut, vom Hochplateau nach Westen
zirkus» bei Arboraba kann die Linie sogar vier-
Richtung sudanesische Grenze. 1928 wurde
fach übereinander eingesehen werden, auf den
die Strecke bis Akordat, 1932 bis Biscia verlän-
Koten 2’133, 2’200, 2’233 und 2’266 m ü.M. In
gert – auch dies geschah im Hinblick auf eine
Asmara haben sich der Bahnhof von 1911, das re-
gewünschte, jedoch nie realisierte Anbindung
präsentative Lokdepot und die Werkstattanlage
der eritreischen Eisenbahn ans sudanesische
von 1928 mit einigen Werkzeugmaschinen aus
Kapspurnetz. Die Arbeiten kamen in Folge des
der Bauzeit erhalten.
Zweiten Weltkriegs zum Erliegen. Die transeritreische Bahn erreichte insgesamt eine Länge von
Betrieb und Ausrüstung
337 km.
Die Eritrea-Bahn wurde im Unabhängigkeits-
Die Engländer versuchten im Zweiten Weltkrieg
krieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
vom sudanesischen Malawija aus die Lücke ins
derts weitgehend zerstört, zwischen 1994 und
eritreische Territorium zu schliessen, was aber
2003 aber vollständig wieder aufgebaut. So ist
ebenfalls nicht gelang.
das von 1897 bis 1911 geplante und ausgeführte Trassee Massaua – Asmara seit 2004 wieder
Streckenführung und Bahnbauten
durchgehend befahrbar. Auf der Anschlussstre-
Ab dem Hafen Massaua führt die Linie auf Däm-
cke bis Biscia hat sich das originale Trassee wie
men an Bahnnebenanlagen vorbei zum Fest-
auch die vielen dort errichteten ursprünglichen
land. Auch im nun folgenden Teilstück durch
Steinbrücken grundsätzlich erhalten, lokal gibt
die Wüste wird die Strecke vorwiegend auf
es kriegsbedingte Zerstörungen. Zurzeit besteht
Dämmen geleitet. Vor Dogali quert die Bahn
an fünf Wochentagen jeweils eine Zugverbin-
ein Flussbett auf einem Steinbogenviadukt. Im
dung von Massaua nach Asmara, wozu in der
anschliessenden Vorgebirgsabschnitt gewinnen
Regel Dampflokomotiven zum Einsatz kommen.
die Dämme an Höhe, ebenso die Steinbogen-
Benutzt wird sie fast ausschliesslich von Tou-
viadukte. In Ghinda erreicht das Trassee eine
ristengruppen; für diese werden Fotohalte mit
Höhe von 888 m ü.M. Hier haben sich vom ur-
Scheinanfahrten eingelegt. Güterverkehr findet
sprünglichen Bestand noch eine Depotanlage mit
vorderhand keiner statt.
Drehscheibe und ein klassizistisches Aufnah-
Neben zweiachsigen Tenderlokomotiven (von
megebäude erhalten. Es beginnt nun der in der
denen sieben noch heute vorhanden sind) erhielt
Luftlinie nur 20 km lange Aufstieg zum Kulmi-
die Eritrea-Bahn 1907 von Maffei zwei B‘B‘-
nationspunkt auf 2’412 m ü.M., danach führt die
Malletlokomotiven. Davon steht heute noch eine
Bahn wieder abwärts, zum Bahnhof in Asmara
in Asmara. Ab 1911 lieferte Ansoldo 25 Mallet-
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lokomotiven der Reihe R440, drei wurden in As-
teilweise erhalten. Beide Bahnen verfügen über
mara nachgebaut. Davon sind fünf noch heute
historisches Rollmaterial; die Eritrea-Bahn fährt
betriebsfähig. Mindestens fünf weitere Lokomo-
heute mit Rollmaterial, das aus den Jahren 1907
tiven sind abgestellt. Von den neun ab 1935 ge-
bis 1957 stammt. Im Gegensatz zur Albula/
lieferten Fiat-Dieseltriebwagen «Littorino» steht
Bernina-Strecke weist die Eritrea-Bahn derzeit
einer noch im Einsatz. Viele der zwei- und vier-
nur mehr Personenverkehr auf, der Güterverkehr
achsigen Güterwagen des ehemaligen Rollparks,
wurde auf die Strasse verlagert.
von denen viele ursprünglich auf dem süditalienischen Schmalspurnetz eingesetzt worden waren, bevor sie nach Eritrea verschifft wurden,
stehen nicht mehr in Gebrauch, sind aber noch
vorhanden. Die heute noch einsatzfähigen Personenwagen aus den 1930er Jahren wurden im Wagenkastenteil modernisiert.
Vergleich
Die Eröffnung der Eritrea-Bahn fällt wie jene
der Albula/Bernina-Strecke in das Jahrzehnt vor
dem Ersten Weltkrieg. Sowohl hinsichtlich dem
bautechnischen Schwierigkeitsgrad (aufwändige Führung an steilen Hängen hoch über der
Talsohle), als auch der Attraktivität der topographischen Einbettung ist die Eritrea-Bahn mit der
Albula/Bernina-Linie vergleichbar. Die Dichte
an Kunstbauten – Tunnel, Brücken, Einschnitte,
Dämme – lässt sich mit jener der Berninabahn
vergleichen. Ähnlich grosse Brücken, wie sie an
der Albulalinie zur Überwindung von Taleinschnitten hatten erbaut werden müssen, gibt es
bei der Eritrea-Bahn nicht, auch bestand hier keine Notwendigkeit zur Errichtung aufwändiger
Spiraltunnels oder gar eines Scheiteltunnels.
Wie bei der Albula/Bernina-Bahn ist die Streckenführung original erhalten, der Gleiskörper
der Eritrea-Bahn wurde nach dem Bürgerkrieg
in den 1990er Jahren wieder instandgesetzt und
repariert, jedoch nicht verändert. Im Vergleich
zur Albula/Bernina-Linie, die nahezu über den
gesamten originalen Bestand an Hochbauten
verfügt, ist dieser bei der Eritrea-Bahn nur mehr
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Südamerika
Bis in die 1980er Jahre gab es in Südamerika,
nen gehört jene in Südperu, die vom Meeresha-
verteilt auf zwölf Staaten, ein Bahnnetz von
fen Mollendo nach Arequipa und Juliaca führt;
über 100’000 km, an dessen Betrieb insge-
von dort geht ein Schienenstrang weiter nach
samt 100 verschiedene Gesellschaften beteiligt
Cusco (eröffnet 1892) und ein zweiter nach dem
waren. 40% der Bahnstrecken lagen in Argen-
3’850 m ü.M. gelegenen Puno am Titicacasee.
tinien, 30% in Brasilien. Aufgrund der Priva-
Der Bau der Bahn war 1876 bis Crucero Alto
tisierung der Eisenbahnen und der verstärkten
gediehen, dem Kulminationspunkt der Strecke
Motorisierung seit den 1950er Jahren wurde
auf 4’474 m ü.M. 1889 wurde die schmalspurige
der Schienenverkehr vielerorts eingestellt. Die
chilenisch-bolivianische Transandenbahn vom
Spurweiten sind je nach Land verschieden,
Meereshafen Antofagasta zu den Bergbaugebie-
internationale Verbindungen selten. Das riesige
ten von Oruro in Betrieb genommen; ihr Kul-
Amazonasbecken ist durch Wasserwege aus-
minationspunkt liegt auf 3’959 m ü.M. Die 1908
reichend erschlossen und verfügt lediglich über
eröffnete, heute eingestellte Collahuasi-Zweigli-
Stichbahnen. Auch in Patagonien und auf der
nie erreichte gar eine maximale Höhe von 4’826
Insel Feuerland wurden nur Stichbahnen gebaut.
m ü.M. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in
Grösstes Naturhindernis im transkontinentalen
die 1920er Jahre wurden weitere Andenbahnen
Transport Südamerikas sind die Anden, die in
mit Kulminationspunkten über 4’000 m ü.M.
einer Breite von bis zu 800 km und Höhen von
eröffnet. Einige der andinischen Bahnen – dar-
bis zu 6’958 m den Kontinent auf der Westseite
unter auch die höchstgelegenen – dienten als
in seiner ganzen Länge durchziehen. Schon früh
Minenbahnen und sind heute stillgelegt. Andere
sind in diesem Gebirgszug Bahnen gebaut wor-
blieben unvollendet, so die Zapala-Bahn zwi-
den. Die Andenbahnen verzeichnen die im welt-
schen dem südlichen Chile und Patagonien. Wie-
weiten Vergleich höchsten Kulminationspunkte
derum andere hatten lange Betriebsunterbrüche
(übertroffen nur noch durch die 2006 eröffnete
oder wurden teilweise abgetragen, wie etwa die
Tibetbahn) und überwinden auch die grössten
argentinische Bahn von Mendoza zum Cumbre-
Höhendifferenzen.
Tunnel. Deren mit Zahnstangenhilfe ausgestatte-
Nahezu alle Andenbahnen wurden von Euro-
ter Abschnitt existiert heute nicht mehr, während
päern geplant. Sie dienten vorwiegend der Er-
die chilenische Fortsetzung der Strecke über Los
schliessung von Bergbaugebieten und hatten
Andes bis Valparaiso, die ohne Zahnstangenhilfe
ihren Startpunkt in Hafenorten. Vielfach ur-
auskommt, noch in Betrieb steht.
spünglich als gebirgsquerende Verbindungen ge-
Neben den genannten Bahnen finden sich in
plant, kamen sie aber nicht immer als solche zur
Südamerika noch eine Reihe weiterer Gebirgs-
Ausführung. Zu den frühesten andinischen Bah-
bahnen, so in Brasilien, Kolumbien und Ecuador.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
392
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Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Südamerika
Land
Verbindung Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Eröffnung 2)
Chile
Ollogue – Minas de Cobre (A&B)
Meter J
4826, Collahuasi
1908
Peru
Ticlo – Morococha (Peru Central)
Normal J
4818, La Cima
1908
Bolivien
Rio Mulato – Potosi Meter
4787, Condor
1912
Peru
Callao – Huancayo (Peru Central)
Normal
4781, Galera
1892
Peru Pachacayo – Chaucha
Normal J
4602, Caja Real 1904
Argentinien
Salta – Socomba
Meter 4475, Chorrillos
1948
Peru
Mollendo – Juliaca Normal, G
4474, Crucero Alto
1876
Bolivien, Chile
Antofagasta – Uyuni
Meter 4401, Yuma
1917
Peru
Cerro de Pasco – Goyllarisquisga Normal
4385, Alcacocha
1900
Peru
Juliaca – Cusco
Normal
4314, La Raya
1892
Chile, Bolivien
Arica – La Paz
Meter 4257, General Lagos
1915
Peru
Oroya – Cerro de Pasco
Normal
4214, La Cima
1904
Bolivien
Cochabamba – Oruro Meter 4137, Cuesta Color
1900
Bolivien
Guaqui – La Paz
Meter 4106, El Alto
1903
Bolivien
Ollagua – Calama Meter 4057, Ascotan
1925
Bolivien
Potosi – Sucre
Meter 4033, Potosi
1929
Chile, ArgentinienAntofagasta – Salta
Meter J
4000, Munano (Soc.)
1948
Chile, Bolivien
Antofagasta – Ollague Meter 3959, Ascotan
1889
Argentinien
Ouquios – Tres Cruces
Meter J
3693, Tres Cruces
1907
Ecuador
Guayaquil – Quito
1067 mm*
3609, Urbina
1908
Argentinien
Tucuman – La Quiaca
Meter 3559, Pumahuasi
1908
Bolivien
Villazon – Atocha Meter 3447, Villazon
1924
Argentinien
Mendoza – Cumbre
Meter, Z J 3191, Cumbre-Tunnel
1910
Chile
Puente Alto – El Volcan (FC Militar)
600 mm J 3050, El Volcan
1910
Colombien
Medellin – Buenaventura (FC de Antioquia)
914 mm
1900, Quiebra
1914
Brasilien
Campos do Jordão – Cacique Meter
1715, Cacique
1912
Brasilien
Paranagua – Curitiba Meter
1010, Roca Nova
1885
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
J stillgelegt
* 3.5 feet, auch Kapspur genannt
Z Zahnstange
G nur Güter
2)
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Carchi
San Lorenzo, O m ü.M.
Ibarra
Ecuador-Bahnen
Station
Anschlussbahnen
Quito, 2817 m ü.M.
Fluss
Böschung / Damm
Bergspitze
Cotopaxi, 5897 m ü.M.
Chimborazo, 6267 m ü.M.
Guayaquil, O m ü.M.
Urbina, 3609 m ü.M.
Riobamba, 2753 m ü.M.
Duran
Bucay
Alausi
Sibambe
E
0
C
U
A
D
O
R
100 km
Azognes
Guayaquil & Quito Railway > Gebirgsabschnitt.
H.P. Bärtschi
Guayaquil & Quito Railway > Einfahrt mit handgebremsten
Wagen in Alausi. Aufnahme 1990.
H.P. Bärtschi
Guayaquil & Quito Railway > Zickzack-Streckenführung an der
Teufelsnase. Aufnahme 1990.
H.P. Bärtschi
Guayaquil & Quito Railway > Schienenbus (Autoferro) in Urbina,
3’609 m ü.M., vor dem Chimborazo.
Aufnahme 1990.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Fusse der Anden, 80 km im Landesinneren gele-
Die Wahl der Guayaquil & Quito Railway als
gene Bucay, wo man Hauptwerkstätten einrich-
Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er-
ten liess. In der feuchten Tropengegend kamen
folgte aufgrund folgender Kriterien:
die Arbeiten ins Stocken. 1897 wurde ein neuer
> Inbetriebnahme der gesamten Strecke
Vertrag mit einer nordamerikanischen Firma ab-
geschlossen. Aufgrund von Unstimmigkeiten
vergleichbar
> Schmalspur
baute diese den nach Bucay folgenden Gebirgs-
> Überwindung von grossen Höhendifferenzen
abschnitt in der englischen Kapspur (1’067 mm)
> Eisenbahnbau zur Erschliessung des Landes–
mit einem gegenüber dem ursprünglichen Pro-
die Region am Meer mit der Hauptstadt
jekt steileren Trassee mit 55 ‰-Steigung weiter.
verbindend
Auf rund 3’000 m ü.M. hatten die Bahnbauer
> attraktiver und vielfältiger durchfahrener
mit äusserst schwierigem Untergrund (Treib-
sand und Vulkanasche) zu kämpfen. Schliess-
Kulturraum
> für Personen- und Güterverkehr geplant
lich konnte 1908 die durchgehende Strecke – die
(im Gegensatz zu den andinischen Bergbau-
Tieflandstrecke mit 914 mm Spurweite war in der
Bahnen in)
Zwischenzeit umgespurt worden – zwischen Gu-
> in weiten Teilen noch in Betrieb stehend
ayaquil und Quito eröffnet werden.
Baugeschichte
Anschlussbahnen
Seit Erlangung seiner Unabhängigkeit von der
1957 wurde eine zweite Verbindung von Qui-
spanischen Kolonialmacht in der ersten Hälfte
to ans Meer, zum Hafen San Lorenzo nahe der
des 19. Jahrhunderts machte es sich Ecuador zum
Grenze zu Kolumbien fertiggestellt. Sie ist heu-
Ziel, eine bahntechnische Verbindung zwischen
te nicht mehr durchgehend in Betrieb. Ab Ibarra
der Küstenregion und der auf 2’817 m ü. M. ge-
werden Triebwagen («Autoferro») eingesetzt,
legenen Hauptstadt Quito herzustellen. Ab 1871
da die Strecke zum Hafen teilweise abgetragen
trieb das Land den Bahnbau ab der Hafenstadt
worden ist. Die dritte, zwischen 1915 und 1965
Guayaquil mit staatlichen Mitteln voran, wobei
erstellte Gebirgsstrecke Ecuadors – sie zweigt
als Spurweite zunächst 914 mm gewählt wurde.
von der Ecuador-Bahn nach Cuenca ab – wurde
Bereits die Bauarbeiten durch die Sumpf- und
stillgelegt. Auch hier sind die Schienen zum Teil
Schwemmgebiete des tropischen Tieflandes ka-
abgetragen worden. Ausgehend von der Strecke
men nur langsam voran. Schwere soziale Unru-
Guayaquil – Quito wurden mehrere Anschluss-
hen sowie der Ausbruch des Vulkans Cotopaxi
bahnen errichtet, unter anderem für die Zucker-
verzögerten ab 1877 den Weiterbau. Der in Eng-
fabrik Ingenio San Sarli oder für die Plantagen
land aufgenommene Staatskredit musste erneu-
der Empresa de Carros Urbanos.
ert und aufgestockt werden. Es war zunächst
geplant, die Bucht zwischen Guayaquil und
Streckenführung und Bahnbauten
Duran (Eloy Alfaro) im Fährbetrieb zu über-
Zwischen Guayaquil und Bucay verläuft die
winden; in den 1880er Jahren wurde dort dann
Strecke durch eine flache, jedoch sumpfige Regi-
doch ein Schienenweg angelegt. Der Strecken-
on. In Bucay beginnt der 90 km lange Gebirgs-
bau erreichte 1884 Barraganeta und 1888 das am
abschnitt, innerhalb dessen eine Höhendifferenz
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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von 3’000 m überwunden wird; die Steigung
Zustand. In Duran stehen noch Bahnwerkstätten
beträgt hier 55‰. Auf 2’606 m ü.M. wurde eine
mitsamt Maschinen aus den 1880er Jahren. Das
doppelte Spitzkehre erstellt und damit eine güns-
als nationales Monument eingestufte Bahnhofs-
tige Variante zur künstlichen Höhenentwicklung
gebäude befindet sich jedoch in baulich schlech-
gewählt. «Teufelsnase» wird die Gebirgsfor-
tem Zustand. Die Werkstätten in Riobamba sind
mation genannt, an der die Linie hochführt.
teilweise aufgelassen. In Quito haben sich der
In Urbina, am Fuss des 6’267 m hohen Chim-
klassizistische Bahnhof und die Depotwerkstät-
borazo ist der Kulminationspunkt der Strecke
ten aus der Bauzeit erhalten.
(3’609 m ü. M.) erreicht. Von dort führt die Bahn
durch das von Süden nach Norden verlaufen-
Betrieb und Ausrüstung
de Tal, am 5’897 m hohen Cotopaxi vorbei, zur
Die Strecke war nach Unwettern in Teilstücken
Hauptstadt Quito.
immer wieder unterbrochen. Seit Anfang des
Der Guayaquil & Quito Railway weist im Ge-
21. Jahrhundert wird sie nicht mehr durchge-
birgsabschnitt andauernde starke Steigungen
hend befahren. Von Bucay bis Milagro (km 34)
und zahlreiche Bögen auf, die Linie führt an stei-
sind die Schienen überteert worden. Der Staat
len Hängen hoch über der Talsohle hinauf. Trotz
führt einen Prozess gegen die Gemeinde, eine
der grossen Höhe, die erreicht wird, gibt es we-
Umfahrungslinie ist geplant. Wegen fehlender
der aufwändige Sicherungen gegen Steinschlag
Sicherungsbauten im Gebirgsabschnitt mussten
und Murgänge noch grössere Brückenbauten zur
insbesondere seit den 1980er Jahren nach Erd-
Überquerung von Tälern und Gewässern. Auch
rutschen mehrmals umfangreiche Schäden am
Tunnels fehlen nahezu gänzlich. Zu den bedeu-
Bahntrassee behoben werden.
tendsten Tiefbauten gehören Einschnitte und
In Bucay und an der Teufelsnase kommen für
Dämme.
Touristenfahrten zwei bis drei Dampfloko-
Das ganze einspurige Trassee wurde seit seiner
motiven zum Einsatz. Die meisten Güter- und
Inbetriebnahme im Jahre 1908 im Unter- und
Personenwagen aus der Gründerzeit der Bahn
Oberbau lediglich minimal unterhalten und prä-
befinden sich in eher schlechten Zustand. Die
sentiert sich entsprechend in weitgehend unver-
Züge führen auf den flachen Abschnitten fünf
ändertem, wenn auch sanierungsbedürftigen
bis sechs Wagen, auf der Rampe meist drei. Je-
Zustand; nennenswerte Ausbauten haben nicht
der Wagen wird einzeln von Hand gebremst,
stattgefunden. Der Oberbau ist in verschiedenen
auch auf der Steilstrecke. Das bei Touristen be-
Abschnitten kaum geschottert, die Schienen
liebte Teilstück zwischen Quito und Cotopaxi
sind oft mit schmiedeeisernen Nägeln und ohne
wird an Wochenenden regelmässig – zumeist mit
Schienenstühle auf den grob behauenen Holz-
Triebwagen – bedient. Zwischen Riobamba und
schwellen befestigt. Die Gebirgsstrecke von Bu-
Sibambe verkehren dreimal in der Woche ge-
cay bis Riobamba (km 228) ist in den 1990er
mischte Personen- und Güterzüge.
Jahren instandgestellt worden. Der Streckenab-
Das ursprüngliche Rollmaterial ist weitgehend
schnitt Riobamba – Cotopaxi (km 386) wurde in
original erhalten. Modernisiert wurde vor allem
den Jahren 2004/2005 saniert.
der Lokomotivpark: ab 1927 Kauf einer Dampf-
Auch die ursprünglichen Hochbauten und Werk-
lokserie, 1957, 1970 und ab 1991 Lieferung von
stätten befinden sich in weitgehend originalem
drei weiteren Diesellokomotiv-Serien. Die zehn
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älteren Dieselloks von ALCO (1970 geliefert)
im Bereich der «Teufelsnase» ist weltweit be-
wie auch die fünf 1957 angeschafften Alstom-
kannt. Im Gegensatz zur bis heute durchgehend
Dieselloks BBB sind nicht mehr in Betrieb. Von
in Betrieb stehenden Albula/Bernina-Bahn sind
den neun zwischen 1991 und 1993 gelieferten Al-
beim Guayaquil & Quito Railway einzelne Ab-
stom-Dieselloks BBB sind heute nur noch deren
schnitte eingestellt worden. Wo der Bahnbetrieb
drei oder vier im Einsatz. Zum Lokomotivpark
noch funktioniert, ist die originale Trassierung
zählen noch zwei Baldwin 1‘C von 1901 und
über weite Strecken noch erhalten. Die Dichte an
zwölf Baldwin 1‘D mit Baujahren zwischen 1927
historischen Monumenten entlang der Strecke
und 1953. Zusätzlich stehen Schienentriebwagen
ist jedoch wesentlich geringer als bei der Albu-
und Lastwagen zur Verfügung, die aus Strassen-
la- und Berninabahn. Auf den noch bestehen-
fahrzeugen – darunter einem neuen, klimatisier-
den Teilstücken des Guayaquil & Quito Railway
ten Mercedes-Bus – zusammen- bzw. umgebaut
wird – und dies ist ein grosser Unterschied zur
wurden.
Albula/Bernina-Linie – nur mehr ein äusserst
geringer Personen- und Güterverkehr abgewi-
Vergleich
ckelt; im Umfeld der Hauptstadt Quito sowie im
Die Eröffnung des Guayaquil & Quito Railway
bautechnisch schwierigen Streckenabschnitt bei
erfolgte zeitgleich wie jene der Albula/Bernina-
der «Teufelsnase» besteht allerdings eine erhöhte
Linie, obgleich die ersten Abschnitte der Stre-
Nachfrage, hier werden spezielle Touristenzü-
cke schon in den 1870er Jahren gebaut worden
ge eingesetzt. Sowohl die Albula/Bernina-Linie
waren. Der Kulminationspunkt der Guayaquil
als auch die Guayaquil & Quito-Strecke werden
& Quito-Bahn liegt mit 3’609 m ü.M. wesentlich
heute mit neuerem Rollmaterial betrieben; bei-
höher als jener der Berninabahn (2’253 m ü.M.),
de Bahnen verfügen aber über historisches Roll-
zudem startet sie auf Meeresniveau, hat also eine
material. Beim Guayaquil & Quito Railway sind
bedeutend grössere Höhendifferenz zu überwin-
noch Dampflokomotiven aus den 1920er Jahren
den. Hinsichtlich des bautechnischen Schwierig-
vorhanden.
keitsgrades ist der Guayaquil & Quito Railway
durchaus vergleichbar mit der Albula/Bernina-Linie. Wie bei anderen aussereuropäischen
Vergleichsbahnen erfolgte die Trassierung des
Guayaquil & Quito Railway aber unter Vermeidung allzu aufwändiger Kunstbauten, so fehlen denn auch grosse Brücken und die Zahl der
Tunnels ist eher gering; Spiraltunnels oder gar
einen Scheiteltunnel gibt es nicht. Der Höhengewinn erfolgt mittels Spitzkehren, wie dies in den
1840er Jahren gewesen üblich war.
Auch in der Attraktivität der topographischen
Einbettung der Strecke ist der Guayaquil & Quito Railway mit der Albula/Bernina-Linie zu vergleichen. Der spektakuläre Streckenabschnitt
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Nord- und Mittelamerika
Mexiko (grösste Ausdehnung des Bahnnetzes:
Das Eisenbahnnetz der USA war um 1930 mit
24’000 km) spielt die Eisenbahn in diesen Län-
knapp 460’000 Streckenkilometern das gröss-
dern keine grosse Rolle mehr; der Betrieb der
te der Welt. 1827 in Baltimore begonnen, gehört
bestehenden Bahnlinien ist zu grossen Teilen
es zugleich auch zu den weltweit ältesten. Dem
eingestellt.
dichten Netzausbau im früh industrialisierten
Wie in Südamerika stellen auch in Mittel- und
Nord- und Südosten folgte ab den 1860er Jahren
Nordamerika die Kordilleren, die den Westen
die Erschliessung des Westens. Mit dem Durch-
dieses Erdteils in seiner ganzen Länge durch-
bruch des Individualverkehrs und aufgrund der
ziehen, die grösste Herausforderung für den
Konkurrenz durch den Luftverkehr hat sich das
Bahnbau dar; die Appalachen im östlichen Nor-
US-amerikanische, kaum subventionierte Bahn-
damerika nehmen sich gegenüber diesem gewal-
netz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
tigen Gebirgssystem geradezu harmlos aus und
auf etwas mehr als die Hälfte seines Höchst-
wurden schon in den 1840er Jahren von Gebirgs-
standes reduziert. Zahlreiche Fusionen ab den
bahnen überwunden. Die nordamerikanischen
1970er Jahren verringerten auch die einst grosse
Kordilleren bestehen aus mehreren Gebirgszü-
Anzahl an privaten Eisenbahngesellschaften.
gen (Rocky Mountains, Coast Ranges, Cascade
1995 beispielsweise schlossen sich die Burling-
Range, Sierra Nevada, Sierra Madre) die durch
ton Northern Railroad und des Atchison, Topeka
Becken und Plateaus voneinander getrennt sind;
and Santa Fe Railway, zur Burlington Northern
die höchste Erhebung ist der Mount McKinley
Santa Fe BNSF mit einem Bahnnetz von rund
(6’198 m ü.M.) in der Alaskakette. Zwischen
51’500 km Länge zusammen; die 1999 begon-
den parallel zur pazifischen Küste verlaufenden
nenen Fusionsgespräche zwischen der Burlington
Coast Ranges bei San Francisco und den sich
Northern Santa Fe und der Canadian National
über 4’500 km ausdehnenden Rocky Mountains,
CN wurden aufgrund der Einsprachen anderer
nehmen die Kordilleren eine Breite von 1’500 km
Bahnunternehmen und potentieller Schwierig-
in Anspruch.
keiten bei der Umsetzung des Zusammen-
In den US-amerikanischen Kordilleren wurden
schlusses ein Jahr später wieder abgebrochen.
die ersten Gebirgsbahnen im Zusammenhang
Das einst bis zu 74’000 km umfassende kana-
mit der Besiedlung des Westens in Folge der
dische Eisenbahnnetz entstand aus der Kon-
Entdeckung von Goldvorkommen erbaut. Die
kurrenz zwischen privaten und staatlichen
sich konkurrenzierenden Bahngesellschaften
Eisenbahngesellschaften. Der Staat förderte den
Union Pacific und Southern Pacific eröffneten
Bahnbau durch die Candian National, um US-
schon seit den späten 1860er Jahren Bahnen,
amerikanische Investoreninteressen abzuwehren.
welche für die damaligen Verhältnisse auch im
In Mittelamerika verfügte Kuba, damals noch un-
weltweiten Vergleich über extrem hohe Päs-
ter spanischer Kolonialherrschaft, als erstes Land
se führten. Eine grosse Anzahl hochgelegener
dieser Region seit den frühen 1840er Jahren über
Bahnlinien konzentrieren sich auf die mineral-
eine Eisenbahn; sie verkehrte bei Havanna. Der
und kohlereiche Gebirgsgegend um Denver,
Bau der Eisenbahnen in Mexiko, Guatemala, El
wo die Rocky Mountains mit dem bis auf 4’402
Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica
m ü.M. hinaufragenden Mount Elbert ihre
war von den USA dominiert. Mit Ausnahme von
höchste Erhebung erreichen. Denver selbst war
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1859 als Goldsucherlager entstanden.
couver bei Great Divide am Kicking Horse Pass
In Kanada gewann die Canadian Pacific den
einen Kulminationspunkt von 1’625 m ü.M.
Wettlauf um eine landquerende Verbindung; 1885
In Mexiko, wo der Bahnbau mit staatlichen Mit-
erreichte die Bahnlinie von Winnipeg nach Van-
teln gefördert wurde, bestand eine erste Ge-
Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Nord- und Mittelamerika
Land
Verbindung Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Eröffnung 2)
USA/Col
Denver – Kremmling
Normal
3560, Rollins Pass (1928: 2817 Moffat Tunnel)
1904
USA/Col
Colorado Springs – Leadville
Normal V
3515, Hagerman T. (1893: 3338 Ivanhoe Tunnel)
1887
USA/Col.
Nathrop – Gunnison 914 mm V
3512, Alpine Tunnel
1882
USA/Col.
Como – Breckenridge
914 mm V
3500, Boreas Pass
1890
USA/Col.
Leadville – Dillon
914 mm V
3450, Fremont Pass
1882
USA/Col
Breckenridge – Leadville
914 mm V
3450, Fremont Pass
1884
USA/Col.
Salida – Gunnison
914 mm V
3309, Marshall Pass
1881
USA/Col.
Leadville – Red Cliff
914 mm V
3180, Tennessee Pass (1890: Tunnel, Normal)
1881
USA/Col.
Durango – Ridgway
914 mm V
3124, Lizard Head Pass
1891
Mexico
La Cima – El Oro
Normal V
3054, La Cima
1882
USA/Col.
Chama – Antonito
914 mm
3053, Cumbres Pass
1880
USA/Col.
Webster – Como
914 mm V
3045, Kenosha Pass
1879
USA/Col.
Walsenburg – Alamosa
914 mm V
2817, Veta Pass
1877
Mexico
Pueblo – Mexico City
Normal
2561, Nanacamilpa
1883
USA/Col
Bond – Steamboat Springs
Normal
2540, Toponas
1913
Mexico
Paso del Macho – Esperanza
Normal
2536, Maltratata
1872
Mexico
Chihuahua – Topolobampo
Normal
2460, Los Ojitos
1961
USA /Wy
Cheyenne – Ogden
Normal
2443, Sherman Hill
1868
USA/Col.
Gunnison – Montrose
914 mm V
2429, Cerro Summit
1882
USA/Col.
Trinidad – Albuquerque
Normal
2312, Raton Pass
1878
USA/Utah
Price – Provo Normal
2268, Soldier Summit
1882
USA/Arizona
Albuquerque – Barstow
Normal
2212, Continental Divide
1883
USA/Calif./Nevada Sacramento – Reno
Normal
2147, Donner Pass
1868
USA/Mont
Miles City – Avery
Normal V
1934, Pipestone Pass
1909
USA/Mont
Great Falls – Butte Normal
1929, Butte
1888
USA/Utah/Nevada
Salt Lake City – Winnemucca
Normal
1799, Shafter
1906
USA/Mont.
Billings – Spokane
Normal
1743, Bozeman Pass
1883
Kanada
Calgary – Kamloops
Normal
1625, Kicking Horse Pass (Great Divide)
1885
USA/Mont.
Shelby – Whitefish
Normal
1589, Marias Pass
1892
USA/Tex
San Antonio – El Paso Normal
1547, Paisano
1882
Costa Rica
Puero Limon – Alajuela 1067 mm
1547, El Alto
1891
Guatemala
Puerto Barrios – Puerto Quetzal
914mm
1497, Cd. Guatemala
1884
Kanada
Lethbridge – Nelson
Normal
1359, Crowsnest Pass
1898
USA/Calif.
Bakersfield – Mojave
Normal
1228, Tehachapi Summit
1876
Kanada
Vancouver – Prince George
Normal
1208, Horse Lake
1918
Kanada
Edmonton – Kamloops
Normal
1110, Yellowhead Pass
1913
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
J stillgelegt
2)
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�
Coxo
Cumbres Pass, 3053 m ü.M.
Cumbres & Toltec
Osier
Brücke
Station
Fluss
Böschung / Damm
Los Pinos
Durango
San Juan
Chama
0
U .
S .
A .
Antonito
100 km
Cumbres & Toltec Scenic Railway> Wichtiger Streckenabschnitt.
H.P. Bärtschi
Cumbres & Toltec Scenic Railway > Station Needleton mit Rio GrandeWasserturm. Aufnahme 1974.
P. Gloor
Cumbres & Toltec Scenic Railway> Felseinschnitt beim Animas Canyon. Aufnahme 1974.
P. Gloor
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400
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birgsbahn 1872. Es sollten weitere folgen. Sie
bahn, ab den späten 1880er Jahren allerdings soll-
dienten vornehmlich der Erschliessung der auf
te die D&RG aus Kompatibilitätsgründen ihre
2’24 m ü. M. gelegenen Hauptstadt Mexico City,
Strecken zunehmend in Normalspur bauen lassen.
aber auch des nördlich gelegenen Hochlandes
Palmer selbst war Gründer eines Kohlebergbau-
zwischen den Gebirgszügen Sierra Madre Orien-
unternehmens, das ins Erdölgeschäft einstieg und
tal und Sierra Madre Occidental.
sich Colorado Fuel & Iron Company nannte (mit
In Guatemala konnte 1884 die mit grossartigen
Raffinerie in Alamosa). Die Entdeckung von Sil-
Stahlbrückenbauten bestückte Guatemala-Bahn
bervorkommen beim Marshallpass (3’225 m ü. M.)
eingeweiht werden (Kulminationspunkt auf 1’497
im Jahre 1877 und der dadurch ausgelöste Silber-
m ü.M.). 1891 wurde auch in Costa Rica eine Ge-
rausch liessen die D&RG den Bahnbau im Gebir-
birgsbahn eröffnet.
ge rasch vorantreiben. Hauptziel wurde nun die
netzförmige Erschliessung der Rocky Mountains
in Colorado und in den Nachbarstaaten. 1880
Denver & Rio Grande Railroad (bes. Cumb-
führten die schmalspurigen Schienen der D&RG
res & Toltec Scenic Railway), USA
von Denver nach Pueblo, von dort aus südwest-
Die Wahl der Denver & Rio Grande Railroad als
wärts via Walsenburg und Alamosa nach Antonito
Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er-
und weiter über den Cumbrespass in den San Ju-
folgte aufgrund folgender Kriterien:
an Mountains bis nach Chama; nach Nordwesten
> umfangreiches Schmalspurnetz zur
zweigte eine Strecke Richtung Leadville ab, die
regionalen Erschliessung
über Canon City und Salida führte, auch bestand
> Gebirgsbahncharakter mit Überwindung
eine Verbindung zwischen Pueblo und dem süd-
von grossen Höhendifferenzen
lich gelegenen Santa Fe. 1881 wurde die Strecke
> Attraktivität der durchfahrenen Landschaft
zwischen Chama und Durango eröffnet, ein Jahr
(vgl. Kap. 3.c.3)
später waren auch die nördlich von Durango ge-
> historische Originalsubstanz vorhanden
legenen Silberminen von Silverton mit der Eisen-
(wenn auch nur abschnittsweise in Betrieb
bahn zu erreichen. Ebenfalls 1882 konnte eine
stehend)
von Salida ausgehende Linie via Gunnison und
Montrose bis nach Salt Lake City und Odgen im
Baugeschichte
Bundesstaat Utah in Betrieb genommen werden.
1870 erreichten die Schienen der Kansas Pacific
Das in den Rocky Mountains seit den 1870er Jah-
die Stadt Denver. Gleichzeitig gründete Willliam
ren errichtete Schmalspurnetz der D&RG umfass-
Jackson Palmer (1836 – 1909) die Bahngesell-
te letztendlich mehr als 2’500 km. Auf der Strecke
schaft Denver & Rio Grande D&RG. Sein erstes
zwischen Pueblo und Santa Fe liess die D&RG in
Ziel war die Errichtung einer Bahn zu den rei-
den 1890er Jahren Dreischienengleise anlegen, so
chen Kohlerevieren bei Canon City und Walsen-
konnten auch die für Normalspur ausgerüsteten
burg am Ostabfall der Rocky Mountains sowie in
Züge der Santa Fe-Bahngesellschaft zum Stahl-
weiterer Folge einer Nord – Süd-Verbindung bis
werk in Pueblo gelangen. Westlich von Leadville
nach El Paso (Texas) an der Grenze zu Mexiko.
entstand in den 1890er Jahren, ebenfalls unter der
Zur Minimierung der Bau- und Betriebskosten
Ägide der D&RG, die Normalspurlinie von Den-
wählte Palmer die Ausführung als Schmalspur-
ver über Dotsero und Grand Junction nach Salt
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
401
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Lake City und Ogden; die Schmalspurlinie nach
ein Museumsbahnbetrieb geführt. Für den bis
Salt Lake City wurde wurde daraufhin einge-
nach Durango weiterführenden Abschnitt konn-
stellt. 1901 eröffnete man eine ebenfalls normal-
te kein Käufer gefunden werden; dort wurden die
spurige Linie von Denver nach Antonito.
Schienen abgetragen. Gegenwärtig ebenfalls mu-
1894 übernahm die D&RG die Rio Grande
seal betrieben wird die nunmehr isolierte Schmal-
Southern-Eisenbahngesellschaft und mit ihr die
spurstrecke zwischen Durango und Silverton.
1891 errichtete Strecke zwischen Durango und
Ridgway (nahe Silverton). Nach weiteren Fu-
Streckenführung und Bahnbauten
sionen mit in der Region tätigen Eisenbahnge-
Die Strecke der Cumbres & Toltec Scenic Rail-
sellschaften um 1900 galt das Hauptaugenmerk
way stammt aus der Zeit zwischen 1878 und
der D&RG dem Ausbau ihres Streckennetzes
1880; das Trassee ist vollständig original erhal-
auf Normalspur. Der Verzicht auf die Anlage
ten. Die Bahn überwindet in einem spektaku-
von Dreischienengleisen in etlichen Abschnit-
lären, in mehreren S-Kurven geführten Anstieg
ten liess das Schmalspurnetz auseinander fal-
zwischen Antonito (2’404 m ü.M.) und dem
len. 1921 nannte sich der Konzern nach der 1901
Cumbrespass (3’053 m ü.M.) rund 650 Höhen-
eingekauften Westbahn D&RG-Western. 1947
meter, um sich danach – eine ähnliche Höhen-
übernahm die D&RGW das bedeutende Hoch-
differenz bezwingend – in einer Neigung von
gebirgsnetz der Denver & Salt Lake Railway
bis zu 40 ‰ nach Chama hinunterzuwinden.
und damit die Linie Denver – Craig, welche als
Ihre Anlage entlang der Höhenkurven war auf-
normalspurige Vollbahn einige spektakuläre
wändig. Um die Baukosten möglichst klein zu
Gebirgsabschnitte aufweist; deren Teilstück zwi-
halten, verzichtete man wo immer möglich auf
schen Bond und Craig wird heute nahezu aus-
Einschnitte und die Errichtung grösserer Däm-
schliesslich von schweren Kohlezügen befahren.
me und Brücken. Die Strecke verfügt nur über
Nach 1947 erfolgten beschleunigt Umspurungen
eine geringe Anzahl grösserer Kunstbauten: Es
und Stilllegungen. 1984 kaufte der Milliardär
sind dies die beiden Eisenträgerbrücken über
Philip Anschutz die D&RGW, um sie 1992 an die
den Wolf Creek bei Lobeto (30 m hoch, 94 m
Southern Pacific zu veräussern; diese wurde in
lang) und über den Cascade Creek bei Osier
der Zwischenzeit der Union Pacific eingegliedert.
(35 m hoch, 131 m lang) sowie die beiden Tun-
Seit der grossen Welle der Bahn-Stilllegungen in
nels in der Nähe von Toltec (Toltec-Tunnel 110 m
den 1960er Jahren ist der überwiegende Teil des
lang; Mud-Tunnel 104 m lang). Sicherungen
von der D&RG errichteten Schmalspurnetzes
gegen Steinschlag und Murgang wurden trotz
nicht mehr in Betrieb. Die etwa 112 km lange,
der doch beträchtlichen Höhe des zu überwin-
über den 3’053 m hohen Cumbrespass führen-
denden Passes kaum gebaut. Am Cumbrespass
de Linie von Antonito nach Chama war von den
selbst gab es seit den 1880er Jahren mehr als 20
US-Staaten Colorado und New Mexico erworben
Schneeschutzgalerien , die eine Länge von bis
worden, die sie 1972, vier Jahre nach der Stille-
zu 250 m aufwiesen. Viele von ihnen fielen Feu-
gung, ausschliesslich für touristische Zwecke
ersbrünsten zum Opfer, so dass man seit den
wieder in Betrieb nahmen; unter dem Namen
1920er Jahren dazu überging, an exponierten
Cumbres & Toltec Scenic Railway wird dort seit-
Stellen Schneefangzäune zu errichten.
her während der Frühlings- und Sommermonate
In Chama sind die Stationsgebäude, Wassertürme
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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und Depotanlagen weitgehend in ihrer Original-
Prämisse eines geringen Kostenaufwandes. Die
substanz erhalten, während die Hochbauten am
topographischen Verhältnisse waren diesbezüg-
anderen Ende der Cumbres & Toltec-Tourismus-
lich günstig, so dass keine aufwändigen Bau-
bahn, in Antonito, in den 1970er Jahren wieder
werke (etwa Spiral- und Scheiteltunnels oder
aufgebaut wurden. Entlang der Strecke gibt es
grössere Brücken) gebaut oder neue technische
einige weitere Stationsgebäude und Wassertür-
Lösungen (etwa elektrischer Betrieb) erprobt
me in originalem Zustand, teilweise aber auch
werden mussten. Die Überwindung des Höhen-
solche, die in den 1980er und 1990er Jahren re-
unterschieds konnte in aller Regel durch Schlei-
konstruiert worden sind. Die harten klimatischen
fen in Seitentäler (wie bei der Semmeringbahn
Bedingungen und der lange Betriebsunterbruch
demonstriert) erzielt werden. Die maximale
während der Wintermonate erfordern an den
Neigung von 40 ‰ entspricht den Kriterien des
überwiegend hölzernen Konstruktionen stete
Dampflokomotivbetriebs (Albulabahn: 35 ‰).
Unterhaltsarbeiten.
Bei beiden Bahnen ist die Trassierung original
erhalten geblieben, bei der Denver & Rio Gran-
Ausrüstung und Betrieb
de Railroad steht jedoch nur noch ein Teilstück
Die Museumsbahn Cumbres & Toltec steht in
in Funktion. Nach Inbetriebnahme der Touris-
der Zeit von Ende Mai bis Mitte Oktober täg-
musbahn im Jahr 1972 erfolgten auf der Strecke
lich in Betrieb; in der Regel fährt von beiden
zwischen Antonito und Chama Renovationsar-
Endpunkten aus ein dampflokbespannter Zug
beiten an den erhaltenen Hochbauten; seitdem
in siebenstündiger Fahrt die gesamte Strecke
mussten einzelne der zumeist hölzernen Ge-
hin und zurück. Daneben finden zusätzlich Son-
bäude aufgrund der schlechten Bausubstanz re-
derfahrten statt. Alle zwei Jahre wird zu Foto-
konstruiert werden. Demgegenüber sind bei der
zwecken eine Fahrt mit der original erhaltenen
Albula/Bernina-Bahn die Hochbauten weitge-
Dampfschneeschleuder von Jahr 1923 (Herstel-
hend im originalen Zustand erhalten bzw. wur-
ler: Alco) veranstaltet. Es sind mehrere Schlepp-
den, wo eine Erhaltung nicht möglich war, durch
tenderlokomotiven der Achsfolge 2-8-2 (Baldwin
Bauten zeitgemässer Architektur ergänzt. Bei
1903 bzw. 1925; D&RGW 1928-1930) vorhan-
der Cumbres & Toltec Scenic Railway sind die
den, wovon sechs betriebsfähig sind. Neben re-
Personenwagen mit den hölzernen Aufbauten
konstruierten, vierachsigen Holzkastenwagen
durchwegs auf (originalen) Güterwagenchassis
ist auch ein ganzer Güterwagen-Park erhalten.
aufgebaute Rekonstruktionen. Die erhalten ge-
Die Ausrüstung mit dem nach Originalplänen
bliebenen Dampflokomotiven stammen aus den
rekonstruierten Rollmaterial aus den 1920er
1920er Jahren, sie wurden teilweise wieder be-
Jahren ist eine besondere Attraktion dieser
triebsfähig gemacht.
Museumsbahn.
Eine besondere Bedeutung kommt der Cumbres
& Toltec Scenic Railway wegen der Attraktivität
Vergleich
der durchfahrenen Landschaft und insbesondere
Die Strecke der Cumbres & Toltec Scenic Rail-
durch das Prädikat «Scenic Line of the World»
way wurde ein Viertel Jahrhundert vor der Al-
zu, auf die in Kap. 3.c.3 detaillierter eingegangen
bula/Bernina-Linie eröffnet. Ihr Bau stand im
wird.
Gegensatz zumindest zur Albulabahn unter der
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Europa (exkl. Schweiz)
Mont Cenis im Jahre 1871 kam zugleich der da-
Europa war im Eisenbahnwesen bis weit ins 20.
mals längste Bahntunnel in Betrieb. In den ru-
Jahrhundert hinein wegbereitend. Das europä-
mänischen Karpaten wurde in den 1870er Jahren
ische Eisenbahnnetz umfasste – die Linien im
die Hauptlinie Bukarest – Brasov mit einem Kul-
zu Europa gehörenden Teil Russlands und in der
minationspunkt von über 1000 m ü.M. vollen-
Schweiz mit eingerechnet – auf seinem Höchst-
det. Die Wirtschaftskrise der späten 1870er Jahre
stand rund 410’000 km, also nur etwa 50’000 km
brachte grosse europäische Bahnvorhaben für
weniger als jenes der USA. In Westeuropa führ-
längere Zeit in Stocken – so etwa jene durch den
te der Ausbau des Strassennetzes seit den 1960er
Gotthard (siehe weiter unten in diesem Beitrag)
zu empfindlichen Einschnitten im Eisenbahn-
und den Arlberg. Weitere Gebirgsbahnen ent-
wesen. Die gleiche Entwicklung setzte nach den
standen schliesslich Ende des 19. Jahrhunderts
politischen Umwälzungen Ende der 1980er Jahre
im österreichischen Einflussgebiet, in Spanien,
auch in den osteuropäischen Staaten ein.
in Frankreich und in Italien, wo mehrere gross-
Die Eisenbahn, wie wir sie heute kennen, hat ih-
artige Gebirgsbahnen den Apennin queren. Bis
ren Ursprung im England des frühen 19. Jahr-
zum Ersten Weltkrieg führten mehr als ein Dut-
hunderts. Um eine Verbindung zwischen den
zend weitere neue Bahnlinien in Europa auf Kul-
Industriezentren im Nordwesten und jenen an der
minationspunkte von über 1000 m ü.M., darunter
Ostküste herzustellen, baute England schon Mit-
auch die norwegische Bergenbahn. Bis 1976 soll-
te der 1840er Jahre Bahnen über das penninische
te sich die Zahl der Gebirgsbahnen in Europa
Gebirge. In Frankreich entstand die erste Eisen-
verdoppeln.
bahnlinie im Zentralmassiv, in der Region um St.
Etienne; sie wies noch einen gemischten Betrieb
mit Dampflokomotiven und Pferden auf. Im Lauf
Train Jaune, Frankreich
der Zeit sind alle Gebirgsketten Europas über-
Die Wahl des Train Jaune in Frankreich als Ver-
schient oder untertunnelt worden. Die erste euro-
gleichobjekt zur Albula/Bernina-Linie erfolgte
päische Bahn, welche die Höhe von 1’000 m ü. M.
aufgrund folgender Kriterien:
überschritt, war die Neuenburger Juralinie in der
> ähnliche Bauzeit
Schweiz, die im Jahr 1860 entstanden war. Die
> Schmalspur
erste Hauptlinie, die über 1’000 m ü.M. führte,
> Überwindung von grossen Höhendifferenzen
war die spanische Nordbahn. Sie verbindet die
> Attraktivität der durchfahrenen Landschaft
Städte Madrid und Ávila über das Kastilische
(vgl. Kap. 3.c.3)
Scheidegebirge. Schon seit 1858 projektiert,
> noch in Betrieb stehend
konnte sie 1863 eröffnet werden. Die erste al-
> um 2001 fanden Überlegungen zur
penquerende Bahn verlief über den Semmering
Nominierung des Train Jaune als UNESCO-
und wurde 1854 in Betrieb genommen. 13 Jah-
Welterbe statt, in dessen Rahmen eine
re später wurde mit der Brennerbahn die zweite
umfangreiche Dokumentation erstellt wurde.
Alpenbahn in Betrieb genommen. In Frankreich
errichtete man zwischen 1868 und 1870 zwei Ge-
Baugeschichte
birgsbahnen, ihnen sollten weitere folgen. Mit
Spanien und Frankreich werden von den Pyre-
der Eröffnung der Alpentransversale durch den
näen, einem sich zwischen dem Atlantischen
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Europa (exkl. Schweiz)
Land
Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Frankreich
Villefranche – La Tour-de-Carol (Train Jaune)
Eröffnung 2)
Meter
1592, Col de la Perche
1911
Frankreich, Spanien Toulouse – Barcelona
Normal
1567, Porté Puymorens
1929
Italien
950 mm J
1529, Cima bianche
1910
Dobbiaco – Calalco (Dolomitenbahn)
Frankreich
St-Gervais-le-Fayet – Vallorcine Meter J
1386, Montets
1910
Österreich
Innsbruck – Brènnero
Normal
1371, Brenner
1867
Spanien
Madrid – Sierra de Ávila
1676 mm
1359, La Cañada
1863
Italien
Cosenza – San Giovanni
950 mm J
1340, Montescuro
1931
Österreich
Feldkirch – Innsbruck
Normal
1311, Arlberg
1884
Italia
Torino – Modane Normal
1306, Mont Cenis (1866: 2081, Baubahn) 1871
Spanien
Madrid – Burgos
1676 mm
1304, Somosierra
1968
Norwegen
Olso – Bergen Normal
1301, Finse 1908
Spanien
Madrid – Segovia
1676 mm
1296, Guadarrama
1888
Spanien
Ujo – Pusdongo 1676 mm
1271, Perruca Túnel
1884
Italien
Sulmona – Isernia
Normal
1267, Rivisòndoli
1897
Bulgarien
Septemvri – Dobrini´ste (Rhodopenbahn)
760 mm
1267, Avromovo
1937
Österreich
Schwarzach-St.Veit – Villach Normal
1226, Tauern-Tunnel
1909
Spanien
Sagunto – Zaragoza 1676 mm
1218, Escandón
1901
Italien
Fortezza – San Càndido (Pustertal-Bahn)
Normal
1210, Dobiacco
1871
Österreich
Leoben – Hieflau (Erzbergbahn)
Normal
1206, Präbichl
1873
Frankreich
Livron – Briançon
Normal
1204, Col de Cabre 1876
Frankreich/Spanien Canfranc – Pau
Normal
1195, Canfranc
1928
Spanien
Bilbao – León (La Robla-Bahn)
Meter
1192, Bercedo Pass
1894
Österreich
Innsbruck – Scharnitz (Karwendel-Bahn)
Normal
1185, Seefeld im Tirol
1912
Frankreich
Grenoble – Marseille Normal 1176, Col de la Croix
1877
Frankreich
Aurillac – Neussargues Normal 1152, Lioran Tunnel
1868
Spanien
Aranjuez – Valencia
1676 mm
1132, Palancares Tunel
1947
Spanien
Almería – Linares-Baeza (Sierra Nevada-Linie)
1676 mm
1129, Huénejar-Dolar
1899
Österreich
Scharnitz – Pfronten-Steinach (Ausserfern-Bahn)
Normal el. 1128, Lähn
Frankreich
Le Puy – St. Germain
Normal 1089, Sembadel
Spanien
La Coruña – Zamora (Sierra de la Culebra)
1676 mm
1087, La Mezquita
Frankreich
Bort – Neussargues
Normal 1081, Clarièrespass Spanien
Torre – Brañuelas (La Granja)
1676 mm
1080, Divisoria Tunnel
1882
Frankreich
Le Puy – La Levade d’Ardèche
Normal J
1076, S. Cirgues
1936
Italien
Cùneo – Ventimiglia
Normal
1073, Tenda-Tunnel
1915
Rumänien
Bucarest – Brasov
Normal
1057, Predeal
1879
Frankreich
Neussargues – Béziers (Causses)
Normal 1056, Arcomie
Rumänien
Brasov – Ploesti (Karphaten-Bahn)
Normal
1054, Predeal
Polen
Kamienna Gora – Krzeszow
Normal
1052, Krzeszow
1899
Jugoslawien
Belgrad – Bar
Normal
1032, Kolasin
1976
Frankreich
Nîmes – Clermont-Ferrand (Cevennes) Normal 1030, S. Laurent les B.
1870
Norwegen
Trondheim – Dombas (Dovre)
Normal
1025, Hierkinn
1921
Frankreich
Nice – Digne
Meter
1023, Thorame Haute
1894
Frankreich
Le Puy – Vichy
Normal 1021, Allègre
1902
Bosnien
Usice – Mostar (Bosnische Bahnen)
760 mm J
1000, ca. Usice
1891
1913
ca. 1900
1958
ca. 1900
1888
ca. 1900
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
J stillgelegt
2)
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Toulouse
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0
F
10 km
R
A
N
C
E
Têt
Puymorens-Tunnel
Villefranche, 415 m ü.M.
Mont Louis
Col de la Perche, 1592 m ü.M.
La Tour-de-Carol, 1230 m ü.M.
Train Jaune
Tunnel
Brücke
Spurweite 1435 mm
Spurweite 1000 mm
Station
östliche Transpyrenäen-Bahn
Fluss
Bourg-Madame
Böschung / Damm
Bergspitze
Barcelona (E)
Train Jaune > Gebirgsabschnitt.
H.P. Bärtschi
Train Jaune >«Le Viaduc Séjourné»
bei Fontpédrouse. Aufnahme
2002.
H.P. Bärtschi
Train Jaune > «Pont suspendu
Gislard» über den Fluss Têt. Aufnahme 2002.
Train Jaune
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Ozean (Biscaya) und dem Mittelmeer (Golfe du
des Streckenabschnitts zwischen Villefranche
Lyon) ausbreitenden Gebirgszug voneinander
und dem an der spanischen Grenze gelegenen
getrennt. Seit den späten 1860er Jahren wurde
Bourg-Madame. Zur Diskussionen stand anfäng-
der Bau von transpyrenäischen Bahnen erwo-
lich der Bau einer Dampfbahn mit Zahnstangen-
gen, jedoch sollte es noch bis etwa 1910 dauern,
abschnitten. Angesichts des Umstandes, dass der
bis die Planungen für den Bau der östlichen Linie
Staat gleichzeitig den Bau von Kraftwerken und
von Toulouse über La Tour-de-Carol nach Bar-
die Elektrifizierung der Grenzregion förderte,
celona begannen. Gänzlich fertiggestellt war die
entschloss man sich schliesslich zum Bau einer
genannte Strecke gar erst 1929, rechtzeitig zur
elektrisch betriebenen Bahn. Die 53 km lange
damals in Barcelona stattfindenden Weltausstel-
meterspurige Gebirgsbahn nahm ihren Betrieb
lung. Bereits seit den 1860er Jahren bestand die
von Villefranche bis La Cabanasse 1910 und
transnationale Bahnlinie, die dem Mittelmeer
schliesslich bis Bourg-Madame im Jahr 1911 auf,
entlang von Montpellier über Perpignan nach
wobei für die Zuleitung der elektrischen Energie
Barcelona führt. Seit 1880 besass die Compagnie
(850 Volt Gleichstrom) eine Seitenschiene instal-
des Chemins de fer du Midi, kurz Midi genannt,
liert wurde. Im Hinblick auf die Eröffnung der
eine Konzession für den Bau einer Gebirgsbahn
erwähnten östlichen Transpyrenäen-Bahn (Tou-
von Villefranche nach La Tour-de-Carol über
louse – Barcelona) erfolgte im Jahr 1927 die Aus-
das Hochplateau der Cerdagne im französischen
weitung der Linie bis La Tour-de-Carol, womit
Teil der Ostpyrenäen. Sie sollte an die seit den
die Länge der als Train Jaune bekannten Bahn
1870er Jahren bestehende, bei Perpignan von der
auf 63 km anwuchs.
transnationalen Mittelmeer-Strecke gegen Westen abzweigende Flachlandbahn nach Prades
Anschlussbahnen
anschliessen; Letztere wurde bis 1895 von der
Die normalspurige östliche Transpyrenäen-
Midi bis nach Villefranche verlängert. Der Bau
Bahn, mit welcher der Train Jaune in La Tour-
des Gebirgsbahnabschnitts ab Villefranche war
de-Carol zusammentrifft, gehört mit ihrem
ursprünglich – analog zur Flachlandbahn – in
Scheitelpunkt von 1’567 m ü.M. sowie je einem
Normalspurweite geplant. Die Anlage der Stre-
Spiraltunnel in Frankreich und Spanien neben
cke allerdings gestaltete sich schwierig und führ-
dem Train Jaune zu den spektakulärsten Ge-
te zu grossen Verzögerungen in der Realisation.
birgsbahnen im Pyrenäenraum. Nördlich von La
Der Bau der Bahn war von Staates wegen von
Tour-de-Carol quert sie das Vorgebirge durch
Interesse; zum einen aus militärstrategischen
den 5,4 km langen Puymorens-Tunnel. Zusam-
Gründen, wegen der in der Cerdagne vorhan-
men mit der transnationalen Linie entlang des
denen Grenzfestungen, zum andern wegen des
Mittelmeers und dem Train Jaune bildet sie ein
Aufbaus der Energieversorgung ebendort. Der
H-förmiges Bahnnetz entlang und quer zum
raschen Vollendung des Bauwerks wegen wurde
Hauptkamm der Pyrenäen.
1903 schliesslich eine mit weniger Kostenaufwand verbundene meterspurige Bahn mit Stei-
Streckenführung und Bahnbauten
gungen von bis zu 60 ‰ konzessioniert. Sofort
Die einzelnen Abschnitte des in Etappen (1910,
nach Erteilung der Konzession für eine neue
1911 und 1927) erbauten Train Jaune – der höchs-
Bahnvariante begann die Midi mit der Planung
ten durchgehenden Linie Frankreichs – haben sich
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alle im Originalzustand erhalten, sowohl was die
che mit dem Normalspurbahnhof, den Perrondä-
Trassierung, die Stromzuführung wie auch die
chern und dem Depot sowie der Verladeanlagen
Tief- und Hochbauten betrifft. Die Strecke weist
der Meterspurbahn an der Hangkehle im Nor-
starke andauernde Steigungen und eine kur-
den. Die aus den Jahren 1927 – 1929 stammen-
venreiche Linienführung entlang steiler Hänge
de Bahnhofsanlage in La Tour-de-Carol verfügt
hoch über der Talsohle auf. Im gebirgigen Ostab-
über Gleise in drei Spurweiten, denn es tref-
schnitt bestehen umfangreiche Sicherungsbauten
fen sich hier die Meterspur des Train Jaune,
gegen Regenfälle, Steinschlag und Murgang.
die Normalspur der französischen Staatsbahn
Insgesamt 233 Brücken sind zu verzeichnen, da-
und die Breitspur von 1676 mm der spanischen
von 177 in Steinbauweise.
Staatsbahn.
Die Steigung beginnt unmittelbar hinter dem
Ausgangsbahnhof Villefranche (415 m ü.M.). Das
Ausrüstung und Betrieb
Trassee verläuft dem rechten Ufer des Flusses
Seit der Einstellung des grundsätzlich geringen
Têt entlang. Vor Thuès-les-Bains durchsticht das
Güterverkehrs im Jahre 1974 wird die Strecke
Trassee in Tunnels mehrere Bergsporne. Seiten-
zwischen Villefranche und La Tour-de-Carol nur
talkehren sind mit aufwändigen Verbauungen
noch für einen bescheidenen Personen- und ins-
und Brücken versehen. Zwischen Thuès-entre-
besondere Touristenverkehr genutzt. Bis 2002
Vails und Fontpédrouse wird der Hauptfluss auf
wurde der gesamte Personenverkehr – fünf bis
dem grossen, steinernen Viaduc Séjourné über-
sechs Zugspaare pro Tag – mit dem Originalroll-
quert. Die Bahn windet sich anschliessend über
material der Gründerzeit geführt: Fahrgestelle,
dem linken Ufer die enge Schlucht hoch. Bei
Rahmen und Seitenstromabnahmeeinrichtungen
Fontpédrouse-Saint Thomas-les-Bains steht ein
der Triebwagen besitzen noch die Inschriften
grosses Kraftwerk, das auch der Bahn Strom lie-
der Midi und Achsbüchsen tragen die Jahres-
fert. Die Bahnlinie liegt hier bereits auf 1’050
zahl 1908. Die Wagenkasten sind in den 1980er
m ü.M. Sie quert weiter oben die Schlucht der
Jahren erneuert worden. Seit 2003 wurden neue
Têt auf der einzigartigen Schrägseil-Hängebrü-
Triebwagen angeschafft.
cke Pont Gislard ein weiteres Mal; die Brücke
ist nach dem Bahnkommandanten benannt, der
Vergleich
hier 1909 bei der Brückenbelastungsfahrt tödlich
Der Train Jaune gehört wie die Albula/Bernina-
verunglückte. In einer Schleife und durch einen
Linie zu den Gebirgsbahnen, die im Jahrzehnt
kurzen Tunnel gelangt die Bahn zum Festungs-
vor dem Ersten Weltkrieg vollendet wurden.
ort Mont Louis-La Cabanasse auf 1’510 m ü.M.
Sein Kulminationspunkt liegt mit 1’592 m ü.M.
Bis zum Scheitelpunkt auf 1’592 m ü.M. beim
deutlich niedriger als jener der Albula/Bernina-
Perchepass weist die Strecke 19 Tunnel von bis
Strecke. Die vorgefundene Topografie erforder-
zu 380 m Länge auf. Die Bahn führt anschlies-
te zahlreiche aufwändige Bauwerke, darunter
send kurvenreich an der spanischen Exklave
zwei grosse Brücken. Die Zahl der Tunnelbauten
Llivia vorbei ins Cerdange-Becken hinunter
ist ansehnlich, Spiraltunnels allerdings mussten
und danach der spanischen Grenze entlang zum
keine errichtet werden. Insgesamt ist der bau-
Bahnhof La Tour-de-Carol.
technische Schwierigkeitsgrad des Train Jaune
Faszinierend sind die Bahnanlagen in Villefran-
als geringer einzustufen als jener der Albula-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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bahn. Hinsichtlich der Betriebsart ist der Train
Jaune mit der Berninabahn identisch (elektrisch).
Die beim Train Jaune ausgeführte Stromzuführung mittels Seitenschiene hat sich allerdings
bei Überlandbahnen nicht durchgesetzt. Beide
Bahnen sind jedoch Beispiele dafür, dass die Betriebsart in direktem Zusammenhang mit technisch möglichen Streckenparametern wie der
maximalen Neigung gesehen werden muss. In
Anbetracht des Risikos, den die Anlage einer
elektrischen Bahn im Hochgebirge zu Beginn
des 20. Jahrhunderts aufgrund der mangelnden
Erfahrung bedeutete, übertrifft die Berninabahn
den Train Jaune an Kühnheit, beträgt doch ihre
maximale Neigung 10 ‰ mehr und liegt doch ihr
Kulminationspunkt um etwa 660 m höher. Wie
bei der Albula/Bernina-Linie sind Trassierung
und Hochbauten – abgesehen von den üblichen
betrieblich erforderlichen Anpassungen – original erhalten geblieben. Auch das Rollmaterial
der Gründerjahre ist im mechanischen Teil weitgehend erhalten, seit 2003 aber im bescheidenen
Alltagsverkehr durch neue Triebwagen ersetzt.
Demgegenüber fährt die Albula/Bernina-Bahn
im Alltagsbetrieb als moderne Vollbahn durchwegs mit neuem Material, während die historischen Wagen und Lokomotiven museal genutzt
werden.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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U
S
T
R
I
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Payerbach, 494 m ü.M.
5 km
A
|
A
Wien
Klamm, 699 m ü.M.
Breitenstein, 791 m ü.M.
Semmeringbahn
Tunnel
Brücke
Station
Semmering, 896 m ü.M.
Fluss
Berghang
Scheiteltunnel, 898 m ü.M.
Triest
Spilal, 789 m ü.M.
Semmeringbahn > Wichtiger
Streckenabschnitt.
H.P. Bärtschi
Semmeringbahn > Steinbogenviadukt über die Kalte Rinne.
Aufnahme 1979.
H.P. Bärtschi
Semmeringbahn > Ostportale
des Scheiteltunnels. Aufnahme 1979.
H.P. Bärtschi
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Semmeringbahn, Österreich
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England und Nordamerika, um Kenntnisse über
die neuesten Entwicklungen im Eisenbahnbau
Die Wahl der normalspurigen Semmeringbahn
zu erlangen. Gleichzeitig wurden Vergleichs-
in Österreich als Vergleichobjekt zur Albu-
studien ausgearbeitet zur Ermittlung der besten,
la/Bernina-Linie erfolgte aufgrund folgender
d.h. technisch und wirtschaftlich günstigsten
Kriterien:
Trasseevariante. Ghega, der auf eine 20-jäh-
> UNESCO Welterbestätte
rige Berufserfahrung im Hochgebirgs-Strassen-
> weltweit erste Hochgebirgseisenbahn-
bau zurückgreifen konnte, verknüpfte bei den
Prototypcharakter
Planungen zum Bau der Semmeringbahn seine
> Überwindung von großen Höhendifferenzen
Strassenbau-Erfahrungen mit dem im Rahmen
> Attraktivität der durchfahrenen Landschaft der Studienreise generierten Wissen. Es resul-
(vgl. Kap. 3.c.3.)
tierte daraus ein serpentinenförmiges Trassee
> bis heute in Betrieb stehend
zwischen den Orten Gloggnitz und Mürzzuschlag, welches Seitentäler mit einbezog und auf-
Baugeschichte
grund dieser künstlichen Streckenverlängerung
Der Semmering ist einer der östlichsten Alpen-
eine Neigung ermöglichte, welche mit Dampflo-
pässe, er liegt 984 m ü.M. Mit der Entscheidung
komotiven befahren werden konnte (maximal 27
der staatlichen Verwaltung des damaligen Kai-
‰). Das Projekt lag 1844 vor. Der Bau selbst al-
sertums Österreich im Jahre 1842, eine – nor-
lerdings wurde erst im Zuge der 1848er Revolu-
malspurige – Eisenbahn von der Residenzstadt
tion an die Hand genommen, im Zusammenhang
Wien zur adriatischen Hafenstadt Triest zu er-
mit der Suche nach Arbeitsmassnahmen für die
richten, bekam die Semmeringregion eine neue
aufgebrachte Bevölkerung. Ohne Tunnelbohr-
Bedeutung: Vor dem Bahnbau erstellte Ver-
maschinen oder leistungsfähige Sprengstoffe ar-
gleichsstudien kamen zum Schluss, dass für
beiteten zwischen 1848 und 1854 bis zu 20’000
eine Eisenbahn von Wien nach Triest die Über-
Menschen an der knapp 42 km langen Strecke.
schienung der Alpen im Bereich der Semmerin-
Zur Bewältigung der topographischen Schwie-
gregion am besten durchzuführen wäre. Diese
rigkeiten mussten 16 grössere Viadukte (davon
Einschätzung ist insofern beachtlich, als sie sich
vier doppelstöckige) und 15 Tunnels errichtet
auf keinerlei Erfahrungen mit Eisenbahnen in
werden. In beiden Fällen betrat man technisches
Gebirgen mit schroffen Tälern und grossen Hö-
Neuland: Sowohl Viadukte als auch Tunnels
hen stützen konnte. Ende der 1840er Jahre er-
wurde in engen Krümmungen angelegt, was so-
reichten die Eisenbahnen weltweit maximal eine
wohl hinsichtlich der Vermessung (Tunnel) als
Höhe von rund 660 m ü.M. Am Semmering muss
auch hinsichtlich der starken Belastung durch die
bei einer Luftlinienentfernung von weniger als
fahrenden Eisenbahnzüge (Viadukte) besondere
10 km ein Höhenunterschied von knapp 500 m
Herausforderungen bedeutete.
und eine teilweise stark zerklüftete Landschaft
Nach nur sechsjähriger Bauzeit konnte die Sem-
überwunden werden.
meringbahn in Betrieb genommen werden und
Als Vorbereitung zu den konkreten Planungs-
die zeitgenössische Presse konstatierte eupho-
arbeiten für den Bau der Semmeringbahn reis-
risch, dass es nun mehr «keinen Berg [gibt],
te der Bauleiter Carl Ghega im Jahre 1842 nach
über den man nicht eine Eisenbahn führen, kei-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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nen Fluss mehr, über den man nicht eine Brü-
ger spektakuläre Weise durch das Fröschnitztal
cke schlagen könnte» (Triestiner Lloyd vom
geführt.
2.7.1854).
Die ursprünglichen Bahnbauten sind bei der
Semmeringbahn grösstenteils bis heute erhal-
Anschlussbahnen
ten geblieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Semmeringbahn ist Teil der Eisenbahnver-
waren die Viadukte und die Tunnels in einem
bindung Wien – Triest. An ihrem nördlichen
bautechnisch schlechten Zustand und erforder-
Endpunkt Gloggnitz schliesst die nach Wien
ten umfangreiche Sanierungsarbeiten. In diesem
führende und dabei das Wiener Becken durch-
Zusammenhang wurde 1952 der ursprüngliche
querende Flachlandbahn an, am südlichen End-
Haupttunnel in einen eingleisigen Tunnel rück-
punkt Mürzzuschlag führt die Strecke weiter
gebaut und 1953 ein zweiter, parallel verlau-
im Talboden durch das Mürz- und Murtal. Von
fender eingleisiger Tunnel zur Erhaltung der
Mürzzuschlag wurde im Jahr 1879 in ein Seiten-
Zugs-Kapazitäten einer zweigleisigen Strecke
tal nach Neuberg eine normalspurige Nebenbahn
errichtet. Nach den Sanierungsarbeiten der Bau-
errichtet, von der Station Payerbach-Reichenau
werke folgte die Elektrifizierung der Linie, die
führte ab 1922 eine elektrische Schmalspurbahn
1959 abgeschlossen werden konnte. Die sehr
als Transportbahn für die in Hirschwang ansäs-
vielfältig ausgebildeten Tunnelportale konnten
sige Papierindustrie und ab 1926 mit der Auf-
bei dieser Massnahme aufgrund ihrer grosszü-
nahme des Personenverkehrs als Zubringer zur
gigen Bemessung in ihrer ursprünglichen Form
Rax-Seilbahn in das Hochgebirge. Die erstge-
beibehalten werden. Dahingegen wurden bei
nannte Nebenbahn steht heute (2006) nicht mehr
einzelnen Viadukten die steinernen Brüstungen
in Funktion, während die Schmalspurbahn Nos-
demontiert oder die Mauerflächen verputzt, was
talgiebetrieb aufweist.
eine Veränderung von deren originaler Gestalt
bedeutete.
Streckenführung und Bahnbauten
Die Bahnhofs- und Betriebsgebäude wurden im
Die Semmeringbahn startet im niederöster-
Laufe der Jahrzehnte mit den stark steigenden
reichischen Gloggnitz auf einer Höhe von
Verkehrsfrequenzen immer wieder und je nach
439 m ü. M. und gewinnt mittels einer grossen
Zeit mehr oder weniger sensibel den jeweiligen
Schleife in das Reichenauer Tal an Höhe. Bei der
Erfordernissen angepasst; in Semmering, das
Station Eichberg – in der Luftline nur 2 km von
gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Tourismus-
Gloggnitz entfernt – liegt das Trassee schon 170
Destination avancierte, musste das Stations-
m höher. Weitere Talschleifen in den Adlitzgrä-
gebäude mehrfach ausgebaut werden. Nahezu
ben, wo sich auch der berühmte Viadukt über
vollständig haben sich hingegen die ehemals 55
die Kalte Rinne (182 m lang, 46 m hoch und in
bruchsteinernen Streckenwärter-Häuser erhal-
einer Krümmung von 180 m liegend) befindet,
ten, die der kompletten Überwachung der Stre-
dienen ebenfalls der künstlichen Streckenver-
cke dienten und in einer einheitlichen Bauform
längerung. Im 1’428 m langen Scheiteltunnel
errichtet worden waren.
wird der Kulminationspunkt von 898 m ü.M. er-
Die für den urspünglichen Dampfbetrieb er-
reicht. Nach dem Tunnel wird das Trassee nach
forderlichen baulichen Einrichtungen (Be-
Mürzzuschlag (681 m ü.M.) auf deutlich weni-
triebsgebäude wie Heizhäuser, Werkstätten,
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Drehscheiben, Wasserbereitstellung) in Glogg-
wie des hohen Kapitalbedarfs immer noch im
nitz, Payerbach, Semmering und Mürzzuschlag
Planungsstadium.
wurden nach der Elektrifizierung der Strecke
Neben dem täglichen Regelbetrieb mit dem je-
abgetagen – ausgenommen der Rundlokschup-
weils aktuellen Rollmaterial werden seit den
pen und die Halle der «Neuen Montierung» mit
letzten Jahren an Wochenenden Personenzüge
der davorliegenden Schiebebühne (alle Mürzzu-
mit Zugsgarnituren aus den 1960er und 1970er
schlag), welche im August 2006 unter (österrei-
Jahren geführt und als «Nostalgiezüge» bewor-
chischen) Denkmalschutz gestellt wurden.
ben. Im Rahmen von Sonderfahrten kommen
Von Umbauten betroffen waren vor allem die
auch mit Dampflokomotiven bespannte Züge
Gleisanlagen an den Stationen: Einhergehend
auf die Semmeringstrecke. Rollmaterial aus der
mit stärkeren Lokomotiven konnten längere Zü-
Bahnbauzeit ist nicht mehr vorhanden.
ge eingesetzt werden, welche wiederum längere
Ausweichgleise in den Stationen erforderten.
Vergleich
Die Gebäude zur Güterbeförderung (Güter-
Die Semmeringbahn und die Albula/Bernina-
schuppen, Verladeanlagen) wurden insbesondere
Linie gehören beide in die Kategorie der ge-
nach dem Zweiten Weltkrieg und der Umstellung
birgsquerenden Bahnen, wenn sie auch einen
des Transportes auf den Lastkraftwagen weitge-
grundsätzlichen Unterschied bezüglich der Spur-
hend demontiert.
weite aufweisen. Die als zweigleisige Hauptbahn
Seit der Aufnahme der Semmeringbahn in die
in Normalspur in den frühen 1850er Jahren er-
UNESCO-Welterbeliste im Jahr 1998 erfolgten
richtete Semmeringbahn gilt als Meilenstein in
alle Renovierungs- und Sanierungsarbeiten an
der Geschichte der Eisenbahnen. Ihre Planung
der Strecke in Rücksprache mit dem österrei-
erfolgte in der Frühphase des Dampflokomotiv-
chischen Bundesdenkmalamt.
Betriebs und dementsprechend waren die Streckenparameter wie insbesondere die maximale
Ausrüstung und Betrieb
Neigung der Strecke an diese Betriebsart gebun-
Die Semmeringbahn diente gleichermassen dem
den: Die am Semmering ausgeführten 27 ‰ bil-
Personen- wie dem Güterverkehr zwischen Wien
deten auch in späteren Jahren den ungefähren
und dem nördlichen Adriaraum, insbesondere
Standard für dampfbetriebene Gebirgsbahnen.
der Region um Triest. Heutzutage wird sowohl
Die Brennerbahn etwa wies eine maximale Stei-
der innerösterreichische Verkehr von Wien in
gung von 25 ‰, auf, die Gotthardbahn 27 ‰, die
die südlichen Bundesländer, als auch der inter-
Bahn durch den Mont Cenis 30 ‰ und die Albu-
nationale Verkehr in die Nachbarländer Italien
lalinie 35 ‰.
und Slowenien über den Semmering geführt. Es
In dem halben Jahrhundert, das zwischen dem
stehen täglich sowohl Personen- und Schnell-
Bau der Semmeringbahn und jenem der Albu-
züge als auch zahlreiche Güterzüge im Einsatz
la/Bernina-Linie liegt, hat die Eisenbahntech-
(für das Jahr 2003: 80 Reisezüge und 100 Gü-
nik zahlreiche Veränderungen und Innovationen
terzüge pro Tag). Diese hohe Zugsanzahl führte
durchlaufen. So illustriert die Albula/Bernina-
in den 1980er Jahren zur Forderung nach einem
Strecke auf einzigartige Weise die mannigfachen
Basistunnel. Das entsprechende Projekt befin-
bautechnischen Möglichkeiten der Jahrhun-
det sich aufgrund juristischer Unklarheiten so-
dertwende sowohl hinsichtlich der herkömm-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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lichen Dampflokomotiv-Technologie als auch
des in jener Zeit neuen Elektro-Bahnbetriebes.
Während die Albulabahn entsprechend den für
Dampfbetrieb gängigen Streckenparametern errichtet wurde, erfolgte bei der Berninabahn die
Demonstration der Leistungsfähigkeit des elektrischen Bahnbetriebes: Nicht nur weist sie bis
heute den höchsten Kulminationspunkt einer
alpenüberquerenden Eisenbahn im Ganzjahresbetrieb auf, sie ist mit einer maximalen Neigung
von 70 ‰ auch doppelt so steil wie die nur vier
Jahre zuvor eröffnete Albulabahn.
Bei den zur künstlichen Streckenverlängerung angewandten Techniken findet sich bei
der Albula/Bernina-Linie im Gegensatz zur
Semmeringbahn die gesamte Vielfalt an ingenieurtechnischen Möglichkeiten: Neben dem am
Semmering weltweit erstmals eingesetztem Ausfahren von Seitentälern zur Überwindung der
Höhendifferenz sind dies die (kostengünstigen)
offenen Kehren an einem Hang (Berninabahn)
oder die (kostenaufwändigen) Spiraltunnel sowie
Scheiteltunnel (Albulabahn). Spiraltunnel waren
in dem kurzen Zeitfenster zwischen den 1870er
und den 1910er Jahren die für Gebirgsbahnen
typische Tunnelbauart. Lange Scheiteltunnel
konnten erst nach Erfindung der Tunnelbohrmaschinen errichtet werden; solche wurden erstmals am Mont Cenis in den späten 1860er Jahren
eingesetzt.
Die Albula/Bernina-Linie illustriert auf einzigartige Weise die verschiedenen technischen Lösungen des Eisenbahnbaues im Hochgebirge zu
Beginn des 20. Jahrhunderts, wie dies die Semmeringbahn für die Mitte des 19. Jahrhunderts
tut. In diesem Sinne stehen die beiden Strecken
einander gleichberechtigt gegenüber.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Schweiz
beschleunigte. Nach dem Bau der Bahnen über
Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten
den Brenner (1867) und durch den Mont Cenis
begann der Eisenbahnbau in der Schweiz relativ
(1871) bekam auch in der Schweiz der Bau einer
spät. Die Gründe für diesen Umstand sind in pri-
Alpentransversale oberste Priorität. Drei Varian-
vaten Konkurrenzen, regionalen Machtkämpfen
ten standen zur Diskussion: eine durch die Zen-
und in der anspruchsvollen, hohe Investitionen er-
tralschweiz, eine solche durch die Ostschweiz und
fordernden Topographie weiter Teile des Landes
eine durch das Wallis, ausgehend von der Haupt-
zu suchen. 1859 war die Hauptlinie zwischen
stadt Bern. Gebaut wurde als erste die zentral-
dem Boden- und dem Genfersee mit Seitenästen
schweizerische Variante: Mit Hilfe finanzieller
Richtung Basel und Luzern fertig gestellt. Bis
Beiträge aus Deutschland und Italien sowie mit
zum Ersten Weltkrieg entstand schliesslich ein
Bauarbeitern aus Italien konnte 1882 mit der von
sehr dichtes Netz privater und staatlicher Eisen-
Luzern nach Chiasso führenden Gotthardbahn
bahnen. 1909 wurde die grösste Bahngesellschaft,
die kürzeste europäische Nord – Süd-Verbindung
die Gotthardbahn, verstaatlicht und in Schweize-
eingeweiht werden. Sie erreicht einen Kulmina-
rische Bundesbahnen SBB umbenannt.
tionspunkt von 1’151 m ü.M. Erst 1913 wurde die
Schon 1858 war mit der normalspurigen Hauen-
ebenfalls normalspurige Lötschbergbahn durch
steinbahn die erste Gebirgsbahn in der Schweiz
das Wallis eröffnet, die mit Hilfe französischen
eröffnet worden; sie führt in Doppelspur von Basel
Kapitals errichtet werden konnte; ihr Kulmina-
ins Mittelland. Ihr Scheiteltunnel liegt allerdings
tionspunkt liegt auf 1’240 m ü.M. Lötschberg-
auf lediglich 559 m ü.M. 1859 wurde eine weitere
und Gotthardbahn gehören europaweit zu den
ins Juragebirge führende Bahn in Betrieb genom-
wichtigsten normalspurigen Nord – Süd-Verbin-
men. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in Neuchâ-
dungen. Darüber hinaus entstanden bis 1926 in
tel und diente hauptsächlich der Erschliessung
der Schweiz noch mehr als ein Dutzend schmal-
der beiden hochgelegenen Uhrmacherzentren La
spuriger Gebirgsbahnen, welche die Marke von
Chaux-de-Fonds und Le Locle. Es ist dies schweiz-
1’000 m ü.M. überschritten.
weit die einzige Hauptbahnlinie mit einer Spitz-
Infolge des Kohlemangels während des Ersten
kehre. Zwischen dem Lac de Neuchâtel (479 m ü.
Weltkriegs – der Import aus den umliegenden eu-
M.) und der französischen Grenze weist sie insge-
ropäischen Staaten war praktisch zum Erliegen
samt neun Tunnel auf. Der Scheitelpunkt der Stre-
gekommen – beschloss die schweizerische Lan-
cke liegt in Convers auf 1’048 m ü.M., einer erst
desregierung 1916 die Elektrifizierung der bis
durch die Gotthardbahn überbotenen Höhe.
dahin grösstenteils mit Dampflokomotiven betrie-
Der innereuropäische Verkehr von Norden nach
benen Bahnlinien. Wasserkraft zur Produktion
Süden musste zwangsläufig die Alpen überwin-
von Strom war im Land selbst genügend vorhan-
den. 1807 liess Napoleon I. über den Simplonpass
den. So entstand in der Schweiz ein zu fast 100%
die erste alpenquerende Fahrstrasse errichten.
elektrisch betriebenes Bahnnetz – weltweit ein
Es folgten die Passtrassen der Österreicher und
Unikum. Anders als in den meisten übrigen Län-
Bündner über die Ostalpen. Mit der Eröffnung
dern kam es in der Schweiz nach dem Zweiten
des Suezkanals im Jahre 1869 wurden die Waren-
Weltkrieg nicht zu umfangreichen Stilllegungen.
ströme von den Atlantikhäfen zu den Mittelmeer-
Heute bestehen hier 3’700 km Normalspur- und
häfen umgeleitet, was den Bau von Alpenbahnen
1’700 km Schmalspurlinien.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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Erstfeld, 471 m ü.M.
0
1 km
S W I T Z E R L A N D
Wassen, 928 m ü.M.
Gotthardbahn
Tunnel
Brücke
Station
Fluss
Berghang
Göschenen, 1105 m ü.M.
Gotthardtunnel, 1151 m ü.M.
Gotthardbahn > Wichtiger Streckenabschnitt
H.P. Bärtschi
Gotthardbahn > Nordrampe bei
Amsteg mit SBB-Kraftwerk. Aufnahme 1988.
H.P. Bärtschi
Gotthardbahn > Südrampe Biaschina mit drei Streckenniveaus. Aufnahme 1997.
H.P. Bärtschi
Gotthardbahn > Einspurige
Zufahrtsstrecke entlang des Vierwaldstättersees. Aufnahme
1988.
H.P. Bärtschi
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Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in der Schweiz
Land
Verbindung Spurweite
Kulminationspunkt 1) [m ü.M.]
Eröffnung 2)
Schweiz
St. Moritz – Tirano (Berninabahn)
Meter 2253, Ospizio Bernina
1910
Schweiz
Brig – Andermatt Meter, Z 2163, Furka (Bergstrecke)
1926
Schweiz
Disentis – Andermatt Meter, Z 2045, Oberalp-Pass
1926
Schweiz
Thusis – St. Moritz (Albulabahn)
Meter 1823, Albula-Tunnel
1903
Schweiz
Chur – Arosa Meter 1742 Arosa
1914
Schweiz
Landquart – Davos Meter 1633, Davos-Wolfgang
1890
Schweiz
Visp – Zermatt Meter, Z
1605, Zermatt
1891
Schweiz
Montreux – Lenk
Meter 1275, Saanenmöser
1905
Schweiz Spiez – Brig (Lötschbergbahn)
Normal
1240, Lötschberg-Tunnel
1913
Schweiz
Nyon – St.Cergue(– La Cure)
Meter
1233, La Givrine
1917
Schweiz Erstfeld – Biasca (Gotthardbahn)
Normal
1151, Gotthard-Tunnel
1882
Schweiz
Reichenau-Tamins – Disentis
Meter
1133, Disentis
1903
Schweiz
Neuchâtel – Le Locle
Normal
1048, Convers
1859
Schweiz
Stans – Engelberg
Meter, Z
1002, Engelberg
1898
Schweiz
Luzern – Meiringen
Meter, Z
1002, Brünig-Hasliberg
1888
1)
unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt
unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen
Z Zahnstange
2)
Gotthardbahn
erst nach 1897 zur Vollendung gebracht werden.
Die Wahl der normalspurigen Gotthardbahn als
Bauverteuerungen und -verzögerungen infolge
Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er-
hektischer Planänderungen und unzulänglicher
folgte aufgrund folgender Kriterien:
Offerten führten das für den Bau der Bahn zu-
> Überwindung von großen Höhendifferenzen
ständige Unternehmen schon 1875 in die Krise.
> Anwendung von Spiraltunnel und langen
1878 wurde der Antrag auf Nachsubvention durch
das Zürcher Stimmvolk abgelehnt. Eine neue
Scheiteltunnel
> Attraktivität der durchfahrenen Landschaft
Projektvariante sah die Erhöhung der Steigung
bei den Rampen sowie eine Linienführung mit
(vgl. Kap. 3.c.3)
> bis heute in Betrieb stehend
engeren Kurven vor. Allein der Bau des Schei-
> grosse nationale Bedeutung
teltunnels durch das Gotthardmassiv forderte fast
200 Tote. Nach der verspäteten Fertigstellung des
Baugeschichte
grossen Werks im Jahre 1882 entwickelte sich
Mit dem Bau der Gotthardbahn wurde 1872 be-
die Gotthardlinie zur modernsten Privatbahn der
gonnen. Bereits 1874 waren die Zufahrtsstrecken
Schweiz. Der finanziell stark von der öffentlichen
im Tessin, also südlich der Alpen fertig gestellt.
Hand getragene Gotthardbahn-Konzern umfasste
Die nördlichen Zufahrtsstrecken Luzern – Im-
bei der Eröffnung der Gotthardbahn ein Netz von
mensee und Zug – Goldau allerdings konnten
insgesamt 273 km.
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Die von Beginn weg doppelspurig geplante Gott-
Wassen mit einem Spiral- und zwei Kehrtunnels
hardbahn wurde wegen der finanziellen Schwie-
wie auch jene in der Piottinaschlucht bei Faido
rigkeiten mit Ausnahme des Scheiteltunnels
und in der Biaschinaschlucht mit den jeweils zwei
anfänglich nur einspurig ausgeführt. An den
nahezu übereinander liegenden Spiraltunnels.
Rampen fand in der Zeit zwischen 1890 und 1896
Das Gesamtbauwerk wurde im Lauf der Zeit
der sukzessive Ausbau auf Doppelspur statt. Zwi-
dem jeweiligen Stand der Technik angepasst: So
schen 1912 und 1948 – die Gotthardbahn war be-
hat man die Fahrleitungen modernisiert und die
reits 1909 verstaatlicht worden – erhielten auch
Sohlen in den Tunnels zwecks Vergrösserung
die Zubringerstrecken in den Tälern beidseits der
des Lichtraumprofils abgesenkt. Insbesondere
Alpen eine zweite Spur. Die letzte Doppelspur-
wurden alle ursprünglichen eisernen Fachwerk-
lücke über den Damm von Melide wurde erst
träger-Brücken durch neue Bauwerke aus Beton
mit der Autobahnplanung 1965 geschlossen. Die
(Stampfbeton und Spannbeton, teilweise auch
Gotthardbahn wurde nach dem entsprechenden
mit Granitverkleidung) ersetzt. Die Trassierung
Beschluss des Verwaltungsrates der SBB aus dem
entspricht aber noch heute dem Originalzustand,
Jahre 1916 auf elektrischen Betrieb umgerüstet;
erhalten geblieben sind auch die monumentalen
die Lötschbergbahn in der Westschweiz und Teile
Hochbauten der Tessiner Talbahnen von 1875 und
des Streckenetzes der Rhätischen Bahn waren
eine Grosszahl der einfachen Hochbauten im Ge-
schon früher mit hochgespanntem Einphasen-
birgsabschnitt von 1882. Die Bahnhöfe Airolo und
wechselstrom elektrifiziert worden. In Amsteg
Göschenen an den beiden Enden des Gotthardtun-
und Ambri-Piotta wurden zwei bahneigene Was-
nels wurden im Zuge der Einrichtung einer Au-
serkraftwerke gebaut. 1920 waren der Gebirgsab-
toverladeanlage zwischen 1954 und 1980 immer
schnitt und 1922 auch die Talbahnen elektrifiziert.
wieder umgebaut und erweitert. Der Streckenabschnitt entlang des Vierwaldstättersees – eine der
Streckenführung und Bahnbauten
Zufahrtsstrecken – weist die meisten originalen
Die Schwierigkeiten bei der Einbettung der Stre-
Teile aus der Bauzeit auf, denn die zweite Spur er-
cke in die Topografie waren in jeder Hinsicht
hielt dort ein separates Trassee.
ausserordentlich: stetig starke Steigungen auf
beiden Rampen, erstmalige Ausführung von
Ausrüstung und Betrieb
Kehr- und Spiraltunnel in grosser Anzahl im Be-
Die primäre Bedeutung der Gotthardbahn war
reich der Alpen, aufwändige Führung mit Stütz-
und ist diejenige einer europäischen Nord – Süd-
mauern und Felseinschnitten an steilen Hängen
Transitachse. Dementsprechend erfolgten sowohl
hoch über der Talsohle und sehr umfangreiche
hinsichtlich der Ausrüstung als auch des Rollma-
Sicherungsbauten gegen Lawinen, Steinschlag
terials – und im Gefolge dessen auch hinsichtlich
und Murgänge. Bei den Brücken kamen verschie-
der Betriebsgebäude – stetig Umbauten, Anpas-
dene Bauweisen zu Ausführung; die grossen, weit
sungen oder Erneuerungen. Wie auch bei der
gespannten Übergänge wurden als Fachwerk-
Semmeringbahn wurde die Bergstrecke nachträg-
konstruktionen aus genietetem Schweisseisen
lich vom aufwändigen Dampf- auf elektrischen
ausgebildet. Der 16 km lange Scheiteltunnel war
Betrieb umgestellt und die mechanischen Signal-
lange Zeit der längste Tunnel der Welt. Bei jeder
anlagen mussten den nunmehr elektrischen wei-
Fahrt fasziniert die grossartige Linienführung bei
chen. Eine Auswahl an historischem Rollmaterial
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
418
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ist erhalten und wird anlässlich von Sonderfahrten
brücken ersetzt. Diese Brückenbauart war von
eingesetzt. 1992 hat das Schweizer Stimmvolk
zeitgenössischen Beobachtern höchst kontrovers
dem Bau zweier Basistunnels durch den Gotthard
rezipiert worden. Die Brücken der Albulabahn,
und den Lötschberg zugestimmt. Beim Lötsch-
die noch weitestgehend im Originalzustand erhal-
berg erfolgte der Durchstich im Jahre 2005, die
ten sind, waren demgegenüber von Zeitgenossen
Eröffnung des Tunnels ist auf das Jahr 2007 hin
als «vorbildlich an die Umgebung angepasst» he-
geplant. Der Gotthard-Basistunnel, der dereinst
rausgestrichen worden.
mit seiner Länge von 57 km der längste Eisen-
Bei der Gotthardbahn sind noch zahlreiche Hoch-
bahntunnel der Welt sein wird, soll im Jahre 2014
bauten original erhalten, wenn auch – wie bei in
eröffnet werden.
täglichem Betrieb stehenden Eisenbahnen üblich
– laufend Anpassungsmassnahmen erfolgten. Als
Vergleich
europäische Hochleistungsstrecke ist die Gott-
Die Eröffnung der Gotthardbahn erfolgte ein
hardstrecke von wesentlich anderem Charakter
Viertel Jahrhundert vor jener der Albula/Bernina-
als die Albula/Bernina-Linie. Der Weiterbestand
Linie. Der Kulminationspunkt der als normalspu-
der Gotthardbahn-Bergstrecke ist nach Eröffnung
rigen Transitbahn ausgelegten Gotthardbahn liegt
des Basistunnels (voraussichtlich 2014) beabsich-
deutlich tiefer als jener der schmalspurigen Albu-
tigt, ein definitiver Entscheid ist jedoch noch nicht
la-/Bernina-Bahn, welche der regionalen, jedoch
gefallen.
gebirgs- und länderübergreifenden Erschliessung
dient. Sowohl hinsichtlich dem bautechnischen
Schwierigkeitsgrad als auch der attraktiven Einbettung der Strecke in die Topografie ist die
Gotthardbahn mit der Albula/Bernina-Linie vergleichbar: Die Dichte an Kunstbauten – Tunnel,
Brücken, Einschnitte, Dämme – ist grundsätzlich
als sehr hoch einzustufen. Bei der Gotthardbahn
befand sich bis zur Errichtung des Simplontunnels zwischen der Schweiz und Italien (Eröffnung
1906) der längste Tunnel der Welt und erstmals in
der Schweiz kamen Spiraltunnel zur Anwendung.
Die teilweise dreifach übereinander liegende Linienführung ist wie bei der Albulabahn bis heute
eine grossartige Attraktion.
Die Trassierung ist original erhalten geblieben,
der Gleiskörper musste aufgrund der hohen Zugsfrequenzen immer wieder instandgesetzt und repariert werden. Insbesondere die zahlreichen und
für die ursprüngliche Gotthardbahn typischen
stählernen Fachwerkträger-Brücken wurden seit
den 1950er Jahren ausnahmslos durch Beton-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich
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3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
Eisenbahnen führen vielmals Fällen durch land-
als in Kulturlandschaften eingebettet.
schaftlich einzigartige Regionen – seien es nun
So werden hier dem internationalen Vergleich
Hochgebirge oder Industriezonen. Die spezi-
der umgebenden Kulturlandschaft des Albu-
fischen Verknüpfungen der Eisenbahn mit den
la/Bernina-Eisenbahnkorridors Ausführungen
jeweiligen (Kultur-)Landschaften wurden bis-
konzeptioneller Art sowie der Aufbau eines Un-
lang allerdings nur selten thematisiert. Es beste-
tersuchungsrasters mit einem Set an Analyseka-
hen einzelne überblicksartige Abhandlungen,
tegorien vorangestellt. Dennoch können die hier
wie etwa jene von Wolfgang Schivelbusch zum
angestellten Überlegungen nur einen Ausgangs-
Phänomen der Wahrnehmung während der Ei-
punkt für weiterführende internationale Diskus-
senbahnreise aus dem Jahre 1977, eine systema-
sionen bilden, welche von wissenschaftlichen
tische und klassifizierende Auseinandersetzung
Untersuchungen zum Themenkreis «Eisenbahn
mit dem Gegenstand bleibt ein Desiderat. So
und Kulturlandschaft» begleitet werden sollen.
wird etwa in der vorbildlichen und sehr umfassenden ICOMOS-Studie Railways as World Heritage Sites von 1998 zwar in Einzelfällen die
Von Landschaften, Kulturlandschaften und ...
Bedeutung der umgebenden Landschaft hervor-
Mit dem aufkommenden Tourismus in der zwei-
gehoben (Semmeringbahn, Darjeeling-Bahn),
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Auf-
der Aspekt der Landschaft findet allerdings
schwung der für den Reisenden bestimmten
keinen Eingang bei den dort aufgestellten Aus-
Seh- und Handlungsanleitungen, den Reisefüh-
wahlkriterien. In den drei Publikationen des
rern, findet eine Begriffsverschiebung von dem
deutschen ICOMOS-Nationalkommitees, welche
zuvor gebräuchlichen Wort «Gegend» hin zu
die Symposien Eisenbahnen und Denkmalpflege
«Landschaft» statt. Als «Landschaft» versteht
von 1990, 1992 und 1997 dokumentieren, fin-
man die ästhetisch, geordnet wahrgenommene
det sich lediglich ein grundlegender Beitrag zur
Umwelt. Die Landschaft erfordert distanzier-
Thematik Eisenbahn und Landschaft.
te Betrachtung sowie Reflektion und ist deshalb
Andererseits wird bei der Thematisierung von
dem Wandel von Weltanschauungen und Moden
Kulturlandschaft die Wirkung der Eisenbahn
unterworfen. Landschaft muss also vermittelt
selbst gänzlich ausgeblendet; dies, obwohl Bilder
werden, um gesehen und wahrgenommen zu wer-
von Landschaften, die von Eisenbahnen mit ge-
den. Die Vermittlung kann auf unterschiedliche
prägt wurden, teilweise als exemplarisch für das
Arten geschehen: literarisch, etwa durch Reise-
Verständnis von Kulturlandschaften herange-
führer oder Romane, mündlich, durch Überlie-
zogen werden. Dies steht ganz im Gegensatz zu
ferung, aber auch visuell, durch Illustrationen,
den Transportinfrastukturen der (Inlands-)Ka-
Ansichtskarten oder Werbeplakate. Bringen
näle, wie sie im Rahmen der International Canal
die Visualisierungen «Standardblicke mit Va-
Monuments List von ICOMOS umrissen wurden:
riationen» hervor, so bieten die speziell auf ei-
Kanäle formen Industrielandschaften und gelten
ne Eisenbahnfahrt abgestimmten Reisebücher
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Sichtstützen und visuelle Choreografien für den
gesellschaftlichen Aktivitäten geprägt, auch ihre
Blick aus dem Zugfenster an. Sie ermöglichen
Wahrnehmung wird durch ästhetische Bild- und
aber auch, das ansonsten einzigartige Wahr-
Vorstellungswelten vermittelt. Diese Konstruk-
nehmungserlebnis einer Eisenbahnfahrt zu ver-
tion dominanter Wahrnehmungsmodi von Land-
vielfachen: Schon vor der tatsächlichen Fahrt
schaft erfolgt durch bestimmte gesellschaftliche
kann – Reiseführer lesend oder Illustrationen
Interessensgruppen, die sich Landschaften als je-
betrachtend – eine imaginative Fahrt unternom-
weils spezifische Bilder aneignen».
men werden. Während der Fahrt werden dann
Ausgehend von dieser Definition wird im Fol-
die «richtigen» Blicke erhascht und so Szenerien
genden bei der Untersuchung von «Kulturland-
wieder erkannt. Nach der Fahrt kann auf gemein-
schaft» der Fokus in zweierlei Richtung gelegt:
same Bild- und Spracherinnerungen mit anderen
Auf der einen Seite steht die vom Menschen
Mitreisenden zurückgegriffen werden. Darüber
durch die verschiedenen Nutzungen veränderte
hinaus werden mit dem Vermittlungsprozess
Umwelt mit deren jeweiligen, die Landschaft
gleichermassen die verdeckten Leitvorstellungen
strukturierenden Elementen (agrikulturelle
und Motivationsstrukturen, Werte und Normen,
Nutzungen, Bauwerke usw.), auf der anderen
kurzum, die kulturelle Verankerung von Land-
Seite die Wahrnehmung und Rezeption der
schaft weitergegeben. In diesem Sinn zielt der
Landschaft (sowohl der Kultur- als auch der
Begriff Landschaft der Intention nach zwar auf
Naturlandschaft).
die natürliche oder auf die vom Menschen ge-
Die physische Beschaffenheit der Kulturland-
staltete Umwelt, erfordert aber vom Betrachter
schaft wird durch die Wirtschaftsweisen auf
gleichsam eine voreingenommene, eine «künst-
vielfältige Art und Weise geprägt. In Gebirgen
liche» Wahrnehmung derselben: die ästhetisierte
gilt die Kleinräumigkeit als zentrales Erken-
Wahrnehmung der Umwelt. In den letzten Jahr-
nungsmerkmal, in weitläufigen Regionen ist eher
zehnten wurde vermehrt zum Thema Landschaft
die «Wirtschaftslandschaft» anzutreffen, die
geforscht, was eine immer stärkere Differenzie-
gleichbedeutend mit Uniformität, Ausräumung
rung des Landschaftsbegriffes mit sich brachte:
von raumgliedernden Landschaftselementen und
Stadtlandschaften werden ebenso identifiziert
massiven nivellierenden Eingriffen des Men-
wie Agrarlandschaften oder Industrieland-
schen ist. Die kleinräumige Prägung der Kul-
schaften. All diese Landschaften werden zum
turlandschaft im Gebirge ergibt sich aus dem
Typus der Kulturlandschaft gezählt, die wieder-
Umstand, dass der Mensch hier bei der Boden-
um als Gegensatz zu den von Menschen nicht
nutzung die zahlreichen naturräumlichen Unter-
beeinflussten Naturlandschaften verstanden sein
schiede berücksichtigen und im Hinblick auf die
wollen. Der Kulturlandschaftsforscher Gerhard
Wahrung der ökologischen Stabilität gestalten
Strohmeier definiert Kulturlandschaft wie folgt:
musste. Eine unangepasste Wirtschaftsweise be-
«Kulturlandschaft entsteht durch natürliche und
deutete eine Erhöhung des geoökologischen Ge-
gesellschaftliche Prozesse. Aus bestimmten na-
fahrenpotentials (z.B. durch Hochwasser, Muren,
turräumlichen Gegebenheiten entwickeln sich
Lawinen).
durch gesellschaftliche Aneignung und Nutzung
Das den Kulturlandschaften zugrunde liegen-
natürlicher Dynamiken Kulturlandschaften.
de Raumbild wurde seit der Neuzeit von Europa
Nicht nur die Kulturlandschaft selbst wird von
ausgehend entwickelt. Im Zentrum der Imagi-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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nation von Raum steht das geistige Bild, nach
amerika in der Regel aus einer europäischen Per-
dem die reale Umwelt als «Landschaft» bewertet
spektive wahrgenommen.
wird. Diese geistigen Bilder bilden die Grundlage sowohl für die Entdeckung der Gebirge als
auch für die Transformierung der Wahrnehmung
... von Verkehrswegen
der Neuen Welt als «Wildnis» hin zu ihrer Wahr-
Bei Eisenbahnstrecken ist die umgebende
nehmung als «Landschaft».
Landschaft immer im Zusammenhang mit der
Die Alpen und deren «emblematischer Kern»,
Funktion der jeweiligen Eisenbahn zu sehen.
die alpine Landschaft, bilden auf Grund der viel-
Eisenbahnen als urbane Massentransportmit-
fältigen, ineinander greifenden kulturellen Ein-
tel sind in andere Landschaften eingebettet als
flüsse ein gemeinsames Gut europäischer Kultur.
Eisenbahnen mit touristischer Funktion oder
Der Alpenforscher Werner Bätzing leitet aus
Eisenbahnen zur Kolonisation von aussereuropä-
dem Kontrast der kleinräumig-abwechslungs-
ischen Regionen. Es gibt folgende Eisenbahnum-
reichen alpinen Kulturlandschaft und der sie
gebungen zu unterscheiden:
umgebenden Natur die touristische Anziehungs-
> wirtschaftlich genutzte Landschaften (Land-
kraft des Alpenraumes ab: Die Empfindung von
wirtschaft; Rohstoffe; Industrielandschaft)
«Schönheit» in Bezug auf die alpine Landschaft
> urbane Landschaften
hänge nur in eingeschränktem Masse von der
> vorgefundene Naturlandschaften (die Eisen-
Natur ab, sie verdanke sich vielmehr der Kul-
bahn kann eine ästhetische Wahrnehmung
turlandschaft, welche letztlich zumeist von den
der durchfahrenen Landschaft bewirken)
Bergbauern gestaltet wurde.
> schon vor dem Eisenbahnbau ästhetisch
In Nordamerika hingegen war bei Landschafts-
wahrgenommene Landschaften (z.B.
darstellungen die Natur Massstab und An-
touristisch).
spruch – eine Natur, welche aufbauend auf dem
christlichen Schöpfungsmythos als unberührter
Bei Eisenbahnen im Gebirge kommt der Wahr-
Urzustand, quasi als projizierte Wildnis zum
nehmung eine besondere Bedeutung zu: Die
Selbstbild Amerikas beitrug und welche die Wer-
ingenieurtechnischen Leistungen werden wohl
beindustrie bis heute zu nutzen weiss, wie etwa
bei keinem anderen Streckentyp unmittelbarer
das Beispiel der Marlboro-Reklame zeigt. Bis
sichtbar. Im Zusammenhang mit der «Roman-
ins 19. Jahrhundert allerdings war der Blick auf
tisierung» von Gebirgslandschaften wird der
die Neue Welt europäisch geprägt: So geschah
symbolische Wert der Technik noch erhöht
etwa die Wahrnehmung des Phänomens «Alpen-
– und damit einhergehend auch die symbolische
glühen» in der Sierra Nevada in Rekurs auf eu-
Bedeutung der die Eisenbahnstrecke umge-
ropäische Beispiele, was sich in der englischen
benden Landschaft. Nur aus dieser Kombina-
Benennung dieser Erscheinung als «alpenglow»
tion konnte der bis heute gängige Topos der
manifestiert.
Harmonie von Technik und Natur, bzw. der an
Im Zeitalter der Kolonisation und der damit ein-
die Landschaft angepassten Eisenbahnstrecke
hergehenden weltweiten Verbreitung der Eisen-
entwickelt werden. Dies zeigt sich besonders
bahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
prominent bei der Gattung der Eisenbahn-Post-
wurden Landschaften in Asien, Afrika und Süd-
karte, welche – neben grossen Bahnhöfen – in
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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erster Linie Gebirgsbahnen mit ihren Kunstbau-
eindrucksvollen Streckenabschnitten von Be-
ten darstellt.
ginn des Eisenbahnzeitalters an Vogelschau-An-
Im Falle der Postkarten von Gebirgsbahnen ist
sichten der Bahn erstellt. Ab der zweiten Hälfte
die umgebende Landschaft jeweils ein integraler
des 19. Jahrhunderts wurden auf landschaftlich
Bestandteil des Bildmotivs. Der Viadukt über die
reizvollen Strecken, zuerst in Europa (Alpen),
Kalte Rinne bei der Semmeringbahn (Österreich)
später auch in den USA, spezielle Aussichtswa-
mit der in der Tiefe gestaffelten Landschaft, bei
gen eingesetzt. Bis heute sind Panoramawag-
der Gotthardbahn (Schweiz) die Linienentwick-
gons im täglichen Einsatz (z.B. zwischen Wien
lung auf mehreren Ebenen bei Wassen, der Land-
und Zürich sowie zwischen Zürich und Mailand,
wasserviadukt der Albulalinie oder der Viadukt
auf transamerikanischen Strecken wie etwa der
bei Fontpédrouse des Train Jaune (Frankreich);
Canadian Pacific, zwischen Chur und Tirano
es sind dies allesamt «Standardansichten in Va-
[Bernina-Express] oder St. Moritz und Zermatt
riationen», der immer wiederkehrende Bildtopos
[Glacier-Express]).
ist die in die Landschaft eingebettete Brücke. Eine Brücke symbolisiert grundsätzlich etwas Verdenn auch, die Vermittlung zwischen Natur und
Analyseraster für einen Vergleich von Kulturlandschaften bei Eisenbahnen
Technik zu visualisieren. Darüber hinaus wer-
Neben den physischen Bedingungen von Kultur-
den bei Ansichten von Bahnen in Gebirgsland-
landschaften ist für die vergleichende Untersu-
schaften, die schon vor dem Bahnbau besiedelt
chung von grundlegender Bedeutung, auf welche
waren, besonders häufig Bauwerke wie Ruinen
Art die Kulturlandschaften wahrgenommen wer-
oder alte Kirchen in das Blickarrangement ein-
den, welche Komponenten betont und welche
gebunden. Damit wird die duale Bildsymbolik
vernachlässigt werden und welcher zeitlichen
von Natürlichem und Künstlichem zur Dreiheit
Entwicklung die Wahrnehmung unterworfen ist.
von Natur, Kultur und Technik erweitert, wobei
Am Beispiel der Semmeringbahn, der weltweit
die Technik als zeitgemässe Form von Kultur als
ersten Hochgebirgsbahn (vgl. Kap. 3.c.2), sei die
Kontrast zu den historischen kulturellen Bau-
zeitliche Entwicklung der Wahrnehmung exemp-
werken gesetzt wird.
larisch aufgezeigt: Schon im Jahr der Inbetrieb-
Eine andere Bildgattung greift die «panorama-
nahme, 1854, erfolgte eine «Romantisierung»
tische» Landschaftswahrnehmung, wie sie sich
der Bahnstrecke durch ästhetische Darstellun-
für einen Reisenden während der Zugsfahrt er-
gen in Form von Panoramen oder Einzelan-
gibt auf, um diese selbst zu fördern: Leporello-
sichten. Besonders deutlich wird sie bei einem
Alben mit Panoramen generierten im Gegensatz
Stich aus den frühen 1860er Jahren: Im (linken)
zum statischen Panorama eines Rundumblicks,
Bildvordergrund finden sich Versatzstücke von
wie er sich einem etwa von einem Berggipfel
Felstürmen im Stil des Elbsandsteingebirges so-
aus bietet und wie er in den im 19. Jahrhundert
wie aufragende Baumwurzeln, welche allesamt
beliebten gemalten Rundpanoramen aufge-
zur Steigerung des Natureindruckes eingesetzt
griffen wurde, von einem Standort ein lineares
wurden. Dieser visuelle Diskurs fand schliess-
Panorama entlang eines Streckenkorridors. In
lich seine Fortsetzung in der Konstatierung einer
Europa wurden von landschaftlich besonders
«harmonischen Einbettung der Eisenbahn in die
bindendes, die Intention solcher Bildfolgen ist
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Natur» ab den 1920er Jahren. Dabei wurden jedoch die – auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sichtbaren – grossen Schuttkegel aus der
Zeit des Bahnbaus gezielt ausgeblendet.
Der internationale Vergleich der Kulturlandschaft des Eisenbahnkorridors Albula/Bernina
mit jener anderer Eisenbahnkorridore soll im
folgenden entlang eines viergliedrigen Rasters
durchgeführt werden:
> Agrikultur: ist die wirtschaftliche Nutzung
des Bodens zur Gewinnung pflanzlicher
und/oder in weiterer Folge auch tierischer
Erzeugnisse (d.h. Weideflächen) auf der Basis von Veränderungen der vorgefundenen
Naturlandschaft.
> Bauwerke: sind materielle Manifestationen
zur Erfüllung von im weitesten Sinn gesellschaftlichen Bedürfnissen auf der Basis von
kleinsträumlichen bis grossräumigen Veränderungen (d.h. Einzelbauwerke bis städtische
Agglomeration).
> Transportwege: sind die Infrastrukturen
zur Ermöglichung des Transportes von Personen, Gütern, Energie sowie von Nachrichten auf der Basis der Bildung eines linearen
Korridors.
> Wahrnehmung: ist die Rezeption der Umwelt – sowohl der Natur- als auch der Kulturlandschaften – auf der Basis von ästhetischen
Kriterien, welche in weiterer Folge zur Schaffung von auf den Raum bezogenen Identitäten herangezogen werden (z.B. Heimat-,
Regional-, Nationalbewusstsein).
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Ozeanien, Ost- und Südasien
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Bauwerke
Die Baukultur entlang des Bahnkorridors
Yunnan-Bahn, Vietnam/China
zeichnet sich durch einen grossen Varian-
Die grenzüberschreitende Yunnan-Bahn führt
tenreichtum aus, die Spannbreite reicht von
von der vietnamesischen Hafenstadt Haipong
Gebäuden aus der Kolonialzeit bis hin zu tra-
zur Hauptstadt der chinesischen Provinz Yun-
ditionellen Bauten der einheimischen Bevöl-
nan, nach Kunming auf knapp 1’900 m ü.M.
kerung. In einzelnen Regionen wie in den
Die Strecke kann in zwei Abschnitte unter-
Bergbaugebieten Lao Cai und Gejiu ist die Kul-
teilt werden, die sich auch in landschaftlicher
turlandschaft von Industriebauten geprägt. Im
Hinsicht voneinander unterscheiden: Der in
Tal des Ta Tchen Ho in China sind es neben den
Vietnam liegende, entlang des Roten Flusses
Kunstbauten der Bahn die Überlandstrasse so-
verlaufende Streckenteil von Hanoi bis zu den
wie die zahlreichen Kleinkraftwerke zur Elek-
Grenzstädten Lao Cai (Vietnam), bzw. Hek-
trizitätserzeugung entlang des Flusses, welche
ou (China) ist als Talbahn zu charakterisieren.
die Gestalt der Gegend bestimmen. Das Tal des
Nach Hekou, wo der Anstieg auf das Hochpla-
Nam Ti, einem Seitenfluss des Roten Flusses,
teau von Kunming beginnt, weist die Strecke
ist ein schroffes Gebirgstal; hier nehmen die
die Merkmale einer Gebirgsbahn auf; die Linie
Bahnbauten, etwa mit der Gitterbrücke über
führt dort durch mehrere Täler und über zwei
die Pei Ho Schlucht eine dominierende Rolle
Pässe.
ein. Überhaupt prägt die Bahninfrastruktur das
durchfahrene Gebiet stark, vor allem durch die
Agrikultur
zahlreichen Brücken, seien es Stahlkonstrukti-
Die Eisenbahn durchfährt verschiedene Klima-
onen oder gemauerte Viadukte; umfangreiche
und damit auch Vegetationszonen. Dement-
Schutzbauen gegen Erdrutsche hingegen fehlen.
sprechend ist auch die agrikulturelle Prägung
Die Hochbauten zeugen in ihrer äusseren Ge-
der durchfahrenen Landschaft inhomogen. Im
stalt vom französischen Einfluss während der
Tiefland sowie im Tal des Roten Flusses do-
Kolonialzeit. Einzelne Stationsgebäude, wie
minieren weite Reisfelder und Plantagen (Ba-
beispielsweise in Kunming oder Kaiyuan, wur-
nanen) das Landschaftsbild. Die Grösse der
den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
landwirtschaftlich genutzten Flächen nimmt
durch Neubauten ersetzt.
ab, je höher die Bahn in die schroffen Gebirgsregionen vordringt. Die bewirtschafteten
Transportwege
Felder befinden sich hier nur mehr in unmit-
Der Ausbaustandard im Bereich der Transport-
telbarer Umgebung der (wenigen) Siedlungen,
wege gestaltet sich für die einzelnen Strecken-
die Landschaft ist entsprechend kleinräumig
abschnitte sehr unterschiedlich. Das Tiefland
strukturiert. Nach Erreichen des Hochpla-
sowie die Talstrecke entlang des Roten Flusses
teaus bei Kunming ändert sich, mit der nun-
sind verkehrsmässig gut erschlossen (Strassen,
mehr wieder weitläufigeren Landschaft, auch
Wege, aber auch Bootsverkehr auf dem Fluss).
deren agrikulturelle Nutzung und grössere
Vielfältig präsentiert sich die Situation im ge-
Felder prägen die unmittelbare Umgebung des
birgigen Abschnitt: In einzelnen, unbesiedelten
Eisenbahnkorridors.
Regionen bildet die Bahn den einzigen grös-
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Yunnan-Bahn > Zwischen PonoTou und dem Milati-Pass. Aufnahme 1988.
P. Withehouse
Yunnan-Bahn > Schleife in ein Seitental bei km 110.
Illustration aus HULOT FRÉDÉRIC: L’Indochine – le Yunnan (Les Chemins de Fer de la France d’OutreMer, vol. 1), St. Laurent du Var 1990.
Yunnan-Bahn > Stationsgebäude von Siu-KiaTou, um 1909. Illustration aus HULOT FRÉDÉRIC:
L’Indochine – le Yunnan (Les Chemins de Fer de la
France d’Outre-Mer, vol. 1), St. Laurent du Var 1990.
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seren Transportweg, während beispielsweise im
Die Yunnan-Bahn als koloniale Eisenbahn
Tal des Ta Chen Ho neben der Bahn auch noch
diente der Erschliessung des vietnamesischen
eine überregionale Strasse und elektrische Lei-
Hinterlandes sowie der südchinesischen Pro-
tungen der zahlreichen Flusskraftwerke existie-
vinz Yunnan. Die für Gebirgsbahnstrecken
ren. Das Hochland um Kunming ist wiederum
typischen Wechsel im Landschaftsbild sind
durch Wege und Strassen vielseitig erschlos-
auf den Umstand zurückzuführen, dass hier
sen. Im breiten Tal des Si Chan Ta Ho kurz vor
unterschiedliche Klima- und Vegetationsstu-
Kunming besteht neben der Yunnan-Bahn ei-
fen durchquert werden (von Meeresniveau
ne weitere Eisenbahnstrecke, die 1997 in Be-
bis 2026 m ü.M.). Die technisch schwierig zu
trieb genommene Normalspurlinie Kunming
bewältigenden Abschnitte und deren Überwin-
– Nanning.
dung (z. B. durch Brückenbauwerke) bilden die
Grundlage für die Wahrnehmung der durchfah-
Wahrnehmung
renen Umgebung als Kulturlandschaft.
Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der
Auf einzelnen Streckenabschnitten führen Erd-
Yunnan-Bahn wird geprägt von der schroffen
rutsche in Folge von ausgiebigen Regenfällen
Gebirgslandschaft und den in kolonialem Stil
immer wieder zu Betriebsunterbrüchen. Das chi-
gehaltenen Stationsbauten. Letztere werden auf
nesische Eisenbahnministerium hat jüngst den
Fotografien in der Regel als repräsentative Bau-
Willen bekundet, den Verkehr auf der schmal-
werke in Szene gesetzt, wobei die Gleisanlagen
spurigen Bahnstrecke zwischen Kunming und
und die Eisenbahn-Betriebsmittel wie Lokomo-
Hanoi auch nach dem Bau der geplanten Trans-
tiven und Waggons den Bildvordergrund prägen
Asia-Eisenbahnlinie von Kunming nach Singa-
(d.h. Bevorzugung der Bahnhofsansichten von
pur aufrecht zu erhalten.
der Gleisseite). Für die Rezeption der Bahninfrastruktur in der Gebirgslandschaft ist besonders
der Abschnitt im Tal des Nam Ti von Bedeutung:
Hier befinden sich verschiedene grössere Brücken zur Überquerung der tief eingeschnittenen
Seitentäler, so die Gitterbrücke über die Pei Ho
Schlucht bei km 112, die stählerne Trestle-workBrücke «pont es dentelles» bei km 83 und der
gemauerte Viadukt zur Überquerung des Nam
Ti-Tales bei km 135. Ansichten der Schleifen in
Seitentäler dienen als visualisiertes Zeugnis der
Überwindung des grossen Höhenunterschiedes
dieser Bahnstrecke. In beiden Beispielen von
Ansichten aus der Frühzeit dieser Eisenbahn ist
die Strecke mit den Bauwerken das kulturelle
Zeichen der Kolonisatoren, die «Signatur» in einer natürlichen Umgebung.
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Darjeeling-Bahn > Zugskomposition im
oberen Teil des «Batasia-Loops». Im Hintergrund rechts das Himalaya-Gebirge.
Aufnahme 2005.
A.M. Hurrel
Darjeeling-Bahn > Die Darjeeling-Bahn
wird im Gebirgsabschnitt entlang der
Strasse geführt.
H.P. Bärtschi
Darjeeling-Bahn > Eine Dampflokomotive des «Toy Train» wird mit frischem
Wasser versorgt.
M. Janich
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Süd- und Westasien
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des näheren Bahnumfeldes beinhalten auch gezielte Pflanzungen.
Darjeeling-Bahn, Indien
Die in Shiliguri (122 m ü.M.) startende Dar-
Bauwerke
jeeling-Bahn wurde als an der Strasse entlang
Die Bauwerke im Umfeld der Darjeeling-Bahn
führende Transportbahn für die schon damals
stammen vor allem aus der Kolonialzeit – da-
bedeutsame Teeindustrie im Bereich der bri-
zu gehört auch die Strasse, entlang derer die
tischen «Hill station» Darjeeling (2’076 m ü.M.)
Bahn angelegt ist. Doch auch die heimischen
errichtet. Die Bahn unterstützte den schon zu-
kulturellen Traditionen widerspiegeln sich im
vor eingeleiteten Prozess der verstärkten agri-
Bauwesen: In den Tallagen ist der Hinduismus
kulturellen Nutzung in der Region, bewirkte
vorherrschend, in der Region um Darjeeling der
also eine eigentliche Ausweitung der Kultur-
Buddhismus. Entsprechend finden sich unter-
landschaft daselbst.
schiedliche sakrale Bauwerke bzw. Monumente
Die Darjeeling-Bahn wurde im Jahr 1999 in die
im gesamten Einzugsgebiet der Bahn. Die Bahn
Welterbe-Liste der UNESCO aufgenommen.
selbst kommt fast ohne grössere Brücken oder
Die Kernzone der Stätte umfasst einen 0,61 m
Tunnel aus, ihre landschaftlich am stärksten
breiten und 87,48 km langen Streifen mit der
prägenden Bauten sind die in sich verschach-
Eisenbahnstrecke im Zentrum. Als Pufferzo-
telten Schleifen zur künstlichen Höhenentwick-
ne wurde ein Streifen von 3 m (bergseits), bzw.
lung (bei Chambatta; bei Tindharia; «Agony
5 m (talseits) Breite entlang des Bahnkorridors
Point»).
festgelegt.
Transportwege
Agrikultur
Um 1835, also knapp 50 Jahre vor Inbetriebnah-
Die von der Bahn durchfahrene Landschaft ist
me der Darjeeling-Bahn, fing die British East
sehr vielfältig. Im Flachland zwischen Shilig-
India Company mit dem Ausbau Darjeelings
uri und Sukna, durch das die Bahn auf ihren
zur «Hill station» an, wohin sich die Vertreter
ersten 10 km führt, wechseln sich grosse, land-
der Kolonialmacht im Sommer vor dem subtro-
wirtschaftlich genutzte Flächen (Plantagen) mit
pischen Klima in der Ganges-Tiefebene zurück-
urban geprägten Siedlungsräumen ab. Die Regi-
ziehen konnten. Damals begann auch der Bau
on zwischen Sukna und Rongtong (etwa 11 km
(und Ausbau) der Strasse vom Flachland nach
Länge) ist dicht bewaldet. Daran schliesst der
Darjeeling. Nach Fertigstellung der Bahnstre-
wieder vermehrt landwirtschaftlich genutzte
cke Kalkutta – Shiliguri im Jahre 1878 stieg der
Bereich bis Darjeeling an, wobei auf den letzten
Verkehr Richtung Darjeeling stark an. Die voll-
30 Streckenkilometern auch vermehrt Himala-
ständige Auslastung der Strasse führte schliess-
ya-Kiefern anzutreffen sind. Das Landschafts-
lich zum Bau der Eisenbahn in die inzwischen
bild entlang der Bahnlinie wird eindeutig von
schon etablierte Teeregion und Sommerfrische
den Teeplantagen dominiert. Der Streckenab-
Darjeeling.
schnitt zwischen Sukna und Mahanadi ist in
In Folge der verstärkten Motorisierung sowie
besonderer Weise von Schäden durch Unwetter
des Ausbaus der Strassen in der zweiten Hälf-
bedroht; die Massnahmen zur Stabilisierung
te des 20. Jahrhunderts wurden sowohl der
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Gütertransport als auch grosse Teile des Personentransports von der Bahn auf die Strasse
(Lastkraftwagen bzw. Autobus) verlagert. Die
Darjeeling-Bahn bildet heute in erster Linie einen zentralen Baustein bei der touristischen
Entwicklung der gleichnamigen Region.
Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der
Darjeeling-Bahn fokussiert auf drei zentrale
Aspekte: Erstens die aussergewöhnlichen Bahnbauten, wobei insbesondere die eisenbahntechnisch spektakulären Schleifen (loops) sowie die
Führung des Trassees entlang der Strasse von
zentralem Bildinteresse sind; zweitens das Panorama der schneebedeckten Himalaya-Berge
als Bildhintergrund; drittens die Teeplantagen
als Zeichen der kultivierten Landschaft.
Unter Einbezug des landschaftlichen Kontextes wird die kolonialistische Bedeutung der
Darjeeling-Bahn offenkundig: Der Bau der
Bahn führte zu einem Ausbau der in der betroffenen Region schon zuvor vorhandenen
Tee-Wirtschaft und damit letztlich zur Synonymie von «Tee» und «Darjeeling» in europäischen Ländern. Die Bahnerschliessung
bewirkte auch, dass die durch die British East
India Company eingerichtete «Hill station» in
Darjeeling vermehrt aufgesucht, der Tourismus
daselbst also angekurbelt wurde. Darüber hinaus verbindet die Bahn unterschiedliche kulturelle Regionen (Bergregionen-buddhistisch;
Flachland-hinduistisch).
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
430
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Nilgiri-Bahn, Indien
Das Erscheinungsbild der bis auf 2’637 m ü.M.
Die Nilgiri-Bahn von Mettuppalaiyam
hinauf reichenden Gebirgslandschaft in diesem
(326 m ü. M.) über Coonoor nach Udagaman-
Abschnitt wird aber auch von den Eukalyptus-
dalam (2’203 m ü.M.) wurde als Kolonialbahn
und Akazienwäldern geprägt.
zur wirtschaftlichen Erschliessung des Nilgiri-Gebirges gebaut. Mit dem Einzug der Bahn
Bauwerke
veränderte sich auch die Nutzung der umge-
Die Bauwerke entlang der Nilgiri-Bahn sind vor
benden Landschaft: Die höher gelegenen Orte
allem in der Kolonialzeit entstanden: Zu nen-
wurden von den Engländern in der heissen Jah-
nen sind Häuser im englischen Landhausstil
reszeit vermehrt als «Hill stations» genutzt,
(u. a. Steinhäuser), Hotels und die St. Stephen‘s
die Landwirtschaft wurde intensiviert (primär
Church in Udagamandalam. In Aravankadu be-
Teeplantagen) und in Aravankadu wurde eine
findet sich der einzige Industriebetrieb (Schies-
Schiesspulverfabrik (Kordit) errichtet.
spulverfabrik) im Korridor der Nilgiri-Bahn.
Die Nilgiri-Bahn wurde im Jahr 2005 zur
Darüber hinaus befand sich in Udagamandalam
UNESCO-Welterbestätte. Die Kernzone um-
zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein künstlich
fasst einen 8,5 m breiten und 45,88 km langen
angelegter See. Aufgrund der kostenextensiven
Eisenbahn-Korridor. Als Pufferzone wurde ein
Bauweise der Bahn sind grosse Bauwerke grund-
Streifen von durchschnittlich 25 m Breite beid-
sätzlich vermieden worden. Ausnahmen bilden
seits der Kernzone definiert.
einzelne Brücken und Viadukte, wie beispielsweise der «Adderley»-Viadukt in naturnaher
Agrikultur
Umgebung.
Die Landschaft entlang der Nilgiri-Bahn ist von
unterschiedlichen Nutzungen geprägt: Auf den
Transportwege
ersten rund 7 km bis Kallar überwiegen Planta-
Um 1820, also knapp 80 Jahre vor Inbetrieb-
gen (Palmen). Der danach folgende, rund 19 km
nahme der Eisenbahn, liessen sich die ersten
lange Gebirgsabschnitt bis Coonoor ist nahezu
Engländer in der Nilgiri-Region nieder. Damals
unbesiedelt und wegen der Steilheit des Gelän-
bestanden einfache Wege, auf denen der Trans-
des landwirtschaftlich nicht genutzt; auch die
port mit Mauleseln oder Ochsenkarren abgewi-
Wälder werden nicht bewirtschaftet. Zur Ge-
ckelt wurde. Die ersten Pläne einer Eisenbahn
währleistung eines sicheren Eisenbahnbetriebs
von Mettupalaiyam nach Coonoor datieren aus
wurden im näheren Umfeld der Bahnstrecke ge-
der Mitte der 1870er Jahre, jedoch sollte es noch
zielt Drainagen angelegt und rutschgefährdete
bis zu Beginn der 1890er Jahre dauern, bis mit
Hänge durch Aufforstungen stabilisiert. Im rund
dem Bau der Bahn begonnen werden konnte.
18 km langen Abschnitt zwischen Coonoor und
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte der ver-
Udagamandalam ändert sich das Landschafts-
stärkte Ausbau der Strassen in der Nilgiri-Re-
bild wieder in Richtung verstärkter Nutzungen
gion, was letztlich auch eine Verlagerung der
durch den Menschen. Seit Inbetriebnahme der
Gütertransporte von der Schiene auf die Strasse
Eisenbahn entstanden hier insbesondere Tee-
mit sich brachte.
und Kaffeeplantagen, es wurden aber auch
Flachs, Hanf, Kartoffeln und Obst angebaut.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Nilgiri-Bahn > Eine Zugskomposition
beim Verlassen von Kallar. Aufnahme
2005.
A.M. Hurrel
Nilgiri-Bahn > Dampfzug auf dem
Zahnstangenabschnitt der Linie.
A.M. Hurrel
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der
Nilgiri-Bahn wird von der «Wildheit» des Abschnittes von Kallar bis Coonoor sowie vom Panorama des höher gelegenen Teilstücks zwischen
Coonoor und Udagamandalam bestimmt. Schon
kurz nach ihrer Inbetriebnahme wurde die Eisenbahn von den Ureinwohnern der Nilgiri-Region, den Todas, in deren Liedgut aufgenommen.
Die Nilgiri-Bahn im Kontext der umgebenden
Landschaft verweist in erster Linie auf den kolonialistischen Einfluss: Nach dem Bau der Bahn
wurde die Landwirtschaft ausgebaut und rationalisiert (Teeplantagen), Sommerhäuser errichtet
und mit einer Schiesspulverfabrik die erste Industrieanlage der Region errichtet. Die Bahn zog
eine starke Binnenmigration von Menschen aus
dem Flachland nach sich. Schon kurz nach Inbetriebnahme fand die Bahn Eingang in das Liedgut der Ureinwohner.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Eritrea-Bahn > Die Linienführung
ermöglicht spektakuläre Einblicke
in die Gebirgslandschaft.
H. Hufnagel
Eritrea-Bahn > Bedingt durch die
geographische Lage, ist die durchfahrene Landschaft meist karg.
H. Hufnagel
Eritrea-Bahn > Zugskomposition
vor der Einfahrt in Tunnel 26 ,kurz
vor Asmara. Aufnahme 2005.
H. Hufnagel
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Afrika
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Insbesondere in den gebirgigen Regionen wurden für die Bewirtschaftung des Bodens Terras-
Eritrea-Bahn, Eritrea
sen (mit Trockenmauern) angelegt.
Von der Hafenstadt Massaua am Roten Meer
führt die 1911 in Betrieb genommene schmalspu-
Bauwerke
rige Eisenbahn in die eritreische Hauptstadt As-
Entlang des Bahnkorridors finden sich verschie-
mara im Abessinischen Hochland (2343 m ü. M.;
denste Bauwerke, wovon allerdings vor allem
ab 1897 Sitz der italienischen Kolonialverwal-
jene aus der Kolonialzeit auffallen. Neben den
tung). Der Bahnbau wurde in der Folgezeit west-
Bahnhöfen und Stationen im europäischen Ko-
wärts Richtung Sudan weitergetrieben; 1932
lonialstil sind dies auch die Bahnbetriebsgebäu-
eröffnete man die Strecke bis ins rund 220 km
de (Lokomotivdepots und Werkstätten), aber
entfernte Biscia, die sudanesische Grenze konn-
auch Klöster (z.B. bei Debre Bizen) und religiöse
te allerdings nie erreicht werden. 1940 wurde der
Bauwerke (z.B. katholischer Dom in Asmara,
Eisenbahnbetrieb im 31 km langen Abschnitt
vollendet 1917; Moschee in Nefasit). Koloniale
zwischen Akordat und Biscia wieder eingestellt.
Verwaltungsbauten in Asmara sowie die kunst-
Während des 30 Jahre dauernden Unabhängig-
voll dekorierten Handelsgebäude in der Hafen-
keitskrieges wurde die Eisenbahnstrecke weitge-
stadt Massaua sind an dieser Stelle ebenfalls zu
hend zerstört, konnte aber nach Kriegsende 1993
erwähnen. In abgelegeneren Regionen finden
wieder aufgebaut und ab 2001 erneut in Betrieb
sich im Umfeld des Eisenbahnkorridors auch
genommen werden.
Lehmhäuser (z.B. im Tal des Mai Atol).
Die Bahn hat neben den genannten Gebäuden
Agrikultur
auch zahlreiche Brücken und steinerne Viadukte
Die Eritrea-Bahn führt in weiten Teilen durch
in die Landschaft eingefügt. Einige von ihnen
eine karge Landschaft. In ihrem Einzugsgebiet
wurden im Bürgerkrieg zerstört und Mitte der
gibt es keine Industrie und auch kaum Land-
1990er Jahren wieder aufgebaut. Einzelne, durch
wirtschaft; die Bahn diente in erster Linie der
den Bürgerkrieg ebenfalls zerstörte Eisenbahn-
Versorgung Asmaras. Der Gütertransport wird
gebäude wurden jedoch nur bedarfsmässig er-
heute mit Lastkraftwagen auf der Strasse abge-
setzt, so etwa das Lokomotivdepot in Massaua,
wickelt. Der erste Streckenabschnitt führt von
das mit Wellblech wieder aufgebaut worden ist.
der Hafenstadt Massaua durch die Wüste bis
zum Fuss des Abessinischen Hochlandes bei Ne-
Transportwege
fasit. Daran anschliessend windet sich die Bahn
Die Eisenbahn führt von einem Hafen (Massaua)
durch karge Gebirgstäler schleifenförmig bis
ins gebirgige Hinterland. Im Umfeld der Sied-
zum höchsten Punkt auf 2’412 m ü.M. empor und
lungen ist die Landschaft von einem Wegnetz
erreicht kurz danach die Hauptstadt Asmara.
durchzogen, welches in erster Linie der klein-
Landwirtschaft wird in erster Linie in der nächs-
räumigen Erschliessung dient (nur in wenigen
ten Umgebung der wenigen Siedlungen betrie-
Fällen befahrbar). Hinsichtlich der verkehrsmäs-
ben, sie ist kleinräumig strukturiert und dient in
sigen Erschliessung des Eisenbahnkorridors ist
der Regel der Selbstversorgung, ausser in den
insbesondere die inzwischen asphaltierte Strasse
noch flachen Tälern am Rande des Hochlandes.
von Massaua nach Asmara von überregionaler
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Bedeutung, auf der sowohl regelmässiger Per-
Streckenentwicklung geprägt. Ein Bild der Eri-
sonen- als auch Güterverkehr (Autobusse und
trea-Bahn ziert den eritreischen Geldschein im
Lastkraftwagen) abgewickelt werden.
Wert von 10 Hakfa.
Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der die Bahn umgebenden
Landschaft wird weitgehend durch Kargheit geprägt, doch auch vereinzelte Eukalyptuswälder,
wie in der Region zwischen dem Pass und Asmara, bestimmen das Bild. Der gebirgige Abschnitt zwischen Ghinda und Asmara wird als
«Darjeeling of Africa» apostrophiert. Im Zentrum der Visualisierung stehen die schleifenförmige Linienführung sowie Motive der Bahn mit
«standardisierten» Vogelschau-Perspektiven in
den rund 1000 m tiefer gelegenen Talboden. Das
Bild des vierzehnbogigen Viaduktes über den
Trockenfluss Obel («Torrent») ziert den eritreischen Geldschein im Wert von 10 Hakfa. Dieser
steinerne Viadukt wurde im Bürgerkrieg teilweise zerstört, Mitte der 1990er Jahre aber wieder
aufgebaut
Die eritreische Eisenbahnstrecke vom Hafen Massaua nach Asmara (und weiter nach
Akordat) hat eindeutig eine kolonialistische
Ausrichtung; ihre Planung begann 1897 mit der
Verlegung des Sitzes der italienischen Kolonialverwaltung ins Hochland nach Asmara. Die
von der Eisenbahn durchfahrene Landschaft ist
stellenweise naturnah und kaum berührt (Wüstenstreifen; unzugängliche Gebirgsbereiche),
ansonsten aber durch die Kulturtätigkeit des
Menschen geprägt (Siedlungen, religiöse Bauwerke, in geringerem Mass auch agrikulturell
genutzte Landschaftsabschnitte). Die Wahrnehmung dieser Eisenbahnstrecke – in ihrem spektakulärsten Teil auch als «Darjeeling of Africa»
bezeichnet – wird durch schroffe Gebirgslandschaften, Tiefblicke und Schleifenführung der
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Südamerika
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schaftlicher Nutzung geprägt, welche sich durch
weitläufiges Weideland als auch kleinräumig ge-
Guayaquil & Quito Railway, Ecuador
gliederten Ackerbau auszeichnet.
Der ecuadorianische Guayaquil & Quito Railway führt vom Pazifikhafen Guayaquil zu der
Bauwerke
im Hochland gelegenen Landeshauptstadt Qui-
Die Bauwerke entlang des Bahnkorridors wei-
to (2’817 m ü.M.). Der Bau der Bahn nahm eine
sen einen grossen Variantenreichtum auf: Ge-
aussergewöhnlich lange Zeit in Anspruch: Be-
mauerte Gebäude aus der Kolonialzeit (z.B.
gonnen 1871, konnte sie erst im Jahr 1908 den
Quito, Yaguachi) finden sich ebenso wie ein-
durchgehenden Betrieb aufnehmen. In den ver-
einhalb Meter über dem Boden stehende
gangenen Jahrzehnten wurden auf der ganzen
Holzhütten in dem immer wieder von Über-
Strecke sukzessive einzelne Abschnitte einge-
schwemmungen heimgesuchten sumpfigen Tief-
stellt oder gar durch Strassen überbaut. Heute
land. In der Region um Alausi, wo im Tagbau
sind nur mehr Teilstücke für touristische Zwe-
Schwefel gewonnen wird, befinden sich das
cke in Betrieb, darunter auch der technisch
Landschaftsbild prägende Bergwerke.
anspruchsvolle Abschnitt im Bereich der «Teu-
Zahlreiche Städte werden von der Bahn direkt
felsnase». Jüngste Entwicklungen deuten auf ei-
durchfahren, die Bahn ist dort sehr unmittelbar
ne Reaktivierung der Eisenbahn in Ecuador hin.
in die Stadtlandschaft integriert. Jedoch wurden viele dieser Abschnitte seit Ende der 1990er
Agrikultur
Jahre kurzfristig demontiert, so beispielswei-
Die Eisenbahn durchfährt zahlreiche Klima-
se in Milagro oder Ambato. Ansonsten trägt
und damit auch verschiedene Vegetationsstufen.
die Eisenbahn in erster Linie mit der spekta-
Im ersten Abschnitt, dem teilweise sumpfigen
kulären Streckenführung in den Gebirgstälern
Tiefland um Guayaquil, prägen Plantagen (Reis,
(Spitzkehren bei der «Teufelsnase») zur Kul-
Zuckerrohr, Kakao, Kaffee und Bananen) das
turlandschaft bei. Die kleinen Brücken an der
Landschaftsbild. Mit dem Erreichen der Kor-
Strecke sind als Stahlbauten ausgeführt. Die
dilleren erfolgt der Wechsel zu kleinräumig ge-
Betriebsgebäude bestehen aus Holz oder Stein,
gliederten, gemischt genutzten Landschaften
viele von ihnen wurden – auch in jüngster Zeit
(Weide, Wald, Ackerbau). In den Gebirgstälern
noch – durch Neubauten ersetzt. Der hölzerne
geht die landwirtschaftliche Nutzung auf ein
Bahnhof von Duran trägt zum Gedenken an den
Minimum zurück und wird nur kleinsträumig
ehemaligen Präsidenten von Ecuador den Na-
im nächstem Umfeld der Besiedlungen betrie-
men Eloy Alfaro (im Amt zwischen 1895 – 1901
ben. In den höchsten von der Bahn erreichten
sowie 1906 – 1911; unter seiner Regentschaft
Lagen – der Kulminationspunkt der Bahn liegt
wurde die Bahn nach Quito fertiggestellt). Auf-
auf 3’609 m ü.M. – finden sich aufgrund der Tro-
grund der Bedeutung des Namensgebers wurde
ckenheit sowie der Bodenbeschaffenheit (Treib-
das Bahnhofsgebäude jüngst von der Regierung
sand und Vulkanasche) keine agrikulturellen
zum nationalen Monument erklärt. Damit konn-
Nutzungen. Im Hochland um Quito hingegen ist
te ein Abbruch verhindert werden, obwohl die
das Klima mild und der Boden sehr fruchtbar.
Bausubstanz als schlecht bezeichnet werden
Deshalb ist diese Region stark von landwirt-
muss.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Guayaquil & Quito Railway > Touristenzug
kurz vor der spektakulären Passage an der
«Teufelsnase».
V. Barnes
Guayaquil & Quito Railway > Verzweigung
in der Nähe von Alausí.
unbekannt
Guayaquil & Quito Railway > Abschnitt
bei der «Teufelsnase», wo die Bahn mittels
Spitzkehren an Höhe gewinnt. Illustration
aus FEUEREISSEN G.: Dampf über Südamerika. Die letzten Dampflokomotiven
im Regeldienst zwischen dem Äquator und
Kap Horn, München, 1990.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Transportwege
prägten das Bild der Kulturlandschaft rund um
Insbesondere in den gebirgigen Regionen besteht
die Bahnstrecke. Insbesondere die technisch
das Wegnetz im Umfeld der Bahn aus nicht be-
schwierigen, mit Spitzkehren bewältigten Ab-
fahrbaren Saumpfaden. Überregional erfolgte in
schnitte im schroffen, kargen Gebirge machten
den vergangenen Jahrzehnten der massive Aus-
diese Strecke weltweit bekannt. Die beiden Mo-
bau des ecuadorianischen Strassennetzes. Di-
mente, im Topos der technischen Bezwingung
es hatte Auswirkungen auch auf die Bahn: Der
der Umwelt gebündelt, haben auch touristisch ei-
Rückgang der Fahrgäste und der beförderten Gü-
ne grosse Bedeutung; so sind es eben diese spek-
ter führte zur Stillegung einzelner Streckenab-
takulärsten Streckenteile, auf denen heute noch
schnitte, wo das Bahntrassee in der Folge für den
ein – touristischer – Betrieb aufrechterhalten
Strassen(aus)bau verwendet wurde. Der öffent-
werden kann. Wo die Bahn die Strasse durch die
liche Personenverkehr zwischen der Hauptstadt
Orte mit benutzte, wurde der Betrieb eingestellt
Quito und Guayaquil wird heute mit Flugzeugen
und das Trassee für den (Aus)bau der Strassen
oder Autobussen abgewickelt, der Güterverkehr
herangezogen.
mit Lastkraftwagen.
Wahrnehmung
Bei der Wahrnehmung der Landschaft entlang
des Guayaquil & Quito Railway stehen zwei Motivgruppen im Vordergrund: die Bergregion im
Bereich der «Teufelsnase» sowie die Gegend um
den 6’267 m hohen Vulkan Chimborazo. Während das «Teufelsnase»-Motiv auf die Überwindung der naturräumlichen Schwierigkeiten der
steilen und schroffen Gebirgstäler durch die Eisenbahn verweist (Spitzkehren zur Überwindung
eines grossen Höhenunterschiedes auf geringer
Distanz bei hohen und sehr steilen Talhängen),
erfolgt im zweiten Fall der Rückgriff auf die
Bildstrategie des schneebedeckten Berges als
Symbol der nahtlosen Eingebundenheit in eine
ästhetisch wahrgenommenen Naturlandschaft.
Der Guayaquil & Quito Railway ist nur mehr in
einzelnen Abschnitten in Betrieb. In seiner Gesamtlänge quert er diverse Klima- und Vegetationszonen (von Meeresniveau bis 3’609 m ü. M.),
die von ihm durchfahrenen Landschaften werden
in unterschiedlich starkem Masse vom Menschen
genutzt. Plantagen, Felder, aber auch Bergbau
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Cumbres & Toltec Scenic Railway > Dampfzug beim «Windy Point» hinter
dem Cumbrespass.
N. Holmes
Cumbres & Toltec Scenic Railway > Animas Canyon bei Silverton auf
2’800 m ü.M.
P. Gloor
Cumbres & Toltec Scenic Railway > Die Naturlandschaften machen den
besonderen Reiz der CumbrespassRoute aus.
N. Holmes
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Nord- und Mittelamerika
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Ortschaften gruppierte Bauten aus lokalem Stein
(z.B. Lavastein bei Antonito) oder Holz, umfang-
Denver & Rio Grande Railroad (bes. Cumbres & Toltec Scenic Railway), USA
reiche Bergwerksanlagen und verarbeitende In-
In den Rocky Mountains im Westen der USA
Jahrhunderts begannen Bergwerke die Förde-
wurde von der Bahngesellschaft Denver &
rung von Uranerzen.
Rio Grande Railroad ab den 1870er Jahren bis
Die schon bei den seit der Mitte des 19. Jahr-
1929 ein mehr als 2’500 km langes schmalspu-
hunderts verstärkt in Reservate abgedrängten
riges Streckennetz errichtet. Die südliche, über
Ureinwohnern der Region (Utes und Apachen)
300 km lange Strecke verbindet Antonito mit
bekannten heissen Quellen in Pagosa Springs
Durango und verläuft über den 3’053 m hohen
wurden 1880 zu Staatseigentum erklärt und ei-
Cumbrespass in den San Juan Bergen. Die Er-
ner touristischen Nutzung zugeführt. Die dort
öffnung dieser Strecke erfolge 1880 (bis Chama),
errichteten Badehäuser erfreuen sich noch heute
bzw. 1881 (bis Durango), nur kurze Zeit nach-
– auch wegen der therapeutischen Wirkung des
dem – Ende der 1870er Jahre – eine Fahrstrasse
Wassers – grosser Beliebtheit.
über den Pass errichtet worden war. Heute ist sie
Die Eisenbahn selbst trägt im Streckenabschnitt
in grossen Teilen eingestellt; ein rund 112 km
Alamosa – Durango in erster Linie mit den un-
langes Teilstück zwischen Antonito und Chama
terschiedlich gestalteten Betriebsgebäuden, aber
wird temporär als Museumsbahn betrieben.
auch mit der Streckenführung über den Cumb-
dustrien (z.B. in Durango). Ab der Mitte des 20.
respass (teilweise Talschleifen) zur KulturAgrikultur
landschaft bei; dazu kommen einzelne eiserne
Die Eisenbahn verläuft durch eine dünn be-
Bahnbrücken (insbesondere «Trestle-Work»
siedelte und teilweise schroffe Gebirgsregi-
- Fachwerkträger, z.B. Cascade Creek, Loba-
on in der Höhenlage zwischen rund 2’000 und
to Trestle) wie auch der Streckenabschnitt bei
3’000 ­ m ü. M. Agrikulturelle Nutzungen sind
der Toltec Schlucht. Beim westlichen Portal des
nur spärlich anzutreffen. Die Regionen bei Ala-
Toltectunnels befindet sich ein Gedenkstein für
mosa und Durango zeichnen sich durch Trocken-
den US-Präsidenten James A. Garfield aus dem
heit aus und sind nur gebietsweise für Ackerbau
Jahr 1881, der im gleichen Jahr ermordet worden
geeignet. Vereinzelt finden sich, auch in höheren
war.
Lagen im Passgebiet, Weideflächen; sie ermöglichen eine bescheidene Tierzucht (Schafe, Rin-
Transportwege
der). Im Passbereich selbst überwiegen Wälder;
Schon vor Ankunft der Siedler in der zweiten
diese sind stellenweise von Graslandflächen
Hälfte des 19. Jahrhundert dürften Verbindungen
durchbrochen.
über den Cumbrespass bestanden haben und
zwar in Form von Saumpfaden. Mit der Inbe-
Bauwerke
sitznahme des Landes durch die Siedler erfolgte
Die Bauwerke entlang der Bahn zeugen von
auch die industrielle Erschliessung der Region
der Inbesitznahme des amerikanischen Wes-
(Bergwerke). Für die Zeit vor 1876 gibt es keine
tens durch weisse Siedler im Gefolge des Silber-
Hinweise für einen befahrbaren Weg über den
Booms in den späten 1870er Jahren: kleine, zu
Cumbrespass. Danach wurde eine Strasse ange-
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legt und kurze Zeit später, zu Beginn der 1880er
vollen Gegenden.
Jahre, erfolgte der Bau der Eisenbahn durch die
Durch diese gezielt propagierte Wahrnehmung
Naturlandschaft. In den 1950er Jahren wurde die
der natürlichen Landschaft entlang der Eisen-
Eisenbahnstrecke und mit ihr auch der reguläre
bahnstrecke tritt die Rezeption kulturland-
Personen- und Güterverkehr stillgelegt. Nur der
schaftlicher Elemente (etwa agrikulturelle oder
landschaftlich eindrucksvollste Abschnitt zwi-
industrielle Nutzungen) in den Hintergrund. In
schen Antonito und Chama konnte – als reine
den 1950er Jahren erfolgte die Einstellung wei-
Tourismusbahn – erhalten werden.
ter Streckenabschnitte der Denver & Rio Grande
Railroad und teilweise zeugen nur noch Ein-
Wahrnehmung
schnitte und Dämme von der ehemaligen Bahn-
Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der
linie. Der Streckenteil über den Cumbrespass
Cumbrespass-Route (wie der gesamten Den-
wird derzeit im Sommer als Tourismusbahn mit
ver & Rio Grande Railroad) ist von der Natur
Dampflokomotiven betrieben.
geprägt: grosse markante Felsformationen, die
Pflanzenvielfalt und die Farbenpracht im Wechsel der Jahreszeiten. Demgegenüber werden
die die Naturlandschaft verändernden Bergwerke (besonders deren Schuttkegel des tauben
Gesteins) sowie die landwirtschaftlichen Nutzungen erst an zweiter Stelle in die Wahrnehmung eingebunden. Die ästhetische Bedeutung
der Landschaft für die Eisenbahn spiegelte sich
von Beginn an beispielsweise im Logo der Bahngesellschaft wieder. Der Zusatz «Scenic Line of
the World» avancierte zum Markenzeichen und
in weiterer Folge wurde der Name Denver & Rio
Grande Railroad zum Synonym für eine Eisenbahn in einer «schönen» (Natur-)Landschaft. Die
Strecke Dunedin – Cromwell in Neuseeland etwa wird als die «Denver & Rio Grande» der südlichen Hemisphäre apostrophiert.
Die Denver & Rio Grande Railroad mit ihrer
Überquerung des Cumbrespasses ist der Prototyp einer Eisenbahnstrecke, bei der von Beginn
weg die Wahrnehmung der von der Eisenbahn
durchfahrenen Naturlandschaft als Markenzeichen eingesetzt wurde. Als «Scenic Line of the
World» wurde sie weltweit zum Vorbild für den
Bau von Eisenbahnen in landschaftlich reiz-
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Europa (exkl. Schweiz)
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aufgelassene Äcker. Mit dem Erreichen der zentralpyrenäischen Hochlagen wandelt sich das
Train Jaune, Frankreich
Bild grundlegend: Im Boden der hier wesentlich
Der elektrisch betriebene Train Jaune ver-
breiteren Täler findet sich neben Weidewirtschaft
bindet das Roussillon mit der Region um das
auch Ackerbau und vereinzelt gar Obstbau.
Hochplateau der Cerdagne im östlichen Teil
Erst an den höheren Hanglagen beginnen ge-
der französischen Pyrenäen und führt von Vil-
schlossene Wälder. Die niedrigen Steinmauern,
lefranche (415 m ü.M.) nach La Tour-de-Carol
mit denen in den Hochlagen (insbesondere bei
(1’230 m ü. M.). Der Streckenkorridor verbindet
La Tour-de-Carol) die Weideflächen und Feld-
die beiden transnationalen Eisenbahn-Fernlinien
er eingegrenzt sind, weisen auf kleinräumige
Toulouse – Barcelona (Puymorens Trans-Py-
landwirtschaftliche Eigentums- und Nutzungs-
renäenlinie) und Montpellier – Barcelona (von
strukturen hin.
Perpignan nach Villefranche führt eine normalspurige Linie). Von besonderer Bedeutung für
Bauwerke
die Erschliessung der Region sind die seit der
Die Bauwerke entlang des Train Jaune entstam-
römischen Zeit bekannten Thermalquellen, de-
men unterschiedlichen Epochen: Die Reste mit-
ren therapeutische Wirkung besonders ab der
telalterlicher Wehrarchitektur, wie sie vor allem
Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen von Kur-
im Tal der Têt anzutreffen sind (z. B. Citadelle
aufenthalten genutzt wurde. Auch für Luftkuren
Mont Louis; zwei Türme der «El Bastida Nova»)
schienen die zentralpyrenäischen Hochlangen
weisen auf die Bedeutung der Region als Grenz-
besonders geeignet.
land hin. Mit dem Aufkommen des Tourismus
wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gleich-
Agrikultur
zeitig mit dem Bahnbau, mondäne Grosshotels
Die Eisenbahn verbindet Regionen mit unter-
wie beispielsweise jene in Font Romeu errich-
schiedlicher klimatischer Ausprägung – von
tet. Die Eisenbahn selbst trägt vor allem mit ih-
mediteranem Klima bis zum Gebirgsklima.
ren grossen Brücken – der Hängebrücke bei La
Dementsprechend fallen auch die agrikulturellen
Cassagne sowie dem zweistöckigen Viadukt bei
Nutzungen entlang der Strecke höchst unter-
Fontpédrouse– sowie dem Stausee Bouillouses
schiedlich aus. Im normalspurigen Streckenab-
(für die Elektrizitätserzeugung zur Versorgung
schnitt zwischen Perpignan und Villefranche
der Eisenbahn) wesentlich zur Wahrnehmung
überwiegen landwirtschaftliche Nutzflächen, vor
der Landschaft als Kulturlandschaft bei.
allem der Obst- und Weinanbau. Von Villefranche bis zum Scheitelpunkt auf dem Perchepass
Transportwege
– dem höchsten ganzjährig auf Schienen erreich-
Neben dem im 20. Jahrhundert ausgebautem
baren Punkt in Frankreich (1’592 m ü.M.) – führt
Strassennetz prägt die Eisenbahn die Land-
die Eisenbahn durch das Tal des Flusses Têt. Die
schaft nachhaltig, nicht nur mit den erwähnten
Landschaft dort wird durch ausgedehnte Laub-
Brücken, sondern auch mit den Anlagen der
wälder beherrscht, in der näheren Umgebung
technischen Ausrüstung der Strecke: Wäh-
von Siedlungen sowie an klimatisch geeigneten
rend die seitlich des Gleiskörpers angebrachte
Stellen (Südhänge) finden sich auch Wiesen und
Stromschiene im Vergleich zu den im heutigen
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
443
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Train Jaune > Hängebrücke bei La
Cassagne. Aufnahme um 2000.
UTBM
Train Jaune > Streckenverlauf in
der Region Cerdagne. Aufnahme
um 2000.
UTBM
Train Jaune > Brücke über den
Fluss Têt in der Nähe von Villefranche. Aufnahme 2002.
UTBM
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
444
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Eisenbahnbetrieb üblichen Oberleitungen im
Burgen und Ruinen sowie ein künstlicher Stau-
Landschaftsbild eher zurücktritt, so markieren
see zur Energiegewinnung für den Bahnbetrieb
die Stromzuleitungen vom Kraftwerk zur Bahn-
zeigen das breite Spektrum an den die Kultur-
linie einen zusätzlichen Transportkorridor. Aus
landschaft konstituierenden Bauwerken. Die
Sicherheitsgründen erfordert die niedrig liegen-
agrikulturellen Nutzungen haben sowohl in der
de Stromschiene die weitestgehende Absperrung
Cerdagne als auch in der Rousillon eine land-
des Bahnkorridors durch Maschendrahtzäune.
schaftsprägende Wirkung. Zeitgleich mit dem
Durch diese rigide Trennung wird eine wohl ein-
Bahnbau wurde in der Gegend die touristische
zigartige Gliederung des Landschaftsraumes
Entwicklung angestossen, was sich in der Prä-
bewirkt. Weitere landschaftsprägende Elemente
senz von Grosshotels manifestiert. Die Eisen-
wie die langen Druckrohrleitungen, Stauseen
bahn selbst wurde schliesslich wesentlich zur
und Kraftwerks-Maschinenhäuser sind ein Ab-
Identitätsbildung der Menschen in der Cerdagne
bild dessen, was in der Frühzeit des elektrischen
herangezogen.
Eisenbahnbetriebes notwendig war: grosse Höhenunterschiede innerhalb kurzer Distanzen für
die Anlage von den Kraftwerken zur Erzeugung
der elektrischen Energie,
Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der Landschaft entlang des
Train Jaune wird von den Siedlungen, den Befestigungsanlagen der Grenzregion sowie den
schneebedeckten Bergen der Pyrenäen geprägt.
Von der Eisenbahnlinie selbst bilden die beiden
grösseren Brücken in der bewaldeten Landschaft
ein beliebtes Sujet. Insbesondere der zweistöckige Viadukt bei Fontpédrouse gilt als Markenzeichen der Bahnlinie und wurde beispielsweise
auch auf Briefmarken abgebildet. Aufgrund der
Lage in der französisch-spanischen Grenzregion wirkt der Train Jaune auch identitätstiftend
– insbesondere erfolgte seine Einbindung bei der
Ausformung der katalanischen Identität in der
Region Cerdagne.
Die Kulturlandschaft entlang des Train Jaune ist
besonders vielfältig; dies erklärt sich einerseits
aus dem Umstand, dass verschiedene Klimazonen durchfahren werden, andererseits aus dem
Traditionsreichtum der Region. Thermalquellen,
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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Semmeringbahn > Viadukt über die
Kalte Rinne. Aufnahme zwischen 1890 und 1900.
unbekannt
Semmeringbahn > Viadukt über die
Krauselklause.
P. Glitzner
Semmeringbahn > Links der Viadukt
über die Kalte Rinne, rechts der Viadukt
über die Krauselklause.
P. Glitzner
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
446
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Semmeringbahn, Österreich
bustere Nutzpflanzen wie Kartoffeln wurden in
Die Semmeringbahn führt «schräg» durch die
kleinem Rahmen in allen Tälern der Semmerin-
Alpen von Gloggnitz (439 m ü.M.) durch ei-
gregion angebaut (z.B. bis Breitenstein). Bis um
nen Scheiteltunnel mit Kulminationspunkt auf
1900 erfolgte bei Gloggnitz auch der Anbau von
898 m ü.M. nach Mürzzuschlag (681 m ü.M.).
Wein. Der Grossteil des Semmeringgebietes, ins-
Die Kulturlandschaft am Semmering sowie de-
besondere die Region südlich des Passes, ist von
ren Wahrnehmung ist äusserst eng mit der Ei-
Wiesen und Wäldern bedeckt: Die Wiesen die-
senbahn verknüpft. Der erste Aufschwung betraf
nen sowohl als Weide- wie auch als Mähflächen
das Reichenauer Tal, das durch die 1842 eröff-
für die Produktion von Heu als Wintervorrat für
nete Eisenbahn Wien – Gloggnitz von der Re-
die Tiere, die Wälder vornehmlich als Holzliefe-
sidenzstadt aus schneller erreichbar geworden
ranten (Rodungen und Sammeln von Streuholz).
war. Die zweite Phase begann im Jahr 1882, als
Der Holzeinschlag erfolgt grundstücksabhängig
die Inhaberin der Semmeringbahn, die Südbahn-
und hat so durchaus signifikanten Einfluss auf
Gesellschaft, am Semmering ein grosses Ho-
das Landschaftsbild, indem Blickachsen durch
tel errichtete und damit sowohl einen Hotel- als
Kahlschläge ermöglicht bzw. durch Zuwachsen
auch einen Villen-Bauboom auslöste. Nach dem
der freien Flächen verunmöglicht werden. Im
Ersten Weltkrieg kam der Semmering-Tourismus
Umfeld der verstreut liegenden Bauernhöfe (z. B.
nahezu zum Erliegen und erst in jüngster Zeit ist
bei Breitenstein) sind Obstbaumgärten prägend
wieder ein Aufschwung des Tages- und Wochen-
für das Landschaftsbild.
endtourismus zu verzeichnen.
Die Semmeringbahn wurde im Jahr 1998 in die
Bauwerke
Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenom-
Unter den unterschiedlichen Bauten der Sem-
men. Die Kernzone besteht in Form eines rund
meringregion stechen besonders jene vom En-
42 km langen Eisenbahn-Korridors. Darüber
de des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts
hinaus wurde die umgebende Landschaft eben-
hervor. Mehrere Grosshotels (Südbahnhotel von
falls mit einbezogen und insbesondere der Ho-
1882, Hotel Panhans von 1888, Hotel Erzherzog
tel- und Villenkolonie am Semmering besondere
Johann, Kurhaus Semmering von 1909, Palace
Beachtung geschenkt; diese Kulturlandschaft
Hotel von 1912) und zahlreiche Villen (bis 1900
konnte jedoch bis jetzt (2006) wegen der bisher
wurden deren 26 gebaut) im Bereich des Semme-
unpräzisen Ein- und Abgrenzung der Schutz-
ringpasses stehen vereinzelten Bauerngehöften
zonen (Kern-, Pufferzone etc.) noch nicht als
(z.B. bei Breitenstein), kleinen Orten (z.B. Spital
Welterbestätte anerkannt werden.
am Semmering), Sakralbauten (z.B. Kirchen bei
Klamm, Spital am Semmering; Wallfahrtskir-
Agrikultur
che Maria Schutz; weitere in der gesamten Re-
Die zerklüftete Landschaft auf der nördlichen
gion verstreute Kapellen), Industriebauten (z.B.
Seite des Semmeringpasses eignet sich nur sehr
Schlöglmühl) oder auch einer Ruine (Klamm)
bedingt für eine landwirtschaftliche Nutzung.
gegenüber. Die ältesten Bauwerke in der Sem-
Im Talboden wird Getreide angebaut, wie dies
meringregion finden sich an dem schon seit dem
früher auch an den günstig exponierten Hangla-
10. Jahrhundert begangenen Passweg, insbeson-
gen, am Eichberg oder bei Klamm, geschah. Ro-
dere auf der südlichen Seite, bei Spital. Auf der
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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nördlichen Seite des Passes ist insbesondere der
«neue Hochstrasse» zwischen Semmering und
Ort Schottwien zu erwähnen, welcher vor dem
Orthof. Die Elektrifizierung der Semmeringbahn
Bau der Eisenbahn durch das Fuhrgewerbe ei-
nach dem Zweiten Weltkrieg bedingte den Bau
nen Aufschwung erlebt hatte. Bauten der eisen-
einer zuliefernden Starkstromleitung, brachte al-
verarbeitenden Industrie befanden sich südlich
so einen neuen Transportkorridor mit sich. Der
des Semmeringpasses im Mürztal, in der Nähe
rapide Anstieg des Automobilverkehrs führte in
von Schottwien sowie von Reichenau (erhaltener
den 1990er Jahren zum Bau einer Schnellstras-
Holzkohlen-Hochofen aus dem frühen 18. Jahr-
se, welche mit einer grossen Spannbeton-Brü-
hundert bei Edlach).
cke über dem Ort Schottwien sowie im Talboden
Die Bauwerke der Bahn prägen die Kulturland-
des Mürztales nun das landschaftsdominierende
schaft am Semmering wesentlich mit. So sind die
Verkehrsbauwerk darstellt.
massiven Bahnviadukte, vor allem jener über die
Kalte Rinne, zu eigentlichen Markenzeichen der
Wahrnehmung
Region geworden, doch auch die Linienführung
Am Beispiel der Semmeringregion lässt sich
in Form von Talschleifen (z.B. bei Payerbach) so-
deutlich aufzeigen, wie Modifikationen im
wie bei schroffen Felswänden (z.B. Galerie in der
Transportwesen zu einer Änderung in der Wahr-
Weinzettlwand) treten markant in Erscheinung.
nehmung der durchfahrenen Landschaft führen
können. Zur Zeit des Säumerwesens stand die
Transportwege
geglückte Überquerung des Passes im Zentrum
Wie erwähnt, bestand seit dem 10. Jahrhundert
der Rezeption. In den 1830er Jahren liess Fürst
ein Saumpfad über den Semmering. Er war Teil
Liechtenstein im Adlitzgraben einen Garten mit
eines Handelsweges zu den Mittelmeerhäfen in
künstlichem See, Wasserfall und Tempel er-
Venedig und Triest. Im Jahr 1728 erfolgte der
richten; angesichts dieser von Menschenhand
erste umfangreiche Ausbau des Weges über den
geformten Anlage erhielt – quasi im Gegenzug
Semmering (abschnittsweise heute noch vorhan-
– die ungestaltete schroffe Natur im Hintergrund
den). 1841 wurde die in Serpentinen geführte
die Zuschreibung des «Wildromantischen».
«neue» Semmeringstrasse eröffnet, die im Ver-
Auch wenn jener von Fürst Liechtenstein künst-
gleich zu ihrer Vorgängerin deutlich geringere
lich angelegte Garten durch den Eisenbahnbau
Neigungen aufwies; die damals errichtete grosse
zerstört wurde, ermöglichte die Eisenbahn ein
Steinbrücke über den Myrthengraben ist heute
neues panoramatisches Wahrnehmen der durch-
noch in Gebrauch. Kurze Zeit später erreichten
fahrenen Gebirgslandschaft. In diesem Zusam-
die ersten Eisenbahnen den Rand der Semme-
menhang ist der Semmering auch prototypisch
ringregion und schon 1854 konnte die «eiserne
hinsichtlich der Wahrnehmung von Gebirgsregi-
Strasse» des neuen Transportmittels «Dampf-
onen durch die Eisenbahnfahrt. Die Empfindung
eisenbahn» über den Semmering in Betrieb ge-
der Bahnstrecke als «linear» findet ihre Entspre-
nommen werden. Insbesondere der touristische
chung im gefalteten, linearen Panorama (Ghega
Aufschwung gegen Ende des 19. Jahrhunderts
1854; dieses Panorama erfuhr im Laufe der Zeit
bewirkte den Bau von neuen Fahr- und Spazier-
zwar Veränderungen in Grösse und Farbe, ist al-
wegen in der Region, wie beispielsweise jene
lerdings bis heute fixer Bestandteil des visuellen
mit zahlreichen Panorama-Ausblicken angelegte
Gedächtnisses der Semmeringbahn). Der Via-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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dukt über die Kalte Rinne vor der in der Tiefe
nehmung der die Bahn umgebenden Landschaft
gestaffelten Landschaft wurde zum zentralen
wurde seit jeher eine hohe Bedeutung beige-
Wahrzeichen der Region; gar auf Briefmarken
messen: Gezielte Blickkonstellationen prägen
und Geldscheinen wurde die Szenerie als Bild-
bis heute das Bild von Eisenbahn und Land-
motiv verwendet. In der Frühzeit fanden zudem
schaft. Reiseführer weisen schon im Vorfeld der
real nicht vorhandene Landschaftselemente
Fahrt auf die beste Aussicht hin, Panoramen der
wie etwa Felstürme Eingang in die Visualisie-
gesamten Bahnstrecke unterstützen die visu-
rungen; das Hinzufügen solcher romantischer
elle Imagination und zusammen mit der umge-
Versatzstücke zeugt von der Verklärung der von
benden Landschaft dargestellte und rezipierte
der Eisenbahn durchfahrenen Landschaft. In
Brückenbauten oder Talschleifen zeugen von
den 1890er Jahren wird die Semmeringregion
der Integration von Bahn und Landschaft zu ei-
rhetorisch als den aufstrebenden Schweizer Tou-
ner gemeinsamen ästhetischen Wahrnehmung.
rismusorten, etwa St. Moritz oder Davos, gleich-
Einzelne Ansichten von Bahnbauten (Viadukt
gestellt propagiert.
über die Kalte Rinne) wurden am Semmering
Die Wahrnehmung der Landschaft als Natur-
zu Markenzeichen und fanden Verwendung auf
landschaft tritt am Semmering gegenüber jener
Briefmarken und Geldscheinen. Die Region am
als Kulturlandschaft deutlich zurück; die Rezep-
Semmeringpass entwickelte sich gegen Ende des
tion der Natur beschränkte sich im Wesentlichen
19. Jahrhunderts zu einer Hotel- und Villenko-
auf die Darstellung von schroffen Felspartien
lonie, welche von Künstlern besucht wurde und
und der Alpenflora und mündete in der Errich-
inspirierend wirkte (Rosegger, Altenberg, Loos,
tung des Landschaftsschutzgebiet «Rax-Schnee-
Schnitzler, Kokoschka, Friedell).
berg» im Jahre 1955, welches auch die von der
Die Kulturlandschaft im Umfeld der Semmering-
Semmeringbahn durchquerte Region umfasst.
bahn ist bis heute noch nicht Bestandteil des UN-
Der Semmering und die Semmeringbahn
ESCO-Weltererbes, da eine präzise Festlegung
wirkten anziehend auf Künstler: Peter Roseg-
des Raumes der Schutzzonen noch nicht erfolgte.
ger hielt in seiner Erzählung Als ich das erste
Mal auf dem Dampfwagen sass von 1877 seine
Eindrücke während der Fahrt mit der Bahn fest,
der Architekt Adolf Loos baute hier 1929/30 das
Landhaus Khuner und Peter Altenberg hinterliess seine Skizzensammlung «Semmering, 1912».
Arthur Schnitzler, Oskar Kokoschka, Egon Friedell verbrachten in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mehrere Sommer am Semmering.
Die Semmeringbahn gilt als Prototyp einer Eisenbahn in gebirgigen Regionen. Ihre Inbetriebnahme führte zum Ausbau der Land- und
Forstwirtschaft in der Region wie auch zum
Aufkommen des Tourismus daselbst. Der Wahr-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
449
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Gotthardbahn > Plakat von 1932 mit
stilisierter Darstellung der Kulturlandschaft.
Sammlung G. Dinhobl
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Gotthardbahn > Verkehrslandschaft um Wassen: Eisenbahn mit
Schleifenentwicklung auf drei Ebenen aus dem späten 19. Jahrhundert, Autobahn aus dem späten 20. Jahrhundert. Aufnahme
um 1980. Illustration aus EGGERMANN ANTON [et al.]: Die Bahn
durch den Gotthard, Zürich 1981.
Gotthardbahn > Ursprüngliche Kerstelenbach-Fachwerkbrücke aus Stahl,
um 1881.
Sammlung G. Dinhobl
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
450
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Schweiz
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Gebirgsstufen beherrscht die Viehwirtschaft mit
Wiesen und Weiden das Bild. Entlang der Gott-
Gotthardbahn
hardlinie wurde seit 1900 mehr als 100 ha Wald
Die Gotthardbahn führt vom nördlich der Al-
aufgeforstet, um die Bahnlinie vor Lawinen-
pen gelegenen Luzern (436 m ü.M.) mittels eines
und Murgängen zu schützen. Über der Baum-
rund 15 km langen Tunnels durch das Gott-
grenze wurden zahlreiche weitere Schutzbauten
hardmassiv (Kulminationshöhe 1’151 m ü.M.)
errichtet.
nach Chiasso (226 m ü.M.) am Südrand der Alpen. Ein Weg über den Gotthardpass lässt sich
Bauwerke
bereits für die Bronzezeit nachweisen. Mit der
Die Gotthardbahn führt vom nördlichen, ale-
Erschliessung der Schöllenenschlucht im 13.
mannisch-deutschen in den südlichen, roma-
Jahrhundert wurde hier die kürzeste alpenque-
nisch-italienischen Kulturkreis mit je eigenen
rende Nord–Süd-Verbindung geschaffen. Ein
baulichen Vorlieben sowohl im Profan- wie
weiterer Ausbau der Gotthardroute erfolgte im
auch im Sakralbau; sogar in der Anlage der Ort-
16. Jahrhundert; er deutet auf deren damals hohe
schaften unterschieden sich die beiden Räume.
Bedeutung als Transitkorridor hin. Der mit Last-
So herrschten im nördlichen Teil Streusied-
tieren abgefertigte Warentransport wurde zum
lungen vor, während im südlichen Abschnitt die
wichtigen Erwerbszweig für die örtliche Bevöl-
Haufendörfer dominieren. Zahlreiche Burgen
kerung. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
und Kirchen weisen auf die Bedeutung der Re-
erfolgte – wie auch bei zahlreichen anderen Al-
gion im europäischen Transitverkehr bereits in
penpässen – der Ausbau der Strasse. Die gegen
früheren Epochen hin. Die Burgen von Bellinzo-
Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Eisenbahn
na fanden im Jahre 2000 Aufnahme in die Liste
veränderte die Landschaft am Gotthard grund-
des UNESCO-Welterbes (ebenfalls in unmittel-
legend. Etwa ein Jahrhundert später nahm die
barer Umgebung des Gotthardbahn-Korridors
durchgehende vierspurige Autobahn das ohnehin
liegt der als UNESCO-Naturerbe deklarierte
schon schmale Gebirgstal nahezu vollständig in
Monte San Giorgio). Im zentralen Abschnitt der
Beschlag.
Gotthardbahn, zwischen Erstfeld und Biasca,
bewirkte die Eisenbahn eine bescheidene tou-
Agrikultur
ristische Entwicklung, etwa in Göschenen, Ai-
Die Gotthardregion umfasst Gebirgstäler von
rolo und Faido; Grand Hotels wie im Engadin
unterschiedlicher Breite und Beschaffenheit. In
oder am Semmering wurden hier allerdings nicht
den Talböden dominieren landwirtschaftlich ge-
errichtet.
nutzte Flächen (in höheren Lagen vornehmlich
Die Bauwerke der Bahn selbst prägen die Gott-
Weiden, in niedrigen Höhenlagen auch Getreide
hardregion stark. Kritik erwuchs der Gotthard-
und Obst); diese sind teilweise, wie etwa im Tes-
bahn von der sich anfangs des 20. Jahrhunderts
sin zwischen Bellinzona und Locarno, erst durch
formierenden Heimatschutzbewegung (vgl. Kap.
Flusskorrekturen gewonnen worden. In den süd-
2.a.4); beanstandet wurde, dass für die Brücken
lichen Abschnitten im Tessin herrscht ein me-
kein ortsübliches Material, sondern der aus an-
diteranes Klima vor, das den Anbau von Wein,
deren Regionen zugelieferte Stahl zur Anwen-
Kastanie und Feige ermöglicht. In den höheren
dung kam, und dass die gerade Linienführung
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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eine Harmonie von Bahn und Landschaft nicht
das landschaftsdominierende Verkehrsbauwerk
aufkommen liess. Solcherart wurde die Gott-
am Gotthard.
hardbahn zum Symbol eines sich nicht in die natürliche Umgebung einpassenden technischen
Wahrnehmung
Bauwerks. Heute sind alle originalen Stahl-
Vor der Eröffnung der Gotthardbahn standen
brücken der Gotthardbahn durch Spannbeton-
die Schwierigkeiten bei der Überwindung der
brücken ersetzt. Als Industriebauwerke in der
schroffen Hochgebirgsregion im Zentrum der
Gotthard-Region sind insbesondere die Kraft-
Rezeption, sowohl der bildlichen, wie auch der
werksbauten für den elektrischen Betrieb der
literarischen. Mit dem Bau der Eisenbahn ver-
Bahnlinie zu erwähnen (Ritom, Amsteg).
schobt sich der Fokus hin zur Kulturlandschaft.
In weiterer Folge bewirkte die Gotthardbahn
In Reiseführern finden sich präzise Vorgaben be-
den Bau militärischer Befestigungsanlagen von
treffend der «richtigen» Blickachsen. Der weit
nationaler Bedeutung; 1886 begonnen, wurden
verbreitete Baedeker-Reiseführer von 1909 etwa
sie während des Zweiten Weltkrieges zur «Gott-
weist an: «Von Luzern bis Amsteg rechts sitzen,
hardfestung» ausgebaut.
von Amsteg bis Faido links, von Faido bis Bellinzona wieder rechts». Dabei wird der Blick der
Transportwege
Reisenden sowohl auf die Kulturzeugnisse – und
Der Gotthard nimmt eine bedeutende Stellung
hier insbesonders auf Kirchen oder Burgen – als
im Handel zwischen Italien (insbesondere dem
auch auf die Bergwelt gelenkt. Bei Ansichten der
Hafen von Genua) und den nördlich gelegenen
Gotthardregion wiederum werden nun die Bau-
Ländern (insbesondere Deutschland) ein. Die
werke der Bahn, etwa Brücken oder die (Kehr-
Transportwege am Gotthard sind stark durch die
) Schleifenentwicklung in den Mittelpunkt der
von den Flüssen Reuss und Ticino geschaffenen
Visualisierungen gestellt und damit – schon
Täler vorgegeben. Eine Schlüsselstelle war die
früh – die Einbettung der Bahn in die vom Men-
Schöllenenschlucht oberhalb von Göschenen.
schen kultivierte Umgebung thematisiert. Be-
Bis zum 13. Jahrhundert führte ein Saumweg
sonders prominent war dabei das Bild der Kirche
oberhalb der Schlucht über den Bätzberg. Mit
von Wassen, welche von mehreren Schleifen der
dem Bau der so genannten «Teufelsbrücke»
Bahn umschlossen wird. Panoramen der Bahn
wurde die Möglichkeit geschaffen, die Schlucht
werden im Falle der Gotthardbahn als Über-
direkt zu passieren; die Brücke fand einen Wi-
schaulandschaften dargestellt (und nicht mehr
derhall in den Sagen der Region.
als lineare Panoramen wie am Semmering).
Die Bahn veränderte mit ihren Tunnels, Brü-
Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
cken und der Anlage des Trassees die Täler der
hunderts gewann die Gotthardbahn eine grosse
Reuss und des Ticino sichtbar. Einen bedeu-
Bedeutung als nationalen Ikone.
tend grösseren Eingriff in die Landschaft allerdings brachte der Bau der Autobahn im 20.
Die Gotthardbahn im Kontext der umgebenden
Jahrhundert; in einzelnen Abschnitten – etwa
Landschaft bildet in erster Linie einen durch das
bei Wassen – besetzt die Autobahn mit ihren Zu-
gesamte Gebirge führenden Transitkorridor. Die-
fahrtsstrassen den ganzen Talboden. Heute ist
ser ermöglichte einen schnelleren und leichteren
nicht mehr die Eisenbahn, sondern die Strasse
Transport von Menschen und Gütern von Italien
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
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nach Mittel- und Nordeuropa und umgekehrt. Die
aber überall erst im Gefolge des Eisenbahnbaues
Bahn ist eng mit der Kulturlandschaft verwoben,
eine Intensivierung und Erweiterung (wobei
indem sie diese selbst direkt (Linienführung des
auch gegenläufige Entwicklungen durch die Ver-
Bahntrassees) wie auch indirekt (Schutzwälder
billigung des Transportes von landwirtschaft-
und Lawinenverbauungen bis in hohe Lagen) mit
lichen Produkten zu beobachten sind). In dieser
gestaltet oder indem sie als nahtlos in die Kul-
Hinsicht ist die Kulturlandschaft des Eisenbahn-
turlandschaft eingebettet visualisiert wird (Stre-
korridors Albula/Bernina durchaus mit anderen
ckenentwicklung und Kirche bei Wassen). Im
Gebirgsbahnen vergleichbar.
Unterschied zu anderen Eisenbahnstrecken (etwa
der Semmeringbahn) ging von der Gotthardbahn
Bauwerke
keine prägnante touristische Wirkung auf die
Die Bauwerke entlang der Eisenbahnstrecken
durchfahrene Region aus.
zeigen auf, ob die betreffende Landschaft schon
vor dem Einzug der Bahn als Kulturlandschaft
Zusammenfassung
bestanden hatte oder ob sie erst im Zuge des
Bahnbaus als solche geschaffen worden ist. Ei-
Die Kulturlandschaft des Eisenbahnkorridors
ne besonders grosse Vielfalt an Bauwerken tritt
Albula/Bernina weist zahlreiche Merkmale auf,
dort auf, wo eine «historische» Kulturlandschaft
die als typisch für Gebiete mit Gebirgsbahnen
durch die Eisenbahnstrecke ergänzt wird. In al-
bezeichnet werden können. Bei anderen As-
len untersuchten Beispielen ist die Eisenbahn
pekten wiederum fehlen die Ähnlichkeiten, wes-
auch mit dem Tourismus verknüpft. Insbeson-
halb dieser Bahnkorridor als von eigenständigem
dere in den Alpen und den Pyrenäen bestanden
Charakter qualifiziert werden kann. Gerade in
teils schon vor dem Bahnbau touristische Desti-
der Kombination von zahlreichen einzigartigen
nationen, hatte also der Tourismus mit Anlagen
und typischen Elementen ist die Kulturland-
wie Hotels oder Spazier- und Wanderwegen die
schaft des Eisenbahnkorridors Albula/Bernina
«alte» Kulturlandschaft bereits verändert. Die-
ein hervorragendes Beispiel von aussergewöhn-
se expandierten nach der bahntechnischen Er-
lichem universellen Wert.
schliessung der betreffenden Region, in anderen
Gegenden kam der Tourismus durch den Bahn-
Typisches
bau erst in Gang (man denke etwa an die Hotel-
Die typischen Elemente lassen sich anhand einer
und Villenkolonie am Semmering, die nach dem
Zusammenfassung der vorangegangenen Aus-
Eisenbahnbau entstand). Im Engadin setzte mit
führungen entlang des bekannten Analyserasters
dem Bahnbetrieb am Albula und der damit gege-
aufzeigen.
benen ganzjährigen Erreichbarkeit des Gebiets
als auch der Versorgungssicherheit der Hotels der
Agrikultur
Wintertourismus ein.
In vielen Fällen finden sich im Umfeld der Ei-
Die Eisenbahnbauten selbst prägen die Kultur-
senbahn agrikulturelle Nutzungen. Diese waren
landschaften in bestimmendem Masse. Gerade
in einzelnen Beispielen schon vor dem Bahnbau
bei Gebirgsbahnen sind es oftmals herausragende
vorhanden (Berglandwirtschaft in den Alpen;
Brücken bzw. Viadukte, welche – in die Land-
Teeplantagen im kolonialen Indien), erfuhren
schaft eingebettet – das unverkennbare Charak-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
453
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teristikum der jeweiligen Strecke bilden und als
beginnt insbesondere in der zweiten Hälfte des
eigentliche «Wahrzeichen» der Landschaft Ver-
20. Jahrhunderts eine neue Entwicklung und es
breitung finden: Im Falle des Albula/Bernina-
kommt zum Rückbau von Eisenbahnen, wobei
Korridors sind es der Landwasserviadukt und der
insbesondere Ortsdurchfahrten der Eisenbahn
Kehrviadukt von Brusio, am Semmering der Vi-
auf den Strassen abgebaut werden (z.B. Guaya-
adukt über die Kalte Rinne, beim Train Jaune der
quil & Quito Railway). Die Ortsdurchfahrten
zweigeschossige Viadukt bei Fontpédrouse oder
der Berninaline sind somit zwar typische, aber
die Hängebrücke bei La Cassagne, am Gotthard
nicht mehr häufig anzutreffende Ensembles der
die (heute nicht mehr vorhandenen) Gitterträger-
gegenseitigen Verschränkung von Strasse und
Brücken, bei der Yunnan-Bahn die Gitterträger-
Eisenbahn.
Brücke über die Pei Ho Schlucht. Die Bahn wird
so gewissermassen als Zitat von Kultur in der
Wahrnehmung
schroffen Gebirgslandschaft eingesetzt.
In allen Fällen führte der Bahnbau zu einer
verstärkten ästhetischen Wahrnehmung von
Transportwege
Gebirgslandschaften. Der Wahrnehmung der
Die Eisenbahnen werden von einer Vielzahl an
Landschaft entlang von Eisenbahstrecken kommt
Transportwegen umgeben. In den meisten Fällen
eine spezielle Bedeutung zu: Eigenheiten wer-
sind es Strassen, die sich zumindest streckenweise
den vor allem bei touristisch besuchten Bahnen
in der näheren Umgebung der Bahn befinden oder
betont, wobei besonders das mit der Romantik
sogar gemeinsam mit ihr geführt werden (z.B. bei
einsetzende verstärkte Interesse an Landschaften
Ortsdurchfahrten, so beim Guayaquil & Quito
in die Art und Weise der Wahrnehmung bei einer
Railway und bei der Berninabahn). Durch die Ei-
Eisenbahnfahrt Eingang findet. Aufgrund der
senbahn wird die Bedeutung bestehender Trans-
Vielfältigkeit der Eindrücke konnte die Wahr-
portwege wesentlich verändert und andere, neue
nehmung der Landschaft bei der Fahrt roman-
Transportwege gewinnen an Bedeutung. Wäh-
tisierend zu einem «Ballett der Blicke» werden.
rend jene Transportwege, die den Bahnkorridor
Die Wahrnehmung der Umwelt als Kulturland-
entlang führen, tendenziell an Gewicht verlieren,
schaft korrespondiert mit der Wahrnehmung von
steigt der Stellenwert der kleinräumigen Trans-
Bauwerken: Schon vor dem Bahnbau bestehen-
portwege (beispielsweise Verbindungswege
de Bauten, etwa Kirchen (Mistail am Albula,
zwischen Bahnhöfen und Siedlungen, wie etwa
Klamm am Semmering; Wassen am Gotthard),
im Falle von Stugl/Stuls im Albulatal, bzw. tou-
ebenso wie die im Gefolge des Eisenbahnbaues
ristischen Orten [vgl. die Wege von der Station
entstandenen Hotelbauten (z.B. Semmering, Al-
Semmering zur Passhöhe und den Hotels] oder
bula, Train Jaune) oder die Brücken, Viadukte
Aussichtswege, aber auch Pfade von und zu den
bzw. Tunnelportale der Eisenbahn selbst (z.B.
agrikulturellen Nutzflächen). Des Weiteren sind
Landwasserviadukt am Albula, Kalte Rinne am
insbesondere dann Rohr- und Stromleitungen
Semmering, Gotthardtunnel) bilden den visu-
(sowie Stauseen) in Bahnnähe anzutreffen, wenn
ellen Zusammenschluss von Bahn und Land-
die Bahn elektrisch betrieben wird (Train Jaune,
schaft. In den Streckenabschnitten mit einer
teilweise Semmering, Berninabahn).
naturnahen Landschaft wird die Eisenbahn qua-
Mit der raschen Verbreitung der Motorisierung
si als Signatur aus Menschenhand wahrgenom-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
454
Kandidatur UNESCO-Welterbe
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Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina
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men (Denver & Rio Grande Railroad; Adderley
Schwierigkeiten ausschliesslich vom Flachland
Viaduct der Nilgiri-Bahn; Streckenentwicklung
(teilweise von Seehäfen) zu Destinationen im
im Bereich der «Teufelsnase» des Guayaquil &
Gebirge, sind also keine gebirgsquerenden Bah-
Quito Railway; Berninapass). All diese Beispiele
nen. Der Aspekt der Überquerung eines Gebir-
sind Ausdruck der als Kulturlandschaft wahrge-
ges ist insbesondere in kulturlandschaftlicher
nommenen Umwelt von Eisenbahnkorridoren in
Hinsicht von Interesse: Gebirge hatten seit je-
Gebirgen.
her eine trennende Wirkung, was zu je unterschiedlichen Kulturen und damit einhergehend
Einzigartigkeit
auch unterschiedlich ausgeprägten Kulturland-
Die Einzigartigkeit der Albula/Bernina Strecke
schaften führte (beim Albula/Bernina-Korridor
ist in erster Linie auf die Vielfalt der von der Ei-
deutsch, rätoromanisch und italienisch; vgl. Kap.
senbahn durchfahrenen Landschaft sowie auf
2.b.8).
die Vielzahl der durchfahrenen Vegetations- und
Ein weiteres Moment der Einzigartigkeit der
Klimazonen zurückzuführen: Unter den Ver-
Kulturlandschaft entlang der Albula/Bernina-
gleichsbeispielen ist die Albula/Bernina Linie
Strecke sind die Bauwerke der Bahn. Insbeson-
neben der Gotthardbahn die einzige Eisenbahn-
dere die steinernen Viadukte der Albulalinie
strecke, die ein Gebirge in seiner Gesamtheit
wurden schon kurz nach deren Eröffnung vom
überquert: Bei einer Luftlinienentfernung von
Heimatschutz als der Landschaft angepasst und
rund 80 km beträgt die von der Albula/Berni-
damit als vorbildlich angesehen, während die ei-
na-Linie überwundene maximale Höhendiffe-
sernen Fachwerkträger-Brücken am Gotthard als
renz an der Nordseite etwa 1’550 m und an der
Negativbeispiele dargestellt wurden. Dies bildet
Südseite etwa 1’700 m, jene der Gotthardbahn
einen Unterschied auch zur Semmeringbahn, in-
dagegen nur rund 910 m. Die Semmeringbahn
sofern, als dort die Harmonie von Technik und
am östlichen Rande der Alpen ist als «schräger»
Landschaft erst Jahrzehnte nach Inbetriebnahme
Alpendurchgang mit einer Luftlinienentfer-
der Strecke, nämlich erstmals zu Beginn des 20.
nung von etwa 21 km zwischen den Bahnhöfen
Jahrhunderts artikuliert wurde. Zur Bauzeit in
Gloggnitz und Mürzzuschlag vergleichsweise
den 1850er Jahren allerdings ermöglichte es die
kurz. Auch beträgt die maximale Höhendiffe-
Semmeringbahn, dass die von ihr durchfahrene
renz dort lediglich rund 450 m, was mit einer
Region - zuvor nur als «Gegend» bezeichnet - als
deutlich geringeren landschaftlichen Vielfalt
«Landschaft» ästhetisch wahrgenommen werden
einhergeht. Die Denver & Rio Grande Railroad
konnte: Am Semmering wurde die Eisenbahn als
am Cumbrespass liegt innerhalb des Gebirgs-
die Kulturlandschaft konstituierend rezipiert, im
zuges der Rocky Mountains und hat mit einer
Falle der Albula/Bernina-Linie als in die (beste-
maximalen Höhendifferenz von rund 660 m
hende) Kulturlandschaft eingepasst.
(Chama – Cumbrespass) ebenfalls einen geringeren Höhenunterschied zu bewältigen. Alle
übrigen Vergleichsbahnen verlaufen bei durchwegs beachtlichen Höhendifferenzen (z.B. beim
Guayaquil & Quito Railway rund 3’600 m) sowie entsprechenden eisenbahnbautechnischen
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
455
Kandidatur UNESCO-Welterbe
Technische Daten,
Erhaltungszustand
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Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina
Begründung für den Bau
Ursprünglicher und
heutiger Betrieb
Bahntyp
- Jahr der Eröffnung,
ursprüngliche Betriebsart
- max. erreichte Seehöhe
- Spurweite
- Anzahl Tunnel
- Anzahl Brücken
- Sicherungsbauten
Yunnan-Bahn
- 1910, Dampf betrieb
- 2026 m ü.M.
- Schmalspur / 1000 mm
- 172 Tunnels
- 107 grössere Brücken
- Wenige Sicherungsbauten
Überregionale Erschliessung für Handel und
Personenverkehr durch
französische Kolonialverwaltung: Verbindung
der Küstenstadt Hanoi mit
der chinesischen Provinzhauptstadt Kunming
Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und
Gütertransport;
heute gesicherter Betrieb
nur abschnittsweise, Absicht der Wiederaufnahme des durchgehenden
Betriebes
Darjeeling-Bahn
- 1889, Dampf betrieb
- 2258 m ü.M.
- Schmalspur / 610 mm
- keine Tunnels
- eine bedeutende Brücke
- kaum Sicherungsbauten
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr durch britische
Kolonialverwaltung
Nilgiri-Bahn
- 1903, Dampf betrieb
- 2094 m ü.M.
- Schmalspur / 1000 mm
- Abschnitt mit Zahnstange
- 16 Tunnels
- 32 grössere Brücken
- Sicherungsbauten
Eritrea-Bahn
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Bahn in der Kulturlandschaft
(ursprünglich)
Technische Innovation
keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn- Bauten
Geringer bis mässiger
baulicher Aufwand zur
Erreichung einer Provinzhauptstadt im Gebirge
Ursprünglich fahrplan- Kolonialbahn
mässiger Personen- und - Schmalspurbahn
Gütertransport; heute
- Gebirgsbahn – nicht
ausschliesslich Persogebirgsquerend, sonnentransport mit zumeist dern ins Gebirge
touristischer Bedeutung
hineinfahrend
keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn- Bauten
Hervorragendes Beispiel einer «light railway»
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr durch britische
Kolonialverwaltung
Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und
Gütertransport;
heute ausschliesslich
Personentransport mit
zumeist touristischer
Bedeutung
- Kolonialbahn
- Schmalspurbahn
- Gebirgsbahn – nicht
gebirgsquerend, sondern ins Gebirge
hineinfahrend
keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn-Bauten
Beispiel einer Eisenbahn im
Mischbetrieb (Zahnrad- /
Adhäsionsbetrieb)
- 1911, Dampf betrieb
- 2395 m ü.M.
- Schmalspur, 950 mm
- 30 Tunnels
- 532 Brücken und
Durchlässe
- Wenige Sicherungsbauten
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr durch italienische
Kolonialverwaltung: Verbindung von der Hafenstadt
Massaua mit der Hauptstadt Asmara
Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und
Gütertransport;
heute ausschliesslich
Tourismusverkehr
- Kolonialbahn
- Hauptlinien-Charakter
- Schmalspurbahn
- Gebirgsbahn – nicht
gebirgsquerend, sondern ins Gebirge
hineinfahrend
keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn- Bauten
Geringer bis mässiger baulicher Aufwand zur Erreichung einer Hauptstadt im
Gebirge
Guayaquil & Quito Railway
- 1908, Dampf betrieb
- 3609 m ü.M.
- Schmalspur / 1067 mm
- Keine Tunnels
- Nur geringe Zahl an
Brücken
- Wenige Sicherheitsbauten
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr: Verbindung
der Hauptstadt Quito
mit dem Seehafen an der
Pazifikküste
Ursprünglich fahrplan- Hauptlinien-Charakter
mässiger Personen- und - Schmalspurbahn
Gütertransport; heute nur - Gebirgsbahn – nicht
mehr auf einzelnen Abgebirgsquerend, sonschnitten ausschliesslich dern ins Gebirge
Tourismusverkehr
hineinfahrend
Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn- Bauten
Anwendung des selten verwendeten Spitzkehren-Systems zur Gewinnung von
Höhe
Cumbres & Toltec Scenic Railway
- 1880, Dampf betrieb
- 3053 m ü.M.
- Schmalspur / 914 mm
- Zwei Tunnels
- Zwei grössere Brücken
- kaum Sicherungsbauten
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr, insbesondere
Bergbauprodukte
Ursprünglich fahrplan- Schmalspurbahn
mässiger Personen- und - Gebirgsbahn – nicht
Gütertransport; heute nur gebirgsquerend, sonmehr auf einzelnen Abdern ins Gebirge
schnitten ausschliesslich hineinfahrend
Tourismusverkehr
keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn-Bauten, Funktion als
«scenic railway» erst in jüngerer Zeit
Geringer baulicher Aufwand
zur Überwindung eines
Gebirgspasses
Train jaune
- 1911, Elektrobetrieb
- 1592 m ü.M.
- Schmalspur / 1000 mm
- 19 Tunnels
- 106 Brücken, davon
14 grössere Brücken
- Wenige Sicherungsbauten
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr und Verbindung
der beiden transnationalen
Eisenbahnstrecken durch
die Pyrenäen
Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und
Gütertransport, heute
nur mehr bescheidener
Touristenverkehr
- Schmalspurbahn
- Gebirgsbahn – nicht
gebirgsquerend, sondern ins Gebirge
hineinfahrend
Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die
Umgebung angepassten
Eisenbahn- Bauten
An Elektrobetrieb angepasster Trasseeverlauf
(grössere Neigung als bei
Dampf betrieb)
Semmeringbahn
- 1854, Dampf betrieb
- 898 m ü.M.
- Normalspur / 1435 mm
- 15 Tunnels (bis 1,5 km
Länge)
- 16 Viadukte
- aufwändige
Sicherungsbauten
Überregionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr: Verbindung
der Residenzstadt Wien
mit dem Mittelmeerhafen Triest
Ursprünglich und heute
fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; Basistunnel zur
Verkehrsverlagerung in
Planung seit 1989
- Hauptlinie / Transit
- Gebirgsbahn – gebirgsquerend in niedriger
Höhe
Keine umfassenden landschaftsgestaltenden
Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung
angepassten EisenbahnBauten; Verbindung von
Eisenbahn-Kunstbauten und
Landschaft erst nach Bau im
Zuge der touristischen Erschliessung thematisiert
Erstes Beispiel einer Haupteisenbahn durch ein Gebirge
(Alpen)
Gotthardbahn
- 1882, Dampf betrieb
- 1151 m ü.M.
- Normalspur / 1435 mm
- 80 Tunnels (15 km langer
Scheiteltunnel)
- 79 grössere Brücken
- aufwändige
Sicherungsbauten
Überregionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr: Verbindung
von Nord- und Südeuropa
Ursprünglich und heute
fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; Basistunnel zur
Verkehrsverlagerung
in Bau, Eröffnung geplant 2014
- Hauptlinie / Transit
- Gebirgsbahn – gebirgsquerend in mittlerer
Höhe
Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn
von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn-Bauten, Brücken zur
Bauzeit als fortschrittsbringend, bald darauf aber als an
die Umgebung nicht angepasst bezeichnet
Beispiel einer Haupteisenbahn mit Spiraltunnel und
langen Scheiteltunnel durch
ein Gebirge (Alpen)
Regionale Erschliessung
für Handel und Personenverkehr (bes. Tourismus)
bei Einbindung in überregionales Eisenbahnnetz
Berninabahn als “Nebenprodukt” von Stromproduktion durch Kraftwerke
Ursprünglich und
heute fahrplanmässiger Personen- und
Gütertransport
- Hauptlinien-Charakter
- Schmalspurbahn
- Gebirgsbahn – gebirgsquerend in grosser Höhe
Landschaftsgestaltende
Intentionen im Sinn von
bewusst an die Umgebung
angepassten EisenbahnBauten (z.B. durch Wahl des
Baumaterials)
Beispiel einer (schmalspurigen!) Haupteisenbahn mit
Spiraltunnels und langem
Scheiteltunnel durch ein Gebirge bei Erreichung grosser
Höhen im Ganzjahresbetrieb
aus der Spätzeit des Alpenbahnbaues; Charakteristische
Unterschiede des Trasseeverlaufs aufgrund Wahl der
Betriebs-Technologie, insbes.
dem Elektrobetrieb (Bernina:
grössere Neigung)
Albula/Bernina-Linie - 1903 / 1910,
Dampf / Elektrobetrieb
- 1823 / 2257 m ü.M.
- Schmalspur / 1000 mm
- 41 / 11 Tunnels (Albula: knapp 6 km langer
Scheiteltunnel)
- 65 / 21 grössere Brücken
- aufwändige
Sicherungsbauten
- Kolonialbahn
- Hauptlinien-Charakter
- Schmalspurbahn
- Gebirgsbahn – nicht
gebirgsquerend, sondern ins Gebirge
hineinfahrend
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3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich
456
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Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina
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3.c.4 Gesamtschau des Vergleichs
Die vorangegangenen Analysen (vgl. Kap. 3.c.2
Europa dagegen wurden bereits andere Kraft-
und Kap. 3.c.3) machen deutlich, dass für die
quellen für den Eisenbahnbetrieb erprobt. Es war
«Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Al-
vor allem die elektrische Traktion, die seit der
bula/Bernina» im weltweiten Zusammenhang
Jahrhundertwende zunehmend an Bedeutung ge-
zahlreiche einzigartige wie auch typische As-
wann. Dies hatte wichtige Auswirkungen auf die
pekte identifiziert werden können. Zur bessern
Parametrierung der Strecken, besonders auf die
Übersicht ist die Gesamtschau des Vergleichs in
maximale Steigung. Die mit Gleichstrom betrie-
die Abschnitte «Bauzeit», «Wirtschaftliche Be-
bene Berninabahn zeugt von dieser innovativen
deutung», «Technische Bedeutung», «Kultur-
Erprobungsphase des elektrischen Eisenbahnbe-
landschaftliche Bedeutung» sowie «Heutige und
triebes (wie auch der Train Jaune). Im Laufe des
zukünftige Bedeutung» unterteilt. Zum Schluss
20. Jahrhunderts setzte sich der Wechselstrom-
werden die wichtigsten Erkenntnisse im Ab-
betrieb als normale Elektrifizierungsart durch
schnitt «Internationale Einordnung der Albula-
(Albulabahn: seit 1919). Spätestens seit der zwei-
und Berninastrecke» zusammengefasst.
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit dem Bau
von Hochgeschwindigkeitszügen (etwa Shinkan-
Bauzeit
sen in Japan, TGV in Frankreich), gilt der Elek-
In der Mitte des 19. Jahrhunderts stand der Ge-
trobetrieb als zeitgemässe Antriebsform.
birgsbahnbau noch in der Erprobungsphase; die
Im Umfeld dieser Entwicklung ist die Albula/
Semmeringbahn war diesbezüglich eine Pio-
Bernina-Strecke etwas Spezielles. Der Bernina-
nierleistung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
bahn kommt dabei die Rolle des Einzigartigen
hunderts wurde der Tunnelbau mechanisiert, die
zu, weil zu ihrer Bauzeit noch keine Vorbilder ei-
Errichtung langer und spezieller Durchstiche
ner elektrischen Eisenbahn in derartigen Höhen
(Scheiteltunnels, Spiraltunnels) wurde so ermög-
bestanden. Sie ist noch heute die höchstgelegene
licht. Ein sehr frühes, beeindruckendes Beispiel
alpenquerende Eisenbahn mit Ganzjahresbetrieb
aus dieser Epoche ist die Gotthardbahn. Europa
und in Bezug auf den elektrischen Bahnbetrieb
nahm bei diesen technischen Neuerungen eine
von vergleichbarer Bedeutung wie die Sem-
Vorreiterrolle ein. Zur gleichen Zeit erfolgte in
meringbahn hinsichtlich der dampfbetriebenen
verschiedenen Kolonien die bahntechnische Er-
Gebirgsbahnen. Bei der Semmeringbahn, die
schliessung des Hinterlandes, auch im Westen
während eines Jahrzehnts den Rekord bezüglich
der USA dehnte sich das Bahnnetz beeindru-
des Kulminationspunktes einer Eisenbahnlinie
ckend aus. Beim Bau all dieser Bahnen standen
hielt, wurden die Leistungsgrenzen von Dampf-
in erster Linie politische, wirtschaftliche (Berg-
lokomotiven erprobt und letztlich auch erweitert,
bau) und militärische Interessen im Vorder-
was in der Folge die Erschliessung von Gebir-
grund. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte
gen in aller Welt ermöglichte. Die Rolle des Ty-
man beim Bahnbau ausserhalb Europas auf die
pischen kommt der Albulalinie zu, orientierte
bewährte Technologie des Dampfbetriebs, in
man sich doch bei deren Bau bezüglich Antriebs-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
457
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art und Streckenparametern an den dampfbetrie-
zu den letzten Alpenbahnen, deren «grosse
benen Haupteisenbahnlinien. Einzigartig bleibt
Zeit» mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu
allerdings, dass bei der Albula-Strecke alle bei
Ende ging; nach dieser Zäsur kam keine der ge-
normalspurigen Gebirgsbahnen angewendeten,
planten alpenüberquerenden Eisenbahnstrecken
bautechnisch höchst aufwändigen Massnahmen
mehr zur Ausführung. Steht die Semmering-
wie Spiraltunnels oder lange Scheiteltunnels für
bahn als Symbol für den Beginn des Gebirgs-
eine Schmalspurbahn Anwendung fanden.
bahnbaus, so bildet die Albula/Bernina-Strecke
Die Strecken Albula/Bernina sind für das begin-
den abschliessenden Höhepunkt. Gemeinsam
nende 20. Jahrhundert Höhepunkte in der Über-
illustrieren sie auf emblematische Weise die
windung eines Gebirges durch Eisenbahnen:
Entwicklung des Gebirgsbahnbaus von der Mit-
Die Berninabahn wegen der Wahl des damals
te des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des
höchst innovativen Elektrobetriebes, der sich
Ersten Weltkriegs. Erst seit Ende des 20. Jahr-
schliesslich durchsetzen sollte; die Albulabahn
hunderts werden wieder neue alpenquerende
wegen der Perfektionierung einer zwar kon-
Eisenbahnstrecken geplant und errichtet, so
ventionellen, aber aufgrund der Anwendung
insbesondere die neue Alpentransversale (NE-
spezieller Tunnelbauarten einer sehr aufwän-
AT) in der Schweiz. Diese untertunnelt aller-
digen Betriebsart und deren Umsetzung für den
dings das Alpengebirge gänzlich (Gotthard- und
Schmalspurbau. Beide Bahnen gehören zudem
Lötschberg-Basistunnel).
Höhenlage und Länge der Scheiteltunnel der «grossen Alpenbahnen», 1912
Plan aus Robert Ritter von Reckenschuss: Die ausgeführten und geplanten Alpenbahnen,
Wien 1912.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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Wirtschaftliche Bedeutung
der regionalen Versorgung. Beim Bau der stark
Der Bau von Eisenbahnen erfolgte in erster Li-
von touristischen Belangen geprägten Bernina-
nie aus wirtschaftlichen Überlegungen. Bei den
bahn war zudem der Aspekt des Mehrwertes des
Vergleichsbahnen in aussereuropäischen Regi-
Kraftwerkbaues auf der Südseite des Bernina-
onen bilden die koloniale Unterwerfung und die
passes entscheidend. Das Kraftwerk wurde vor
Erschliessung von Bodenschätzen und landwirt-
allem zur Stromerzeugung für die norditalie-
schaftlicher Nutzflächen wichtige Gründe: So
nische Industrieregion Mailands errichtet und nur
zeugt die von der vietnamesischen Hafenstadt
ein Teil des Stroms wurde für den Bahnbetrieb
Haipong ins südchinesische Kunming führen-
benötigt.
de Yunnan-Bahn vom einstigen Einfluss der
französischen Kolonialmacht, die Eritrea-Bahn
Technische Bedeutung
widerspiegelt den kolonialen Einfluss Italiens,
Im technischen Bereich decken die Vergleichs-
die Darjeeling-Bahn jenen Englands. Die Yun-
bahnen ein breites Spektrum ab. Art und Um-
nan- und die Eritreabahn wie auch der equado-
fang der technischen Ausstattung stehen in
rianische Guayaquil & Quito Railway dienten
direktem Zusammenhang mit den jeweils an
gleichzeitig auch der Erschliessung des Hinter-
den Bahnbau geknüpften wirtschaftlichen Er-
landes der Seehäfen und der Städte (Kunming,
wartungen, sind natürlich aber auch von den
bzw. Asmara und Quito). Ausschliesslich zur
technologischen Möglichkeiten der Zeit abhän-
Ausbeutung von Bodenschätzen (Silber, Eisen
gig. Mit einer aufwändige Streckenführung und
und Steinkohle) wurde die Denver & Rio Grande
einer Vielzahl von Kunstbauten wie Brücken
Western gebaut.
und Tunnels wird auf eine eisenbahntechnisch
Zwei der europäischen Vergleichsbahnen ge-
schwierige Topographie reagiert. Grosse und
hören zur Kategorie «Transitbahn mit grossem
verzweigte Gebirgstäler können mit normalem
Einzugsgebiet» (Semmering-, Gotthardbahn),
Anstieg (Denver & Rio Grande Railroad) oder
während die dritte, der Train Jaune, klar als «Tou-
mit Trasseeschleifen in Seitentäler (Semmering,
ristenbahn» gebaut wurde. Auch im Falle der
Yunnan-Bahn) bewältigt werden. Schmale und
Tranistbahnen wurde ein touristischer Mehrwert
steile Täler benötigen dagegen betriebstechnisch
erzielt, bei der Semmeringbahn allerdings ein
umständliche Spitzkehren (Guayaquil & Ecua-
deutlich grösserer als bei der Gotthardbahn.
dor Railway) oder bautechnisch sehr aufwän-
Die Albula/Bernina-Strecke hat hinsichtlich ih-
dige – und kostenintensive – Spiraltunnels oder
rer wirtschaftlichen Dimension Ähnlichkeiten
einen Scheiteltunnel (Gotthard, Albula). Offene
mit dem Train Jaune: In beiden Fällen wird eine
Schleifen («loops»), wie sie die Darjeeling-Bahn
bestehende, bzw. im Aufbau begriffene Touris-
aufweist, oder Zahnradbetrieb, wie bei der Nilgi-
musregion erstmals mit der Bahn erschlossen
ri-Bahn ausgewendet, bilden aussergewöhnliche
und an ein grösseres, überregionales, ja trans-
technische Lösungen.
nationales Eisenbahnnetz angebunden. Die tou-
Die Wahl der Trassierungsparameter – Neigung
ristische Bedeutung des betreffenden Gebietes
und Kurvenradius – ist abhängig von der einge-
wird durch den Bahnbau markant gesteigert (Ent-
setzten Technologie: Bei ursprünglich dampfbe-
wicklung des Ganzjahrestourismus im Enga-
triebene Strecken betrug die maximale Steigung
din). Gleichzeitig dienen diese Bahnen aber auch
35 ‰ – 50 ‰ (Semmering-, Gotthard-, Yunnan-
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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und Eritrea-Bahn). Die Stärke der Neigung be-
deutlich, etwa im Falle der Semmeringbahn, wo
einflusst die Länge des Bahntrassees im Gebrige.
der Weinbau zurückging, als mit der Bahn die
Bei den elektrisch betriebenen Strecken konnte
Einfuhr fremder Weine einsetzte. Bei den die
die Neigung bis auf 70 ‰ erhöht werden – eine
Kulturlandschaft bestimmenden Bauwerken wir-
doppelt so grosse Neigung verkürzte entspre-
ken die Eisenbahnbauten als Zeichen der Moder-
chend die Trassee-Länge (Train Jaune).
ne, als Ergänzung zur historischen Architektur
Die Albula- und die Berninalinie verkörpern auf
(Train Jaune, Darjeeling-Bahn). Prägende Wir-
einzigartige Weise typische Bahnstrecken aus
kung entfalten bei allen Vergleichsbeispielen die
der «grossen Zeit» des Gebirgsbahnbaus: War
Bahnbrücken. Sie schreiben sich als eigentliche
die Anlage des Bahntrassees der Albulastrecke
Ikonen ins visuelle Gedächtnis ein. Vereinzelt
noch ganz auf Dampfbetrieb ausgelegt und des-
gilt dies auch für die gesamte Streckenführung
halb mit zahlreichen Kunstbauten wie grossen
(Darjeeling-Bahn, Guayaquil & Quito Railway,
(Stein-)Brücken oder bautechnisch aufwändigen
Gotthardbahn). Wo die Eisenbahn eine historische
Spiraltunnels und einem lange Scheiteltunnel
Kulturlandschaft durchfährt, finden Motive wie
bestückt, führte die Wahl der damals neuesten
«Bahn und Burgruine» oder «Bahn und Kirche»
Technologie (Elektrobetrieb) bei der Bernina-
in der bildlichen Verarbeitung der Werteträger
bahn zu einer ganz neuen Art der Trassierung
eine besondere Aufmerksamkeit; letztlich wird
und einer markanten Erhöhung der Maximalstei-
so die Verbindung von Tradition und Moderne
gung. Der Wechsel der Technologie innerhalb ei-
apostrophiert.
ner Strecke, wie er bei der Albula/Bernina-Linie
Die Vergleichsbahnen sind von einer Vielzahl
erlebt werden kann, findet sich sonst bei keiner
von weiteren Verkehrsinfrastrukturen umgeben:
der Vergleichsbahnen und ist daher weltweit von
Strassen, Pfaden und Wegen. Besonders bei elek-
einzigartiger Bedeutung.
trisch betriebenen Bahnen (Train Jaune, Berninabahn) bilden Rohr- und Stromleitungen prägende
Kulturlandschaftliche Bedeutung
Bahnbegleiter.
Eisenbahnen und Kulturlandschaften sind eng
Die Albula/Bernina-Strecke zeigt hinsichtlich der
miteinander verwoben. Eisenbahnen bewirken ei-
kulturlandschaftlichen Bedeutung zahlreiche Ei-
ne Veränderung bestehender Kulturlandschaften,
genständigkeiten, aber auch Gemeinsamkeiten:
so wie sie auch neue entstehen lassen. Besonders
Sie durchfährt eine besonders grosse Anzahl von
die Hoch- und Kunstbauten der Bahn bestimmen
Vegetations- und Klimazonen und überwindet ein
die Wahrnehmung der vorbeiziehenden Land-
Gebirge in seiner gesamten Ausdehnung, was bei
schaft aus dem Fenster des fahrenden Zuges.
den Vergleichsbahnen nur für die ebenfalls die
Bei allen Vergleichsbahnen erfolgte nach deren
Alpen überschreitenden Bahnen am Semmering
Eröffnung eine Veränderung der agrikulturellen
und am Gotthard gilt. Weil die Semmeringbahn
Nutzungen der umgebenden Landschaft. Meist
jedoch eine deutlich geringere Höhendifferenz
wurde die Landwirtschaft intensiviert (etwa der
überwindet – lediglich etwa ein Viertel im Ver-
Teeanbau entlang der Darjeeling-Bahn), denn
gleich zur Berninabahn – durchfährt sie auch
die Bahn ermöglichte den leichteren, bzw. billi-
deutlich weniger verschiedene Vegetations- und
geren Transport der produzierten Güter. Verein-
Klimazonen. Die übrigen Vergleichsbahnen füh-
zelt werden aber auch umgekehrte Tendenzen
ren vom Flachland (teilweise von Seehäfen) zu
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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Destinationen im Gebirge und durchqueren daher
sind die Ortdurchfahretn noch erhalten.
ebenfalls eine grosse Anzahl an Vegetations-
In den Veränderungen der agrikulturellen Nut-
und Klimazonen. Eine gebirgsquerende Bahn
zungen, bei den Transportwegen und bei der
verbindet nicht nur tief am Bergfuss gelegene
Rolle des Tourismus (inkl. Aufkommen des
Regionen mit solchen in höheren Lagen, sondern
Wintertourismus in den Alpen ab Beginn des 20.
zusätzlich auch verschiedene Gebiete beidseits
Jahrhunderts) weist die Albula/Bernina-Bahn
des Gebirges – und damit auch unterschiedlich
Ähnlichkeiten mit einzelnen Vergleichsbeispie-
geprägte Kulturlandschaften. Die Albula/Berni-
len auf.
na-Linie verbindet den nördlich der Alpen liegenden deutschsprachigen Kulturraum mit dem
Heutige und künftige Bedeutung
südlich der Alpen liegenden italienischspra-
Trotz der viel zitierten «Eisenbahn-Renaissance»
chigen und durchfährt dabei den im Gebirge lie-
im 21. Jahrhundert ist die heutige Bedeutung der
genden rätoromanischen Kulturraum.
Vergleichsbahnen höchst unterschiedlich: Sie ste-
Einzigartig ist die Wahrnehmung der Bahnbau-
hen zwar alle noch in Betrieb, aber oft nur noch
werke im Falle der Albula/Bernina-Strecke. Sie
abschnittweise und nur selten in ihrer ursprüng-
wurden zu Beginn als «vorbildlich in die Land-
lichen Funktion. Wegen der zunehmenden Ver-
schaft angepasst» beurteilt. Bei der Semmering-
lagerung des Verkehrs auf die Strasse wurden
bahn hingegen hat man dies erst Jahrzehnte nach
bei einzelnen Bahnen nach dem Zweiten Welt-
dem Bau artikuliert, während am Gotthard die
krieg ganze Streckenabschnitte eingestellt oder
originalen eisernen Fachwerkträger-Brücken als
sie sind akut von der Einstellung bedroht. Einzig
vom Menschen künstlich gesetzter Kontrast zur
das Überleben als Tourismusbahn mit teilwei-
Landschaft und daher als störend empfunden
se stark ausgedünntem oder nur noch saisonal
wurden. Die Albula/Bernina-Strecke beweist,
verfügbarem Verkehrsangebot ermöglicht den
dass der Bau einer Eisenbahn in einer histo-
weiteren, meist unsicheren Fortbestand (z.B. Eri-
rischen und als wertvoll wahrgenommenen Kul-
trea-Bahn; Guayaquil & Quito Railway; saisonal:
turlandschaft viel rücksichtsvoller erfolgte als
Denver & Rio Grande Railroad). Ausser bei den
dort, wo das entsprechende Bewusstsein fehlte.
Transitbahnen Gotthard und Semmering ist heu-
Jedenfalls steht die Bauweise der Albula/Berni-
te der Güterverkehr bei allen Vergleichsbahnen
na-Linie in markantem Gegensatz zum Bau
eingestellt. Bei der Yunnan-Bahn sind einzelne
der Kolonialbahnen, wo die wirtschaftliche Er-
Streckenabschnitte im Jahre 2002 durch Unwetter
schliessung des Hinterlandes die Leitidee war.
schwer beschädigt worden, sie wurden zunächst
Bei europäischen Bahnen sind Ortsdurchfahrten
nicht wieder instandgesetzt. Ihr baulicher Zustand
auf Strassen, wie sie bei der Berninabahn vor-
ist – wie auch bei den meisten der anderen Ver-
kommen, selten. Ausserhalb Europas waren
gleichsbahnen – durchgängig unzureichend, wenn
solche Linienführungen einst häufiger, doch
auch das chinesische Eisenbahnministerium im
wurden sie in der Zwischenzeit meist umgebaut
Jahr 2004 grundsätzlich den Willen bekundete,
oder die Strecken wurden eingestellt. Ein Bei-
die Strecke aufrecht erhalten zu wollen, und di-
spiel für eine teilweise aufgehobene Strecke
es trotz des geplanten Baus einer normalspurigen
mit Ortsdurchfahrten ist der Guayaquil & Qui-
Trans-Asia-Bahn von Kunming nach Singapur.
to Railway. Bei der Darjeeling-Bahn allerdings
Bei den verglichenen Transitbahnen Gotthard und
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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Semmering wurde der Betrieb wie bei der Albula-
angepasst bewertet. Heute befinden sie sich noch
bahn im 20. Jahrhundert von Dampf auf elektrisch
weitgehend im Originalzustand. Die 1999 eröff-
umgestellt, was die Errichtung von Fahrleitungen
nete, im Abstand von etwa 22 km parallel zur
erforderte. Diese durch die Elektrifizierung be-
Albulabahn verlaufende Vereinalinie mit dem
dingten Veränderungen sind betriebstechnisch
Vereinatunnel, wurde als Ergänzung der Albula-
notwendige Massnahmen zur längerfristigen Er-
bahn errichtet und ist als Autoverlad konzipiert.
haltung des Bahnbetriebes. Bei der Semmeringund der Gotthardbahn wurden darüber hinaus
Internationale Einordnung der Albula/
aber noch weitere Eingriffe getätigt: Am Sem-
Bernina-Strecke
mering hat man bei einigen Bahnviadukten die
Die Albula/Bernina-Linie ist die jüngste der
ursprünglich auf Sicht gemauerten Ziegelgewöl-
grossen Alpenbahnen und wurde als Schmal-
be verputzt sowie die ursprünglichen Naturstein-
spurbahn angelegt. Während die Semmeringbahn
Brüstungen durch einfache Geländer ersetzt.
den eigentlichen Beginn des Gebirgsbahn-
Gegegenwärtig finden erneut betriebstechnisch
baus markiert, repräsentiert die Albula/Berni-
bedingte, die Gestalt der Viadukte verändernde
na-Strecke dessen Glanzzeit. Nach dem Ersten
Anpassungsarbeiten statt. Am Gotthard wurden
Weltkrieg kamen zwei Generationen lang keine
alle um 1880 errichteten stählernen Fachwerkträ-
alpenquerenden Bahnen mehr zur Ausführung.
ger-Brücken durch Betonkonstruktionen ersetzt.
Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts werden
Bei beiden Bahnen sind Basistunnel in Planung
wieder neue Alpenbahnen geplant oder gebaut;
(Semmering) oder schon im Bau (Gotthard). Der
diese bestehen aber allesamt aus langen Basis-
Erhalt des Betriebes über die historische Bergstre-
tunnels (Semmering, Gotthard, Furka, Lötsch-
cke nach Eröffnung des Basistunnels ist bis heute
berg, Brenner). Der Eisenbahnbau der zweiten
in beiden Fällen ungeklärt.
Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte im Tunnelbau
Die Albula/Bernina-Strecke steht nach wie vor
zu zahlreichen Neuerungen geführt: Besonders
in Vollbetrieb, d.h. auf ihr wird sowohl Per-
hervorzuheben sind die Spiraltunnels sowie die
sonen- wie auch Güterverkehr abgewickelt. Zwi-
langen Scheiteltunnels, beiden begegnet man
schen Thusis und St. Moritz besteht tagsüber eine
bei der Albulalinie. Aufgrund des grossen Auf-
Schnellzugsverbindungen im Stundentakt – eine
wands in bautechnischer wie in finanzieller Hin-
Seltenheit bei europäischen Schmalspurbahnen.
sicht kamen sie meist nur bei normalspurigen
Zwischen St. Moritz und Tirano verkehren täglich
Hauptbahnen zur Anwendung. Ihre Errich-
sieben Zugspaare. Zudem ist auf der ganzen Albu-
tung bedingte die Existenz mechanischer Tun-
la/Bernina-Strecke ganzjährig der «Bernina-Ex-
nelbohrmaschinen, wie sie in den 1860er Jahren
press» in Betrieb. Die Bauwerke der Albula- und
entwickelt worden waren. Die Tunnels der Sem-
Berninabahn sind aussergewöhnliche Zeugnisse
meringbahn etwa waren noch gänzlich händisch
aus der grossen Zeit des Alpenbahnbaues: Ihre
geschlagen worden. Im heutigen Eisenbahnbau
steinernen Brücken galten zur Zeit des Bahnbaues
kommen Spiraltunnels nicht mehr vor.
als die dauerhaftesten und widerstandfähigs-
Die Albula/Bernina-Strecke bildet in ihrem
ten, im Gegensatz zu den unterhaltsaufwändigen
Wechsel der Antriebstechnologie in hervorra-
Stahlbrücken. Sie wurden durch die Verwendung
gender Weise die Entwicklung in der Eisenbahn-
der örtlichen Baumaterialien als der Landschaft
technik ab: Während die für den Dampfbetrieb
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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gebaute Albulabahn herkömmliche Technik
schen China und Vietnam erhalten bleiben.
anwendet, zeugt die Berninabahn von jener
Weltweit einzigartig bei der Berninabahn ist die in
technischen Innovation des frühen 20. Jahr-
einzelnen Streckenabschnitten getroffene Linien-
hunderts, die heute bei Eisenbahnen dem Stan-
führung zugunsten der Touristen. Dieser bereits
dard entspricht: dem elektrischen Betrieb. Mit
vor dem Bahnbau ausgedrückte Wille entstand
der Berninabahn wurde die Leistungsfähigkeit
unter dem Einfluss des im 19. Jahrhundert auf-
der neuen Technologie demonstriert. Lang an-
gekommenen Alpentourismus. Dieser wurde zu
haltende, sehr starke Steigungen und geringe
Beginn des 20. Jahrhundert vor allem durch den
Krümmungsradien sowie eine maximale Kulmi-
witterungsunabhängigen Bahnbetrieb zum Ganz-
nationshöhe von über 2’200 m ü.M. kennzeichnen
jahrestourismus weiterentwickelt.
die Strecke. Bis heute ist die Albula/Bernina-Li-
Weltweit einzigartig ist auch die begeisterte An-
nie die höchstgelegene, die Alpen im Ganzjahres-
erkennung der Albula/Bernina-Strecke, die von
betrieb querende Eisenbahn. Auf eindrückliche
Beginn an als vorbildlich in die Kulturlandschaft
Weise wird bei der Berninabahn deutlich, wie sich
eingebettet begrüsst wurde. Andere Eisenbahnen
die Anwendung von technischen Innovationen
und deren Bauwerke wurden meist erst später
auch auf die Streckenführung auswirkte: Die Nei-
(Semmering, Denver & Rio Grande Railroad) als
gung bei der Berninabahn ist doppelt so gross wie
mit der umgebenden Landschaft harmonisierend
bei der Albulabahn. Bei der Nilgiri-Bahn war es
wahrgenommen, im Falle der Eisenbrücken der
die Anwendung des Zahnradbetriebes in Kom-
Gotthardbahn wurde gar von einer Rücksichts-
bination mit dem System des Dampfbetriebes,
losigkeit der Technik gegenüber der Landschaft
die zur Überwindung steiler Strecken eingesetzt
gesprochen. Bei einigen Vergleichsbeispielen
wurde. Die Berninabahn betont die Vorreiterrolle
wurde erst durch die Wandlung zu reinen Tou-
Europas bei technischen Innovationen im Eisen-
rismusbahnen der umgebenden Landschaft mehr
bahnbau; nur eine einzige Vergleichsbahn wurde
Bedeutung beigemessen (Denver & Rio Grande
von Beginn an elektrisch betrieben – der in den
Railroad; Guayaquil & Quito Railway). Heute
Pyrenäen liegende Train Jaune.
steht bei fast allen Vergleichsbahnen die Wahr-
Die vergleichende Analyse muss leider erkennen,
nehmung der Eisenbahn in der Gebirgslandschaft
dass sich viele der Vergleichsbahnen in schlech-
im Vordergrund. Einzigartige Ensembles von
tem baulichen Zustand befinden, und dass deren
Bahn, Landschaft und Baudenkmälern prägen
Zukunft sehr ungewiss ist. Regelmässiger Perso-
spezifische Idealbilder der jeweiligen Strecke,
nenverkehr erfolgt auf den verglichenen Schmal-
auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Ein-
spurbahnen oft nur noch abschnittsweise oder
zigartig ist die Albula/Bernina-Linie vor allem
saisonal als Museumsbahnbetrieb und der Güter-
wegen der weitgehend im Originalzustand erhal-
transport ist in der Regel vollständig eingestellt.
tenen Bauwerke sowie wegen der Einbettung in
Die einzigen beiden Ausnahmen hinsichtlich
eine längst vor dem Bahnbau gepflegte Kultur-
eines regelmässigen Personen- und Güterver-
landschaft. Aussergewöhnlich ist die Überwin-
kehrs, sind die verglichenen (normalspurigen)
dung des Gebirgskammes in seiner gesamten
Haupteisenbahnen über den Semmering und den
Ausdehnung durch die Eisenbahn, welche dabei
Gotthard. Die Yunnan-Bahn soll gemäss jüngeren
eine Verbindung verschiedener Kulturräume und
Pressemeldungen für den gesamten Verkehr zwi-
der verschiedenen Kulturlandschaften bildet.
3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs
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Albulastrecke > Bernina Express bei
Bergün/Bravuogn, im Hintergrund
links der Weiler Latsch.
P. Donatsch
3. Begründung der Eintragung > 3.d Authentizität und Integrität 464
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3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit
Sowohl die Albula / Bernina-Bahn wie auch die von ihr durchfahrene Kulturlandschaft sind au-
thentisch. Innerhalb des definierten Perimeters der Stätte sind alle den aussergewöhnlichen
und universellen Wert des Objekts begründende Charakteristika abgebildet. Die Bahn ist
bezüglich ihrer Streckenführung sowie der Hoch- und Kunstbauten fast gesamthaft original
erhalten und funktioniert nach wie vor als Vollbahn. Wie jede lebendige Kulturlandschaft
wandelt sich auch die Landschaft Albula / Bernina. Anhand der Betrachtung verschiedener Attribute (Materialität und Substanz, Konzeption und Struktur, Nutzung und Funktion, Sprache
und anderes Immaterielles, Gesamtcharakter) wird deutlich, dass ihr Wandel der kontinuierlichen und massstäblichen Entwicklung ihrer ursprünglich wirksamen kulturellen und natürlichen Werte entspricht.
Bei Baudenkmälern betrifft die Frage nach de-
menschlicher Aktivität – entwickelt haben. We-
ren Authentizität vornehmlich die «Originali-
sentliche Aussagen zur Authentizität lassen
tät» bezogen auf die ursprüngliche materielle
sich in diesem Fall auch über eine Betrachtung
Substanz. Bei einer Bahn handelt es sich um
der Entwicklung typischer, identitätsstiftender
ein technisches System; hier wird die Authen-
Eigenheiten und Besonderheiten machen. Zu
tizität in erster Linie über das Mass an funkti-
beachten ist des Weiteren der Wandel von imma-
onaler Integrität definiert. Um seine Funktion
teriellen Werten wie der Sprache und kultureller
erfüllen zu können, muss sich dieses Denkmal
Traditionen, sowie – bezüglich des gesamtheit-
laufend neuen Erfordernissen stellen, stetige
lichen Landschaftscharakters – auch der subjek-
bauliche Anpassungen sind daher unabdingbar.
tiv fassbare, grossmasstäbliche «Eindruck».
Die Bahn kann als «lebendiges Denkmal» apostrophiert werden, genauso wie eine Kulturland-
Sind die Faktoren ursprünglicher kultureller
schaft; auch sie untersteht einem steten Wandel,
Werte sowie der typischen Eigenheiten oder his-
wenn sie als solche lebensfähig sein will. Die
torischen Besonderheiten auch heute noch in der
lebendige Kulturlandschaft reagiert auf die sich
Landschaft wahrnehmbar und prägend, ist eine
stets ändernden Bedürfnisse von Gesellschaft
hohe Kontinuität der Kulturlandschaftsentwick-
und Wirtschaft und den technischen Fortschritt,
lung gegeben und die Kulturlandschaft kann als
ebenso haben natürliche Prozesse Einfluss auf
authentisch gelten. Ohne eine nachhaltige Ent-
ihre Gestalt. Die Authentizität einer Kulturland-
wicklung dieser Elemente wäre eine Kulturland-
schaft hängt ab von der Art und Weise, wie sich
schaft zwar als museal erhalten, nicht aber als
deren Attribute – die erhaltene materielle Subs-
gegenwärtig authentisch zu bezeichnen.
tanz und die Konzeption der Siedlungsstruktur oder die Nutzung und Funktion des Raums
Die Albula/Bernina-Linie der Rhätischen Bahn
und die damit verbundenen baulichen Zeugen
besteht heute seit mehr als hundert Jahren. Nach
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Solisviadukt > Classic Alpine Pullman Express. Die Rhätische Bahn verfügt über einen grossen
Bestand an historischem Rollmaterial.
P. Donatsch / Rhätische Bahn
Landwasserviadukt > Eine bis ins kleinste Detail
authentische historische Zugskomposition auf
dem über 100 Jahre alten Landwasserviadukt.
P. Donatsch / Rhätische Bahn
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wie vor erfüllt sie als Vollbahn ihre Aufgaben im
original bewahrt. Weil sie durch Änderungen
Personen- und Güterverkehr. Die Streckenfüh-
im Bahnbetrieb nach und nach ihre angestamm-
rung hat sich seit dem Bahnbau kaum verändert.
te Funktion verlieren, werden diese wichtigen
Die Erschliessung des Hochtales Engadin und
Bauzeugen neuen, verträglichen Nutzungen
die Weiterführung der Strecke bis nach Italien
zugeführt.
sind auch heute noch bis hin zu technischen Ein-
Im Bestand des Rollmaterials ist eine bedeutende
zelheiten original erhalten. Lediglich im Bereich
Anzahl historischer Bahnwagen und Lokomoti-
der Berninastrecke wurden kurze Abschnitte
ven vorhanden. Dank der Arbeit von Spezialisten
aufgrund des eingeführten Winterbetriebs und
und besonderen Trägervereinen sowie der Unter-
den damit verbundenen Naturgefahren schon
stützung der Bahn, der öffentlichen Hand (Denk-
bald nach der Bauzeit verlegt: Die Linienführung
malpflege Graubünden) und privater Sponsoren
dieses Abschnitts war von Beginn weg als verän-
ist es möglich, dass heute auf der Albula/Bernina-
derbar angelegt worden, die Möglichkeit der ge-
Strecke immer noch Bahnfahrten in historischen
wissermassen «empirischen Nachbesserung» bei
Zugskompositionen stattfinden, deren Lokomo-
der Planung bereits impliziert (vgl. Kap. 2.b.6).
tiven und Bahnwagen bis ins kleinste Detail au-
Die Kunstbauten – Bahntrassees, Brücken und
thentisch konserviert und restauriert worden sind.
Tunnels auf der gesamten Strecke – sind in hohem
Masse in ihrer ursprünglichen Gestalt und im ur-
Der Schutz von Landschaft und Natur sowie der
sprünglichen Material aus der Bauzeit überliefert
respektvolle Umgang mit dem Bestehenden wur-
(vgl. Kap. 2.a.4).
den schon während des Bahnbaus selbst disku-
Auch die Hochbauten der Bahn sind weitgehend
tiert und dann bald gesetzlich vorgeschrieben.
original erhalten (vgl. Kap. 2.a.5). Die kleinen
Die seither stattfindende Entwicklung der Land-
Aufnahmegebäude der Bahnstationen an der Al-
schaft wird deshalb heute in der Regel als mass-
bula- und Berninastrecke sind meistens noch in
stäblich und verträglich wahrgenommen. Freilich
ihrer ursprünglichen materiellen Substanz und
begann der Wandel der Landschaft bereits lange
Form vorhanden. Bisweilen sind sie der fortschrei-
vor der Erschliessung mit der Bahn, im Prinzip
tenden Automation wegen allerdings nicht mehr
mit dem Beginn menschlicher Besiedlung. Durch
dauernd bedient. Auch die grösseren Bahnhöfe
die archäologischen Funde lässt sich der Beginn
sind in der Regel – wie zum Beispiel der Bahnhof
der Kulturlandschaft in diesem Sinne nachwei-
in Bever – in ihrer originalen Form überliefert.
sen (vgl. Kap. 2.b.1). Die überlieferten Sakral- und
Das markante Aufnahmegebäude von St. Moritz
Profanbauten entlang der Albula/Bernina-Strecke
wurde zwischen 1902 und 2002 mehrmals um-
sind vielfach in ihrer ursprünglichen Materiali-
gebaut, ist aber weiterhin eine qualitätsvolle Ge-
tät und Form erhalten oder sie widerspiegeln in
samtanlage und verkörpert ein besonderes Stück
ihrer nachträglich modifizierten Gestalt bedeu-
Eisenbahngeschichte. Die Bahnhöfe von Samedan
tende historische Epochen, in denen innerhalb
und Thusis sind in den letzten Jahren durch Neu-
der entsprechenden Region grundlegende Verän-
bauten ersetzt worden. Andere dem Bahnbetrieb
derungen vor sich gingen (vgl. Kap. 2.a.6). Kon-
dienenden Hochbauten – Kleinstationen, Güter-
servierungen und Restaurierungen wertvoller
schuppen sowie Transformatoren- und Bahn-
Baudenkmäler wurden nach dem Ersten Welt-
wärterhäuser – haben sich in der Regel ebenfalls
krieg von der Eidgenossenschaft gefördert und
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Landeskarte von 1938
Vergleich der Landeskarten von 1938 und 2004 des
mittleren Albulatals > Der Charakter der Landschaft ist
unverändert geblieben.
Landeskarte (1:25’000) von 2004
swisstopo, Wabern (MB 062220)
3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit
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überwacht. Seit l960 besteht in Graubünden ein
wurde die Land- und Forstwirtschaft mechani-
kantonales Amt für Denkmalpflege. Seither wur-
siert und es entstanden neue Ökonomiegebäude
den alle Sakralbauten entlang der Strecke unter
sowie Land-, Forst- und Alpwege. Dank der da-
fachkundiger denkmalpflegerischer Begleitung
durch geschaffenen guten Voraussetzungen für
restauriert. Auch bei den Profanbauten, die sich
eine moderne Betriebsführung (neue und grössere
meist in Privatbesitz befinden, wurden entspre-
Ställe, Wegnetz für den Maschineneinsatz, Güter-
chende Massnahmen in der Regel unter Beizug
zusammenlegungen) und dank spezifischer und
von Bauberatern der Denkmalpflege realisiert.
auch im Sinne der Nachhaltigkeit die Entwicklung
Die Siedlungen bestehen seit Jahrhunderten, die
steuernde Beiträge der öffentlichen Hand wird die
historischen Kerne sind, was ihre Struktur und
Landschaft nach wie vor bewirtschaftet und ge-
Substanz betrifft, weitestgehend gut erhalten
pflegt (vgl. Kap. 4.a.2).
(vgl. Kap. 2.b.4); sie wurden nach und nach um
neue Quartiere ergänzt. Diese Siedlungserwei-
Mit der Bahnerschliessung der Kulturlandschaft
terungen sind als Zeichen eines wirtschaftlichen
Albula/Bernina entstanden landschaftsprägende
Aufschwungs – dies betrifft insbesondere die
Eigenheiten und besondere Merkmale, die als
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Merkmal
menschliche Interaktion mit der Natur im Raum
jeder lebendigen Kulturlandschaft. Heute exis-
ablesbar wurden. Bestimmte, bei der Linienfüh-
tieren ältere und neuere Siedlungsgebiete neben-
rung vorrangig behandelte Faktoren wie etwa die
einander und sind als solche klar voneinander
Einhaltung eines ausgeglichen Längenprofils bei
unterscheidbar. Die Dörfer und Weiler sind seit
der Albulabahn führten dazu, dass die Bahn nicht
jeher Wohn- und Arbeitsort von teilweise densel-
immer direkt an die bestehenden Dörfer entlang
ben Familien. Der moderne Strassenbau mit Um-
der Strecke angebunden werden konnte. Mit dem
fahrungsstrassen (z. B. Samedan und Celerina)
Bahnbau erfuhren daher einige alte Siedlungen
entwickelt die zahlreichen Verkehrsverbindungen
eine erste besondere Erweiterung: Im Falle von
fort, die schon seit langem das Gebiet durchque-
Filisur, Bergün/Bravuogn, Samedan, Pontresi-
ren. An ihnen wurde den aktuellen Bedürfnissen
na und Poschiavo wurden von Bäumen gesäumte
und Verkehrsmitteln entsprechend weitergebaut
Strassenzüge, eigentliche Alleen, zwischen Bahn-
(vgl. Kap. 2.b.3). Galerien, Tunnel und Verbau-
hof und Dorf angelegt. Die alten Siedlungskerne
ungen sowie auch Fluss- und Bachverbauungen
blieben dadurch in ihrer Struktur und Qualität
wurden als Schutz vor Naturgefahren errich-
erhalten und bilden als Zeugen intakter Dorf-
tet. Solche Gefahren wurden bereits zur Zeit des
strukturen «Schmuckstücke» mit einer hohen
Bahnbaus erkannt und baulich eingeschränkt.
Baukultur; neben den genannten Beispielen seien
Durch die Ausdehnung des Siedlungsraums und
diesbezüglich auch Bever und Brusio speziell her-
durch das sich ändernde Gefahrenpotential wur-
vorgehoben. Die Stromgewinnung mit den Kraft-
den bisweilen zusätzliche Schutzmassnahmen
werkzentralen, Speicherseen, Ausgleichsbecken,
notwendig. Sie beeinträchtigen die Authentizität
Hochspannungsleitungen und Wohnsiedlungen
der Landschaft kaum. Die land- und forstwirt-
für die Angestellten der Stromgesellschaften (z.
schaftliche Nutzung dominiert ausser im Raum
B. in Preda bei Tiefencastel oder in Filisur) ist
Thusis und im Oberengadin die Kulturlandschaft
die direkte Weiterentwicklung der eigentlichen
Albula/Bernina. Seit dem Zweiten Weltkrieg
conditio sine qua non des Bahnbaus, zumindest
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im Falle der Berninabahn. Die zur Wasserkraft-
auch kulinarische Besonderheiten, etwa spezielle
nutzung benötigten Bauten und Anlagen sind
Brotformen im Puschlav oder typische Gerichte
seit dem beginnenden 20. Jahrhundert prägender
des Engadins (vgl. Kap. 2.b.2).
Faktor im Albula/Bernina-Gebiet und damit authentischer Bestandteil der Landschaft (vgl. Kap.
Der grossmassstäbliche Eindruck der Land-
2.b.7). Die touristische Entwicklung äussert sich
schaft, ihr Charakter, ist unverändert: Im fernen
im Bau von Infrastrukturen (z. B. Seilbahnen,
Sichtbereich der Bahn hat sich die Erscheinung
Hotels und Ferienhäuser) – letztlich lässt sich
der Natur- und Kulturlandschaft seit dem Bahn-
der Bahnbau selbst als eine frühe grosse touristi-
bau kaum verändert. Punktuelle Ausnahmen be-
sche Infrastruktur qualifizieren. Seither wird die
treffen Masten mit Leitungen, Seilbahnanlagen
Landschaft touristisch genutzt, der Wandel in den
oder Steinschlag- und Lawinenverbauungen. Sie
Freizeitbedürfnissen der Besucher hat sich in der
schmälern die Authentizität der Kulturlandschaft
Kulturlandschaft seit den frühesten touristischen
und der sich abwechselnden Landschaftskulisse
Erscheinungen bis heute lückenlos abgebildet: Die
nicht. Insbesondere das anderswo häufig zu be-
grossen Hotelpaläste aus dem ausgehenden 19.
obachtende, grossmassstäbliche Phänomen der
Jahrhundert wurden von Ferienhäusern mit ein-
«Supermarktperipherie» (Periurbanisierung) mit
zelnen Wohnungen abgelöst, neue Bergerschlies-
seinen negativen Einflüssen auf die Gestalt der
sungen sind hinzugekommen, insbesondere in
Landschaft ist im Gebiet Albula/Bernina nicht zu
den 1950er bis 1960er Jahren. Der Tourismus ist
beobachten.
authentischer Teil dieser Landschaft geworden.
Die Integrität der Stätte ist gewährleistet: Die
Die Kulturlandschaft Albula/Bernina war und ist
Bahnlinie der Albula/Bernina-Strecke bildet das
durch eine grosse kulturelle Diversität auf engem
Rückgrat der Landschaft, der vorgeschlagene Pe-
Raum gekennzeichnet. Verschiedene Traditionen
rimeter umfasst die Strecke von ihrem Anfangs-
und Bräuche prägen die Identität der Talschaften.
punkt in Thusis bis zu ihrem Endpunkt in Tirano
Am augenfälligsten ist sicher die sprachliche Viel-
in Italien. Die eigentliche Kernzone umfasst dar-
falt: Deutsch, Romanisch und Italienisch werden
über hinaus den relevanten Kulturlandschafts-
in unterschiedlichen Varianten gesprochen. Durch
bereich in Bezug auf die Bahnlinie: Sämtliche
die wachsende Mobilität und die dadurch ver-
Werte der Kriterien gemäss Kapitel 2 sind in ihm
stärkt wirksamen Einflüsse von aussen, was teil-
abgebildet. Die Horizontlinie bildet die visuell
weise auch auf den Bahnbau zurückzuführen ist,
wahrnehmbare Grenze jeder Landschaft. Sie be-
hat sich das Sprachgefüge zwar leicht verändert.
stimmt hier die Grenze der Pufferzone der Kul-
Die unterschiedlichen Sprachen sind aber nach
turlandschaft Albula/Bernina. Um bezüglich der
wie vor lebendig und werden stark gefördert (vgl.
Stätte sinnvolle Schutzbestimmungen in der Puf-
Kap. 2.b.8). Zahlreiche regionale Bräuche wer-
ferzone definieren zu können, wurde diese in ei-
den seit jeher gepflegt und sind ein Zeichen für die
nen Nahbereich und in den ferneren Sichtbereich
kulturelle Identität der Bewohner. Die breite Be-
aufgeteilt. Damit sind alle wertbestimmenden
teiligung am religiösen Brauchtum hat sich zwar
Charakteristika der Rhätischen Bahn in ihrer
abgeschwächt, die konfessionell unterschiedlichen
Kulturlandschaft Albula/Bernina umfassend im
Feiertage haben sich jedoch gehalten. Dazu zählen
Perimeter der Kandidatur enthalten.
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