Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der
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Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der
Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3. Begründung der Eintragung 3.a Kriterien, nach denen die Eintragung vorgeschlagen wird > �� ��� 361 3.b Vorgeschlagene Erklärung zum aussergewöhnlichen �� > ��� 363 3.c Vergleichende Analysen (einschliesslich des Erhaltungs- zustands ähnlicher Güter)� > 367 ��� 3.c.1 > ��� 367 3.c.2 Bahnvergleich > ��� 374 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich > 420 ��� 3.c.4 Gesamtschau des Vergleichs > ��� 457 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit (und Begründung für die Eintragung nach diesen Kriterien) universellen Wert Identifizierung der Vergleichsobjekte > �� ��� 465 3. Begründung der Eintragung > Inhaltsverzeichnis 359 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Albulastrecke > Die Steilstufe zwischen Bergün/Bravuogn und Preda bedingte eine aufwändige Linienführung mit zahlreichen Kunstbauten. Ein Personenzug der Rhätischen Bahn passiert den Albulaviadukt III. Foto Geiger/Rhätische Bahn 3. Begründung der Eintragung > 3.a Eintragungskriterien 360 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.a Kriterien, nach denen die Eintragung vorgeschlagen wird (und Begründung für die Eintragung nach diesen Kriterien) Das Gut wird nach den Kriterien i, ii und iv ge- ausgehende Rezeption der Berge als sublimes mäss Nr. 77 der Operational Guidelines for the Erlebnis zwischen Natur, Kultur und Technik. Implementation of the World Heritage Convention angemeldet mit folgender Begründung: Kriterium i Kriterium iv Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» ist in aussergewöhnlicher Wei- Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft se sowohl ein einzigartiges als auch ein typisches Albula/Bernina» ist ein aussergewöhnliches Beispiel einer in eine (Hoch-)Gebirgslandschaft Meisterwerk, entstanden aus einem einzig- integrierten Eisenbahn: Die Albulabahn ist mit artigen kreativen Zusammenspiel von inge- ihrer spektakulären Streckenführung und den nieurmässiger Höchstleistung, technischer original erhaltenen Kunstbauten von beeindru- Innovation und handwerklicher Perfektion, ckender technischer Leistung und Struktur ein sowie dem Ausschöpfen der sich bietenden herausragendes Objekt aus der Glanzzeit der Möglichkeiten finanzieller und wirtschaft- Hochgebirgsbahnen und wurde von Beginn an als licher, aber auch sozio-kultureller Entwicklun- harmonisch in die Landschaft eingefügter Trans- gen und der spektakulären Naturschönheit zu portweg wahrgenommen; die Berninabahn ist als einem Gesamtkunstwerk. Die «Rhätische Bahn elektrische Überlandbahn in aussergewöhnlicher in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» ist Höhenlage und mit extremer Steigung ein einzig- ein einmaliges Zeugnis aus der Glanzzeit des artiges Beispiel für die Anwendung einer um 1900 Gebirgsbahnbaues. höchst innovativen Technik, die bald grösste Ver- Kriterium ii breitung finden sollte, darüber hinaus stand die Entwicklung ihrer Linienführung in besonderer Die «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Weise unter dem Vorzeichen einer bestmöglichen Albula/Bernina» bildet ein herausragendes Abstimmung mit der umgebenden Landschaft. Beispiel für die touristisch geprägte, alpine Als eine ein ganzes Gebirge querende Bahn ver- Kulturlandschaft: Die Bauten der Bahn in der bindet die Albula/Bernina-Linie drei Sprach- und von bedeutenden kulturellen und natürlichen Kulturräume und steht bis heute im originalen Werten gezeichneten Landschaft und die vom Vollbetrieb mit Personen- und Güterbeförderung. Bahnbau ausgelösten räumlichen und kulturellen Entwicklungen bilden emblematisch die Tourismusgeschichte im Alpenraum ab und zeigen gleichzeitig – und für die weltweite Kulturgeschichte exemplarisch – die von Europa 3. Begründung der Eintragung > 3.a Eintragungskriterien 361 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Berninastrecke > Die kühne Streckenführung bei der Alp Grüm ermöglicht ein eindrückliches Landschaftserlebnis. C. Gilli /Rhätische Bahn 3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung 362 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.b Vorgeschlagene Erklärung zum ausserge- wöhnlichen universellen Wert Der Vorschlag «Rhätische Bahn in der Kultur- linie wurde subtil in die vielfältige Kultur- landschaft Albula/Bernina» umfasst die Ei- landschaft eingebettet und wirkt bis heute als senbahnlinie als technisches Denkmal sowie Bereicherung. Die Berninabahn konnte als Pro- integrativ die in ihren Grenzen präzis definierte dukt des auf italienische Initiative entstehenden umgebende Kulturlandschaft. Der grenzüber- Kraftwerkbaus und der Energiegewinnung für schreitende Perimeter der Stätte widerspiegelt die lombardische Metropole Mailand realisiert alle sich wechselseitig beeinflussenden bau- werden und nutzte das dadurch verfügbare Ka- lichen, technischen, kulturellen und natürlichen pital aus. Zudem sollten die Belange des Touris- Faktoren des Phänomens Eisenbahn in einem mus Berücksichtigung finden und das Trassee weiteren Kontext. so angelegt werden, dass sich vom fahrenden Zug aus ein Bergerlebnis einstellen konnte. Die- Der aussergewöhnliche universelle Wert der ser speziellen Ausgangslage wurde mit der An- «Rhätischen Bahn in der Kulturlandschaft Al- wendung einer neuen Technologie begegnet, die bula/Bernina» kann mit mehreren Argumenten Hochgebirgsbahn nämlich als elektrische Über- begründet werden: Die Bahn und die umge- landbahn gebaut. Die «Rhätische Bahn in der bende Landschaft bilden ein sich gegenseitig Kulturlandschaft Albula/Bernina» ist ein aus- bedingendes Gesamtkunstwerk. Der Bau der sergewöhnliches Beispiel eines Meisterwerks, Bahnlinie wurde durch ein ungemein kreatives das durch einzigartiges, vielfältiges Zusammen- Ausnutzen von technischen, wirtschaftlichen spiel von Wirtschaft, Polititik, Technik, Kultur und sozio-kulturellen Einflüssen möglich: Auf und Natur erschaffen werden konnte. politischer Ebene war der Zusammenhalt der unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen In ihrer Komplementarität – durch die Kom- Gebiete des Kantons Graubünden ein wichtiges bination zweier verschiedener Gattungen von Ziel; dieser konnte mit dem Bahnbau gefördert Gebirgsbahnen, einerseits mit Scheiteltunnel werden. Die Albulalinie wurde zwar der Topo- (und den bautechnisch ebenfalls aufwändigen graphie wegen als Schmalspurbahn angelegt, Spiraltunnels) und andererseits als offen über ei- dennoch aber wie eine (normalspurige) Haupt- nen Pass geführte Überlandbahn – ist die Albu- linie konzipiert und betrieben. Das Ziel war die la/Bernina -Linie ein zugleich einzigartiges wie einfache Erreichbarkeit des Engadins, und zwar typisches, herausragendes Beispiel einer Bahn im Sommer wie im Winter. So trug die Bahn zur im Gebirge. Sie ist von höchster baugeschicht- Weiterentwicklung eines neuen Wirtschafts- licher Bedeutung und Qualität; darin liegt auch zweiges bei – des Winter(sport)tourismus; der ihre weltweite Anerkennung begründet, die ihr Tourismus als solcher sollte in der Folge zur schon zur Zeit der Inbetriebnahme gezollt wur- Leitbranche der Region avancieren. Die Bahn- de. Von den bereits auf der Liste des Welterbes 3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung 363 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch figurierenden Gebirgsbahnen unterscheidet ten. Die baulich gestalteten Möglichkeiten zur sie sich wesentlich: Die Albulalinie stellt als Landschaftswahrnehmung während der Bahn- aufwändig konstruiertes und handwerklich fahrt sowie die bereits während des Baus vor- exzellent erstelltes Meisterwerk den Typ der genommene Landschaftsgestaltung durch die Gebirgsbahn aus der Glanzzeit des Eisenbahn- Bahn sind einzigartig. Auf kurzer Strecke kön- zeitalters dar. Mit ihrer grossen Anzahl an nen vielfältige und spektakuläre Naturphä- steinernen, in Höhe und Länge variierenden Vi- nomene, Kulturlandschaftstypen mit jeweils adukten, den bautechnisch komplexen, teilwei- typischen agrikulturellen Nutzungen und sehr se übereinander liegenden Kehrtunnels sowie bedeutende Denkmäler erfahren werden: Von dem langen Scheiteltunnel, der architektonisch der hochalpinen Gletscherwelt der Bernina bis wertvollen und sorgfältigen Gestaltung der zum südlich geprägten Val Poschiavo und Velt- Hochbauten und schliesslich auch dem Betrieb lin, vom mondänen Tourismusort St.Moritz bis weist sie alle Charakteristika einer Hauptlinie zur ursprünglichen alpinen Agrarlandschaft in auf, auch wenn sie als Schmalspurbahn gebaut Bergün/Bravuogn, vorbei an einer Vielzahl cha- wurde. Bei der Berninabahn wiederum, einer rakteristischer Profan- und Sakralbauten können elektrischen Überlandbahn in grosser Höhe und die Reisenden, dank der modernen Technik, qua- mit der extremen Steigung von 70 ‰, wurde si im Zeitraffer den Alpenraum in seiner ganzen technisches Neuland beschritten. Die Albula/ Reichhaltigkeit erfahren. Die «Rhätische Bahn Bernina-Strecke entspricht einem besonderen in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» zeigt Typ von «Gebirgsbahn»: Auf lediglich rund emblematisch diese Synthese von Natur, Kul- 130 km und mit einer maximalen Höhendiffe- tur und Technik, die bedeutenden Einfluss auf renz (1’550 bzw. 1’700 m) überwindet sie ein die weltweite Rezeptionsgeschichte der Alpen Gebirge in seiner Gesamtheit. Als grenzüber- ausgeübt hat. Sie kann als kulturgeschichtlich schreitende Linie bedeutet sie ein verbindendes exemplarisch gelten. Moment in einer trennenden Topographie: Auf Gleichzeitig – und eng mit dem Aspekt der Land- kurzer Strecke durchfährt sie vielfältige Land- schaftswahrnehmung verbunden – ist das Gut schaftsformen und mehrere Klimazonen sowie hervorragendes Beispiel für die Entwicklung der drei verschiedene, sich in Sprache und Tradition touristisch geprägten, alpinen Kulturlandschaft. unterscheidende Kulturräume. Die breite, ganzjährige Nutzung der Landschaft für den «Fremdenverkehr» wurde erst durch Schon zur Zeit des Bahnbaus wurde die zu den Bahnbetrieb möglich. Qualitätsvolle kultur- durchfahrende Landschaft als von ausserge- landschaftliche Elemente wie Spazier- und Wan- wöhnlicher, schutzwürdiger Qualität qualifiziert: derwege, Aussichtspunkte mit mechanischen Die adäquate Einpassung der Bahninfrastruk- Aufstiegshilfen wie auf Muottas Muragl oder der tur wurde denn auch stark gewichtet, gleich- bei seiner Erbauung höchstgelegene Golfplatz zeitig war die Streckenführung selbst – vor Europas in Samedan (1’700 m ü.M, gegründet allem im Falle der Berninabahn – darauf ange- 1893), sowie weitere bauliche Zeugen, wie die legt, die Landschaft dem Reisenden möglichst prägnanten Grand Hotels, machen diese Kultur- in ihrer ganzen Grossartigkeit zu präsentie- landschaft mit der Bahn zu einem ausserordent- ren und ihm so ein Landschaftserlebnis zu bie- lichen Repräsentanten des alpinen Tourismus. 3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung 364 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Die Kulturlandschaft Albula/Bernina ist in ihren prägenden Elementen ausserordentlich gut erhalten. Auch die ganze Bahninfrastruktur (Linienführung, Kunst- und Hochbauten) befindet sich in sehr gutem, originalem Zustand. Dies ist insofern einzigartig, als die Bahn nach wie vor voll in Funktion steht: Als Regelbahn täglich nach Fahrplan in Betrieb, dient sie wie vor 100 Jahren heute noch dem Personen- und Gütertransport. Sie verfügt ausserdem über einen einzigartigen Bestand an historischem Rollmaterial. Während die UNESCO-Welterbestätte «Semmeringbahn» den Beginn der bahntechnischen Erschliessung von Gebirgen markiert, repräsentiert die Albula/Bernina-Linie die Glanzzeit des Gebirgsbahnbaues: Erst mit der Entwicklung von mechanischen Tunnelbohrmaschinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten lange Tunnelbauwerke sowie Spezialtunnel (z.B. Spiraltunnel) mit vertretbarem zeitlichen und finanziellen Aufwand errichtet werden. Der alpine Gebirgsbahnbau fand mit dem Ersten Weltkrieg sein Ende, danach wurden keine neuen alpenquerenden Bahnen mehr fertig gestellt; Spiraltunnel werden im heutigen Eisenbahnbau nicht mehr errichtet. 3. Begründung der Eintragung > 3.b Vorgeschlagene Erklärung 365 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Berninastrecke > Der 2’253 m ü.M. hohe Berninapass wird von der Bahn in offener Linienführung überquert. Der Bahnreisende erhält so uneingeschränkten Einblick ins Hochgebirge. P. Donatsch / Rhätische Bahn 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 366 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.c Vergleichende Analyse 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte Die vergleichende Analyse hat zum Ziel, für die spezielle Bedeutung der Albula/Bernina-Linie, potentielle UNESCO-Welterbestätte «Rhätische was die wechselseitige Beziehung zwischen Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina» einem technischem Bauwerk und dessen Um- den Nachweis von deren aussergewöhnlichem gebung betrifft. Die zum Vergleich herange- universellem Wert im länder-, zeiten- und kul- zogenen Objekte sind deshalb ebenfalls unter turübergreifenden Sinne darzulegen. Es sollen dem Gesichtspunkt von «Eisenbahnlinien in sowohl die Eigenheiten als auch die Gemein- der sie umgebenden Landschaft» ausgewählt samkeiten, gleichsam das Einzigartige und das und analysiert worden. Generell muss voran- Typische in Bezug auf vergleichbare Objekte gestellt werden, dass eine Eisenbahnstrecke in- herausgearbeitet werden. klusive Kulturlandschaft eine Neuheit in der Der Vergleich erfolgt systematisch und nach UNESCO-Welterbeliste darstellen würde: Alle transparenten Kriterien. An erster Stelle steht bisher eingetragenen Eisenbahnen wurden als die Auswahl der Objekte für einen detaillierten Eisenbahnstrecken ohne die umgebende (Kul- Vergleich. Der vorliegende Fall ist insofern viel- tur-)Landschaft aufgenommen, weshalb die schichtig, als neben der Albula/Bernina- Kernzone derzeit jeweils nur das Eisenbahn- Bahnstrecke auch die sie umgebende Kultur- trassee umfasst. Bei der Semmeringbahn ist der landschaft vorgeschlagen wird und damit tat- Einbezug der umgebenden Landschaft in das sächlich zwei unterschiedliche Gattungen zur Welterbe vorgesehen, wobei eine präzise Ein- Diskussion stehen: ein bahntechnisches Denk- grenzung (räumlich und in weiterer Folge auch mal und eine Kulturlandschaft. Die zur Dis- betreffend dem Schutz) sich noch in Ausarbei- kussion stehende Kandidatur verweist auf die tung befindet. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 367 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Typisierung Die Auswahl der mit der Albula/Bernina-Linie Zur Identifizierung der Vergleichsobjekte wurde vergleichbaren Eisenbahnstrecken wurde auf- eine international besetzte Expertengruppe ein- grund der Typisierung getroffen, wie sie anläss- gesetzt, welcher Prof. Dr. Robert Lee (Sydney, lich der 1st World Railway Heritage Conference Australien), der Technikhistoriker Mag. Günter vom 16. März 1998 (vgl. dazu die ICOMOS- Dinhobl (Wien, Österreich), der Industriehisto- Studie Railways as World Heritage Sites, 1998) riker Dr. sc. techn/dipl. Arch. ETH Hans-Peter angeregt worden war. Der damalige Vorschlag Bärtschi (Winterthur, Schweiz) und der Spezi- zielte auf die Unterteilung von Bahnlinien in: alist für die Geschichte der Rhätischen Bahn, > Hauptlinien (main lines) Gion Caprez (Chur, Schweiz), angehörten. Der > Kolonialeisenbahnen (colonial lines) Leiter des «Institute für Railway Studies & > Bergeisenbahnen (mountain lines) Transport History», Prof. Dr. Colin Divall (York, > Schmalspureisenbahnen (narrow gauge). England) übernahm die Aufgabe einer Expertise, bzw. der externen Beratung im Zusammenhang Entsprechend dieser Kategorisierung wurde mit der Untersuchung. im Rahmen der Tagung die spätere UNESCO- In einem ersten Schritt wurde das Untersu- Welterbestätte «Semmeringbahn» in Österreich chungsgebiet in sechs (Welt)Regionen aufgeteilt: als Hauptlinie sowie als Bergeisenbahn gewertet > Ozeanien, Ost- und Südasien und die ebenfalls in die UNESCO-Weltereblis- > Süd- und Westasien te aufgenommenen indischen Bahnen «Darjee- > Afrika ling» und «Nilgiri» als Kolonialeisenbahnen, > Südamerika als Bergeisenbahnen und als Schmalspurei- > Nord- und Mittelamerika senbahnen. Auch die Albuba/Bernina-Strecke > Europa lässt sich unter den genannten Gesichtspunkten drei verschiedenen Klassen zuordnen: Es handelt sich um eine Schmalspureisenbahn, um eine Bergeisenbahn und – in ihrem Abschnitt zwischen Thusis und St. Moritz – strukturell auch um eine Hauptlinie (Anpassung der Streckenparameter und Bauausführung an Hauptlinien-Standards, vgl. Kap. 2.a.3). Diese Zusammensetzung – eine schmalspurige Hauptlinie im Gebirge – war für die Wahl der internationalen Vergleichsobjekte ausschlaggebend. Mit zwei bewusst gewählten Ausnahmen blieb die Auswahl also auf Bahnen beschränkt, welche eben diese Kriterien erfüllen. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 368 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Spezialfall Bergeisenbahn Tourismus, für landwirtschaftliche Belange oder Im Falle der Kategorie Bergeisenbahn ist auf eine für den Bergbau. Sie wurden teilweise auch iso- Differenzierung hinzuweisen, die sich im deut- liert, d.h. ohne Verkehrsanbindung an überre- schen Sprachraum eingebürgert hat: die Unter- gionale Eisenbahnen errichtet. Im Falle einer scheidung zwischen Gebirgsbahn und Bergbahn. touristischen Nutzung stehen sie zumeist nur saisonal in Betrieb. Bergbahnen sind also mit der Bergbahnen Albula/Bernina-Linie nicht vergleichbar und fal- Bergbahnen dienen der wirtschaftlichen Er- len daher für die hier angestrebte Analyse ausser schliessung von Bergregionen, sei es für den Betracht. Auswahl an hochgelegenen Bergbahnen Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] USA/Col. Manitou Springs - Pike‘s Peak (Manitou & Pike‘s Peak) Normal, Z 4302, Pike‘s Peak USA/Col. Silver Plume – Mt. McClellan 914 mm J 4159, Mt. McClellan Schweiz Kleine Scheidegg – Jungfraujoch (Jungfraubahn) Meter, Z 3454, Jungfraujoch Schweiz Zermatt – Gornergrat (Gornergratbahn) Meter, Z 3088, Gornergrat Deutschland Garmisch-Partenkirchen –Zugspitze (Bayrische Zugspitzenbahn) Meter, Z 2650, Schneeferner Schweiz Brienz – Rothorn 800 mm, Z 2349, Rothornkulm Schweiz Alpnachstad – Pilatus-Kulm (Pilatusbahn) 800 mm, Z 2070, Pilatus Schweiz Lauterbunnen – Grindelwald (Wengernalpbahn) 800 mm, Z 2061, Kleine Scheidegg Australien Perisher Blue (Skitube underground 1986) Meter, Z 2054, Perisher Blue Schweiz Glion – Rochers-de-Naye 800 mm, Z 1973, Rocher de Naye Schweiz Wilderswil – Schynige-Platte 800 mm, Z 1967, Schynige Platte Spanien Ribas-Caralps – Nuria Meter, Z 1964, Nuria USA/NH (Bretton Woods) – Mount Washington Normal, Z 1918, Mount Washington Frankreich Chamonix – Montenvers Meter, Z 1913, Montenvers Österreich Puchberg – Hochschneeberg Meter, Z 1798, Hochschneeberg Schweiz Arth – Rigi Normal, Z 1750, Rigi-Kulm Österreich Brannenburg – Wendelstein Meter, Z 1723, Wendelstein Schweiz Capolago – Monte-Generoso 800 mm, Z 1620, Monte Generoso Schweiz Aigle – Leysin Meter, Z 1453, Leysin England Llanberis – Snowdon Mountain 800 mm, Z 1064, Snowdon Japan Yokogawa – Usui Toge 1067 mm*, Z J 940, Usui Toge Z = Zahnstange; 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt * 3,5 feet, auch Kapspur genannt J stillgelegt 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 369 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gebirgsbahnen In Fürst‘s Lexikon Der Verkehr auf dem Land Im deutschen Sprachraum hat sich für Bahnen, (Bd. II) aus dem Jahr 1924 findet sich eine Auf- die ein Gebirge in seiner Gesamtheit überqueren, listung jener Elemente der Streckenführung der Begriff Gebirgsbahn eingebürgert. Gebirge von Gebirgsbahnen, durch welche die Überwin- waren für die Menschen lange Zeit ein Hindernis dung der grossen Höhenunterschiede ermöglicht und wirkten trennend für die auf beiden Seiten wird: liegenden Regionen, wo sich – trotz teilweise ge- > Spitzkehren ringer räumlicher Distanzen – unterschiedliche > Bergumfahrungen kulturelle Entwicklungen und Ausprägungen er- > Untertunnelung geben haben; dies manifestiert sich auch in der > Rundkehre in Seitental verschiedenartigen Gestalt der einzelnen Kul- > Kehr- und Spiraltunnel turlandschaften. In diesem Sinne kommt den All diese Faktoren berücksichtigend, muss die Gebirgsbahnen aus kultureller, bzw. kulturland- Albula/Bernina-Linie als Gebirgsbahn klassifi- schaftlicher Sicht oftmals eine besondere Be- ziert werden. deutung zu, bilden sie doch die technologische Verbindungsinfrastruktur topographisch voneinander getrennter Kulturräume. In den Alpen etwa ist der südliche Kulturraum romanisch geprägt, der nördliche hingegen alemannisch. Meistens sind Gebirgsbahnen in grössere, überregionale Eisenbahnnetze (z.B. Bahnen im Flach- und Hügelland) eingebunden. Gemäss der von Victor Röll herausgegebenen Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, einem 1912 erschienen Standardwerk, zeichnen sich Gebirgsbahnen durch folgende Merkmale aus: > Starke andauernde Steigungen > Zahlreiche Bögen > Aufwändige Führung an steilen Hängen hoch über der Talsohle > Erreichen einer bedeutenden Höhe > Aufwändige Sicherungsmassnahmen gegen Schneeverwehungen und -lawinen, sowie gegen Steinschlag und Murgänge > Bisweilen auch Überquerung bedeutender Taleinschnitte und Gewässer, die wegen drohender Überschwemmung des Bahn- trassees korrigiert werden müssen. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 370 Kandidatur UNESCO-Welterbe Vergleichsobjekte > 1 Yunnan-Bahn 2 Darjeeling-Bahn 3 Nilgiri-Bahn 4 Eritrea-Bahn 5 Guayaquil & Quito Railway 6 Denver&Rio Grande Railroad 7 Train Jaune 8 Semmeringbahn 9 Gotthardbahn | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Vietnam / China Indien Indien Eritrea Ecuador USA Frankreich Österreich Schweiz 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 371 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Auswahl | www.rhb-unesco.ch > Dichte an Tiefbauten (Tunnels, Brücken, Eine Liste aller existierenden Gebirgsbahnen Einschnitte, Dämme): (a) sehr hoch; (b) würde mehr als 1000 Objekte umfassen. 170 hoch; (c) niedrig. Bahnlinien erwähnt Ascanio Schneider in seinem > Ausrüstung: (a) mit seltener/früher/innova- 1967 erstmals erschienenen und bisher einzigar- tiver Energieversorgung; (b) mit weitgehend tig gebliebenen Überblickswerk Gebirgsbahnen originalen oder mit stark veränderten Hoch- Europas allein für Europa. Im Zuge einer wei- bauten; (c) mit Rollmaterial aus der Bau- teren Eingrenzung kamen daher nur Gebirgs- oder Elektrifizierungszeit. bahnen mit Scheitelpunkten über 1’000 m ü.M. oder 3’250 feet in die engere Auswahl. Diese Ab- Für den detaillierten Vergleich erfolgte nach grenzung wird auch in englischen Publikationen Beratungen in der Expertengruppe die Ein- verwendet, etwa im Guiness Book of Rail Facts grenzung der Auswahl auf eine Bahn für jede von 1979. Auch dann standen noch mehr als 100 Weltregion. Aufgrund der aussergewöhnlichen technisch vergleichbare Strecken zur Diskussion; Bedeutung Europas sowohl für die Entwick- dabei konnten einzelne Strecken, wie etliche der lung der Eisenbahn im 19. und frühen 20. Jahr- seit 1960 eröffneten Bahnstrecken in China mit hundert als auch für den modernen Tourismus Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. man- wurden für diese Weltregion drei Objekte aus- gels konkreter Angaben nicht erfasst werden. In gewählt. Die schon in der UNESCO-Welter- Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern von Fahr- beliste eingetragenen Eisenbahnen wurden plancenter-News, einer Zeitschrift, welche die ebenfalls als Vergleichsobjekte aufgenommen. aktuellsten Entwicklungen von Eisenbahnstre- Dies erklärt den Einbezug der Semmeringbahn, cken ausserhalb Europas zusammenfasst, wurden deren Kulminationspunkt unter 1’000 m ü.M. für die jeweiligen Weltregionen die entsprechend liegt. den erwähnten Kriterien für den Vergleich mit Folgende Bahnen wurden für die Ausarbeitung der Albula/Bernina-Linie am besten geeigneten eines detaillierten Vergleiches ausgewählt: Objekte ausgewählt und weiter bearbeitet. Die > Ozeanien, Ost- und Südostasien: Yunnan- verbliebenen 46 Objekte wurden auf transparente Weise nach den folgenden detaillierten Vergleichskriterien vertieft untersucht und an- Bahn, Vietnam/China > Süd- und Westasien: Darjeeling- und Nilgiri-Bahn, Indien schliessend gewertet: > Afrika: Eritrea-Bahn, Eritrea > Bauzeit: (a) Frühe Hochgebirgsbahnen bis > Südamerika: Guayaquil & Quito Railway, und mit Gotthardbahn (1882); (b) Bahnbauten bis zum Ersten Weltkrieg (vor 1915) oder (c) jüngere Bahnbauten ab 1915. > Schwierigkeit und Attraktivität der Einbettung der Strecke in die Topographie. > Trassierung: (a) weitgehend original; (b) verändert; (c) stark verändert. Ecuador > Nordamerika: Denver & Rio Grande Railroad (insbes. Cumbres & Toltec Scenic Railway), USA > Europa: Train Jaune, Frankreich > Europa: Semmeringbahn, Österreich > Europa: Gotthardbahn, Schweiz 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 372 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Durchführung des Vergleiches Vergleichs erfolgt in diesem Abschnitt eben- Die Durchführung der vergleichenden Ana- falls aufgrund eines standardisierten Unter- lyse selbst erfolgte – insbesondere im Hin- suchungsrasters, der vier Bereiche umfasst: blick auf die Nominierung als «Eisenbahn «Agrikultur», «Bauwerke», «Transportwege» mit umgebender Kulturlandschaft» – in Form und «Wahrnehmung». Auch hier wird zum einer aufgeteilten Darstellung der technik- Schluss ein Vergleich mit der Albula/Bernina- geschichtlichen/wirtschaftsgeschichtlichen Linie vorgenommen. sowie der kulturlandschaftlichen Bedeutung der Vergleichsbahnen (vgl. Kap. 3.c.2 und 3.c.3). Dieses zunächst nach Gebieten aufgeteilte Wissen wird erst im dritten Schritt zusammengeführt und führt zur Gesamtschau des Einzigartigen und des Typischen des Albula/Bernina-Bahnkorridors. Bahnvergleich Der erste Teil der Analyse betrifft den Vergleich der ausgewählten Bahnenstrecken, wobei jedem Abschnitt ein Überblick der Eisenbahnen in der entsprechenden Weltregion vorangestellt ist. Hierbei sei explizit auf den Pioniercharakter der Arbeit hingewiesen, besonders auch, was die tabellarischen Zusammenstellungen betrifft. Darauf folgt eine detaillierte, nach einheitlichem Raster durchgeführte Untersuchung der ausgewählten Bahnstrecken, die folgende Punkte umfasst: «Baugeschichte», «Streckenführung und Bahnbauten» sowie «Betrieb und Ausrüstung». Den Schluss des Kapitels bildet jeweils ein Vergleich mit der Albula/Bernina-Linie. Kulturlandschaftsvergleich Der zweite Abschnitt des internationalen Vergleichs ist den (Kultur-)Landschaften gewidmet, welche die Eisenbahnstrecken umgeben, bzw. in welche die Eisenbahnstrecken eingebettet sind. Die systematische Erfassung des 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analyse > 3.c.1 Identifizierung der Vergleichsobjekte 373 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.c.2 Bahnvergleich Ozeanien, Ost- und Südostasien von Bauschwierigkeiten erst im Jahr 1916 end- Das bevölkerungsreiche Ostasien und der dünn gültig in Betrieb genommen werden konnte. Die besiedelte «fünfte Kontinent» Australien wur- «Transib» ist die älteste ostasiatische Haupt- den erst spät mit Eisenbahnen erschlossen. Die bahn im Dauerbetrieb. Sie führt auf dem Ab- hervorragendsten Leistungen auf diesem Gebiet schnitt zwischen Chita und Ulan Ude auf über sind in Japan und China zu verzeichnen. 1’000 m ü.M. Ab 1872 entstand auf allen vier Hauptinseln Ja- In Australien und Neuseeland weisen die meis- pans ein Bahnnetz in Kapspur (1’067 mm). Auf ten Gebirgsbahnen Kulminationspunkte unter Honshu bestehen mehrere Querverbindungen 1’000 m ü.M. auf; eine Ausnahme bildet der so mit ausgesprochenem Gebirgsbahncharakter. genannte «Great Zig Zag», die älteste Gebirgs- Das 1964 eröffnete, für den Hochgeschwindig- strecke in dieser Weltregion (eröffnet 1868) und keitsverkehr bestimmte normalspurige Netz das bekannteste Bahndenkmal Australiens. Er Shinkansen («Neue Fernstrecke») markiert den führt über die Great Dividing Range der Blue wohl wichtigsten Meilenstein im Eisenbahnver- Mountains mit dem Scheitelpunkt in einer Hö- kehr nach dem Zweiten Weltkrieg. Es umfasst he von 1’114 m ü.M. in das Lithgow Tal. Das nicht nur zwei der längsten Tunnel überhaupt, ursprüngliche Trassee wurde 1910 durch eine sondern auch die weltweit dichteste Abfolge direkte Linienführung ersetzt; heute wird auf von erdbebensicheren Kunstbauten. der älteren Strecke ein Museumsbahnbetrieb China hat nach dem Zweiten Weltkrieg das Ko- geführt, welcher jedoch nicht die ursprüngliche, lonialbahn-Netz aus der zweiten Hälfte des 19. normale Spurweite aufweist, sondern in der Jahrhunderts wieder instand gestellt. Die Ge- schmaleren Kapspur (1’067 mm) wiederaufge- birgsbahnen zur Erschliessung des Landesin- baut wurde. nern wurden mit Ausnahme der Yunnan-Bahn Das Bahnnetz Südostasiens ist geprägt von den alle nach 1950 eröffnet. Die jüngste, erst 2006 kolonialistischen Bemühungen, eine durchge- in Betrieb gesetzte chinesische Gebirgsbahn hende Meterspurverbindung von Indien nach verbindet das chinesische Kernland mit Tibet China zu bauen. Der fehlende Abschnitt dieser und überwindet einen 5’000 m hohen Pass; kei- Strecke zwischen Thailand und Myanmar (Bur- ne andere Bahn weltweit führt auf eine solche ma) wurde während des Zweiten Weltkriegs Höhenlage. Zum chinesischen Bahnnetz gehö- von Japan erbaut, das damals weite Gebiete ren heute auch der mandschurische Abschnitt Südostasiens besetzt hielt. Teilstücke dieses der zwischen 1891 und 1903 erbauten Transsi- südostasiatischen Meterspurnetzes sind als Ge- birischen Eisenbahn, wie auch deren «Umge- birgsbahnen zu charakterisieren. hungsstrecke», die Amur-Eisenbahn, die nach Das Bahnnetz Indonesiens geht auf die Zeit der dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) von niederländischen Kolonialherrschaft zurück – Russland errichtet worden war und aufgrund es war dies das erste und ursprünglich auch das 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 374 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch dichteste im gesamten asiatischen Raum. Etli- Zahnradbahn zu den Kohlegruben in West-Su- che der dazugehörenden Strecken weisen Ge- matra, denn sie führt vom Meereshafen auf eine birgsbahncharakter auf. Erwähnenswert ist die Höhe von 1’154 m ü.M. Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Ozeanien, Ost- und Südostasien (für China Auswahl) Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] China Qinghai/Xining – Lhasa (Tibetbahn) Normal 5072, Tangula 2006 China Wuwei – Shibalipu (Seidenstrasse) Normal 2400, Shibalipu 1962 China Urumqi – Kasachstan (Seidenstrasse) Normal 2400, Tunnel Wushaoling 2006 China Lanzhou – Xiling Normal 2300, Xiling 1960 China Chendu – Kunming Normal 2300, Samala 1970 Vietnam, China Haiphong – Kunming (Yunnan-Bahn) Meter 2026, bei Yiliang 1910 China Nanning – Kunming Normal 2000, Kunming 1998 China Peking – Suiyuan Normal 1585, Suiyuan 1970 China Baotou – Lanzhou Normal 1560, Lanzhou 1958 China Xian – Lanzhou Normal 1560, Lanzhou 1952 China Zhongwei – Baoji – Lanzhou Normal 1560, Lanzhou 1960 Vietnam Thap Cham – Da Lat Meter, Z 1463, Da Lat 1933 Japan East Koumi – Nobeyama (JR East Koumi Line) 1067 mm* 1345, Nobeyama 1919 Myanmar Mandaly – Myitkyina (Burma Railways) Meter 1405, Kalaw 1921 Indonesien Padang – Kota Baru (West-Sumatra Coal Mine) 1067 mm*, Z 1154, Kota Baru 1891 Australia Lithgow Valley – Clarence Tunnel (Great Zig Zag) Normal, 1067 mm* 1114, Blue Mountains 1868 Russland Ulan Ude – Chita 1040, Jablonovyi 1900 1) * Z 2) 1524 mm Eröffnung 2) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen 3.5 feet, auch Kapspur genannt Zahnstange Yunnan-Bahn, Vietnam/China Baugeschichte Die Wahl der Yunnan-Bahn als Vergleichsobjekt Die Yunnan-Bahn verbindet die vietnamesische zur Albula/Bernina-Linie erfolgte aufgrund fol- Hafenstadt Haiphong mit dem auf einem Hoch- gender Kriterien: plateau zwischen den Flüssen Yangste und Yu- > vergleichbare Bauzeit an Jiang auf 1’900 m ü.M. gelegenen Kunming > Schmalspur (ehem. Yunnan Fou), der Hauptstadt der chine- > hervorragende zeitgenössische Bauarbeits- sischen Provinz Yunnan. Kunming, ein altes und Ingenieurleistungen Handelszentrum, hatte mit der französischen > Überwindung von großen Höhendifferenzen Kolonialisierung Indochinas und der englischen (mehrere Vegetationsstufen) Expansion in Ostindien im letzten Viertel des 19. > noch in Betrieb stehend Jahrhunderts an strategischer Bedeutung gewon- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 375 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Kaiyuan Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina 0 C H | www.rhb-unesco.ch 10 km I N A 8 Tunnels Milati-Pass, 1700 m ü.M. Tche-Tsouen 1630 m ü.M. Lo-Chouei-Tong, 1552 m ü.M. 13 Tunnels Ko-Kou, 1380 m ü.M. Pono-Tou 68 Tunnels Yunnan-Bahn Po-Tchai, 388 m ü.M. Tunnel Brücke La-Ha-Ti Station Fluss Nam-Ti Böschung / Damm Bergspitze Lao Cai (Vietnam) Yunnan-Bahn > Gebirgsabschnitt. H.P. Bärtschi Yunnan-Bahn >Brücke bei km 83 mit Bauzug. Aufnahme 19o6. Edition Si-An Yunnan-Bahn > Aufnahmegebäude in Haiphong, erbaut 1903. Aufnahme 2003. H.P. Bärtschi Yunnan-Bahn > Brücke im Delta des Roten Flusses. Aufnahme 2003. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 376 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch nen. Beide Kolonialmächte trieben Bahnbauten schen Haiphong und Hanoi fertig gestellt. 1906 Richtung Yunnan voran. England baute in den erreichte man Lao Cai. Die Vollendung der an- 1880er Jahren eine Gebirgsbahn von Rangoon spruchsvollen Gebirgsetappe wäre ohne mehrere bis nach Lashio im Herzen Myanmars. Von dort Nachsubventionierungen nicht möglich gewe- führte der Weg auf der Strasse (Burma Road) sen. Gegen 60’000 Einheimische sollen am Bau weiter über die Schluchten des Salweens und des dieses ambitiösen Projektes beteiligt gewesen Mekongs bis Dali und weiter bis Kunming. Ei- sein; die Baustellenleiter wurden vornehmlich ne Bahnverbindung zwischen Xiaguan bei Dali in Italien rekrutiert. 8’000 Pferde und Maulesel und Kunming konnte Mitte der 1990er-Jahre er- waren als Lasttiere eingesetzt. Der Bau konnte öffnet werden. Frankreich seinerseits errichte- schliesslich 1910 vollendet werden. te die Yunnan-Bahn. Die Anfänge des Projekts reichen ins Jahr 1897 zurück, als Paul Doumer Anschlussbahnen in seiner Funktion als französischer General- Zur Erschliessung der in den südlichen chine- gouverneur der Kolonie Annam (Vietnam, Laos, sischen Provinzen liegenden Bergbaugebiete von Kambodscha) ein Meterspurnetz zur Erschlies- Gejiu und Baoxiu erfolgte ab 1915 von Mengzi sung des Kolonialreichs entwarf. Kernstück soll- ausgehend der Bau eines 160 km langen, Y-för- te die Ligne impériale de l‘Indochine zwischen migen Netzes in 600 mm Spurweite. Weitere die Phnom Penh und Yunnan werden. 1898 – 1899 Yunnan-Bahn tangierende Anschlussbahnen führte die Société de Construction des Chemins führten zum Höhenkurort Sa Pa bei Lao Cai und de Fer Indochinois Vermessungsarbeiten für die zum «Steinwald» von Shiling nahe Kunming. Trassierung der Yunnan-Bahn durch. Die be- Um 1970 vollendete China die normalspurige auftragten Vermesser unter Ingenieur Guillemot Hochgebirgsstrecke von Kunming ins nördliche legten eine Linienführung von der Hafenbahn Chengdu sowie eine küstennahe Linie von Nan- in Haiphong über Hanoi und entlang des Roten ning nach Hanoi, und 1997 konnte eine ebenfalls Flusses bis Lao Cai (heute Vietnam) vor. Um normalspurige Eisenbahnverbindung zwischen die Bewältigung der dort beginnenden grossen Nanning und Kunming eröffnet werden. Steigung entstand eine Auseinandersetzung, die Ein Aufschwung im Bahntransportwesen führte noch während der Bauarbeiten zu Anpassungen in den späten 1990er Jahren zum vorerst letzten des ursprünglich vorgesehenen Trasseeverlaufs Streckenneubau entlang der Yunnan-Bahn, und führte. Schliesslich wich man vom Haupttal ab zwar von vietnamesischer Seite: Um Hanoi bes- und liess die Schienen den Hanglehnen meh- ser zu erschliessen, begann die Vietnamesische rerer Seitentäler folgen. Im schwierigsten Ab- Staatsbahn mit dem Bau einer nördlich der Yun- schnitt zwischen Lao Cai und Mengzi waren 149 nan-Bahn gelegenen Umgehungsbahn sowie ei- meist kurze Tunnel geplant. Bereits vor Beginn ner zweiten Bahn- und Strassenbrücke über den der Bauarbeiten musste die Finanzierung 1901 Roten Fluss. mit der Compagnie Française de Construction des Chemins de Fer de l‘Indochine et du Yun- Streckenführung und Bahnbauten nan neu organisiert werden. Mit der Ausführung Trotz vielfacher Zerstörungen durch Naturka- der 861 km langen Bahnlinie wurde im Fluss- tastrophen und im Zusammenhang mit diversen delta begonnen; 1903 war der Abschnitt zwi- kriegerischen Auseinandersetzungen in der Re- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 377 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch gion ist die einspurige Bahnlinie in weiten Teilen sowie 107 Brückenbauten auf. Das spektaku- im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. lärste Bauwerk ist die Dreigelenkbrücke über die In Haiphong stehen noch Hafenbauten und die Nam-Ti-Schlucht in einer Höhe von 100 m. Auch – noch befahrbaren – Hafengleise von 1903. gemauerte oder typisch amerikanische Brücken- Original erhalten haben sich das klassizistische bauten in der Trestlework-Bauweise kamen zur Aufnahmegebäude und weitgehend auch die Ausführung. Im Gebirgsabschnitt wurden in re- Werkstätten (Schmiede, Dampfhammer) und gelmässigen Abständen Kleinbahnhöfe im fran- die Maschineneinrichtung. Die Bahnlinie ver- zösischem Stil errichtet; davon sind die meisten läuft bis Hanoi grösstenteils auf Dämmen über erhalten geblieben. Sie dienten nicht als Unter- Reisfeldern und Bewässerungskanälen. Die stand für die Reisenden, sondern zum Schutz Träger der drei grossen Brücken Som-Tam-Bac der Wärter und der Betriebssicherheitseinrich- (Spannweite 90 m), Song-Lai-Vu (120 m) und tungen. Im Stadtbereich von Kunming, wo die Thai-Ninh (380 m) sind weitgehend original Bahnanlagen verlegt wurden, sind die Origi- erhalten, deren Pfeiler und Widerlager jedoch nalbauten der Bahn grösstenteils nicht mehr mehrheitlich ersetzt worden. Die Linie verlässt vorhanden. das Flussdelta bei der Brücke über den Fluss Unter- und Oberbau der Yunnan Bahn zeichnen Claire (295 m). Von dort führt ein Seitenast zum sich heute durch vielfältig improvisierte Instand- Bahnhof von Hanoi, der in grossen Teilen neu stellungen aus. Viele Gleisabschnitte weisen aufgebaut worden ist. Im Gegensatz dazu verfügt Stahlbetonschwellen auf. Sie sind jedoch oft das nahe gelegene Depot noch über Betonske- schlecht gewartet. lettkonstruktionen von 1903. Die während des Vietnamkriegs wiederholt bombardierte Brücke Betrieb und Ausrüstung über den Roten Fluss, ursprünglich eine Cantile- Während der beiden Weltkriege und im Viet- ver-Metallkonstruktion, wurde mit unzerstörten namkrieg sollte die Yunnan-Bahn ihre Spitzen- Trägerteilen über elf alten und 26 neuen Pfei- frequenzen im Güterverkehr erreichen. Von 1979 lern wieder aufgebaut – ihre Länge beträgt heute bis 1994 blieben die Abschnitte im Grenzbe- 1’513 m. Der folgende Streckenabschnitt bis Lao reich geschlossen. Nach aufwändiger Reparatur Cai, in dem die Bahn dem Roten Fluss entlang dieser Teilstücke wurde die Bahn später wieder fährt, verfügt über keine grösseren Kunstbauten. durchgehend in Betrieb genommen. 2002 führ- Zwischen Lao Cai und Lahadi beträgt die Stei- ten Überschwemmungen zu grossen Schäden; gung 10 ‰, danach 25‰. Auf den 82 km bis zum der Gebirgsabschnitt der Bahn wurde inzwi- 1’700 m ü.M gelegenen Milati-Pass durchfährt schen wieder instand gestellt. 2005 verkehrten der Zug insgesamt 81 Tunnel. Die Strecke neigt zwei Zugpaare pro Woche zwischen Kunming sich dann bis Kaiyuan auf 1’059 m ü.M. hinun- und Hanoi, darüber hinaus steht die Linie im ter, um sich von dort aus zum Scheitelpunkt bei Einzugsgebiet um Kunming und Hanoi noch Yiliang (Kuangyuan) auf 2’026 m ü.M. hinauf- für den Lokalverkehr in regem Gebrauch. Chi- zuwinden. Auf den wenigen noch verbleibenden na plant gegenwärtig den Bau einer Trans-Asia Kilometern bis Kunming (1’900 m ü.M.) ist nur Eisenbahnlinie von Kunming nach Singapur; mehr eine relativ geringe Höhendifferenz zu be- Kunming würde dadurch per Normalspurstrecke wältigen. Die gesamte Strecke weist 172 Tunnel mit dem Tal des Rotes Flusses verbunden. Die 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 378 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch schmalspurige Strecke für den Verkehr zwischen nur notdürftig wieder instandgesetzt. Während Kunming und Hanoi soll allerdings erhalten blei- die Albula/Bernina-Strecke wie seit der Bauzeit ben, wie das chinesische Eisenbahnministerium als Vollbahn betrieben wird, wurde der grenz- Ende 2004 bekannt gegeben hat. überschreitende Betrieb zwischen Vietnam und Um 2000 waren in Haiphong und Hanoi noch China in den 1970er Jahren eingestellt und erst Wagen und Dampflokomotiven aus der franzö- in den 1990er Jahren wieder aufgenommen, al- sischen Kolonialzeit und ihre chinesisch-viet- lerdings nur mit geringer Zugsdichte. Die Albu- namesischen Nachbauten zu sehen (141 Nr. lastrecke wurde 1919 vollständig elektrifiziert, 101 – 115 SACM 1953 ff., Nr. 121 – 122 Vietnam die Berninastrecke war von Beginn weg elek- 1961ff., Nr. 151…216 Tangshan; Nr. 231 – 301 trisch betrieben. Die Umstellung der Yunnan- SACM 1932). Sowohl in China wie auch in Bahn auf Diesellokomotiven erfolgte in den Vietnam waren 1988 japanische Dampfloks 1970er Jahren. Die Albula/Bernina-Strecke ist aus dem Zweiten Weltkrieg (131 «C12» Nr. heute ein wichtiger Träger des öffentlichen Ver- 96 – 97 und 140 «KD55» Nr. 501…576 Kawasa- kehrs; der Fortbestand der Yunnan-Bahn war ki 1913 – 1926) abgestellt. Auf den Strecken der für lange Zeit nicht gesichert, im Jahr 2004 gab Yunnan Bahn werden heute Bo’Bo’-Dieselloks das chinesische Eisenbahnministerium jedoch aus den 1970er und 1980er Jahren sowie Umbau- eine Willenserklärung zum Erhalt und Ausbau und Neubaupersonenwagen eingesetzt. der Strecke ab. Wie die Albula/Bernina-Bahn scheint auch die Yunnan-Bahn über historisches Vergleich Rollmaterial zu verfügen. Die Yunnan-Bahn wurde im gleichen Zeitraum wie die Albula/Bernina-Strecke erbaut und weist wie diese eine spektakuläre Linienführung auf: Die Überwindung von Höhenunterschieden konnte durch Talschleifen in Seitentäler umgesetzt werden, jedoch waren keine bautechnisch aufwändigen Spiraltunnels oder lange Scheiteltunnels wie bei der Albulastrecke erforderlich. Wie die Berninalinie verläuft auch die YunnanBahn offen über einen Pass und dies in nur geringfügig tieferer Lage (Milati-Pass 2’026 m ü. M., Berninapass 2’253 m ü.M.). Ähnlich aufwändig gestaltete sich bei beiden Bahnen die Streckenführung an den steilen Hängen hoch über der Talsohle. Wie bei der Albula/BerninaLinie ist die Trassierung bei der Yunnan-Bahn weitgehend original erhalten; die Bahngebäude allerdings wurden, insbesondere in den Städten, teilweise ersetzt und auch die von Unwetterschäden betroffenen Streckenabschnitte oft 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 379 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Süd- und Westasien dem Iran sollten alle am Konflikt Englands mit Auf dem indischen Subkontinent begann die bri- den Gebirgsvölkern Afghanistans und Belut- tische Kolonialmacht bereits 1848 mit dem Bau schistans scheitern. Auch die ab 1876 voran- eines Bahnnetzes in der Breitspurweite von 1676 getriebene Bahnverbindung von Karachi über mm. Es umfasste bei seiner Vollendung 30’000 Quetta, Kandahr und Herat nach Turkmenistan km. Die Pionierstrecke von Bombay nach Thane blieb auf afghanischem Territorium unvollen- wurde – als erste Eisenbahnlinie Asiens – 1853 det; der zwischen 1880 und 1891 unter Feld- eröffnet. Ab 1870 entstanden zusätzlich zum marshall Lord Roberts of Kandahar erstellte Breitspurnetz meterspurige Bahnlinien von ins- doppelspurige Streckenabschnitt zwischen Si- gesamt 26’000 km Länge. In Indien wurden bi und Chaman erreicht auf dem Bolanpass ei- diese in den vergangenen Jahrzehnten weitge- nen Kulminationspunkt von 1950 m ü.M. Eine hend auf Breitspur erweitert oder gar eingestellt. Höhe von über 1’000 m ü.M. erreicht auch die Dennoch sind dort beide Spurweiten heute noch zweite von Pakistan nach Afghanistan führen- präsent, gleich wie in Pakistan und Bangladesh. de Gebirgsbahn, die sich in Spitzkehren zum In Sri Lanka hingegen wird nur noch das Breit- Khyberpass hinauf windet. Auch die 1941 voll- spurnetz betrieben. Weit verbreitet in diesem endete Transiran-Bahn, die ins iranische Hoch- Gebiet waren auch Bahnen mit Spurweiten von land und über die Ausläufer des Elbrusgebirges 762 mm und 610 mm; ihre Länge betrug gesamt- nach Turkmenistan führt, erreicht Höhen von haft über 5’000 km. über 1’000 m ü.M. Gebirgsbahnen wurden In Indien stellte besonders die Überwindung des auch in der Türkei erbaut, zur Überwindung Dekkan-Hochlandes die Bahnbauer vor grosse der Gebirgsketten zwischen Mittelmeer und Herausforderungen; keine der dort gebauten Schwarzem Meer, über den Taurus und über das Strecken führt jedoch über 1’000 m ü. M. Hö- Pontinische Gebirge. Auch die Hedjaz-Bahn hen von weit über 2’000 m ü.M erreichen in In- und ihre Zubringer über das Libanon- und An- dien allerdings drei Gebirgsbahnen, die jeweils tilibanongebirge erreichen dreimal Höhen von von einer Talregion in ein Gebirge führen, ohne über 1’000 m ü.M. dieses zu überschreiten: Die Darjeeling-Bahn Eine Vision von mehreren Bahnpionieren im im Grossraum Kalkutta, die Nilgiri-Bahn im 19. Jahrhundert war der Zusammenschluss aller Grossraum Madras und die Kalka – Simla-Bahn bestehenden Bahnen zu einem durchgehenden, nördlich von Dehli. Alle diese Bahnen haben von Europa bis Südostasien reichenden Netz. an ihrem Ausgangspunkt Anschluss an eine Von Westen her führten Normalspur-Bahnli- Vollbahn. nien durch die Türkei und den Iran. Doch das Das Breitspurnetz im sehr gebirgigen Sri Lan- strategische Bahnprojekt von den Mittelmeer- ka erreicht einen Kulminationspunkt von 1’898 häfen nach Mekka aus dem letzten Jahr des m ü.M. Die pakistanische Linie Quetta – Zhob Osmanischen Reichs (1922) blieb unvollendet. (Fort Sandman), Teil jenes erwähnten Eisen- Unter deutschem Einfluss wurden immerhin bahnnetzes in 762 mm Spurbreite, erreicht eine die ersten Abschnitte der Bagdadbahn (Istanbul Höhe von 2’222 m ü.M. Die diversen, von der – Bagdad) noch vor dem Ersten Weltkrieg er- britischen Kolonialmacht lancierten Projekte ei- öffnet, während die gesamte Strecke erst 1940 ner Eisenbahnverbindung zwischen Indien und in Betrieb genommen werden konnte. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 380 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Süd- und Westasien Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Eröffnung 2) Indien Shiliguri – Darjeeling (Darjeeling-Bahn) 610 mm 2258, Ghoom-Pass 1889 Türkei Sivas – Kars Normal 2256, Asit 1917 Pakistan Zhob – Quetta 762 mm J 2222, Kan Mehtarzai 1918 Iran Ahvaz – Tehran (Trans-Iran South Section) Normal 2217, Nurabad 1930 Indien Mettuppalaiyam – Udagmandalam (Nilgiri-Bahn) Meter, Z 2203, Udagamandalam Iran Tehran – Gorgan (Trans-Iran Elbrus) Normal 2112, Gaduk 1938 Indien Kalka – Simla 610 mm 2094, Simla 1903 Pakistan Quetta – Chaman 1676 mm 1950, Shelabagh 1891 Sri Lanka Kandy – Badulla 1676 mm 1898, Pattipola 1894 Syria Damaskus – Zebdãni 1050 mm 1794, Zebdãni 1895 Pakistan Sukkur – Quetta 1676 mm 1791, Kolpur 1887 Türkei Adana – Taurus Normal 1494, Taurus 1920 Libanon Beirut – Zebdãni (Libanonbahn) 1050 mm J 1487, Zhale 1895 Jordanien Amman – Maan (Hedjaz-Bahn) 1050 mm 1128, Maan 1904 Pakistan Peshawar – Landi Kotal 1676 mm 1068, Khyber Pass 1926 1899/1908 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen J stillgelegt Z Zahnstange 2) Darjeeling- und Nilgiri-Bahn, Indien 1880 war der Abschnitt bis Kurseong (1’483 m ü. Die Wahl der Darjeeling- und der Nilgiri-Bahn M.) fertiggestellt, 1889 die Reststrecke bis Dar- als Vergleichsobjekte zur Albula/Bernina-Linie jeeling (2’076 m ü.M.). Die Talstation verfügte erfolgte aufgrund folgender Kriterien: zur Bauzeit bereits über einen Vollbahnan- > Schmalspur schluss. Die Darjeeling-Bahn ist als «Steam > innovative Lösungen (Darjeeling: «light Tramway» konzessioniert worden. Hauptziel railway», teilweise unter Mitbenutzung der war die verbesserte Erschliessung Darjeelings. Strasse; Nilgiri: Zahnradbahn) Das gleichnamige Dorf war seit 1838 zum Hö- > Überwindung grosser Höhendifferenzen henkurort (Hill station) ausgebaut worden, zu- > noch in Betrieb stehend dem bestanden in der Gegend Teeplantagen. Die > UNESCO-Welterbestätte Bedeutung der Teeindustrie war schon in den 1870er Jahren gross. Der günstige Transport von (Darjeeling seit 1999, Nilgiri seit 2005) landwirtschaftlichen Gütern von den Bergen ins Tal versprach hohe Gewinne. Aufgrund solDarjeeling-Bahn cher wirtschaftlicher Überlegungen plante man Baugeschichte eine Bahn, deren Bau mit möglichst geringem Die von Shiliguri nach Darjeeling führende Dar- Kostenaufwand zu bewältigen war. Die Darjee- jeeling-Bahn wurde in zwei Etappen errichtet: ling-Bahn hat nach englischen Massstäben den 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 381 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Darjeeling � | www.rhb-unesco.ch 0 Ghoom-Pass, 2258 m ü.M. 10 km I N D I A Tiger Hill Tindharia Kurseong, 1483 m ü.M. Darjeeling-Bahn Zigzag Loop Brücke Station Shiliguri Junction Fluss Böschung / Damm Bergspitze Shiliguri, 122 m ü.M. Darjeeling-Bahn > Ganze Strecke. H.P. Bärtschi Darjeeling-Bahn > In Shiliguri bestehen Gleise in drei verschiedenen Weiten (610 mm, Breit- und Schmalspur). Aufnahme 1992. H.P. Bärtschi Darjeeling-Bahn > Linienführung als Strassenbahn in Ghum. Aufnahme 1992. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 382 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Charakter einer «light railway» und nach deut- nicht überschreiten. Die typischen Dampflo- schen Massstäben den Status einer «Feldbahn komotiven der Darjeeling-Bahn weisen zwei im Hochgebirge». Kuppelachsen und einen Satteltank auf dem Kessel auf. Auf einem Sitzgestell vor der Rauch- Streckenführung und Bahnbauten kammer streut ein Sander von Hand Sand auf Die Herausforderung bestand darin, eine Bahn die Schienen, damit die Antriebsräder nicht zu bauen, die auf 40 km Luftliniendistanz 1954 durchdrehen. Das Wagenmaterial wurde seit Höhenmeter überwindet. Die Trassierung der den 1980er Jahren modernisiert. Von den ver- einspurigen, über weite Strecken entlang der bliebenen 20 Dampflokomotiven mit Baujahren Fahrstrasse geführten Strecke hat sich weitge- 1889 – 1925 stehen meistens nur eine oder zwei hend original erhalten – nur in Erdrutschge- für den Schülerzug auf der Teilstrecke Kurse- bieten und im Bereich sehr steiler Abschnitte ong – Darjeeling täglich in Betrieb. Das die ge- mussten Änderungen vorgenommen werden. samte Strecke befahrende Zugspaar (je ein Zug Andauernde starke Steigungen, zahlreiche Kur- in jede Richtung) mit Anschluss an die Schnell- ven und die Führung entlang abschüssiger Hän- linie von und nach Kalkutta wird von je einer ge hoch über der Brahmaputra-Ebene vermögen Diesellokomotive geführt. Die Fahrzeit hat sich noch heute zu beeindrucken. Einige Kehrschlei- seit der Teilung Indiens 1947 von 5¼ auf 8 Stun- fen haben Radien von nur gerade 18 m, darunter den verlängert. Nach den Monsunregenzeiten befinden sich drei Spiralkehrschleifen und der bleibt die Strecke manchmal für längere Zeit doppelte «Batasia-Loop»; ferner gibt es Z-Spitz- unterbrochen. kehren. Die Bahn durchfährt das Gebiet vollständig offen, Tunnel sind keine vorhanden und Vergleich auch unter den Brücken – in der überwiegenden Die Anlage der Darjeeling-Bahn, die vom Tief- Anzahl kleine Bach-, Strassen- und Bahndurch- land auf über 2’000 m Seehöhe führt, erfolgte im lässe – ist nur ein bedeutendes Bauwerk zu ver- Sinne einer «light railway» mit einer möglichst zeichnen: die 700 m lange Eisenbrücke über den einfachen Trassierung entlang von Strassen und Mahanadi bei Shiliguri. Sicherungsbauten ge- der Anlage offener Schleifen («loops») zur Hö- gen Wassereinbrüche und Erdrutsche gibt es nur hengewinnung unter grösstmöglicher Reduktion in geringer Zahl. der Anzahl an Kunstbauten. Mit der Idee eines Bahnhöfe, Werkstatt- und Depoteinrichtungen, möglichst geringen Kapitaleinsatzes stellt die teilweise mit sehr alter Ausstattung, beste- Darjeeling-Bahn für die Zeit der 1880er Jahre ei- hen in New Jalpaiguri, Thindaria Ghum und ne durchaus neuartige Lösung dar. Die rund 20 Darjeeling. Jahre später errichtete Albula/Bernina-Strecke steht diesem Grundsatz diametral gegenüber, Betrieb und Ausrüstung indem – im Falle der Albulalinie – die Parame- Die geringe Spurweite von 610 mm und der be- ter einer Hauptbahn auf eine Schmalpurstrecke scheidene Unterbau erlauben nur den Einsatz übertragen wurden oder – im Falle der Bernina- leichten Rollmaterials. Die Last von drei bis bahn – das Risiko eines elektrischen Betriebs in vier beladenen Wagen sollte das Gewicht eines schneereichem Hochgebirge eingegangen wur- normalspurigen Zweiachsgüterwagens von 27 t de. Ergänzend zur Darjeeling-Bahn stellt die 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 383 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina � | www.rhb-unesco.ch 0 Udagamandalam (Ooty), 2203 m ü.M. 10 km I N D I A Doddabetta, 2638, m ü.M. Coonoor, 1711 m ü.M. Kallar, 404 m ü.M. Bhavani Nilgiri-Bahn Tunnel Zahnstange Brücke Mettuppalaiyam, 326 m ü.M. Station Fluss Böschung / Damm Bergspitze Nilgiri-Bahn > Ganze Strecke. H.P. Bärtschi Nilgiri-Bahn > Übergang von Zahnrad- auf Adhäsionsbetrieb in Coonoor. Aufnahme 1988. H.P. Bärtschi Nilgiri-Bahn > Brücke bei Wellington. Aufnahme 1988. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 384 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Albula/Bernina-Linie ein einzigartiges Zeugnis tuppalaiyam – Coonoor eröffnet werden. Die der Entwicklung von Schmalspurbahnen dar. Fertigstellung der Strecke bis Udagamandalam Wie bei der Albula/Bernina-Linie ist auch bei gelang erst nach der Verstaatlichung der Bahn, der Darjeeling-Bahn noch historisches Rollma- 1908. terial vorhanden; die Modernisierung des Bahnbetriebes durch die Anschaffung von neuen Streckenführung und Bahnbauten Personenwagen erfolgte ab den 1990er Jahren Der Bau der meterspurigen Gebirgsbahn ge- und seit 2000 stehen auch vier Diesellokomoti- staltete sich ausserordentlich schwierig, führt ven im Einsatz. die Strecke doch durch Urwald-Gebiet und hat auf relativer kurzer Distanz 1800 Höhenmeter zu überwinden. Im Abschnitt zwischen Kallar Nilgiri-Bahn Baugeschichte und Coonoor weist das Trassee eine Steigung Die Nilgiri-Bahn, benannt nach dem gleich- ren die Seitentäler aus. Durch die Konzeption namigen Gebirgsmassiv, das sie erschliesst, als Zahnradbahn konnte zwar auf den Bau von führt von Mettuppalaiyam über Coonoor nach aufwändigen Kehr- und Spiraltunnels verzich- Udagamandalam (Ooty) auf 2’203 m ü.M. Met- tet werden, dennoch mussten 16 Tunnelbauten tuppalaiyam war 1872 vom indischen Eisen- von bis zu 300 m Länge und zahlreiche Fel- bahnnetz erschlossen worden, zehn Jahre nach seinschnitte und -abtragungen getätigt werden. der nahe gelegenen Stadt Coimbatore. Da- Nach schweizerischem und deutschem Vorbild mit wurde eine an Natur- und Kulturschätzen – zu Studienzwecken wurde auch die Harz- reiche Region leichter erreichbar. Im hochge- querbahn im deutschen Blankenburg besucht legenen Udagamandalam hatten sich einzelne – sind Baumassnahmen gegen Steinschlag und Vertreter der britischen Kolonialmacht bereits Murgang getroffen worden. vor dem Bahnbau Residenzen bauen lassen, Bei Mettuppalaiyam überquert die Nilgi- um sich während der Sommermonate den sub- ri-Bahn mit einer grossen Brücke den Fluss tropischen Verhältnissen im Tal entziehen zu Bhavani. Mitten im Urwald befindet sich der können. Im Jahre 1876 entwarf der Schweizer «Adderley»-Viadukt mit Steinbogen-Vorbrü- Ingenieur und Inhaber einer Firma für den Bau cken und drei Blechträgern. Kleinere Brü- von Zahnradlokomotiven, Niklaus Riggenbach, cken gibt es auf der ganzen Strecke. Attraktiv ein erstes Projekt für eine Zahnradbahn in das gestaltet sich die Einbettung der Bahn in die Nilgiri-Gebirge, das jedoch nicht angenommen Steilhänge des Urwaldes und im oberen Ab- wurde. Zur Ausführung kam schliesslich – un- schnitt in das Hügelgebiet. Die Abt’schen ter neuer Trägerschaft – eine kostengünstigere Zahnstangenabschnitte enden in Coonoor. Die Variante unter Anwendung eines gemischten 40 ‰-Steigung im oberen Teilstück wird im Adhäsions- und Zahnradbetriebes (Zahnrad- Adhäsionsbetrieb befahren. betrieb nach System Abt). Trotzdem musste die Die einspurige Trassierung der Nilgiri-Bahn ist Bahnbaugesellschaft während der Bauarbeiten vollständig original erhalten geblieben. Im obe- 1894 Konkurs anmelden. 1899 konnte von ei- ren Abschnitt sind viele Hangsicherungen und ner Nachfolgegesellschaft das Teilstück Met- einige Brücken aufwändig erneuert worden. von 80 ‰ auf und fährt in grossen Rundkeh- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 385 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Ausrüstung und Betrieb bulalinie die konventionelle Technologie des Heute wird die Nilgiri-Bahn vor allem als Dampflokomotivbetriebes zur Anwendung kam, Touristenbahn genutzt; die Abwicklung des machte die Berninabahn mit einer radikal neu- Güterverkehrs passiert auf der Strasse. Der Roll- en Technologie auf sich aufmerksam: dem elek- materialbestand umfasst eine Zahnraddampflo- trischen Betrieb, und zwar in grossem Massstab. komotive der zweiten Generation (Winterthur, Dadurch wurde die Anlage von viel grösseren Schweiz 1914), elf Dampfloks (die meisten zwi- Steigungen möglich. Die Berninabahn bildet so- schen 1920 und 1952 in Winterthur gebaut) zusagen die nächste Stufe der technologischen und einzelne Wagen aus der Gründerzeit. Das Entwicklung nach dem Lösungsansatz der Rollmaterial, das täglich eingesetzt wird, weist (dampfbetriebenen) Zahnradbahn, wie ihn die mehrheitlich neue Wagenkasten auf. Im Ab- Nilgiri-Bahn vertritt. Der elektrische Betrieb schnitt Conoor – Udagamandalam stehen Ad- wurde nach dem Ersten Weltkrieg – wenn auch häsions-Diesellokomotiven in Betrieb. Je nach mit anderen technischen Parametern (Wech- Saison fahren dort zwei bis vier Zugspaare pro selstrom anstelle des Gleichstrombetriebs am Tag; im Zahnradabschnitt kommt täglich ein Bernina) – auch auf der Albulastrecke einge- dampfbespanntes Zugpaar zum Einsatz (2005). führt. Heute hat der elektrische Bahnbetrieb den Dampflokomotivbetrieb weltweit abgelöst. Die Vergleich Berninabahn ist ein hervorragendes Zeugnis aus Die nahezu zeitgleich mit der Albula/Bernina- der Frühzeit des elektrischen Bahnbetriebes. Linie eröffnete Nilgiri-Bahn, die vom Talboden auf eine Höhe von 2’203 m ü.M. führt, ist unterteilt in eine Sektion mit Zahnrad- und eine solche mit Adhäsionsbetrieb. Dieser Mischbetrieb stellt für die Zeit der späten 1870er Jahre einen innovativen Lösungsansatz für das Unterfangen dar, mit Dampflokomotiven auf geringen räumlichen Distanzen grosse Höhenunterschiede zu überwinden. Diese Technologie ermöglichte es, die Zahl an Kunstbauten gering zu halten. Im Gegensatz zur Albula/Bernina-Linie erfolgte bei der Nilgiri-Strecke mit dem Strassenbau eine Verlagerung des Güter- und Personenverkehrs: Die Nilgiri-Bahn ist heutzutage grösstenteils eine Touristenbahn. Historisches Rollmaterial ist bis zu Wagen und Lokomotiven aus den 1920er Jahren vorhanden, die arbeitsaufwändigen Dampflokomotiven wurden im Adhäsionsabschnitt durch Diesellokomotiven ersetzt. Im Vergleich zur Albula/Bernina-Strecke ist folgendes hervorzuheben: Während bei der Al- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 386 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Afrika che die im Südosten von Südafrika liegenden Die erste Eisenbahn Afrikas verkehrte 1856 Gebirgszüge überwinden. Ebenfalls in Kapspur zwischen Alexandria und Kairo. Der Traum ist die Nigeria-Bahn ausgeführt, die vom nörd- von einer durchgehenden Bahnverbindung zwi- lichen Landesinneren in zwei Ästen zu den Ha- schen der Hauptstadt Ägyptens und Kapstadt fenstädten Lagos und Port Harcourt führt; sie blieb unerfüllt. Die komplizierten politischen erreicht in Mekiri ihren Kulminationspunkt auf Verhältnisse während und nach der Kolonialzeit 1’370 m ü.M. verhinderten einen Zusammenschluss der beste- Im westlichen Afrika sind mit Ausnahme der henden grossen Netze Süd- und Ostafrikas, des Benguelabahn, jener transkontinentalen Ei- Maghrebs, Ägyptens und des Sudans. senbahnstrecke, die vom Atlantikhafen Lobito Im Norden des Kontinents herrschen Normal- in Angola über Benguela zum Bergbaugebiet und Meterspur vor, wohingegen das von der Shaba im Süden Kongos und in den Kupfergür- britischen Kolonialmacht errichtete Bahnnetz tel von Sambia führt und über einen Anschluss im Süden in Kapspurweite (1’067 mm, bzw. 3.5 zum Pazifikhafen Beira (Moçambique) verfügt, feet) gehalten ist. ausschliesslich isolierte Kolonialbahnen gebaut In Ostafrika errichteten England und Deutsch- worden. Sie dienten dazu, das an Rohstoffen land während der 1890er Jahre ausgehend von reiche Landesinnere mit der Küstenregion zu den Hafenstädten Mombasa, Tanga und Dar verbinden. Die Landstreifen um die Sahara sind Es Salam Bahnlinien Richtung Westen. Da- in den küstennahen Gebieten mit Eisenbahnen bei hatte England bezüglich der Topographie erschlossen; in Algerien erreicht die Linie über die grösseren Schwierigkeiten zu bewältigen. die Atlasausläufer einen Kulminationspunkt von Im Wettrennen um den Bahnbau zum Fuss des weit über 1’000 m ü.M. Die lange Zeit diskutier- 5892 m hohen Kilimandscharo vollendete Eng- te Trans-Sahara-Bahn blieb unrealisiert. land im Jahre 1900 eine in Mombasa startende Eine besondere Stellung nehmen die Bahnen Gebirgsbahn mit einem Kulminationspunkt auf am Horn von Afrika ein. Die Region rund um nahezu 2’400 m ü.M. Der hafennahe Abschnitt Äthiopien wurde mit dem Bau des Suezkanals dieser Strecke ist Teil der Ugandabahn, die in strategisch stark aufgewertet und gelangte so rund 2’000 km eine Verbindung zwischen Ug- ins Interessenfeld der Kolonialmächte Eng- anda und dem Indischen Ozean herstellt. Die- land, Frankreich und Italien. Frankreich bau- se war 1901 bis Nairobi vollendet und erreichte te mit Unterstützung des Schweizers Alfred auf diesem Streckenabschnitt den Kulminati- Ilg die Franco-Ethiopian-Bahn, die den da- onspunkt auf 2’658 m ü.M. Ihre Fortsetzung bis mals französischen Stützpunkt Djibouti mit der Uganda wurde erst 1930 fertig gestellt. Östlich äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba verbin- des Viktoriasees führt die Ugandabahn bis auf det; sie erreicht ihren Kulminationspunkt auf 2’783 m ü.M., den höchsten bahntechnisch er- 2’470 m ü. M. England konnte seinen Einfluss- schlossenen Punkt Afrikas. bereich bis 1875 von Ägypten aus bis zur eritrei- Bedeutende Höhen erreichen auch einige Linien schen Hafenstadt Massaua und nach Äthiopien des südafrikanischen und des ehemals rhode- ausweiten. Dann gelang es Italien, Stützpunkte sischen Kapspurnetzes. Gebirgsbahncharakter in Massaua und Mogadiscio zu errichten. Die weisen dabei besonders jene Bahnen auf, wel- italienischen Kolonialbehörden planten den Bau 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 387 Kandidatur UNESCO-Welterbe � | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina 0 | www.rhb-unesco.ch 1000 m Eritrea-Bahn E R I T R E A Tunnel Brücke Station Fluss Böschung / Damm Tunnel Nr. 27 Asmara 2349 m ü.M. Massaua, 0 m ü.M. Arboraba, 2064 m ü.M. Tunnel Nr. 21 Eritrea-Bahn > Wichtiger Streckenabschnitt. H.P. Bärtschi Eritrea-Bahn > «Bahnzirkus» bei Arboraba. Aufnahme 2004. H.P. Bärtschi Eritrea-Bahn > Streckenführung bei Embatkalla. Aufnahme 2004. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 388 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch einer Bahnstrecke in 950 mm-Spur von Massaua über das äthiopische Hochland Richtung Soma- nach Asmara und weiter über das äthiopische lia vorangetrieben werden sollen. Verwirklicht Hochland nach Addis Abeba und Mogadiscio. wurden schliesslich die Abschnitte um Moga- Ein zweiter Strang hätte anschliessend an das discio und die beiden Gebirgsbahnen Massaua von England errichtete sudanesische Bahnnetz – Asmara und Asmara – Biscia. durch das Gebiet des Blauen Nils wiederum Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Afrika Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Eröffnung 2) Land Verbindung Kenya Nairobi – Kampala Meter 2783, Timboroa 1930 Kenya Mombasa – Nairobi Meter 2658, Mau Summit 1901 Äthiopien Dschibuti – Addis Abbeba Meter 2470, bei Addis Abbeba 1917 Eritrea Massaua – Asmara (Eritrea-Bahn) 950 mm 2412, Summit 1911 Kenya Nairobi – Fort Hall Meter 2395, Kikuyu 1900 Eritrea Asmara – Sudanes. Grenze Meter 2349, Asmara 1920 Südafrika Pretoria – Magaliesberg 1067 mm* 2095, Nederhorst 1902 Südafrika Kaapmuiden – Belfast 1067 mm* 1970, Belfast 1894 Südafrika Durban – Johannesburg 1067 mm* 1748, Johannesburg 1890 Rhodesia Beira – Harare 1067 mm* 1688, Marandellas 1899 Madagaskar Tamatave – Tananarive Meter 1687, Tananarive 1909 Nigeria Ebutte Meta – Minna (Nigeria-Bahn) 1067 mm* 1370, Mekiri 1900 Algeria El Kroub – Tuggert (Sahara – Altas) Normal 1313, Batna 1882 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen * 3.5 feet, auch Kapspur genannt 2) Eritrea-Bahn, Eritrea Baugeschichte Die Wahl der Eritrea-Bahn als Vergleichsobjekt 1890 war Eritrea zur italienischen Kolonie er- zur Albula/Bernina-Linie erfolgte aufgrund fol- klärt worden. Mit der Verlegung der Kolonial- gender Kriterien: verwaltung von Massaua nach dem 2’349 m ü. > vergleichbare Bauzeit M. gelegenen Asmara entstand 1897 das Projekt > Schmalspur für den Bau der Eritrea-Bahn. Sie wurde in der > Überwindung von großen Höhendifferenzen im Süden Italiens gebräuchlichen Spurweite von > «Darjeeling of Africa» (vgl. Kap. 3.c.3) 950 mm angelegt. 1904 waren die 69 ersten Stre- > noch in Betrieb stehend ckenkilometer bis an den Fuss des Abessinischen Hochlandes vollendet. Für die Trassierung des Hochgebirgsabschnittes ab Ghinda zeichnete der italienische Ingenieur De Corné verantwortlich. Die Ausarbeitung der Baupläne, die 1905 vor- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 389 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch lagen, oblag dem deutschen Bahnbauingenieur auf 2’349 m ü.M. In diesem Streckenteil ist der Schupfer. 1908 war auch die Finanzierung der Hauptteil der insgesamt 30 Tunnels sowie 532 Bahn gesichert. Schon nach rund zwei Jahren Brücken und Galerien zu verzeichnen. Die Stei- konnte das erste Baulos vollendet und Ende 1911 gung des einspurigen Trassees beträgt maximal die ganze Linie eingeweiht werden. 35 ‰, die Kurvenradien sind an keiner Stelle enger als 72 m. Im Abschnitt bei Embatkalla ist die Anschlussbahnen Strecke mit Kehrschleifen und Tunnel dreifach Die Eritrea-Bahn wurde unverzüglich wei- übereinander geführt, im so genannten «Bahn- ter ausgebaut, vom Hochplateau nach Westen zirkus» bei Arboraba kann die Linie sogar vier- Richtung sudanesische Grenze. 1928 wurde fach übereinander eingesehen werden, auf den die Strecke bis Akordat, 1932 bis Biscia verlän- Koten 2’133, 2’200, 2’233 und 2’266 m ü.M. In gert – auch dies geschah im Hinblick auf eine Asmara haben sich der Bahnhof von 1911, das re- gewünschte, jedoch nie realisierte Anbindung präsentative Lokdepot und die Werkstattanlage der eritreischen Eisenbahn ans sudanesische von 1928 mit einigen Werkzeugmaschinen aus Kapspurnetz. Die Arbeiten kamen in Folge des der Bauzeit erhalten. Zweiten Weltkriegs zum Erliegen. Die transeritreische Bahn erreichte insgesamt eine Länge von Betrieb und Ausrüstung 337 km. Die Eritrea-Bahn wurde im Unabhängigkeits- Die Engländer versuchten im Zweiten Weltkrieg krieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- vom sudanesischen Malawija aus die Lücke ins derts weitgehend zerstört, zwischen 1994 und eritreische Territorium zu schliessen, was aber 2003 aber vollständig wieder aufgebaut. So ist ebenfalls nicht gelang. das von 1897 bis 1911 geplante und ausgeführte Trassee Massaua – Asmara seit 2004 wieder Streckenführung und Bahnbauten durchgehend befahrbar. Auf der Anschlussstre- Ab dem Hafen Massaua führt die Linie auf Däm- cke bis Biscia hat sich das originale Trassee wie men an Bahnnebenanlagen vorbei zum Fest- auch die vielen dort errichteten ursprünglichen land. Auch im nun folgenden Teilstück durch Steinbrücken grundsätzlich erhalten, lokal gibt die Wüste wird die Strecke vorwiegend auf es kriegsbedingte Zerstörungen. Zurzeit besteht Dämmen geleitet. Vor Dogali quert die Bahn an fünf Wochentagen jeweils eine Zugverbin- ein Flussbett auf einem Steinbogenviadukt. Im dung von Massaua nach Asmara, wozu in der anschliessenden Vorgebirgsabschnitt gewinnen Regel Dampflokomotiven zum Einsatz kommen. die Dämme an Höhe, ebenso die Steinbogen- Benutzt wird sie fast ausschliesslich von Tou- viadukte. In Ghinda erreicht das Trassee eine ristengruppen; für diese werden Fotohalte mit Höhe von 888 m ü.M. Hier haben sich vom ur- Scheinanfahrten eingelegt. Güterverkehr findet sprünglichen Bestand noch eine Depotanlage mit vorderhand keiner statt. Drehscheibe und ein klassizistisches Aufnah- Neben zweiachsigen Tenderlokomotiven (von megebäude erhalten. Es beginnt nun der in der denen sieben noch heute vorhanden sind) erhielt Luftlinie nur 20 km lange Aufstieg zum Kulmi- die Eritrea-Bahn 1907 von Maffei zwei B‘B‘- nationspunkt auf 2’412 m ü.M., danach führt die Malletlokomotiven. Davon steht heute noch eine Bahn wieder abwärts, zum Bahnhof in Asmara in Asmara. Ab 1911 lieferte Ansoldo 25 Mallet- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 390 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch lokomotiven der Reihe R440, drei wurden in As- teilweise erhalten. Beide Bahnen verfügen über mara nachgebaut. Davon sind fünf noch heute historisches Rollmaterial; die Eritrea-Bahn fährt betriebsfähig. Mindestens fünf weitere Lokomo- heute mit Rollmaterial, das aus den Jahren 1907 tiven sind abgestellt. Von den neun ab 1935 ge- bis 1957 stammt. Im Gegensatz zur Albula/ lieferten Fiat-Dieseltriebwagen «Littorino» steht Bernina-Strecke weist die Eritrea-Bahn derzeit einer noch im Einsatz. Viele der zwei- und vier- nur mehr Personenverkehr auf, der Güterverkehr achsigen Güterwagen des ehemaligen Rollparks, wurde auf die Strasse verlagert. von denen viele ursprünglich auf dem süditalienischen Schmalspurnetz eingesetzt worden waren, bevor sie nach Eritrea verschifft wurden, stehen nicht mehr in Gebrauch, sind aber noch vorhanden. Die heute noch einsatzfähigen Personenwagen aus den 1930er Jahren wurden im Wagenkastenteil modernisiert. Vergleich Die Eröffnung der Eritrea-Bahn fällt wie jene der Albula/Bernina-Strecke in das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Sowohl hinsichtlich dem bautechnischen Schwierigkeitsgrad (aufwändige Führung an steilen Hängen hoch über der Talsohle), als auch der Attraktivität der topographischen Einbettung ist die Eritrea-Bahn mit der Albula/Bernina-Linie vergleichbar. Die Dichte an Kunstbauten – Tunnel, Brücken, Einschnitte, Dämme – lässt sich mit jener der Berninabahn vergleichen. Ähnlich grosse Brücken, wie sie an der Albulalinie zur Überwindung von Taleinschnitten hatten erbaut werden müssen, gibt es bei der Eritrea-Bahn nicht, auch bestand hier keine Notwendigkeit zur Errichtung aufwändiger Spiraltunnels oder gar eines Scheiteltunnels. Wie bei der Albula/Bernina-Bahn ist die Streckenführung original erhalten, der Gleiskörper der Eritrea-Bahn wurde nach dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren wieder instandgesetzt und repariert, jedoch nicht verändert. Im Vergleich zur Albula/Bernina-Linie, die nahezu über den gesamten originalen Bestand an Hochbauten verfügt, ist dieser bei der Eritrea-Bahn nur mehr 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 391 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Südamerika Bis in die 1980er Jahre gab es in Südamerika, nen gehört jene in Südperu, die vom Meeresha- verteilt auf zwölf Staaten, ein Bahnnetz von fen Mollendo nach Arequipa und Juliaca führt; über 100’000 km, an dessen Betrieb insge- von dort geht ein Schienenstrang weiter nach samt 100 verschiedene Gesellschaften beteiligt Cusco (eröffnet 1892) und ein zweiter nach dem waren. 40% der Bahnstrecken lagen in Argen- 3’850 m ü.M. gelegenen Puno am Titicacasee. tinien, 30% in Brasilien. Aufgrund der Priva- Der Bau der Bahn war 1876 bis Crucero Alto tisierung der Eisenbahnen und der verstärkten gediehen, dem Kulminationspunkt der Strecke Motorisierung seit den 1950er Jahren wurde auf 4’474 m ü.M. 1889 wurde die schmalspurige der Schienenverkehr vielerorts eingestellt. Die chilenisch-bolivianische Transandenbahn vom Spurweiten sind je nach Land verschieden, Meereshafen Antofagasta zu den Bergbaugebie- internationale Verbindungen selten. Das riesige ten von Oruro in Betrieb genommen; ihr Kul- Amazonasbecken ist durch Wasserwege aus- minationspunkt liegt auf 3’959 m ü.M. Die 1908 reichend erschlossen und verfügt lediglich über eröffnete, heute eingestellte Collahuasi-Zweigli- Stichbahnen. Auch in Patagonien und auf der nie erreichte gar eine maximale Höhe von 4’826 Insel Feuerland wurden nur Stichbahnen gebaut. m ü.M. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in Grösstes Naturhindernis im transkontinentalen die 1920er Jahre wurden weitere Andenbahnen Transport Südamerikas sind die Anden, die in mit Kulminationspunkten über 4’000 m ü.M. einer Breite von bis zu 800 km und Höhen von eröffnet. Einige der andinischen Bahnen – dar- bis zu 6’958 m den Kontinent auf der Westseite unter auch die höchstgelegenen – dienten als in seiner ganzen Länge durchziehen. Schon früh Minenbahnen und sind heute stillgelegt. Andere sind in diesem Gebirgszug Bahnen gebaut wor- blieben unvollendet, so die Zapala-Bahn zwi- den. Die Andenbahnen verzeichnen die im welt- schen dem südlichen Chile und Patagonien. Wie- weiten Vergleich höchsten Kulminationspunkte derum andere hatten lange Betriebsunterbrüche (übertroffen nur noch durch die 2006 eröffnete oder wurden teilweise abgetragen, wie etwa die Tibetbahn) und überwinden auch die grössten argentinische Bahn von Mendoza zum Cumbre- Höhendifferenzen. Tunnel. Deren mit Zahnstangenhilfe ausgestatte- Nahezu alle Andenbahnen wurden von Euro- ter Abschnitt existiert heute nicht mehr, während päern geplant. Sie dienten vorwiegend der Er- die chilenische Fortsetzung der Strecke über Los schliessung von Bergbaugebieten und hatten Andes bis Valparaiso, die ohne Zahnstangenhilfe ihren Startpunkt in Hafenorten. Vielfach ur- auskommt, noch in Betrieb steht. spünglich als gebirgsquerende Verbindungen ge- Neben den genannten Bahnen finden sich in plant, kamen sie aber nicht immer als solche zur Südamerika noch eine Reihe weiterer Gebirgs- Ausführung. Zu den frühesten andinischen Bah- bahnen, so in Brasilien, Kolumbien und Ecuador. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 392 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Südamerika Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Eröffnung 2) Chile Ollogue – Minas de Cobre (A&B) Meter J 4826, Collahuasi 1908 Peru Ticlo – Morococha (Peru Central) Normal J 4818, La Cima 1908 Bolivien Rio Mulato – Potosi Meter 4787, Condor 1912 Peru Callao – Huancayo (Peru Central) Normal 4781, Galera 1892 Peru Pachacayo – Chaucha Normal J 4602, Caja Real 1904 Argentinien Salta – Socomba Meter 4475, Chorrillos 1948 Peru Mollendo – Juliaca Normal, G 4474, Crucero Alto 1876 Bolivien, Chile Antofagasta – Uyuni Meter 4401, Yuma 1917 Peru Cerro de Pasco – Goyllarisquisga Normal 4385, Alcacocha 1900 Peru Juliaca – Cusco Normal 4314, La Raya 1892 Chile, Bolivien Arica – La Paz Meter 4257, General Lagos 1915 Peru Oroya – Cerro de Pasco Normal 4214, La Cima 1904 Bolivien Cochabamba – Oruro Meter 4137, Cuesta Color 1900 Bolivien Guaqui – La Paz Meter 4106, El Alto 1903 Bolivien Ollagua – Calama Meter 4057, Ascotan 1925 Bolivien Potosi – Sucre Meter 4033, Potosi 1929 Chile, ArgentinienAntofagasta – Salta Meter J 4000, Munano (Soc.) 1948 Chile, Bolivien Antofagasta – Ollague Meter 3959, Ascotan 1889 Argentinien Ouquios – Tres Cruces Meter J 3693, Tres Cruces 1907 Ecuador Guayaquil – Quito 1067 mm* 3609, Urbina 1908 Argentinien Tucuman – La Quiaca Meter 3559, Pumahuasi 1908 Bolivien Villazon – Atocha Meter 3447, Villazon 1924 Argentinien Mendoza – Cumbre Meter, Z J 3191, Cumbre-Tunnel 1910 Chile Puente Alto – El Volcan (FC Militar) 600 mm J 3050, El Volcan 1910 Colombien Medellin – Buenaventura (FC de Antioquia) 914 mm 1900, Quiebra 1914 Brasilien Campos do Jordão – Cacique Meter 1715, Cacique 1912 Brasilien Paranagua – Curitiba Meter 1010, Roca Nova 1885 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen J stillgelegt * 3.5 feet, auch Kapspur genannt Z Zahnstange G nur Güter 2) 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 393 Kandidatur UNESCO-Welterbe � | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Carchi San Lorenzo, O m ü.M. Ibarra Ecuador-Bahnen Station Anschlussbahnen Quito, 2817 m ü.M. Fluss Böschung / Damm Bergspitze Cotopaxi, 5897 m ü.M. Chimborazo, 6267 m ü.M. Guayaquil, O m ü.M. Urbina, 3609 m ü.M. Riobamba, 2753 m ü.M. Duran Bucay Alausi Sibambe E 0 C U A D O R 100 km Azognes Guayaquil & Quito Railway > Gebirgsabschnitt. H.P. Bärtschi Guayaquil & Quito Railway > Einfahrt mit handgebremsten Wagen in Alausi. Aufnahme 1990. H.P. Bärtschi Guayaquil & Quito Railway > Zickzack-Streckenführung an der Teufelsnase. Aufnahme 1990. H.P. Bärtschi Guayaquil & Quito Railway > Schienenbus (Autoferro) in Urbina, 3’609 m ü.M., vor dem Chimborazo. Aufnahme 1990. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 394 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Guayaquil & Quito Railway, Ecuador Fusse der Anden, 80 km im Landesinneren gele- Die Wahl der Guayaquil & Quito Railway als gene Bucay, wo man Hauptwerkstätten einrich- Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er- ten liess. In der feuchten Tropengegend kamen folgte aufgrund folgender Kriterien: die Arbeiten ins Stocken. 1897 wurde ein neuer > Inbetriebnahme der gesamten Strecke Vertrag mit einer nordamerikanischen Firma ab- geschlossen. Aufgrund von Unstimmigkeiten vergleichbar > Schmalspur baute diese den nach Bucay folgenden Gebirgs- > Überwindung von grossen Höhendifferenzen abschnitt in der englischen Kapspur (1’067 mm) > Eisenbahnbau zur Erschliessung des Landes– mit einem gegenüber dem ursprünglichen Pro- die Region am Meer mit der Hauptstadt jekt steileren Trassee mit 55 ‰-Steigung weiter. verbindend Auf rund 3’000 m ü.M. hatten die Bahnbauer > attraktiver und vielfältiger durchfahrener mit äusserst schwierigem Untergrund (Treib- sand und Vulkanasche) zu kämpfen. Schliess- Kulturraum > für Personen- und Güterverkehr geplant lich konnte 1908 die durchgehende Strecke – die (im Gegensatz zu den andinischen Bergbau- Tieflandstrecke mit 914 mm Spurweite war in der Bahnen in) Zwischenzeit umgespurt worden – zwischen Gu- > in weiten Teilen noch in Betrieb stehend ayaquil und Quito eröffnet werden. Baugeschichte Anschlussbahnen Seit Erlangung seiner Unabhängigkeit von der 1957 wurde eine zweite Verbindung von Qui- spanischen Kolonialmacht in der ersten Hälfte to ans Meer, zum Hafen San Lorenzo nahe der des 19. Jahrhunderts machte es sich Ecuador zum Grenze zu Kolumbien fertiggestellt. Sie ist heu- Ziel, eine bahntechnische Verbindung zwischen te nicht mehr durchgehend in Betrieb. Ab Ibarra der Küstenregion und der auf 2’817 m ü. M. ge- werden Triebwagen («Autoferro») eingesetzt, legenen Hauptstadt Quito herzustellen. Ab 1871 da die Strecke zum Hafen teilweise abgetragen trieb das Land den Bahnbau ab der Hafenstadt worden ist. Die dritte, zwischen 1915 und 1965 Guayaquil mit staatlichen Mitteln voran, wobei erstellte Gebirgsstrecke Ecuadors – sie zweigt als Spurweite zunächst 914 mm gewählt wurde. von der Ecuador-Bahn nach Cuenca ab – wurde Bereits die Bauarbeiten durch die Sumpf- und stillgelegt. Auch hier sind die Schienen zum Teil Schwemmgebiete des tropischen Tieflandes ka- abgetragen worden. Ausgehend von der Strecke men nur langsam voran. Schwere soziale Unru- Guayaquil – Quito wurden mehrere Anschluss- hen sowie der Ausbruch des Vulkans Cotopaxi bahnen errichtet, unter anderem für die Zucker- verzögerten ab 1877 den Weiterbau. Der in Eng- fabrik Ingenio San Sarli oder für die Plantagen land aufgenommene Staatskredit musste erneu- der Empresa de Carros Urbanos. ert und aufgestockt werden. Es war zunächst geplant, die Bucht zwischen Guayaquil und Streckenführung und Bahnbauten Duran (Eloy Alfaro) im Fährbetrieb zu über- Zwischen Guayaquil und Bucay verläuft die winden; in den 1880er Jahren wurde dort dann Strecke durch eine flache, jedoch sumpfige Regi- doch ein Schienenweg angelegt. Der Strecken- on. In Bucay beginnt der 90 km lange Gebirgs- bau erreichte 1884 Barraganeta und 1888 das am abschnitt, innerhalb dessen eine Höhendifferenz 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 395 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch von 3’000 m überwunden wird; die Steigung Zustand. In Duran stehen noch Bahnwerkstätten beträgt hier 55‰. Auf 2’606 m ü.M. wurde eine mitsamt Maschinen aus den 1880er Jahren. Das doppelte Spitzkehre erstellt und damit eine güns- als nationales Monument eingestufte Bahnhofs- tige Variante zur künstlichen Höhenentwicklung gebäude befindet sich jedoch in baulich schlech- gewählt. «Teufelsnase» wird die Gebirgsfor- tem Zustand. Die Werkstätten in Riobamba sind mation genannt, an der die Linie hochführt. teilweise aufgelassen. In Quito haben sich der In Urbina, am Fuss des 6’267 m hohen Chim- klassizistische Bahnhof und die Depotwerkstät- borazo ist der Kulminationspunkt der Strecke ten aus der Bauzeit erhalten. (3’609 m ü. M.) erreicht. Von dort führt die Bahn durch das von Süden nach Norden verlaufen- Betrieb und Ausrüstung de Tal, am 5’897 m hohen Cotopaxi vorbei, zur Die Strecke war nach Unwettern in Teilstücken Hauptstadt Quito. immer wieder unterbrochen. Seit Anfang des Der Guayaquil & Quito Railway weist im Ge- 21. Jahrhundert wird sie nicht mehr durchge- birgsabschnitt andauernde starke Steigungen hend befahren. Von Bucay bis Milagro (km 34) und zahlreiche Bögen auf, die Linie führt an stei- sind die Schienen überteert worden. Der Staat len Hängen hoch über der Talsohle hinauf. Trotz führt einen Prozess gegen die Gemeinde, eine der grossen Höhe, die erreicht wird, gibt es we- Umfahrungslinie ist geplant. Wegen fehlender der aufwändige Sicherungen gegen Steinschlag Sicherungsbauten im Gebirgsabschnitt mussten und Murgänge noch grössere Brückenbauten zur insbesondere seit den 1980er Jahren nach Erd- Überquerung von Tälern und Gewässern. Auch rutschen mehrmals umfangreiche Schäden am Tunnels fehlen nahezu gänzlich. Zu den bedeu- Bahntrassee behoben werden. tendsten Tiefbauten gehören Einschnitte und In Bucay und an der Teufelsnase kommen für Dämme. Touristenfahrten zwei bis drei Dampfloko- Das ganze einspurige Trassee wurde seit seiner motiven zum Einsatz. Die meisten Güter- und Inbetriebnahme im Jahre 1908 im Unter- und Personenwagen aus der Gründerzeit der Bahn Oberbau lediglich minimal unterhalten und prä- befinden sich in eher schlechten Zustand. Die sentiert sich entsprechend in weitgehend unver- Züge führen auf den flachen Abschnitten fünf ändertem, wenn auch sanierungsbedürftigen bis sechs Wagen, auf der Rampe meist drei. Je- Zustand; nennenswerte Ausbauten haben nicht der Wagen wird einzeln von Hand gebremst, stattgefunden. Der Oberbau ist in verschiedenen auch auf der Steilstrecke. Das bei Touristen be- Abschnitten kaum geschottert, die Schienen liebte Teilstück zwischen Quito und Cotopaxi sind oft mit schmiedeeisernen Nägeln und ohne wird an Wochenenden regelmässig – zumeist mit Schienenstühle auf den grob behauenen Holz- Triebwagen – bedient. Zwischen Riobamba und schwellen befestigt. Die Gebirgsstrecke von Bu- Sibambe verkehren dreimal in der Woche ge- cay bis Riobamba (km 228) ist in den 1990er mischte Personen- und Güterzüge. Jahren instandgestellt worden. Der Streckenab- Das ursprüngliche Rollmaterial ist weitgehend schnitt Riobamba – Cotopaxi (km 386) wurde in original erhalten. Modernisiert wurde vor allem den Jahren 2004/2005 saniert. der Lokomotivpark: ab 1927 Kauf einer Dampf- Auch die ursprünglichen Hochbauten und Werk- lokserie, 1957, 1970 und ab 1991 Lieferung von stätten befinden sich in weitgehend originalem drei weiteren Diesellokomotiv-Serien. Die zehn 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 396 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch älteren Dieselloks von ALCO (1970 geliefert) im Bereich der «Teufelsnase» ist weltweit be- wie auch die fünf 1957 angeschafften Alstom- kannt. Im Gegensatz zur bis heute durchgehend Dieselloks BBB sind nicht mehr in Betrieb. Von in Betrieb stehenden Albula/Bernina-Bahn sind den neun zwischen 1991 und 1993 gelieferten Al- beim Guayaquil & Quito Railway einzelne Ab- stom-Dieselloks BBB sind heute nur noch deren schnitte eingestellt worden. Wo der Bahnbetrieb drei oder vier im Einsatz. Zum Lokomotivpark noch funktioniert, ist die originale Trassierung zählen noch zwei Baldwin 1‘C von 1901 und über weite Strecken noch erhalten. Die Dichte an zwölf Baldwin 1‘D mit Baujahren zwischen 1927 historischen Monumenten entlang der Strecke und 1953. Zusätzlich stehen Schienentriebwagen ist jedoch wesentlich geringer als bei der Albu- und Lastwagen zur Verfügung, die aus Strassen- la- und Berninabahn. Auf den noch bestehen- fahrzeugen – darunter einem neuen, klimatisier- den Teilstücken des Guayaquil & Quito Railway ten Mercedes-Bus – zusammen- bzw. umgebaut wird – und dies ist ein grosser Unterschied zur wurden. Albula/Bernina-Linie – nur mehr ein äusserst geringer Personen- und Güterverkehr abgewi- Vergleich ckelt; im Umfeld der Hauptstadt Quito sowie im Die Eröffnung des Guayaquil & Quito Railway bautechnisch schwierigen Streckenabschnitt bei erfolgte zeitgleich wie jene der Albula/Bernina- der «Teufelsnase» besteht allerdings eine erhöhte Linie, obgleich die ersten Abschnitte der Stre- Nachfrage, hier werden spezielle Touristenzü- cke schon in den 1870er Jahren gebaut worden ge eingesetzt. Sowohl die Albula/Bernina-Linie waren. Der Kulminationspunkt der Guayaquil als auch die Guayaquil & Quito-Strecke werden & Quito-Bahn liegt mit 3’609 m ü.M. wesentlich heute mit neuerem Rollmaterial betrieben; bei- höher als jener der Berninabahn (2’253 m ü.M.), de Bahnen verfügen aber über historisches Roll- zudem startet sie auf Meeresniveau, hat also eine material. Beim Guayaquil & Quito Railway sind bedeutend grössere Höhendifferenz zu überwin- noch Dampflokomotiven aus den 1920er Jahren den. Hinsichtlich des bautechnischen Schwierig- vorhanden. keitsgrades ist der Guayaquil & Quito Railway durchaus vergleichbar mit der Albula/Bernina-Linie. Wie bei anderen aussereuropäischen Vergleichsbahnen erfolgte die Trassierung des Guayaquil & Quito Railway aber unter Vermeidung allzu aufwändiger Kunstbauten, so fehlen denn auch grosse Brücken und die Zahl der Tunnels ist eher gering; Spiraltunnels oder gar einen Scheiteltunnel gibt es nicht. Der Höhengewinn erfolgt mittels Spitzkehren, wie dies in den 1840er Jahren gewesen üblich war. Auch in der Attraktivität der topographischen Einbettung der Strecke ist der Guayaquil & Quito Railway mit der Albula/Bernina-Linie zu vergleichen. Der spektakuläre Streckenabschnitt 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 397 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Nord- und Mittelamerika Mexiko (grösste Ausdehnung des Bahnnetzes: Das Eisenbahnnetz der USA war um 1930 mit 24’000 km) spielt die Eisenbahn in diesen Län- knapp 460’000 Streckenkilometern das gröss- dern keine grosse Rolle mehr; der Betrieb der te der Welt. 1827 in Baltimore begonnen, gehört bestehenden Bahnlinien ist zu grossen Teilen es zugleich auch zu den weltweit ältesten. Dem eingestellt. dichten Netzausbau im früh industrialisierten Wie in Südamerika stellen auch in Mittel- und Nord- und Südosten folgte ab den 1860er Jahren Nordamerika die Kordilleren, die den Westen die Erschliessung des Westens. Mit dem Durch- dieses Erdteils in seiner ganzen Länge durch- bruch des Individualverkehrs und aufgrund der ziehen, die grösste Herausforderung für den Konkurrenz durch den Luftverkehr hat sich das Bahnbau dar; die Appalachen im östlichen Nor- US-amerikanische, kaum subventionierte Bahn- damerika nehmen sich gegenüber diesem gewal- netz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tigen Gebirgssystem geradezu harmlos aus und auf etwas mehr als die Hälfte seines Höchst- wurden schon in den 1840er Jahren von Gebirgs- standes reduziert. Zahlreiche Fusionen ab den bahnen überwunden. Die nordamerikanischen 1970er Jahren verringerten auch die einst grosse Kordilleren bestehen aus mehreren Gebirgszü- Anzahl an privaten Eisenbahngesellschaften. gen (Rocky Mountains, Coast Ranges, Cascade 1995 beispielsweise schlossen sich die Burling- Range, Sierra Nevada, Sierra Madre) die durch ton Northern Railroad und des Atchison, Topeka Becken und Plateaus voneinander getrennt sind; and Santa Fe Railway, zur Burlington Northern die höchste Erhebung ist der Mount McKinley Santa Fe BNSF mit einem Bahnnetz von rund (6’198 m ü.M.) in der Alaskakette. Zwischen 51’500 km Länge zusammen; die 1999 begon- den parallel zur pazifischen Küste verlaufenden nenen Fusionsgespräche zwischen der Burlington Coast Ranges bei San Francisco und den sich Northern Santa Fe und der Canadian National über 4’500 km ausdehnenden Rocky Mountains, CN wurden aufgrund der Einsprachen anderer nehmen die Kordilleren eine Breite von 1’500 km Bahnunternehmen und potentieller Schwierig- in Anspruch. keiten bei der Umsetzung des Zusammen- In den US-amerikanischen Kordilleren wurden schlusses ein Jahr später wieder abgebrochen. die ersten Gebirgsbahnen im Zusammenhang Das einst bis zu 74’000 km umfassende kana- mit der Besiedlung des Westens in Folge der dische Eisenbahnnetz entstand aus der Kon- Entdeckung von Goldvorkommen erbaut. Die kurrenz zwischen privaten und staatlichen sich konkurrenzierenden Bahngesellschaften Eisenbahngesellschaften. Der Staat förderte den Union Pacific und Southern Pacific eröffneten Bahnbau durch die Candian National, um US- schon seit den späten 1860er Jahren Bahnen, amerikanische Investoreninteressen abzuwehren. welche für die damaligen Verhältnisse auch im In Mittelamerika verfügte Kuba, damals noch un- weltweiten Vergleich über extrem hohe Päs- ter spanischer Kolonialherrschaft, als erstes Land se führten. Eine grosse Anzahl hochgelegener dieser Region seit den frühen 1840er Jahren über Bahnlinien konzentrieren sich auf die mineral- eine Eisenbahn; sie verkehrte bei Havanna. Der und kohlereiche Gebirgsgegend um Denver, Bau der Eisenbahnen in Mexiko, Guatemala, El wo die Rocky Mountains mit dem bis auf 4’402 Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica m ü.M. hinaufragenden Mount Elbert ihre war von den USA dominiert. Mit Ausnahme von höchste Erhebung erreichen. Denver selbst war 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 398 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 1859 als Goldsucherlager entstanden. couver bei Great Divide am Kicking Horse Pass In Kanada gewann die Canadian Pacific den einen Kulminationspunkt von 1’625 m ü.M. Wettlauf um eine landquerende Verbindung; 1885 In Mexiko, wo der Bahnbau mit staatlichen Mit- erreichte die Bahnlinie von Winnipeg nach Van- teln gefördert wurde, bestand eine erste Ge- Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Nord- und Mittelamerika Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Eröffnung 2) USA/Col Denver – Kremmling Normal 3560, Rollins Pass (1928: 2817 Moffat Tunnel) 1904 USA/Col Colorado Springs – Leadville Normal V 3515, Hagerman T. (1893: 3338 Ivanhoe Tunnel) 1887 USA/Col. Nathrop – Gunnison 914 mm V 3512, Alpine Tunnel 1882 USA/Col. Como – Breckenridge 914 mm V 3500, Boreas Pass 1890 USA/Col. Leadville – Dillon 914 mm V 3450, Fremont Pass 1882 USA/Col Breckenridge – Leadville 914 mm V 3450, Fremont Pass 1884 USA/Col. Salida – Gunnison 914 mm V 3309, Marshall Pass 1881 USA/Col. Leadville – Red Cliff 914 mm V 3180, Tennessee Pass (1890: Tunnel, Normal) 1881 USA/Col. Durango – Ridgway 914 mm V 3124, Lizard Head Pass 1891 Mexico La Cima – El Oro Normal V 3054, La Cima 1882 USA/Col. Chama – Antonito 914 mm 3053, Cumbres Pass 1880 USA/Col. Webster – Como 914 mm V 3045, Kenosha Pass 1879 USA/Col. Walsenburg – Alamosa 914 mm V 2817, Veta Pass 1877 Mexico Pueblo – Mexico City Normal 2561, Nanacamilpa 1883 USA/Col Bond – Steamboat Springs Normal 2540, Toponas 1913 Mexico Paso del Macho – Esperanza Normal 2536, Maltratata 1872 Mexico Chihuahua – Topolobampo Normal 2460, Los Ojitos 1961 USA /Wy Cheyenne – Ogden Normal 2443, Sherman Hill 1868 USA/Col. Gunnison – Montrose 914 mm V 2429, Cerro Summit 1882 USA/Col. Trinidad – Albuquerque Normal 2312, Raton Pass 1878 USA/Utah Price – Provo Normal 2268, Soldier Summit 1882 USA/Arizona Albuquerque – Barstow Normal 2212, Continental Divide 1883 USA/Calif./Nevada Sacramento – Reno Normal 2147, Donner Pass 1868 USA/Mont Miles City – Avery Normal V 1934, Pipestone Pass 1909 USA/Mont Great Falls – Butte Normal 1929, Butte 1888 USA/Utah/Nevada Salt Lake City – Winnemucca Normal 1799, Shafter 1906 USA/Mont. Billings – Spokane Normal 1743, Bozeman Pass 1883 Kanada Calgary – Kamloops Normal 1625, Kicking Horse Pass (Great Divide) 1885 USA/Mont. Shelby – Whitefish Normal 1589, Marias Pass 1892 USA/Tex San Antonio – El Paso Normal 1547, Paisano 1882 Costa Rica Puero Limon – Alajuela 1067 mm 1547, El Alto 1891 Guatemala Puerto Barrios – Puerto Quetzal 914mm 1497, Cd. Guatemala 1884 Kanada Lethbridge – Nelson Normal 1359, Crowsnest Pass 1898 USA/Calif. Bakersfield – Mojave Normal 1228, Tehachapi Summit 1876 Kanada Vancouver – Prince George Normal 1208, Horse Lake 1918 Kanada Edmonton – Kamloops Normal 1110, Yellowhead Pass 1913 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen J stillgelegt 2) 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 399 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch � Coxo Cumbres Pass, 3053 m ü.M. Cumbres & Toltec Osier Brücke Station Fluss Böschung / Damm Los Pinos Durango San Juan Chama 0 U . S . A . Antonito 100 km Cumbres & Toltec Scenic Railway> Wichtiger Streckenabschnitt. H.P. Bärtschi Cumbres & Toltec Scenic Railway > Station Needleton mit Rio GrandeWasserturm. Aufnahme 1974. P. Gloor Cumbres & Toltec Scenic Railway> Felseinschnitt beim Animas Canyon. Aufnahme 1974. P. Gloor 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 400 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch birgsbahn 1872. Es sollten weitere folgen. Sie bahn, ab den späten 1880er Jahren allerdings soll- dienten vornehmlich der Erschliessung der auf te die D&RG aus Kompatibilitätsgründen ihre 2’24 m ü. M. gelegenen Hauptstadt Mexico City, Strecken zunehmend in Normalspur bauen lassen. aber auch des nördlich gelegenen Hochlandes Palmer selbst war Gründer eines Kohlebergbau- zwischen den Gebirgszügen Sierra Madre Orien- unternehmens, das ins Erdölgeschäft einstieg und tal und Sierra Madre Occidental. sich Colorado Fuel & Iron Company nannte (mit In Guatemala konnte 1884 die mit grossartigen Raffinerie in Alamosa). Die Entdeckung von Sil- Stahlbrückenbauten bestückte Guatemala-Bahn bervorkommen beim Marshallpass (3’225 m ü. M.) eingeweiht werden (Kulminationspunkt auf 1’497 im Jahre 1877 und der dadurch ausgelöste Silber- m ü.M.). 1891 wurde auch in Costa Rica eine Ge- rausch liessen die D&RG den Bahnbau im Gebir- birgsbahn eröffnet. ge rasch vorantreiben. Hauptziel wurde nun die netzförmige Erschliessung der Rocky Mountains in Colorado und in den Nachbarstaaten. 1880 Denver & Rio Grande Railroad (bes. Cumb- führten die schmalspurigen Schienen der D&RG res & Toltec Scenic Railway), USA von Denver nach Pueblo, von dort aus südwest- Die Wahl der Denver & Rio Grande Railroad als wärts via Walsenburg und Alamosa nach Antonito Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er- und weiter über den Cumbrespass in den San Ju- folgte aufgrund folgender Kriterien: an Mountains bis nach Chama; nach Nordwesten > umfangreiches Schmalspurnetz zur zweigte eine Strecke Richtung Leadville ab, die regionalen Erschliessung über Canon City und Salida führte, auch bestand > Gebirgsbahncharakter mit Überwindung eine Verbindung zwischen Pueblo und dem süd- von grossen Höhendifferenzen lich gelegenen Santa Fe. 1881 wurde die Strecke > Attraktivität der durchfahrenen Landschaft zwischen Chama und Durango eröffnet, ein Jahr (vgl. Kap. 3.c.3) später waren auch die nördlich von Durango ge- > historische Originalsubstanz vorhanden legenen Silberminen von Silverton mit der Eisen- (wenn auch nur abschnittsweise in Betrieb bahn zu erreichen. Ebenfalls 1882 konnte eine stehend) von Salida ausgehende Linie via Gunnison und Montrose bis nach Salt Lake City und Odgen im Baugeschichte Bundesstaat Utah in Betrieb genommen werden. 1870 erreichten die Schienen der Kansas Pacific Das in den Rocky Mountains seit den 1870er Jah- die Stadt Denver. Gleichzeitig gründete Willliam ren errichtete Schmalspurnetz der D&RG umfass- Jackson Palmer (1836 – 1909) die Bahngesell- te letztendlich mehr als 2’500 km. Auf der Strecke schaft Denver & Rio Grande D&RG. Sein erstes zwischen Pueblo und Santa Fe liess die D&RG in Ziel war die Errichtung einer Bahn zu den rei- den 1890er Jahren Dreischienengleise anlegen, so chen Kohlerevieren bei Canon City und Walsen- konnten auch die für Normalspur ausgerüsteten burg am Ostabfall der Rocky Mountains sowie in Züge der Santa Fe-Bahngesellschaft zum Stahl- weiterer Folge einer Nord – Süd-Verbindung bis werk in Pueblo gelangen. Westlich von Leadville nach El Paso (Texas) an der Grenze zu Mexiko. entstand in den 1890er Jahren, ebenfalls unter der Zur Minimierung der Bau- und Betriebskosten Ägide der D&RG, die Normalspurlinie von Den- wählte Palmer die Ausführung als Schmalspur- ver über Dotsero und Grand Junction nach Salt 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 401 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Lake City und Ogden; die Schmalspurlinie nach ein Museumsbahnbetrieb geführt. Für den bis Salt Lake City wurde wurde daraufhin einge- nach Durango weiterführenden Abschnitt konn- stellt. 1901 eröffnete man eine ebenfalls normal- te kein Käufer gefunden werden; dort wurden die spurige Linie von Denver nach Antonito. Schienen abgetragen. Gegenwärtig ebenfalls mu- 1894 übernahm die D&RG die Rio Grande seal betrieben wird die nunmehr isolierte Schmal- Southern-Eisenbahngesellschaft und mit ihr die spurstrecke zwischen Durango und Silverton. 1891 errichtete Strecke zwischen Durango und Ridgway (nahe Silverton). Nach weiteren Fu- Streckenführung und Bahnbauten sionen mit in der Region tätigen Eisenbahnge- Die Strecke der Cumbres & Toltec Scenic Rail- sellschaften um 1900 galt das Hauptaugenmerk way stammt aus der Zeit zwischen 1878 und der D&RG dem Ausbau ihres Streckennetzes 1880; das Trassee ist vollständig original erhal- auf Normalspur. Der Verzicht auf die Anlage ten. Die Bahn überwindet in einem spektaku- von Dreischienengleisen in etlichen Abschnit- lären, in mehreren S-Kurven geführten Anstieg ten liess das Schmalspurnetz auseinander fal- zwischen Antonito (2’404 m ü.M.) und dem len. 1921 nannte sich der Konzern nach der 1901 Cumbrespass (3’053 m ü.M.) rund 650 Höhen- eingekauften Westbahn D&RG-Western. 1947 meter, um sich danach – eine ähnliche Höhen- übernahm die D&RGW das bedeutende Hoch- differenz bezwingend – in einer Neigung von gebirgsnetz der Denver & Salt Lake Railway bis zu 40 ‰ nach Chama hinunterzuwinden. und damit die Linie Denver – Craig, welche als Ihre Anlage entlang der Höhenkurven war auf- normalspurige Vollbahn einige spektakuläre wändig. Um die Baukosten möglichst klein zu Gebirgsabschnitte aufweist; deren Teilstück zwi- halten, verzichtete man wo immer möglich auf schen Bond und Craig wird heute nahezu aus- Einschnitte und die Errichtung grösserer Däm- schliesslich von schweren Kohlezügen befahren. me und Brücken. Die Strecke verfügt nur über Nach 1947 erfolgten beschleunigt Umspurungen eine geringe Anzahl grösserer Kunstbauten: Es und Stilllegungen. 1984 kaufte der Milliardär sind dies die beiden Eisenträgerbrücken über Philip Anschutz die D&RGW, um sie 1992 an die den Wolf Creek bei Lobeto (30 m hoch, 94 m Southern Pacific zu veräussern; diese wurde in lang) und über den Cascade Creek bei Osier der Zwischenzeit der Union Pacific eingegliedert. (35 m hoch, 131 m lang) sowie die beiden Tun- Seit der grossen Welle der Bahn-Stilllegungen in nels in der Nähe von Toltec (Toltec-Tunnel 110 m den 1960er Jahren ist der überwiegende Teil des lang; Mud-Tunnel 104 m lang). Sicherungen von der D&RG errichteten Schmalspurnetzes gegen Steinschlag und Murgang wurden trotz nicht mehr in Betrieb. Die etwa 112 km lange, der doch beträchtlichen Höhe des zu überwin- über den 3’053 m hohen Cumbrespass führen- denden Passes kaum gebaut. Am Cumbrespass de Linie von Antonito nach Chama war von den selbst gab es seit den 1880er Jahren mehr als 20 US-Staaten Colorado und New Mexico erworben Schneeschutzgalerien , die eine Länge von bis worden, die sie 1972, vier Jahre nach der Stille- zu 250 m aufwiesen. Viele von ihnen fielen Feu- gung, ausschliesslich für touristische Zwecke ersbrünsten zum Opfer, so dass man seit den wieder in Betrieb nahmen; unter dem Namen 1920er Jahren dazu überging, an exponierten Cumbres & Toltec Scenic Railway wird dort seit- Stellen Schneefangzäune zu errichten. her während der Frühlings- und Sommermonate In Chama sind die Stationsgebäude, Wassertürme 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 402 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch und Depotanlagen weitgehend in ihrer Original- Prämisse eines geringen Kostenaufwandes. Die substanz erhalten, während die Hochbauten am topographischen Verhältnisse waren diesbezüg- anderen Ende der Cumbres & Toltec-Tourismus- lich günstig, so dass keine aufwändigen Bau- bahn, in Antonito, in den 1970er Jahren wieder werke (etwa Spiral- und Scheiteltunnels oder aufgebaut wurden. Entlang der Strecke gibt es grössere Brücken) gebaut oder neue technische einige weitere Stationsgebäude und Wassertür- Lösungen (etwa elektrischer Betrieb) erprobt me in originalem Zustand, teilweise aber auch werden mussten. Die Überwindung des Höhen- solche, die in den 1980er und 1990er Jahren re- unterschieds konnte in aller Regel durch Schlei- konstruiert worden sind. Die harten klimatischen fen in Seitentäler (wie bei der Semmeringbahn Bedingungen und der lange Betriebsunterbruch demonstriert) erzielt werden. Die maximale während der Wintermonate erfordern an den Neigung von 40 ‰ entspricht den Kriterien des überwiegend hölzernen Konstruktionen stete Dampflokomotivbetriebs (Albulabahn: 35 ‰). Unterhaltsarbeiten. Bei beiden Bahnen ist die Trassierung original erhalten geblieben, bei der Denver & Rio Gran- Ausrüstung und Betrieb de Railroad steht jedoch nur noch ein Teilstück Die Museumsbahn Cumbres & Toltec steht in in Funktion. Nach Inbetriebnahme der Touris- der Zeit von Ende Mai bis Mitte Oktober täg- musbahn im Jahr 1972 erfolgten auf der Strecke lich in Betrieb; in der Regel fährt von beiden zwischen Antonito und Chama Renovationsar- Endpunkten aus ein dampflokbespannter Zug beiten an den erhaltenen Hochbauten; seitdem in siebenstündiger Fahrt die gesamte Strecke mussten einzelne der zumeist hölzernen Ge- hin und zurück. Daneben finden zusätzlich Son- bäude aufgrund der schlechten Bausubstanz re- derfahrten statt. Alle zwei Jahre wird zu Foto- konstruiert werden. Demgegenüber sind bei der zwecken eine Fahrt mit der original erhaltenen Albula/Bernina-Bahn die Hochbauten weitge- Dampfschneeschleuder von Jahr 1923 (Herstel- hend im originalen Zustand erhalten bzw. wur- ler: Alco) veranstaltet. Es sind mehrere Schlepp- den, wo eine Erhaltung nicht möglich war, durch tenderlokomotiven der Achsfolge 2-8-2 (Baldwin Bauten zeitgemässer Architektur ergänzt. Bei 1903 bzw. 1925; D&RGW 1928-1930) vorhan- der Cumbres & Toltec Scenic Railway sind die den, wovon sechs betriebsfähig sind. Neben re- Personenwagen mit den hölzernen Aufbauten konstruierten, vierachsigen Holzkastenwagen durchwegs auf (originalen) Güterwagenchassis ist auch ein ganzer Güterwagen-Park erhalten. aufgebaute Rekonstruktionen. Die erhalten ge- Die Ausrüstung mit dem nach Originalplänen bliebenen Dampflokomotiven stammen aus den rekonstruierten Rollmaterial aus den 1920er 1920er Jahren, sie wurden teilweise wieder be- Jahren ist eine besondere Attraktion dieser triebsfähig gemacht. Museumsbahn. Eine besondere Bedeutung kommt der Cumbres & Toltec Scenic Railway wegen der Attraktivität Vergleich der durchfahrenen Landschaft und insbesondere Die Strecke der Cumbres & Toltec Scenic Rail- durch das Prädikat «Scenic Line of the World» way wurde ein Viertel Jahrhundert vor der Al- zu, auf die in Kap. 3.c.3 detaillierter eingegangen bula/Bernina-Linie eröffnet. Ihr Bau stand im wird. Gegensatz zumindest zur Albulabahn unter der 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 403 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Europa (exkl. Schweiz) Mont Cenis im Jahre 1871 kam zugleich der da- Europa war im Eisenbahnwesen bis weit ins 20. mals längste Bahntunnel in Betrieb. In den ru- Jahrhundert hinein wegbereitend. Das europä- mänischen Karpaten wurde in den 1870er Jahren ische Eisenbahnnetz umfasste – die Linien im die Hauptlinie Bukarest – Brasov mit einem Kul- zu Europa gehörenden Teil Russlands und in der minationspunkt von über 1000 m ü.M. vollen- Schweiz mit eingerechnet – auf seinem Höchst- det. Die Wirtschaftskrise der späten 1870er Jahre stand rund 410’000 km, also nur etwa 50’000 km brachte grosse europäische Bahnvorhaben für weniger als jenes der USA. In Westeuropa führ- längere Zeit in Stocken – so etwa jene durch den te der Ausbau des Strassennetzes seit den 1960er Gotthard (siehe weiter unten in diesem Beitrag) zu empfindlichen Einschnitten im Eisenbahn- und den Arlberg. Weitere Gebirgsbahnen ent- wesen. Die gleiche Entwicklung setzte nach den standen schliesslich Ende des 19. Jahrhunderts politischen Umwälzungen Ende der 1980er Jahre im österreichischen Einflussgebiet, in Spanien, auch in den osteuropäischen Staaten ein. in Frankreich und in Italien, wo mehrere gross- Die Eisenbahn, wie wir sie heute kennen, hat ih- artige Gebirgsbahnen den Apennin queren. Bis ren Ursprung im England des frühen 19. Jahr- zum Ersten Weltkrieg führten mehr als ein Dut- hunderts. Um eine Verbindung zwischen den zend weitere neue Bahnlinien in Europa auf Kul- Industriezentren im Nordwesten und jenen an der minationspunkte von über 1000 m ü.M., darunter Ostküste herzustellen, baute England schon Mit- auch die norwegische Bergenbahn. Bis 1976 soll- te der 1840er Jahre Bahnen über das penninische te sich die Zahl der Gebirgsbahnen in Europa Gebirge. In Frankreich entstand die erste Eisen- verdoppeln. bahnlinie im Zentralmassiv, in der Region um St. Etienne; sie wies noch einen gemischten Betrieb mit Dampflokomotiven und Pferden auf. Im Lauf Train Jaune, Frankreich der Zeit sind alle Gebirgsketten Europas über- Die Wahl des Train Jaune in Frankreich als Ver- schient oder untertunnelt worden. Die erste euro- gleichobjekt zur Albula/Bernina-Linie erfolgte päische Bahn, welche die Höhe von 1’000 m ü. M. aufgrund folgender Kriterien: überschritt, war die Neuenburger Juralinie in der > ähnliche Bauzeit Schweiz, die im Jahr 1860 entstanden war. Die > Schmalspur erste Hauptlinie, die über 1’000 m ü.M. führte, > Überwindung von grossen Höhendifferenzen war die spanische Nordbahn. Sie verbindet die > Attraktivität der durchfahrenen Landschaft Städte Madrid und Ávila über das Kastilische (vgl. Kap. 3.c.3) Scheidegebirge. Schon seit 1858 projektiert, > noch in Betrieb stehend konnte sie 1863 eröffnet werden. Die erste al- > um 2001 fanden Überlegungen zur penquerende Bahn verlief über den Semmering Nominierung des Train Jaune als UNESCO- und wurde 1854 in Betrieb genommen. 13 Jah- Welterbe statt, in dessen Rahmen eine re später wurde mit der Brennerbahn die zweite umfangreiche Dokumentation erstellt wurde. Alpenbahn in Betrieb genommen. In Frankreich errichtete man zwischen 1868 und 1870 zwei Ge- Baugeschichte birgsbahnen, ihnen sollten weitere folgen. Mit Spanien und Frankreich werden von den Pyre- der Eröffnung der Alpentransversale durch den näen, einem sich zwischen dem Atlantischen 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 404 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in Europa (exkl. Schweiz) Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Frankreich Villefranche – La Tour-de-Carol (Train Jaune) Eröffnung 2) Meter 1592, Col de la Perche 1911 Frankreich, Spanien Toulouse – Barcelona Normal 1567, Porté Puymorens 1929 Italien 950 mm J 1529, Cima bianche 1910 Dobbiaco – Calalco (Dolomitenbahn) Frankreich St-Gervais-le-Fayet – Vallorcine Meter J 1386, Montets 1910 Österreich Innsbruck – Brènnero Normal 1371, Brenner 1867 Spanien Madrid – Sierra de Ávila 1676 mm 1359, La Cañada 1863 Italien Cosenza – San Giovanni 950 mm J 1340, Montescuro 1931 Österreich Feldkirch – Innsbruck Normal 1311, Arlberg 1884 Italia Torino – Modane Normal 1306, Mont Cenis (1866: 2081, Baubahn) 1871 Spanien Madrid – Burgos 1676 mm 1304, Somosierra 1968 Norwegen Olso – Bergen Normal 1301, Finse 1908 Spanien Madrid – Segovia 1676 mm 1296, Guadarrama 1888 Spanien Ujo – Pusdongo 1676 mm 1271, Perruca Túnel 1884 Italien Sulmona – Isernia Normal 1267, Rivisòndoli 1897 Bulgarien Septemvri – Dobrini´ste (Rhodopenbahn) 760 mm 1267, Avromovo 1937 Österreich Schwarzach-St.Veit – Villach Normal 1226, Tauern-Tunnel 1909 Spanien Sagunto – Zaragoza 1676 mm 1218, Escandón 1901 Italien Fortezza – San Càndido (Pustertal-Bahn) Normal 1210, Dobiacco 1871 Österreich Leoben – Hieflau (Erzbergbahn) Normal 1206, Präbichl 1873 Frankreich Livron – Briançon Normal 1204, Col de Cabre 1876 Frankreich/Spanien Canfranc – Pau Normal 1195, Canfranc 1928 Spanien Bilbao – León (La Robla-Bahn) Meter 1192, Bercedo Pass 1894 Österreich Innsbruck – Scharnitz (Karwendel-Bahn) Normal 1185, Seefeld im Tirol 1912 Frankreich Grenoble – Marseille Normal 1176, Col de la Croix 1877 Frankreich Aurillac – Neussargues Normal 1152, Lioran Tunnel 1868 Spanien Aranjuez – Valencia 1676 mm 1132, Palancares Tunel 1947 Spanien Almería – Linares-Baeza (Sierra Nevada-Linie) 1676 mm 1129, Huénejar-Dolar 1899 Österreich Scharnitz – Pfronten-Steinach (Ausserfern-Bahn) Normal el. 1128, Lähn Frankreich Le Puy – St. Germain Normal 1089, Sembadel Spanien La Coruña – Zamora (Sierra de la Culebra) 1676 mm 1087, La Mezquita Frankreich Bort – Neussargues Normal 1081, Clarièrespass Spanien Torre – Brañuelas (La Granja) 1676 mm 1080, Divisoria Tunnel 1882 Frankreich Le Puy – La Levade d’Ardèche Normal J 1076, S. Cirgues 1936 Italien Cùneo – Ventimiglia Normal 1073, Tenda-Tunnel 1915 Rumänien Bucarest – Brasov Normal 1057, Predeal 1879 Frankreich Neussargues – Béziers (Causses) Normal 1056, Arcomie Rumänien Brasov – Ploesti (Karphaten-Bahn) Normal 1054, Predeal Polen Kamienna Gora – Krzeszow Normal 1052, Krzeszow 1899 Jugoslawien Belgrad – Bar Normal 1032, Kolasin 1976 Frankreich Nîmes – Clermont-Ferrand (Cevennes) Normal 1030, S. Laurent les B. 1870 Norwegen Trondheim – Dombas (Dovre) Normal 1025, Hierkinn 1921 Frankreich Nice – Digne Meter 1023, Thorame Haute 1894 Frankreich Le Puy – Vichy Normal 1021, Allègre 1902 Bosnien Usice – Mostar (Bosnische Bahnen) 760 mm J 1000, ca. Usice 1891 1913 ca. 1900 1958 ca. 1900 1888 ca. 1900 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen J stillgelegt 2) 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 405 Kandidatur UNESCO-Welterbe � | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Toulouse | www.rhb-unesco.ch 0 F 10 km R A N C E Têt Puymorens-Tunnel Villefranche, 415 m ü.M. Mont Louis Col de la Perche, 1592 m ü.M. La Tour-de-Carol, 1230 m ü.M. Train Jaune Tunnel Brücke Spurweite 1435 mm Spurweite 1000 mm Station östliche Transpyrenäen-Bahn Fluss Bourg-Madame Böschung / Damm Bergspitze Barcelona (E) Train Jaune > Gebirgsabschnitt. H.P. Bärtschi Train Jaune >«Le Viaduc Séjourné» bei Fontpédrouse. Aufnahme 2002. H.P. Bärtschi Train Jaune > «Pont suspendu Gislard» über den Fluss Têt. Aufnahme 2002. Train Jaune 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 406 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Ozean (Biscaya) und dem Mittelmeer (Golfe du des Streckenabschnitts zwischen Villefranche Lyon) ausbreitenden Gebirgszug voneinander und dem an der spanischen Grenze gelegenen getrennt. Seit den späten 1860er Jahren wurde Bourg-Madame. Zur Diskussionen stand anfäng- der Bau von transpyrenäischen Bahnen erwo- lich der Bau einer Dampfbahn mit Zahnstangen- gen, jedoch sollte es noch bis etwa 1910 dauern, abschnitten. Angesichts des Umstandes, dass der bis die Planungen für den Bau der östlichen Linie Staat gleichzeitig den Bau von Kraftwerken und von Toulouse über La Tour-de-Carol nach Bar- die Elektrifizierung der Grenzregion förderte, celona begannen. Gänzlich fertiggestellt war die entschloss man sich schliesslich zum Bau einer genannte Strecke gar erst 1929, rechtzeitig zur elektrisch betriebenen Bahn. Die 53 km lange damals in Barcelona stattfindenden Weltausstel- meterspurige Gebirgsbahn nahm ihren Betrieb lung. Bereits seit den 1860er Jahren bestand die von Villefranche bis La Cabanasse 1910 und transnationale Bahnlinie, die dem Mittelmeer schliesslich bis Bourg-Madame im Jahr 1911 auf, entlang von Montpellier über Perpignan nach wobei für die Zuleitung der elektrischen Energie Barcelona führt. Seit 1880 besass die Compagnie (850 Volt Gleichstrom) eine Seitenschiene instal- des Chemins de fer du Midi, kurz Midi genannt, liert wurde. Im Hinblick auf die Eröffnung der eine Konzession für den Bau einer Gebirgsbahn erwähnten östlichen Transpyrenäen-Bahn (Tou- von Villefranche nach La Tour-de-Carol über louse – Barcelona) erfolgte im Jahr 1927 die Aus- das Hochplateau der Cerdagne im französischen weitung der Linie bis La Tour-de-Carol, womit Teil der Ostpyrenäen. Sie sollte an die seit den die Länge der als Train Jaune bekannten Bahn 1870er Jahren bestehende, bei Perpignan von der auf 63 km anwuchs. transnationalen Mittelmeer-Strecke gegen Westen abzweigende Flachlandbahn nach Prades Anschlussbahnen anschliessen; Letztere wurde bis 1895 von der Die normalspurige östliche Transpyrenäen- Midi bis nach Villefranche verlängert. Der Bau Bahn, mit welcher der Train Jaune in La Tour- des Gebirgsbahnabschnitts ab Villefranche war de-Carol zusammentrifft, gehört mit ihrem ursprünglich – analog zur Flachlandbahn – in Scheitelpunkt von 1’567 m ü.M. sowie je einem Normalspurweite geplant. Die Anlage der Stre- Spiraltunnel in Frankreich und Spanien neben cke allerdings gestaltete sich schwierig und führ- dem Train Jaune zu den spektakulärsten Ge- te zu grossen Verzögerungen in der Realisation. birgsbahnen im Pyrenäenraum. Nördlich von La Der Bau der Bahn war von Staates wegen von Tour-de-Carol quert sie das Vorgebirge durch Interesse; zum einen aus militärstrategischen den 5,4 km langen Puymorens-Tunnel. Zusam- Gründen, wegen der in der Cerdagne vorhan- men mit der transnationalen Linie entlang des denen Grenzfestungen, zum andern wegen des Mittelmeers und dem Train Jaune bildet sie ein Aufbaus der Energieversorgung ebendort. Der H-förmiges Bahnnetz entlang und quer zum raschen Vollendung des Bauwerks wegen wurde Hauptkamm der Pyrenäen. 1903 schliesslich eine mit weniger Kostenaufwand verbundene meterspurige Bahn mit Stei- Streckenführung und Bahnbauten gungen von bis zu 60 ‰ konzessioniert. Sofort Die einzelnen Abschnitte des in Etappen (1910, nach Erteilung der Konzession für eine neue 1911 und 1927) erbauten Train Jaune – der höchs- Bahnvariante begann die Midi mit der Planung ten durchgehenden Linie Frankreichs – haben sich 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 407 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch alle im Originalzustand erhalten, sowohl was die che mit dem Normalspurbahnhof, den Perrondä- Trassierung, die Stromzuführung wie auch die chern und dem Depot sowie der Verladeanlagen Tief- und Hochbauten betrifft. Die Strecke weist der Meterspurbahn an der Hangkehle im Nor- starke andauernde Steigungen und eine kur- den. Die aus den Jahren 1927 – 1929 stammen- venreiche Linienführung entlang steiler Hänge de Bahnhofsanlage in La Tour-de-Carol verfügt hoch über der Talsohle auf. Im gebirgigen Ostab- über Gleise in drei Spurweiten, denn es tref- schnitt bestehen umfangreiche Sicherungsbauten fen sich hier die Meterspur des Train Jaune, gegen Regenfälle, Steinschlag und Murgang. die Normalspur der französischen Staatsbahn Insgesamt 233 Brücken sind zu verzeichnen, da- und die Breitspur von 1676 mm der spanischen von 177 in Steinbauweise. Staatsbahn. Die Steigung beginnt unmittelbar hinter dem Ausgangsbahnhof Villefranche (415 m ü.M.). Das Ausrüstung und Betrieb Trassee verläuft dem rechten Ufer des Flusses Seit der Einstellung des grundsätzlich geringen Têt entlang. Vor Thuès-les-Bains durchsticht das Güterverkehrs im Jahre 1974 wird die Strecke Trassee in Tunnels mehrere Bergsporne. Seiten- zwischen Villefranche und La Tour-de-Carol nur talkehren sind mit aufwändigen Verbauungen noch für einen bescheidenen Personen- und ins- und Brücken versehen. Zwischen Thuès-entre- besondere Touristenverkehr genutzt. Bis 2002 Vails und Fontpédrouse wird der Hauptfluss auf wurde der gesamte Personenverkehr – fünf bis dem grossen, steinernen Viaduc Séjourné über- sechs Zugspaare pro Tag – mit dem Originalroll- quert. Die Bahn windet sich anschliessend über material der Gründerzeit geführt: Fahrgestelle, dem linken Ufer die enge Schlucht hoch. Bei Rahmen und Seitenstromabnahmeeinrichtungen Fontpédrouse-Saint Thomas-les-Bains steht ein der Triebwagen besitzen noch die Inschriften grosses Kraftwerk, das auch der Bahn Strom lie- der Midi und Achsbüchsen tragen die Jahres- fert. Die Bahnlinie liegt hier bereits auf 1’050 zahl 1908. Die Wagenkasten sind in den 1980er m ü.M. Sie quert weiter oben die Schlucht der Jahren erneuert worden. Seit 2003 wurden neue Têt auf der einzigartigen Schrägseil-Hängebrü- Triebwagen angeschafft. cke Pont Gislard ein weiteres Mal; die Brücke ist nach dem Bahnkommandanten benannt, der Vergleich hier 1909 bei der Brückenbelastungsfahrt tödlich Der Train Jaune gehört wie die Albula/Bernina- verunglückte. In einer Schleife und durch einen Linie zu den Gebirgsbahnen, die im Jahrzehnt kurzen Tunnel gelangt die Bahn zum Festungs- vor dem Ersten Weltkrieg vollendet wurden. ort Mont Louis-La Cabanasse auf 1’510 m ü.M. Sein Kulminationspunkt liegt mit 1’592 m ü.M. Bis zum Scheitelpunkt auf 1’592 m ü.M. beim deutlich niedriger als jener der Albula/Bernina- Perchepass weist die Strecke 19 Tunnel von bis Strecke. Die vorgefundene Topografie erforder- zu 380 m Länge auf. Die Bahn führt anschlies- te zahlreiche aufwändige Bauwerke, darunter send kurvenreich an der spanischen Exklave zwei grosse Brücken. Die Zahl der Tunnelbauten Llivia vorbei ins Cerdange-Becken hinunter ist ansehnlich, Spiraltunnels allerdings mussten und danach der spanischen Grenze entlang zum keine errichtet werden. Insgesamt ist der bau- Bahnhof La Tour-de-Carol. technische Schwierigkeitsgrad des Train Jaune Faszinierend sind die Bahnanlagen in Villefran- als geringer einzustufen als jener der Albula- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 408 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch bahn. Hinsichtlich der Betriebsart ist der Train Jaune mit der Berninabahn identisch (elektrisch). Die beim Train Jaune ausgeführte Stromzuführung mittels Seitenschiene hat sich allerdings bei Überlandbahnen nicht durchgesetzt. Beide Bahnen sind jedoch Beispiele dafür, dass die Betriebsart in direktem Zusammenhang mit technisch möglichen Streckenparametern wie der maximalen Neigung gesehen werden muss. In Anbetracht des Risikos, den die Anlage einer elektrischen Bahn im Hochgebirge zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund der mangelnden Erfahrung bedeutete, übertrifft die Berninabahn den Train Jaune an Kühnheit, beträgt doch ihre maximale Neigung 10 ‰ mehr und liegt doch ihr Kulminationspunkt um etwa 660 m höher. Wie bei der Albula/Bernina-Linie sind Trassierung und Hochbauten – abgesehen von den üblichen betrieblich erforderlichen Anpassungen – original erhalten geblieben. Auch das Rollmaterial der Gründerjahre ist im mechanischen Teil weitgehend erhalten, seit 2003 aber im bescheidenen Alltagsverkehr durch neue Triebwagen ersetzt. Demgegenüber fährt die Albula/Bernina-Bahn im Alltagsbetrieb als moderne Vollbahn durchwegs mit neuem Material, während die historischen Wagen und Lokomotiven museal genutzt werden. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 409 Kandidatur UNESCO-Welterbe � | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina 0 U S T R I www.rhb-unesco.ch Payerbach, 494 m ü.M. 5 km A | A Wien Klamm, 699 m ü.M. Breitenstein, 791 m ü.M. Semmeringbahn Tunnel Brücke Station Semmering, 896 m ü.M. Fluss Berghang Scheiteltunnel, 898 m ü.M. Triest Spilal, 789 m ü.M. Semmeringbahn > Wichtiger Streckenabschnitt. H.P. Bärtschi Semmeringbahn > Steinbogenviadukt über die Kalte Rinne. Aufnahme 1979. H.P. Bärtschi Semmeringbahn > Ostportale des Scheiteltunnels. Aufnahme 1979. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 410 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Semmeringbahn, Österreich | www.rhb-unesco.ch England und Nordamerika, um Kenntnisse über die neuesten Entwicklungen im Eisenbahnbau Die Wahl der normalspurigen Semmeringbahn zu erlangen. Gleichzeitig wurden Vergleichs- in Österreich als Vergleichobjekt zur Albu- studien ausgearbeitet zur Ermittlung der besten, la/Bernina-Linie erfolgte aufgrund folgender d.h. technisch und wirtschaftlich günstigsten Kriterien: Trasseevariante. Ghega, der auf eine 20-jäh- > UNESCO Welterbestätte rige Berufserfahrung im Hochgebirgs-Strassen- > weltweit erste Hochgebirgseisenbahn- bau zurückgreifen konnte, verknüpfte bei den Prototypcharakter Planungen zum Bau der Semmeringbahn seine > Überwindung von großen Höhendifferenzen Strassenbau-Erfahrungen mit dem im Rahmen > Attraktivität der durchfahrenen Landschaft der Studienreise generierten Wissen. Es resul- (vgl. Kap. 3.c.3.) tierte daraus ein serpentinenförmiges Trassee > bis heute in Betrieb stehend zwischen den Orten Gloggnitz und Mürzzuschlag, welches Seitentäler mit einbezog und auf- Baugeschichte grund dieser künstlichen Streckenverlängerung Der Semmering ist einer der östlichsten Alpen- eine Neigung ermöglichte, welche mit Dampflo- pässe, er liegt 984 m ü.M. Mit der Entscheidung komotiven befahren werden konnte (maximal 27 der staatlichen Verwaltung des damaligen Kai- ‰). Das Projekt lag 1844 vor. Der Bau selbst al- sertums Österreich im Jahre 1842, eine – nor- lerdings wurde erst im Zuge der 1848er Revolu- malspurige – Eisenbahn von der Residenzstadt tion an die Hand genommen, im Zusammenhang Wien zur adriatischen Hafenstadt Triest zu er- mit der Suche nach Arbeitsmassnahmen für die richten, bekam die Semmeringregion eine neue aufgebrachte Bevölkerung. Ohne Tunnelbohr- Bedeutung: Vor dem Bahnbau erstellte Ver- maschinen oder leistungsfähige Sprengstoffe ar- gleichsstudien kamen zum Schluss, dass für beiteten zwischen 1848 und 1854 bis zu 20’000 eine Eisenbahn von Wien nach Triest die Über- Menschen an der knapp 42 km langen Strecke. schienung der Alpen im Bereich der Semmerin- Zur Bewältigung der topographischen Schwie- gregion am besten durchzuführen wäre. Diese rigkeiten mussten 16 grössere Viadukte (davon Einschätzung ist insofern beachtlich, als sie sich vier doppelstöckige) und 15 Tunnels errichtet auf keinerlei Erfahrungen mit Eisenbahnen in werden. In beiden Fällen betrat man technisches Gebirgen mit schroffen Tälern und grossen Hö- Neuland: Sowohl Viadukte als auch Tunnels hen stützen konnte. Ende der 1840er Jahre er- wurde in engen Krümmungen angelegt, was so- reichten die Eisenbahnen weltweit maximal eine wohl hinsichtlich der Vermessung (Tunnel) als Höhe von rund 660 m ü.M. Am Semmering muss auch hinsichtlich der starken Belastung durch die bei einer Luftlinienentfernung von weniger als fahrenden Eisenbahnzüge (Viadukte) besondere 10 km ein Höhenunterschied von knapp 500 m Herausforderungen bedeutete. und eine teilweise stark zerklüftete Landschaft Nach nur sechsjähriger Bauzeit konnte die Sem- überwunden werden. meringbahn in Betrieb genommen werden und Als Vorbereitung zu den konkreten Planungs- die zeitgenössische Presse konstatierte eupho- arbeiten für den Bau der Semmeringbahn reis- risch, dass es nun mehr «keinen Berg [gibt], te der Bauleiter Carl Ghega im Jahre 1842 nach über den man nicht eine Eisenbahn führen, kei- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 411 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch nen Fluss mehr, über den man nicht eine Brü- ger spektakuläre Weise durch das Fröschnitztal cke schlagen könnte» (Triestiner Lloyd vom geführt. 2.7.1854). Die ursprünglichen Bahnbauten sind bei der Semmeringbahn grösstenteils bis heute erhal- Anschlussbahnen ten geblieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die Semmeringbahn ist Teil der Eisenbahnver- waren die Viadukte und die Tunnels in einem bindung Wien – Triest. An ihrem nördlichen bautechnisch schlechten Zustand und erforder- Endpunkt Gloggnitz schliesst die nach Wien ten umfangreiche Sanierungsarbeiten. In diesem führende und dabei das Wiener Becken durch- Zusammenhang wurde 1952 der ursprüngliche querende Flachlandbahn an, am südlichen End- Haupttunnel in einen eingleisigen Tunnel rück- punkt Mürzzuschlag führt die Strecke weiter gebaut und 1953 ein zweiter, parallel verlau- im Talboden durch das Mürz- und Murtal. Von fender eingleisiger Tunnel zur Erhaltung der Mürzzuschlag wurde im Jahr 1879 in ein Seiten- Zugs-Kapazitäten einer zweigleisigen Strecke tal nach Neuberg eine normalspurige Nebenbahn errichtet. Nach den Sanierungsarbeiten der Bau- errichtet, von der Station Payerbach-Reichenau werke folgte die Elektrifizierung der Linie, die führte ab 1922 eine elektrische Schmalspurbahn 1959 abgeschlossen werden konnte. Die sehr als Transportbahn für die in Hirschwang ansäs- vielfältig ausgebildeten Tunnelportale konnten sige Papierindustrie und ab 1926 mit der Auf- bei dieser Massnahme aufgrund ihrer grosszü- nahme des Personenverkehrs als Zubringer zur gigen Bemessung in ihrer ursprünglichen Form Rax-Seilbahn in das Hochgebirge. Die erstge- beibehalten werden. Dahingegen wurden bei nannte Nebenbahn steht heute (2006) nicht mehr einzelnen Viadukten die steinernen Brüstungen in Funktion, während die Schmalspurbahn Nos- demontiert oder die Mauerflächen verputzt, was talgiebetrieb aufweist. eine Veränderung von deren originaler Gestalt bedeutete. Streckenführung und Bahnbauten Die Bahnhofs- und Betriebsgebäude wurden im Die Semmeringbahn startet im niederöster- Laufe der Jahrzehnte mit den stark steigenden reichischen Gloggnitz auf einer Höhe von Verkehrsfrequenzen immer wieder und je nach 439 m ü. M. und gewinnt mittels einer grossen Zeit mehr oder weniger sensibel den jeweiligen Schleife in das Reichenauer Tal an Höhe. Bei der Erfordernissen angepasst; in Semmering, das Station Eichberg – in der Luftline nur 2 km von gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Tourismus- Gloggnitz entfernt – liegt das Trassee schon 170 Destination avancierte, musste das Stations- m höher. Weitere Talschleifen in den Adlitzgrä- gebäude mehrfach ausgebaut werden. Nahezu ben, wo sich auch der berühmte Viadukt über vollständig haben sich hingegen die ehemals 55 die Kalte Rinne (182 m lang, 46 m hoch und in bruchsteinernen Streckenwärter-Häuser erhal- einer Krümmung von 180 m liegend) befindet, ten, die der kompletten Überwachung der Stre- dienen ebenfalls der künstlichen Streckenver- cke dienten und in einer einheitlichen Bauform längerung. Im 1’428 m langen Scheiteltunnel errichtet worden waren. wird der Kulminationspunkt von 898 m ü.M. er- Die für den urspünglichen Dampfbetrieb er- reicht. Nach dem Tunnel wird das Trassee nach forderlichen baulichen Einrichtungen (Be- Mürzzuschlag (681 m ü.M.) auf deutlich weni- triebsgebäude wie Heizhäuser, Werkstätten, 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 412 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Drehscheiben, Wasserbereitstellung) in Glogg- wie des hohen Kapitalbedarfs immer noch im nitz, Payerbach, Semmering und Mürzzuschlag Planungsstadium. wurden nach der Elektrifizierung der Strecke Neben dem täglichen Regelbetrieb mit dem je- abgetagen – ausgenommen der Rundlokschup- weils aktuellen Rollmaterial werden seit den pen und die Halle der «Neuen Montierung» mit letzten Jahren an Wochenenden Personenzüge der davorliegenden Schiebebühne (alle Mürzzu- mit Zugsgarnituren aus den 1960er und 1970er schlag), welche im August 2006 unter (österrei- Jahren geführt und als «Nostalgiezüge» bewor- chischen) Denkmalschutz gestellt wurden. ben. Im Rahmen von Sonderfahrten kommen Von Umbauten betroffen waren vor allem die auch mit Dampflokomotiven bespannte Züge Gleisanlagen an den Stationen: Einhergehend auf die Semmeringstrecke. Rollmaterial aus der mit stärkeren Lokomotiven konnten längere Zü- Bahnbauzeit ist nicht mehr vorhanden. ge eingesetzt werden, welche wiederum längere Ausweichgleise in den Stationen erforderten. Vergleich Die Gebäude zur Güterbeförderung (Güter- Die Semmeringbahn und die Albula/Bernina- schuppen, Verladeanlagen) wurden insbesondere Linie gehören beide in die Kategorie der ge- nach dem Zweiten Weltkrieg und der Umstellung birgsquerenden Bahnen, wenn sie auch einen des Transportes auf den Lastkraftwagen weitge- grundsätzlichen Unterschied bezüglich der Spur- hend demontiert. weite aufweisen. Die als zweigleisige Hauptbahn Seit der Aufnahme der Semmeringbahn in die in Normalspur in den frühen 1850er Jahren er- UNESCO-Welterbeliste im Jahr 1998 erfolgten richtete Semmeringbahn gilt als Meilenstein in alle Renovierungs- und Sanierungsarbeiten an der Geschichte der Eisenbahnen. Ihre Planung der Strecke in Rücksprache mit dem österrei- erfolgte in der Frühphase des Dampflokomotiv- chischen Bundesdenkmalamt. Betriebs und dementsprechend waren die Streckenparameter wie insbesondere die maximale Ausrüstung und Betrieb Neigung der Strecke an diese Betriebsart gebun- Die Semmeringbahn diente gleichermassen dem den: Die am Semmering ausgeführten 27 ‰ bil- Personen- wie dem Güterverkehr zwischen Wien deten auch in späteren Jahren den ungefähren und dem nördlichen Adriaraum, insbesondere Standard für dampfbetriebene Gebirgsbahnen. der Region um Triest. Heutzutage wird sowohl Die Brennerbahn etwa wies eine maximale Stei- der innerösterreichische Verkehr von Wien in gung von 25 ‰, auf, die Gotthardbahn 27 ‰, die die südlichen Bundesländer, als auch der inter- Bahn durch den Mont Cenis 30 ‰ und die Albu- nationale Verkehr in die Nachbarländer Italien lalinie 35 ‰. und Slowenien über den Semmering geführt. Es In dem halben Jahrhundert, das zwischen dem stehen täglich sowohl Personen- und Schnell- Bau der Semmeringbahn und jenem der Albu- züge als auch zahlreiche Güterzüge im Einsatz la/Bernina-Linie liegt, hat die Eisenbahntech- (für das Jahr 2003: 80 Reisezüge und 100 Gü- nik zahlreiche Veränderungen und Innovationen terzüge pro Tag). Diese hohe Zugsanzahl führte durchlaufen. So illustriert die Albula/Bernina- in den 1980er Jahren zur Forderung nach einem Strecke auf einzigartige Weise die mannigfachen Basistunnel. Das entsprechende Projekt befin- bautechnischen Möglichkeiten der Jahrhun- det sich aufgrund juristischer Unklarheiten so- dertwende sowohl hinsichtlich der herkömm- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 413 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch lichen Dampflokomotiv-Technologie als auch des in jener Zeit neuen Elektro-Bahnbetriebes. Während die Albulabahn entsprechend den für Dampfbetrieb gängigen Streckenparametern errichtet wurde, erfolgte bei der Berninabahn die Demonstration der Leistungsfähigkeit des elektrischen Bahnbetriebes: Nicht nur weist sie bis heute den höchsten Kulminationspunkt einer alpenüberquerenden Eisenbahn im Ganzjahresbetrieb auf, sie ist mit einer maximalen Neigung von 70 ‰ auch doppelt so steil wie die nur vier Jahre zuvor eröffnete Albulabahn. Bei den zur künstlichen Streckenverlängerung angewandten Techniken findet sich bei der Albula/Bernina-Linie im Gegensatz zur Semmeringbahn die gesamte Vielfalt an ingenieurtechnischen Möglichkeiten: Neben dem am Semmering weltweit erstmals eingesetztem Ausfahren von Seitentälern zur Überwindung der Höhendifferenz sind dies die (kostengünstigen) offenen Kehren an einem Hang (Berninabahn) oder die (kostenaufwändigen) Spiraltunnel sowie Scheiteltunnel (Albulabahn). Spiraltunnel waren in dem kurzen Zeitfenster zwischen den 1870er und den 1910er Jahren die für Gebirgsbahnen typische Tunnelbauart. Lange Scheiteltunnel konnten erst nach Erfindung der Tunnelbohrmaschinen errichtet werden; solche wurden erstmals am Mont Cenis in den späten 1860er Jahren eingesetzt. Die Albula/Bernina-Linie illustriert auf einzigartige Weise die verschiedenen technischen Lösungen des Eisenbahnbaues im Hochgebirge zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie dies die Semmeringbahn für die Mitte des 19. Jahrhunderts tut. In diesem Sinne stehen die beiden Strecken einander gleichberechtigt gegenüber. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 414 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Schweiz beschleunigte. Nach dem Bau der Bahnen über Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten den Brenner (1867) und durch den Mont Cenis begann der Eisenbahnbau in der Schweiz relativ (1871) bekam auch in der Schweiz der Bau einer spät. Die Gründe für diesen Umstand sind in pri- Alpentransversale oberste Priorität. Drei Varian- vaten Konkurrenzen, regionalen Machtkämpfen ten standen zur Diskussion: eine durch die Zen- und in der anspruchsvollen, hohe Investitionen er- tralschweiz, eine solche durch die Ostschweiz und fordernden Topographie weiter Teile des Landes eine durch das Wallis, ausgehend von der Haupt- zu suchen. 1859 war die Hauptlinie zwischen stadt Bern. Gebaut wurde als erste die zentral- dem Boden- und dem Genfersee mit Seitenästen schweizerische Variante: Mit Hilfe finanzieller Richtung Basel und Luzern fertig gestellt. Bis Beiträge aus Deutschland und Italien sowie mit zum Ersten Weltkrieg entstand schliesslich ein Bauarbeitern aus Italien konnte 1882 mit der von sehr dichtes Netz privater und staatlicher Eisen- Luzern nach Chiasso führenden Gotthardbahn bahnen. 1909 wurde die grösste Bahngesellschaft, die kürzeste europäische Nord – Süd-Verbindung die Gotthardbahn, verstaatlicht und in Schweize- eingeweiht werden. Sie erreicht einen Kulmina- rische Bundesbahnen SBB umbenannt. tionspunkt von 1’151 m ü.M. Erst 1913 wurde die Schon 1858 war mit der normalspurigen Hauen- ebenfalls normalspurige Lötschbergbahn durch steinbahn die erste Gebirgsbahn in der Schweiz das Wallis eröffnet, die mit Hilfe französischen eröffnet worden; sie führt in Doppelspur von Basel Kapitals errichtet werden konnte; ihr Kulmina- ins Mittelland. Ihr Scheiteltunnel liegt allerdings tionspunkt liegt auf 1’240 m ü.M. Lötschberg- auf lediglich 559 m ü.M. 1859 wurde eine weitere und Gotthardbahn gehören europaweit zu den ins Juragebirge führende Bahn in Betrieb genom- wichtigsten normalspurigen Nord – Süd-Verbin- men. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in Neuchâ- dungen. Darüber hinaus entstanden bis 1926 in tel und diente hauptsächlich der Erschliessung der Schweiz noch mehr als ein Dutzend schmal- der beiden hochgelegenen Uhrmacherzentren La spuriger Gebirgsbahnen, welche die Marke von Chaux-de-Fonds und Le Locle. Es ist dies schweiz- 1’000 m ü.M. überschritten. weit die einzige Hauptbahnlinie mit einer Spitz- Infolge des Kohlemangels während des Ersten kehre. Zwischen dem Lac de Neuchâtel (479 m ü. Weltkriegs – der Import aus den umliegenden eu- M.) und der französischen Grenze weist sie insge- ropäischen Staaten war praktisch zum Erliegen samt neun Tunnel auf. Der Scheitelpunkt der Stre- gekommen – beschloss die schweizerische Lan- cke liegt in Convers auf 1’048 m ü.M., einer erst desregierung 1916 die Elektrifizierung der bis durch die Gotthardbahn überbotenen Höhe. dahin grösstenteils mit Dampflokomotiven betrie- Der innereuropäische Verkehr von Norden nach benen Bahnlinien. Wasserkraft zur Produktion Süden musste zwangsläufig die Alpen überwin- von Strom war im Land selbst genügend vorhan- den. 1807 liess Napoleon I. über den Simplonpass den. So entstand in der Schweiz ein zu fast 100% die erste alpenquerende Fahrstrasse errichten. elektrisch betriebenes Bahnnetz – weltweit ein Es folgten die Passtrassen der Österreicher und Unikum. Anders als in den meisten übrigen Län- Bündner über die Ostalpen. Mit der Eröffnung dern kam es in der Schweiz nach dem Zweiten des Suezkanals im Jahre 1869 wurden die Waren- Weltkrieg nicht zu umfangreichen Stilllegungen. ströme von den Atlantikhäfen zu den Mittelmeer- Heute bestehen hier 3’700 km Normalspur- und häfen umgeleitet, was den Bau von Alpenbahnen 1’700 km Schmalspurlinien. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 415 Kandidatur UNESCO-Welterbe � | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Erstfeld, 471 m ü.M. 0 1 km S W I T Z E R L A N D Wassen, 928 m ü.M. Gotthardbahn Tunnel Brücke Station Fluss Berghang Göschenen, 1105 m ü.M. Gotthardtunnel, 1151 m ü.M. Gotthardbahn > Wichtiger Streckenabschnitt H.P. Bärtschi Gotthardbahn > Nordrampe bei Amsteg mit SBB-Kraftwerk. Aufnahme 1988. H.P. Bärtschi Gotthardbahn > Südrampe Biaschina mit drei Streckenniveaus. Aufnahme 1997. H.P. Bärtschi Gotthardbahn > Einspurige Zufahrtsstrecke entlang des Vierwaldstättersees. Aufnahme 1988. H.P. Bärtschi 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 416 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gebirgsbahnen mit Kulminationspunkten über 1’000 m ü.M. in der Schweiz Land Verbindung Spurweite Kulminationspunkt 1) [m ü.M.] Eröffnung 2) Schweiz St. Moritz – Tirano (Berninabahn) Meter 2253, Ospizio Bernina 1910 Schweiz Brig – Andermatt Meter, Z 2163, Furka (Bergstrecke) 1926 Schweiz Disentis – Andermatt Meter, Z 2045, Oberalp-Pass 1926 Schweiz Thusis – St. Moritz (Albulabahn) Meter 1823, Albula-Tunnel 1903 Schweiz Chur – Arosa Meter 1742 Arosa 1914 Schweiz Landquart – Davos Meter 1633, Davos-Wolfgang 1890 Schweiz Visp – Zermatt Meter, Z 1605, Zermatt 1891 Schweiz Montreux – Lenk Meter 1275, Saanenmöser 1905 Schweiz Spiez – Brig (Lötschbergbahn) Normal 1240, Lötschberg-Tunnel 1913 Schweiz Nyon – St.Cergue(– La Cure) Meter 1233, La Givrine 1917 Schweiz Erstfeld – Biasca (Gotthardbahn) Normal 1151, Gotthard-Tunnel 1882 Schweiz Reichenau-Tamins – Disentis Meter 1133, Disentis 1903 Schweiz Neuchâtel – Le Locle Normal 1048, Convers 1859 Schweiz Stans – Engelberg Meter, Z 1002, Engelberg 1898 Schweiz Luzern – Meiringen Meter, Z 1002, Brünig-Hasliberg 1888 1) unterschiedliche Angaben für höchste Stationen bzw. Streckenkulminationspunkt unterschiedliche Angaben für teilweise oder in der Regel durchgehende Eröffnungen Z Zahnstange 2) Gotthardbahn erst nach 1897 zur Vollendung gebracht werden. Die Wahl der normalspurigen Gotthardbahn als Bauverteuerungen und -verzögerungen infolge Vergleichsobjekt zur Albula/Bernina-Linie er- hektischer Planänderungen und unzulänglicher folgte aufgrund folgender Kriterien: Offerten führten das für den Bau der Bahn zu- > Überwindung von großen Höhendifferenzen ständige Unternehmen schon 1875 in die Krise. > Anwendung von Spiraltunnel und langen 1878 wurde der Antrag auf Nachsubvention durch das Zürcher Stimmvolk abgelehnt. Eine neue Scheiteltunnel > Attraktivität der durchfahrenen Landschaft Projektvariante sah die Erhöhung der Steigung bei den Rampen sowie eine Linienführung mit (vgl. Kap. 3.c.3) > bis heute in Betrieb stehend engeren Kurven vor. Allein der Bau des Schei- > grosse nationale Bedeutung teltunnels durch das Gotthardmassiv forderte fast 200 Tote. Nach der verspäteten Fertigstellung des Baugeschichte grossen Werks im Jahre 1882 entwickelte sich Mit dem Bau der Gotthardbahn wurde 1872 be- die Gotthardlinie zur modernsten Privatbahn der gonnen. Bereits 1874 waren die Zufahrtsstrecken Schweiz. Der finanziell stark von der öffentlichen im Tessin, also südlich der Alpen fertig gestellt. Hand getragene Gotthardbahn-Konzern umfasste Die nördlichen Zufahrtsstrecken Luzern – Im- bei der Eröffnung der Gotthardbahn ein Netz von mensee und Zug – Goldau allerdings konnten insgesamt 273 km. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 417 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Die von Beginn weg doppelspurig geplante Gott- Wassen mit einem Spiral- und zwei Kehrtunnels hardbahn wurde wegen der finanziellen Schwie- wie auch jene in der Piottinaschlucht bei Faido rigkeiten mit Ausnahme des Scheiteltunnels und in der Biaschinaschlucht mit den jeweils zwei anfänglich nur einspurig ausgeführt. An den nahezu übereinander liegenden Spiraltunnels. Rampen fand in der Zeit zwischen 1890 und 1896 Das Gesamtbauwerk wurde im Lauf der Zeit der sukzessive Ausbau auf Doppelspur statt. Zwi- dem jeweiligen Stand der Technik angepasst: So schen 1912 und 1948 – die Gotthardbahn war be- hat man die Fahrleitungen modernisiert und die reits 1909 verstaatlicht worden – erhielten auch Sohlen in den Tunnels zwecks Vergrösserung die Zubringerstrecken in den Tälern beidseits der des Lichtraumprofils abgesenkt. Insbesondere Alpen eine zweite Spur. Die letzte Doppelspur- wurden alle ursprünglichen eisernen Fachwerk- lücke über den Damm von Melide wurde erst träger-Brücken durch neue Bauwerke aus Beton mit der Autobahnplanung 1965 geschlossen. Die (Stampfbeton und Spannbeton, teilweise auch Gotthardbahn wurde nach dem entsprechenden mit Granitverkleidung) ersetzt. Die Trassierung Beschluss des Verwaltungsrates der SBB aus dem entspricht aber noch heute dem Originalzustand, Jahre 1916 auf elektrischen Betrieb umgerüstet; erhalten geblieben sind auch die monumentalen die Lötschbergbahn in der Westschweiz und Teile Hochbauten der Tessiner Talbahnen von 1875 und des Streckenetzes der Rhätischen Bahn waren eine Grosszahl der einfachen Hochbauten im Ge- schon früher mit hochgespanntem Einphasen- birgsabschnitt von 1882. Die Bahnhöfe Airolo und wechselstrom elektrifiziert worden. In Amsteg Göschenen an den beiden Enden des Gotthardtun- und Ambri-Piotta wurden zwei bahneigene Was- nels wurden im Zuge der Einrichtung einer Au- serkraftwerke gebaut. 1920 waren der Gebirgsab- toverladeanlage zwischen 1954 und 1980 immer schnitt und 1922 auch die Talbahnen elektrifiziert. wieder umgebaut und erweitert. Der Streckenabschnitt entlang des Vierwaldstättersees – eine der Streckenführung und Bahnbauten Zufahrtsstrecken – weist die meisten originalen Die Schwierigkeiten bei der Einbettung der Stre- Teile aus der Bauzeit auf, denn die zweite Spur er- cke in die Topografie waren in jeder Hinsicht hielt dort ein separates Trassee. ausserordentlich: stetig starke Steigungen auf beiden Rampen, erstmalige Ausführung von Ausrüstung und Betrieb Kehr- und Spiraltunnel in grosser Anzahl im Be- Die primäre Bedeutung der Gotthardbahn war reich der Alpen, aufwändige Führung mit Stütz- und ist diejenige einer europäischen Nord – Süd- mauern und Felseinschnitten an steilen Hängen Transitachse. Dementsprechend erfolgten sowohl hoch über der Talsohle und sehr umfangreiche hinsichtlich der Ausrüstung als auch des Rollma- Sicherungsbauten gegen Lawinen, Steinschlag terials – und im Gefolge dessen auch hinsichtlich und Murgänge. Bei den Brücken kamen verschie- der Betriebsgebäude – stetig Umbauten, Anpas- dene Bauweisen zu Ausführung; die grossen, weit sungen oder Erneuerungen. Wie auch bei der gespannten Übergänge wurden als Fachwerk- Semmeringbahn wurde die Bergstrecke nachträg- konstruktionen aus genietetem Schweisseisen lich vom aufwändigen Dampf- auf elektrischen ausgebildet. Der 16 km lange Scheiteltunnel war Betrieb umgestellt und die mechanischen Signal- lange Zeit der längste Tunnel der Welt. Bei jeder anlagen mussten den nunmehr elektrischen wei- Fahrt fasziniert die grossartige Linienführung bei chen. Eine Auswahl an historischem Rollmaterial 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 418 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch ist erhalten und wird anlässlich von Sonderfahrten brücken ersetzt. Diese Brückenbauart war von eingesetzt. 1992 hat das Schweizer Stimmvolk zeitgenössischen Beobachtern höchst kontrovers dem Bau zweier Basistunnels durch den Gotthard rezipiert worden. Die Brücken der Albulabahn, und den Lötschberg zugestimmt. Beim Lötsch- die noch weitestgehend im Originalzustand erhal- berg erfolgte der Durchstich im Jahre 2005, die ten sind, waren demgegenüber von Zeitgenossen Eröffnung des Tunnels ist auf das Jahr 2007 hin als «vorbildlich an die Umgebung angepasst» he- geplant. Der Gotthard-Basistunnel, der dereinst rausgestrichen worden. mit seiner Länge von 57 km der längste Eisen- Bei der Gotthardbahn sind noch zahlreiche Hoch- bahntunnel der Welt sein wird, soll im Jahre 2014 bauten original erhalten, wenn auch – wie bei in eröffnet werden. täglichem Betrieb stehenden Eisenbahnen üblich – laufend Anpassungsmassnahmen erfolgten. Als Vergleich europäische Hochleistungsstrecke ist die Gott- Die Eröffnung der Gotthardbahn erfolgte ein hardstrecke von wesentlich anderem Charakter Viertel Jahrhundert vor jener der Albula/Bernina- als die Albula/Bernina-Linie. Der Weiterbestand Linie. Der Kulminationspunkt der als normalspu- der Gotthardbahn-Bergstrecke ist nach Eröffnung rigen Transitbahn ausgelegten Gotthardbahn liegt des Basistunnels (voraussichtlich 2014) beabsich- deutlich tiefer als jener der schmalspurigen Albu- tigt, ein definitiver Entscheid ist jedoch noch nicht la-/Bernina-Bahn, welche der regionalen, jedoch gefallen. gebirgs- und länderübergreifenden Erschliessung dient. Sowohl hinsichtlich dem bautechnischen Schwierigkeitsgrad als auch der attraktiven Einbettung der Strecke in die Topografie ist die Gotthardbahn mit der Albula/Bernina-Linie vergleichbar: Die Dichte an Kunstbauten – Tunnel, Brücken, Einschnitte, Dämme – ist grundsätzlich als sehr hoch einzustufen. Bei der Gotthardbahn befand sich bis zur Errichtung des Simplontunnels zwischen der Schweiz und Italien (Eröffnung 1906) der längste Tunnel der Welt und erstmals in der Schweiz kamen Spiraltunnel zur Anwendung. Die teilweise dreifach übereinander liegende Linienführung ist wie bei der Albulabahn bis heute eine grossartige Attraktion. Die Trassierung ist original erhalten geblieben, der Gleiskörper musste aufgrund der hohen Zugsfrequenzen immer wieder instandgesetzt und repariert werden. Insbesondere die zahlreichen und für die ursprüngliche Gotthardbahn typischen stählernen Fachwerkträger-Brücken wurden seit den 1950er Jahren ausnahmslos durch Beton- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.2 Bahnvergeich 419 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich Eisenbahnen führen vielmals Fällen durch land- als in Kulturlandschaften eingebettet. schaftlich einzigartige Regionen – seien es nun So werden hier dem internationalen Vergleich Hochgebirge oder Industriezonen. Die spezi- der umgebenden Kulturlandschaft des Albu- fischen Verknüpfungen der Eisenbahn mit den la/Bernina-Eisenbahnkorridors Ausführungen jeweiligen (Kultur-)Landschaften wurden bis- konzeptioneller Art sowie der Aufbau eines Un- lang allerdings nur selten thematisiert. Es beste- tersuchungsrasters mit einem Set an Analyseka- hen einzelne überblicksartige Abhandlungen, tegorien vorangestellt. Dennoch können die hier wie etwa jene von Wolfgang Schivelbusch zum angestellten Überlegungen nur einen Ausgangs- Phänomen der Wahrnehmung während der Ei- punkt für weiterführende internationale Diskus- senbahnreise aus dem Jahre 1977, eine systema- sionen bilden, welche von wissenschaftlichen tische und klassifizierende Auseinandersetzung Untersuchungen zum Themenkreis «Eisenbahn mit dem Gegenstand bleibt ein Desiderat. So und Kulturlandschaft» begleitet werden sollen. wird etwa in der vorbildlichen und sehr umfassenden ICOMOS-Studie Railways as World Heritage Sites von 1998 zwar in Einzelfällen die Von Landschaften, Kulturlandschaften und ... Bedeutung der umgebenden Landschaft hervor- Mit dem aufkommenden Tourismus in der zwei- gehoben (Semmeringbahn, Darjeeling-Bahn), ten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Auf- der Aspekt der Landschaft findet allerdings schwung der für den Reisenden bestimmten keinen Eingang bei den dort aufgestellten Aus- Seh- und Handlungsanleitungen, den Reisefüh- wahlkriterien. In den drei Publikationen des rern, findet eine Begriffsverschiebung von dem deutschen ICOMOS-Nationalkommitees, welche zuvor gebräuchlichen Wort «Gegend» hin zu die Symposien Eisenbahnen und Denkmalpflege «Landschaft» statt. Als «Landschaft» versteht von 1990, 1992 und 1997 dokumentieren, fin- man die ästhetisch, geordnet wahrgenommene det sich lediglich ein grundlegender Beitrag zur Umwelt. Die Landschaft erfordert distanzier- Thematik Eisenbahn und Landschaft. te Betrachtung sowie Reflektion und ist deshalb Andererseits wird bei der Thematisierung von dem Wandel von Weltanschauungen und Moden Kulturlandschaft die Wirkung der Eisenbahn unterworfen. Landschaft muss also vermittelt selbst gänzlich ausgeblendet; dies, obwohl Bilder werden, um gesehen und wahrgenommen zu wer- von Landschaften, die von Eisenbahnen mit ge- den. Die Vermittlung kann auf unterschiedliche prägt wurden, teilweise als exemplarisch für das Arten geschehen: literarisch, etwa durch Reise- Verständnis von Kulturlandschaften herange- führer oder Romane, mündlich, durch Überlie- zogen werden. Dies steht ganz im Gegensatz zu ferung, aber auch visuell, durch Illustrationen, den Transportinfrastukturen der (Inlands-)Ka- Ansichtskarten oder Werbeplakate. Bringen näle, wie sie im Rahmen der International Canal die Visualisierungen «Standardblicke mit Va- Monuments List von ICOMOS umrissen wurden: riationen» hervor, so bieten die speziell auf ei- Kanäle formen Industrielandschaften und gelten ne Eisenbahnfahrt abgestimmten Reisebücher 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 420 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Sichtstützen und visuelle Choreografien für den gesellschaftlichen Aktivitäten geprägt, auch ihre Blick aus dem Zugfenster an. Sie ermöglichen Wahrnehmung wird durch ästhetische Bild- und aber auch, das ansonsten einzigartige Wahr- Vorstellungswelten vermittelt. Diese Konstruk- nehmungserlebnis einer Eisenbahnfahrt zu ver- tion dominanter Wahrnehmungsmodi von Land- vielfachen: Schon vor der tatsächlichen Fahrt schaft erfolgt durch bestimmte gesellschaftliche kann – Reiseführer lesend oder Illustrationen Interessensgruppen, die sich Landschaften als je- betrachtend – eine imaginative Fahrt unternom- weils spezifische Bilder aneignen». men werden. Während der Fahrt werden dann Ausgehend von dieser Definition wird im Fol- die «richtigen» Blicke erhascht und so Szenerien genden bei der Untersuchung von «Kulturland- wieder erkannt. Nach der Fahrt kann auf gemein- schaft» der Fokus in zweierlei Richtung gelegt: same Bild- und Spracherinnerungen mit anderen Auf der einen Seite steht die vom Menschen Mitreisenden zurückgegriffen werden. Darüber durch die verschiedenen Nutzungen veränderte hinaus werden mit dem Vermittlungsprozess Umwelt mit deren jeweiligen, die Landschaft gleichermassen die verdeckten Leitvorstellungen strukturierenden Elementen (agrikulturelle und Motivationsstrukturen, Werte und Normen, Nutzungen, Bauwerke usw.), auf der anderen kurzum, die kulturelle Verankerung von Land- Seite die Wahrnehmung und Rezeption der schaft weitergegeben. In diesem Sinn zielt der Landschaft (sowohl der Kultur- als auch der Begriff Landschaft der Intention nach zwar auf Naturlandschaft). die natürliche oder auf die vom Menschen ge- Die physische Beschaffenheit der Kulturland- staltete Umwelt, erfordert aber vom Betrachter schaft wird durch die Wirtschaftsweisen auf gleichsam eine voreingenommene, eine «künst- vielfältige Art und Weise geprägt. In Gebirgen liche» Wahrnehmung derselben: die ästhetisierte gilt die Kleinräumigkeit als zentrales Erken- Wahrnehmung der Umwelt. In den letzten Jahr- nungsmerkmal, in weitläufigen Regionen ist eher zehnten wurde vermehrt zum Thema Landschaft die «Wirtschaftslandschaft» anzutreffen, die geforscht, was eine immer stärkere Differenzie- gleichbedeutend mit Uniformität, Ausräumung rung des Landschaftsbegriffes mit sich brachte: von raumgliedernden Landschaftselementen und Stadtlandschaften werden ebenso identifiziert massiven nivellierenden Eingriffen des Men- wie Agrarlandschaften oder Industrieland- schen ist. Die kleinräumige Prägung der Kul- schaften. All diese Landschaften werden zum turlandschaft im Gebirge ergibt sich aus dem Typus der Kulturlandschaft gezählt, die wieder- Umstand, dass der Mensch hier bei der Boden- um als Gegensatz zu den von Menschen nicht nutzung die zahlreichen naturräumlichen Unter- beeinflussten Naturlandschaften verstanden sein schiede berücksichtigen und im Hinblick auf die wollen. Der Kulturlandschaftsforscher Gerhard Wahrung der ökologischen Stabilität gestalten Strohmeier definiert Kulturlandschaft wie folgt: musste. Eine unangepasste Wirtschaftsweise be- «Kulturlandschaft entsteht durch natürliche und deutete eine Erhöhung des geoökologischen Ge- gesellschaftliche Prozesse. Aus bestimmten na- fahrenpotentials (z.B. durch Hochwasser, Muren, turräumlichen Gegebenheiten entwickeln sich Lawinen). durch gesellschaftliche Aneignung und Nutzung Das den Kulturlandschaften zugrunde liegen- natürlicher Dynamiken Kulturlandschaften. de Raumbild wurde seit der Neuzeit von Europa Nicht nur die Kulturlandschaft selbst wird von ausgehend entwickelt. Im Zentrum der Imagi- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 421 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch nation von Raum steht das geistige Bild, nach amerika in der Regel aus einer europäischen Per- dem die reale Umwelt als «Landschaft» bewertet spektive wahrgenommen. wird. Diese geistigen Bilder bilden die Grundlage sowohl für die Entdeckung der Gebirge als auch für die Transformierung der Wahrnehmung ... von Verkehrswegen der Neuen Welt als «Wildnis» hin zu ihrer Wahr- Bei Eisenbahnstrecken ist die umgebende nehmung als «Landschaft». Landschaft immer im Zusammenhang mit der Die Alpen und deren «emblematischer Kern», Funktion der jeweiligen Eisenbahn zu sehen. die alpine Landschaft, bilden auf Grund der viel- Eisenbahnen als urbane Massentransportmit- fältigen, ineinander greifenden kulturellen Ein- tel sind in andere Landschaften eingebettet als flüsse ein gemeinsames Gut europäischer Kultur. Eisenbahnen mit touristischer Funktion oder Der Alpenforscher Werner Bätzing leitet aus Eisenbahnen zur Kolonisation von aussereuropä- dem Kontrast der kleinräumig-abwechslungs- ischen Regionen. Es gibt folgende Eisenbahnum- reichen alpinen Kulturlandschaft und der sie gebungen zu unterscheiden: umgebenden Natur die touristische Anziehungs- > wirtschaftlich genutzte Landschaften (Land- kraft des Alpenraumes ab: Die Empfindung von wirtschaft; Rohstoffe; Industrielandschaft) «Schönheit» in Bezug auf die alpine Landschaft > urbane Landschaften hänge nur in eingeschränktem Masse von der > vorgefundene Naturlandschaften (die Eisen- Natur ab, sie verdanke sich vielmehr der Kul- bahn kann eine ästhetische Wahrnehmung turlandschaft, welche letztlich zumeist von den der durchfahrenen Landschaft bewirken) Bergbauern gestaltet wurde. > schon vor dem Eisenbahnbau ästhetisch In Nordamerika hingegen war bei Landschafts- wahrgenommene Landschaften (z.B. darstellungen die Natur Massstab und An- touristisch). spruch – eine Natur, welche aufbauend auf dem christlichen Schöpfungsmythos als unberührter Bei Eisenbahnen im Gebirge kommt der Wahr- Urzustand, quasi als projizierte Wildnis zum nehmung eine besondere Bedeutung zu: Die Selbstbild Amerikas beitrug und welche die Wer- ingenieurtechnischen Leistungen werden wohl beindustrie bis heute zu nutzen weiss, wie etwa bei keinem anderen Streckentyp unmittelbarer das Beispiel der Marlboro-Reklame zeigt. Bis sichtbar. Im Zusammenhang mit der «Roman- ins 19. Jahrhundert allerdings war der Blick auf tisierung» von Gebirgslandschaften wird der die Neue Welt europäisch geprägt: So geschah symbolische Wert der Technik noch erhöht etwa die Wahrnehmung des Phänomens «Alpen- – und damit einhergehend auch die symbolische glühen» in der Sierra Nevada in Rekurs auf eu- Bedeutung der die Eisenbahnstrecke umge- ropäische Beispiele, was sich in der englischen benden Landschaft. Nur aus dieser Kombina- Benennung dieser Erscheinung als «alpenglow» tion konnte der bis heute gängige Topos der manifestiert. Harmonie von Technik und Natur, bzw. der an Im Zeitalter der Kolonisation und der damit ein- die Landschaft angepassten Eisenbahnstrecke hergehenden weltweiten Verbreitung der Eisen- entwickelt werden. Dies zeigt sich besonders bahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prominent bei der Gattung der Eisenbahn-Post- wurden Landschaften in Asien, Afrika und Süd- karte, welche – neben grossen Bahnhöfen – in 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 422 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch erster Linie Gebirgsbahnen mit ihren Kunstbau- eindrucksvollen Streckenabschnitten von Be- ten darstellt. ginn des Eisenbahnzeitalters an Vogelschau-An- Im Falle der Postkarten von Gebirgsbahnen ist sichten der Bahn erstellt. Ab der zweiten Hälfte die umgebende Landschaft jeweils ein integraler des 19. Jahrhunderts wurden auf landschaftlich Bestandteil des Bildmotivs. Der Viadukt über die reizvollen Strecken, zuerst in Europa (Alpen), Kalte Rinne bei der Semmeringbahn (Österreich) später auch in den USA, spezielle Aussichtswa- mit der in der Tiefe gestaffelten Landschaft, bei gen eingesetzt. Bis heute sind Panoramawag- der Gotthardbahn (Schweiz) die Linienentwick- gons im täglichen Einsatz (z.B. zwischen Wien lung auf mehreren Ebenen bei Wassen, der Land- und Zürich sowie zwischen Zürich und Mailand, wasserviadukt der Albulalinie oder der Viadukt auf transamerikanischen Strecken wie etwa der bei Fontpédrouse des Train Jaune (Frankreich); Canadian Pacific, zwischen Chur und Tirano es sind dies allesamt «Standardansichten in Va- [Bernina-Express] oder St. Moritz und Zermatt riationen», der immer wiederkehrende Bildtopos [Glacier-Express]). ist die in die Landschaft eingebettete Brücke. Eine Brücke symbolisiert grundsätzlich etwas Verdenn auch, die Vermittlung zwischen Natur und Analyseraster für einen Vergleich von Kulturlandschaften bei Eisenbahnen Technik zu visualisieren. Darüber hinaus wer- Neben den physischen Bedingungen von Kultur- den bei Ansichten von Bahnen in Gebirgsland- landschaften ist für die vergleichende Untersu- schaften, die schon vor dem Bahnbau besiedelt chung von grundlegender Bedeutung, auf welche waren, besonders häufig Bauwerke wie Ruinen Art die Kulturlandschaften wahrgenommen wer- oder alte Kirchen in das Blickarrangement ein- den, welche Komponenten betont und welche gebunden. Damit wird die duale Bildsymbolik vernachlässigt werden und welcher zeitlichen von Natürlichem und Künstlichem zur Dreiheit Entwicklung die Wahrnehmung unterworfen ist. von Natur, Kultur und Technik erweitert, wobei Am Beispiel der Semmeringbahn, der weltweit die Technik als zeitgemässe Form von Kultur als ersten Hochgebirgsbahn (vgl. Kap. 3.c.2), sei die Kontrast zu den historischen kulturellen Bau- zeitliche Entwicklung der Wahrnehmung exemp- werken gesetzt wird. larisch aufgezeigt: Schon im Jahr der Inbetrieb- Eine andere Bildgattung greift die «panorama- nahme, 1854, erfolgte eine «Romantisierung» tische» Landschaftswahrnehmung, wie sie sich der Bahnstrecke durch ästhetische Darstellun- für einen Reisenden während der Zugsfahrt er- gen in Form von Panoramen oder Einzelan- gibt auf, um diese selbst zu fördern: Leporello- sichten. Besonders deutlich wird sie bei einem Alben mit Panoramen generierten im Gegensatz Stich aus den frühen 1860er Jahren: Im (linken) zum statischen Panorama eines Rundumblicks, Bildvordergrund finden sich Versatzstücke von wie er sich einem etwa von einem Berggipfel Felstürmen im Stil des Elbsandsteingebirges so- aus bietet und wie er in den im 19. Jahrhundert wie aufragende Baumwurzeln, welche allesamt beliebten gemalten Rundpanoramen aufge- zur Steigerung des Natureindruckes eingesetzt griffen wurde, von einem Standort ein lineares wurden. Dieser visuelle Diskurs fand schliess- Panorama entlang eines Streckenkorridors. In lich seine Fortsetzung in der Konstatierung einer Europa wurden von landschaftlich besonders «harmonischen Einbettung der Eisenbahn in die bindendes, die Intention solcher Bildfolgen ist 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 423 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Natur» ab den 1920er Jahren. Dabei wurden jedoch die – auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sichtbaren – grossen Schuttkegel aus der Zeit des Bahnbaus gezielt ausgeblendet. Der internationale Vergleich der Kulturlandschaft des Eisenbahnkorridors Albula/Bernina mit jener anderer Eisenbahnkorridore soll im folgenden entlang eines viergliedrigen Rasters durchgeführt werden: > Agrikultur: ist die wirtschaftliche Nutzung des Bodens zur Gewinnung pflanzlicher und/oder in weiterer Folge auch tierischer Erzeugnisse (d.h. Weideflächen) auf der Basis von Veränderungen der vorgefundenen Naturlandschaft. > Bauwerke: sind materielle Manifestationen zur Erfüllung von im weitesten Sinn gesellschaftlichen Bedürfnissen auf der Basis von kleinsträumlichen bis grossräumigen Veränderungen (d.h. Einzelbauwerke bis städtische Agglomeration). > Transportwege: sind die Infrastrukturen zur Ermöglichung des Transportes von Personen, Gütern, Energie sowie von Nachrichten auf der Basis der Bildung eines linearen Korridors. > Wahrnehmung: ist die Rezeption der Umwelt – sowohl der Natur- als auch der Kulturlandschaften – auf der Basis von ästhetischen Kriterien, welche in weiterer Folge zur Schaffung von auf den Raum bezogenen Identitäten herangezogen werden (z.B. Heimat-, Regional-, Nationalbewusstsein). 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 424 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Ozeanien, Ost- und Südasien | www.rhb-unesco.ch Bauwerke Die Baukultur entlang des Bahnkorridors Yunnan-Bahn, Vietnam/China zeichnet sich durch einen grossen Varian- Die grenzüberschreitende Yunnan-Bahn führt tenreichtum aus, die Spannbreite reicht von von der vietnamesischen Hafenstadt Haipong Gebäuden aus der Kolonialzeit bis hin zu tra- zur Hauptstadt der chinesischen Provinz Yun- ditionellen Bauten der einheimischen Bevöl- nan, nach Kunming auf knapp 1’900 m ü.M. kerung. In einzelnen Regionen wie in den Die Strecke kann in zwei Abschnitte unter- Bergbaugebieten Lao Cai und Gejiu ist die Kul- teilt werden, die sich auch in landschaftlicher turlandschaft von Industriebauten geprägt. Im Hinsicht voneinander unterscheiden: Der in Tal des Ta Tchen Ho in China sind es neben den Vietnam liegende, entlang des Roten Flusses Kunstbauten der Bahn die Überlandstrasse so- verlaufende Streckenteil von Hanoi bis zu den wie die zahlreichen Kleinkraftwerke zur Elek- Grenzstädten Lao Cai (Vietnam), bzw. Hek- trizitätserzeugung entlang des Flusses, welche ou (China) ist als Talbahn zu charakterisieren. die Gestalt der Gegend bestimmen. Das Tal des Nach Hekou, wo der Anstieg auf das Hochpla- Nam Ti, einem Seitenfluss des Roten Flusses, teau von Kunming beginnt, weist die Strecke ist ein schroffes Gebirgstal; hier nehmen die die Merkmale einer Gebirgsbahn auf; die Linie Bahnbauten, etwa mit der Gitterbrücke über führt dort durch mehrere Täler und über zwei die Pei Ho Schlucht eine dominierende Rolle Pässe. ein. Überhaupt prägt die Bahninfrastruktur das durchfahrene Gebiet stark, vor allem durch die Agrikultur zahlreichen Brücken, seien es Stahlkonstrukti- Die Eisenbahn durchfährt verschiedene Klima- onen oder gemauerte Viadukte; umfangreiche und damit auch Vegetationszonen. Dement- Schutzbauen gegen Erdrutsche hingegen fehlen. sprechend ist auch die agrikulturelle Prägung Die Hochbauten zeugen in ihrer äusseren Ge- der durchfahrenen Landschaft inhomogen. Im stalt vom französischen Einfluss während der Tiefland sowie im Tal des Roten Flusses do- Kolonialzeit. Einzelne Stationsgebäude, wie minieren weite Reisfelder und Plantagen (Ba- beispielsweise in Kunming oder Kaiyuan, wur- nanen) das Landschaftsbild. Die Grösse der den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts landwirtschaftlich genutzten Flächen nimmt durch Neubauten ersetzt. ab, je höher die Bahn in die schroffen Gebirgsregionen vordringt. Die bewirtschafteten Transportwege Felder befinden sich hier nur mehr in unmit- Der Ausbaustandard im Bereich der Transport- telbarer Umgebung der (wenigen) Siedlungen, wege gestaltet sich für die einzelnen Strecken- die Landschaft ist entsprechend kleinräumig abschnitte sehr unterschiedlich. Das Tiefland strukturiert. Nach Erreichen des Hochpla- sowie die Talstrecke entlang des Roten Flusses teaus bei Kunming ändert sich, mit der nun- sind verkehrsmässig gut erschlossen (Strassen, mehr wieder weitläufigeren Landschaft, auch Wege, aber auch Bootsverkehr auf dem Fluss). deren agrikulturelle Nutzung und grössere Vielfältig präsentiert sich die Situation im ge- Felder prägen die unmittelbare Umgebung des birgigen Abschnitt: In einzelnen, unbesiedelten Eisenbahnkorridors. Regionen bildet die Bahn den einzigen grös- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 425 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Yunnan-Bahn > Zwischen PonoTou und dem Milati-Pass. Aufnahme 1988. P. Withehouse Yunnan-Bahn > Schleife in ein Seitental bei km 110. Illustration aus HULOT FRÉDÉRIC: L’Indochine – le Yunnan (Les Chemins de Fer de la France d’OutreMer, vol. 1), St. Laurent du Var 1990. Yunnan-Bahn > Stationsgebäude von Siu-KiaTou, um 1909. Illustration aus HULOT FRÉDÉRIC: L’Indochine – le Yunnan (Les Chemins de Fer de la France d’Outre-Mer, vol. 1), St. Laurent du Var 1990. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 426 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch seren Transportweg, während beispielsweise im Die Yunnan-Bahn als koloniale Eisenbahn Tal des Ta Chen Ho neben der Bahn auch noch diente der Erschliessung des vietnamesischen eine überregionale Strasse und elektrische Lei- Hinterlandes sowie der südchinesischen Pro- tungen der zahlreichen Flusskraftwerke existie- vinz Yunnan. Die für Gebirgsbahnstrecken ren. Das Hochland um Kunming ist wiederum typischen Wechsel im Landschaftsbild sind durch Wege und Strassen vielseitig erschlos- auf den Umstand zurückzuführen, dass hier sen. Im breiten Tal des Si Chan Ta Ho kurz vor unterschiedliche Klima- und Vegetationsstu- Kunming besteht neben der Yunnan-Bahn ei- fen durchquert werden (von Meeresniveau ne weitere Eisenbahnstrecke, die 1997 in Be- bis 2026 m ü.M.). Die technisch schwierig zu trieb genommene Normalspurlinie Kunming bewältigenden Abschnitte und deren Überwin- – Nanning. dung (z. B. durch Brückenbauwerke) bilden die Grundlage für die Wahrnehmung der durchfah- Wahrnehmung renen Umgebung als Kulturlandschaft. Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der Auf einzelnen Streckenabschnitten führen Erd- Yunnan-Bahn wird geprägt von der schroffen rutsche in Folge von ausgiebigen Regenfällen Gebirgslandschaft und den in kolonialem Stil immer wieder zu Betriebsunterbrüchen. Das chi- gehaltenen Stationsbauten. Letztere werden auf nesische Eisenbahnministerium hat jüngst den Fotografien in der Regel als repräsentative Bau- Willen bekundet, den Verkehr auf der schmal- werke in Szene gesetzt, wobei die Gleisanlagen spurigen Bahnstrecke zwischen Kunming und und die Eisenbahn-Betriebsmittel wie Lokomo- Hanoi auch nach dem Bau der geplanten Trans- tiven und Waggons den Bildvordergrund prägen Asia-Eisenbahnlinie von Kunming nach Singa- (d.h. Bevorzugung der Bahnhofsansichten von pur aufrecht zu erhalten. der Gleisseite). Für die Rezeption der Bahninfrastruktur in der Gebirgslandschaft ist besonders der Abschnitt im Tal des Nam Ti von Bedeutung: Hier befinden sich verschiedene grössere Brücken zur Überquerung der tief eingeschnittenen Seitentäler, so die Gitterbrücke über die Pei Ho Schlucht bei km 112, die stählerne Trestle-workBrücke «pont es dentelles» bei km 83 und der gemauerte Viadukt zur Überquerung des Nam Ti-Tales bei km 135. Ansichten der Schleifen in Seitentäler dienen als visualisiertes Zeugnis der Überwindung des grossen Höhenunterschiedes dieser Bahnstrecke. In beiden Beispielen von Ansichten aus der Frühzeit dieser Eisenbahn ist die Strecke mit den Bauwerken das kulturelle Zeichen der Kolonisatoren, die «Signatur» in einer natürlichen Umgebung. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 427 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Darjeeling-Bahn > Zugskomposition im oberen Teil des «Batasia-Loops». Im Hintergrund rechts das Himalaya-Gebirge. Aufnahme 2005. A.M. Hurrel Darjeeling-Bahn > Die Darjeeling-Bahn wird im Gebirgsabschnitt entlang der Strasse geführt. H.P. Bärtschi Darjeeling-Bahn > Eine Dampflokomotive des «Toy Train» wird mit frischem Wasser versorgt. M. Janich 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 428 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Süd- und Westasien | www.rhb-unesco.ch des näheren Bahnumfeldes beinhalten auch gezielte Pflanzungen. Darjeeling-Bahn, Indien Die in Shiliguri (122 m ü.M.) startende Dar- Bauwerke jeeling-Bahn wurde als an der Strasse entlang Die Bauwerke im Umfeld der Darjeeling-Bahn führende Transportbahn für die schon damals stammen vor allem aus der Kolonialzeit – da- bedeutsame Teeindustrie im Bereich der bri- zu gehört auch die Strasse, entlang derer die tischen «Hill station» Darjeeling (2’076 m ü.M.) Bahn angelegt ist. Doch auch die heimischen errichtet. Die Bahn unterstützte den schon zu- kulturellen Traditionen widerspiegeln sich im vor eingeleiteten Prozess der verstärkten agri- Bauwesen: In den Tallagen ist der Hinduismus kulturellen Nutzung in der Region, bewirkte vorherrschend, in der Region um Darjeeling der also eine eigentliche Ausweitung der Kultur- Buddhismus. Entsprechend finden sich unter- landschaft daselbst. schiedliche sakrale Bauwerke bzw. Monumente Die Darjeeling-Bahn wurde im Jahr 1999 in die im gesamten Einzugsgebiet der Bahn. Die Bahn Welterbe-Liste der UNESCO aufgenommen. selbst kommt fast ohne grössere Brücken oder Die Kernzone der Stätte umfasst einen 0,61 m Tunnel aus, ihre landschaftlich am stärksten breiten und 87,48 km langen Streifen mit der prägenden Bauten sind die in sich verschach- Eisenbahnstrecke im Zentrum. Als Pufferzo- telten Schleifen zur künstlichen Höhenentwick- ne wurde ein Streifen von 3 m (bergseits), bzw. lung (bei Chambatta; bei Tindharia; «Agony 5 m (talseits) Breite entlang des Bahnkorridors Point»). festgelegt. Transportwege Agrikultur Um 1835, also knapp 50 Jahre vor Inbetriebnah- Die von der Bahn durchfahrene Landschaft ist me der Darjeeling-Bahn, fing die British East sehr vielfältig. Im Flachland zwischen Shilig- India Company mit dem Ausbau Darjeelings uri und Sukna, durch das die Bahn auf ihren zur «Hill station» an, wohin sich die Vertreter ersten 10 km führt, wechseln sich grosse, land- der Kolonialmacht im Sommer vor dem subtro- wirtschaftlich genutzte Flächen (Plantagen) mit pischen Klima in der Ganges-Tiefebene zurück- urban geprägten Siedlungsräumen ab. Die Regi- ziehen konnten. Damals begann auch der Bau on zwischen Sukna und Rongtong (etwa 11 km (und Ausbau) der Strasse vom Flachland nach Länge) ist dicht bewaldet. Daran schliesst der Darjeeling. Nach Fertigstellung der Bahnstre- wieder vermehrt landwirtschaftlich genutzte cke Kalkutta – Shiliguri im Jahre 1878 stieg der Bereich bis Darjeeling an, wobei auf den letzten Verkehr Richtung Darjeeling stark an. Die voll- 30 Streckenkilometern auch vermehrt Himala- ständige Auslastung der Strasse führte schliess- ya-Kiefern anzutreffen sind. Das Landschafts- lich zum Bau der Eisenbahn in die inzwischen bild entlang der Bahnlinie wird eindeutig von schon etablierte Teeregion und Sommerfrische den Teeplantagen dominiert. Der Streckenab- Darjeeling. schnitt zwischen Sukna und Mahanadi ist in In Folge der verstärkten Motorisierung sowie besonderer Weise von Schäden durch Unwetter des Ausbaus der Strassen in der zweiten Hälf- bedroht; die Massnahmen zur Stabilisierung te des 20. Jahrhunderts wurden sowohl der 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 429 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gütertransport als auch grosse Teile des Personentransports von der Bahn auf die Strasse (Lastkraftwagen bzw. Autobus) verlagert. Die Darjeeling-Bahn bildet heute in erster Linie einen zentralen Baustein bei der touristischen Entwicklung der gleichnamigen Region. Wahrnehmung Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der Darjeeling-Bahn fokussiert auf drei zentrale Aspekte: Erstens die aussergewöhnlichen Bahnbauten, wobei insbesondere die eisenbahntechnisch spektakulären Schleifen (loops) sowie die Führung des Trassees entlang der Strasse von zentralem Bildinteresse sind; zweitens das Panorama der schneebedeckten Himalaya-Berge als Bildhintergrund; drittens die Teeplantagen als Zeichen der kultivierten Landschaft. Unter Einbezug des landschaftlichen Kontextes wird die kolonialistische Bedeutung der Darjeeling-Bahn offenkundig: Der Bau der Bahn führte zu einem Ausbau der in der betroffenen Region schon zuvor vorhandenen Tee-Wirtschaft und damit letztlich zur Synonymie von «Tee» und «Darjeeling» in europäischen Ländern. Die Bahnerschliessung bewirkte auch, dass die durch die British East India Company eingerichtete «Hill station» in Darjeeling vermehrt aufgesucht, der Tourismus daselbst also angekurbelt wurde. Darüber hinaus verbindet die Bahn unterschiedliche kulturelle Regionen (Bergregionen-buddhistisch; Flachland-hinduistisch). 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 430 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Nilgiri-Bahn, Indien Das Erscheinungsbild der bis auf 2’637 m ü.M. Die Nilgiri-Bahn von Mettuppalaiyam hinauf reichenden Gebirgslandschaft in diesem (326 m ü. M.) über Coonoor nach Udagaman- Abschnitt wird aber auch von den Eukalyptus- dalam (2’203 m ü.M.) wurde als Kolonialbahn und Akazienwäldern geprägt. zur wirtschaftlichen Erschliessung des Nilgiri-Gebirges gebaut. Mit dem Einzug der Bahn Bauwerke veränderte sich auch die Nutzung der umge- Die Bauwerke entlang der Nilgiri-Bahn sind vor benden Landschaft: Die höher gelegenen Orte allem in der Kolonialzeit entstanden: Zu nen- wurden von den Engländern in der heissen Jah- nen sind Häuser im englischen Landhausstil reszeit vermehrt als «Hill stations» genutzt, (u. a. Steinhäuser), Hotels und die St. Stephen‘s die Landwirtschaft wurde intensiviert (primär Church in Udagamandalam. In Aravankadu be- Teeplantagen) und in Aravankadu wurde eine findet sich der einzige Industriebetrieb (Schies- Schiesspulverfabrik (Kordit) errichtet. spulverfabrik) im Korridor der Nilgiri-Bahn. Die Nilgiri-Bahn wurde im Jahr 2005 zur Darüber hinaus befand sich in Udagamandalam UNESCO-Welterbestätte. Die Kernzone um- zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein künstlich fasst einen 8,5 m breiten und 45,88 km langen angelegter See. Aufgrund der kostenextensiven Eisenbahn-Korridor. Als Pufferzone wurde ein Bauweise der Bahn sind grosse Bauwerke grund- Streifen von durchschnittlich 25 m Breite beid- sätzlich vermieden worden. Ausnahmen bilden seits der Kernzone definiert. einzelne Brücken und Viadukte, wie beispielsweise der «Adderley»-Viadukt in naturnaher Agrikultur Umgebung. Die Landschaft entlang der Nilgiri-Bahn ist von unterschiedlichen Nutzungen geprägt: Auf den Transportwege ersten rund 7 km bis Kallar überwiegen Planta- Um 1820, also knapp 80 Jahre vor Inbetrieb- gen (Palmen). Der danach folgende, rund 19 km nahme der Eisenbahn, liessen sich die ersten lange Gebirgsabschnitt bis Coonoor ist nahezu Engländer in der Nilgiri-Region nieder. Damals unbesiedelt und wegen der Steilheit des Gelän- bestanden einfache Wege, auf denen der Trans- des landwirtschaftlich nicht genutzt; auch die port mit Mauleseln oder Ochsenkarren abgewi- Wälder werden nicht bewirtschaftet. Zur Ge- ckelt wurde. Die ersten Pläne einer Eisenbahn währleistung eines sicheren Eisenbahnbetriebs von Mettupalaiyam nach Coonoor datieren aus wurden im näheren Umfeld der Bahnstrecke ge- der Mitte der 1870er Jahre, jedoch sollte es noch zielt Drainagen angelegt und rutschgefährdete bis zu Beginn der 1890er Jahre dauern, bis mit Hänge durch Aufforstungen stabilisiert. Im rund dem Bau der Bahn begonnen werden konnte. 18 km langen Abschnitt zwischen Coonoor und Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte der ver- Udagamandalam ändert sich das Landschafts- stärkte Ausbau der Strassen in der Nilgiri-Re- bild wieder in Richtung verstärkter Nutzungen gion, was letztlich auch eine Verlagerung der durch den Menschen. Seit Inbetriebnahme der Gütertransporte von der Schiene auf die Strasse Eisenbahn entstanden hier insbesondere Tee- mit sich brachte. und Kaffeeplantagen, es wurden aber auch Flachs, Hanf, Kartoffeln und Obst angebaut. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 431 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Nilgiri-Bahn > Eine Zugskomposition beim Verlassen von Kallar. Aufnahme 2005. A.M. Hurrel Nilgiri-Bahn > Dampfzug auf dem Zahnstangenabschnitt der Linie. A.M. Hurrel 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 432 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Wahrnehmung Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der Nilgiri-Bahn wird von der «Wildheit» des Abschnittes von Kallar bis Coonoor sowie vom Panorama des höher gelegenen Teilstücks zwischen Coonoor und Udagamandalam bestimmt. Schon kurz nach ihrer Inbetriebnahme wurde die Eisenbahn von den Ureinwohnern der Nilgiri-Region, den Todas, in deren Liedgut aufgenommen. Die Nilgiri-Bahn im Kontext der umgebenden Landschaft verweist in erster Linie auf den kolonialistischen Einfluss: Nach dem Bau der Bahn wurde die Landwirtschaft ausgebaut und rationalisiert (Teeplantagen), Sommerhäuser errichtet und mit einer Schiesspulverfabrik die erste Industrieanlage der Region errichtet. Die Bahn zog eine starke Binnenmigration von Menschen aus dem Flachland nach sich. Schon kurz nach Inbetriebnahme fand die Bahn Eingang in das Liedgut der Ureinwohner. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 433 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Eritrea-Bahn > Die Linienführung ermöglicht spektakuläre Einblicke in die Gebirgslandschaft. H. Hufnagel Eritrea-Bahn > Bedingt durch die geographische Lage, ist die durchfahrene Landschaft meist karg. H. Hufnagel Eritrea-Bahn > Zugskomposition vor der Einfahrt in Tunnel 26 ,kurz vor Asmara. Aufnahme 2005. H. Hufnagel 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 434 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Afrika | www.rhb-unesco.ch Insbesondere in den gebirgigen Regionen wurden für die Bewirtschaftung des Bodens Terras- Eritrea-Bahn, Eritrea sen (mit Trockenmauern) angelegt. Von der Hafenstadt Massaua am Roten Meer führt die 1911 in Betrieb genommene schmalspu- Bauwerke rige Eisenbahn in die eritreische Hauptstadt As- Entlang des Bahnkorridors finden sich verschie- mara im Abessinischen Hochland (2343 m ü. M.; denste Bauwerke, wovon allerdings vor allem ab 1897 Sitz der italienischen Kolonialverwal- jene aus der Kolonialzeit auffallen. Neben den tung). Der Bahnbau wurde in der Folgezeit west- Bahnhöfen und Stationen im europäischen Ko- wärts Richtung Sudan weitergetrieben; 1932 lonialstil sind dies auch die Bahnbetriebsgebäu- eröffnete man die Strecke bis ins rund 220 km de (Lokomotivdepots und Werkstätten), aber entfernte Biscia, die sudanesische Grenze konn- auch Klöster (z.B. bei Debre Bizen) und religiöse te allerdings nie erreicht werden. 1940 wurde der Bauwerke (z.B. katholischer Dom in Asmara, Eisenbahnbetrieb im 31 km langen Abschnitt vollendet 1917; Moschee in Nefasit). Koloniale zwischen Akordat und Biscia wieder eingestellt. Verwaltungsbauten in Asmara sowie die kunst- Während des 30 Jahre dauernden Unabhängig- voll dekorierten Handelsgebäude in der Hafen- keitskrieges wurde die Eisenbahnstrecke weitge- stadt Massaua sind an dieser Stelle ebenfalls zu hend zerstört, konnte aber nach Kriegsende 1993 erwähnen. In abgelegeneren Regionen finden wieder aufgebaut und ab 2001 erneut in Betrieb sich im Umfeld des Eisenbahnkorridors auch genommen werden. Lehmhäuser (z.B. im Tal des Mai Atol). Die Bahn hat neben den genannten Gebäuden Agrikultur auch zahlreiche Brücken und steinerne Viadukte Die Eritrea-Bahn führt in weiten Teilen durch in die Landschaft eingefügt. Einige von ihnen eine karge Landschaft. In ihrem Einzugsgebiet wurden im Bürgerkrieg zerstört und Mitte der gibt es keine Industrie und auch kaum Land- 1990er Jahren wieder aufgebaut. Einzelne, durch wirtschaft; die Bahn diente in erster Linie der den Bürgerkrieg ebenfalls zerstörte Eisenbahn- Versorgung Asmaras. Der Gütertransport wird gebäude wurden jedoch nur bedarfsmässig er- heute mit Lastkraftwagen auf der Strasse abge- setzt, so etwa das Lokomotivdepot in Massaua, wickelt. Der erste Streckenabschnitt führt von das mit Wellblech wieder aufgebaut worden ist. der Hafenstadt Massaua durch die Wüste bis zum Fuss des Abessinischen Hochlandes bei Ne- Transportwege fasit. Daran anschliessend windet sich die Bahn Die Eisenbahn führt von einem Hafen (Massaua) durch karge Gebirgstäler schleifenförmig bis ins gebirgige Hinterland. Im Umfeld der Sied- zum höchsten Punkt auf 2’412 m ü.M. empor und lungen ist die Landschaft von einem Wegnetz erreicht kurz danach die Hauptstadt Asmara. durchzogen, welches in erster Linie der klein- Landwirtschaft wird in erster Linie in der nächs- räumigen Erschliessung dient (nur in wenigen ten Umgebung der wenigen Siedlungen betrie- Fällen befahrbar). Hinsichtlich der verkehrsmäs- ben, sie ist kleinräumig strukturiert und dient in sigen Erschliessung des Eisenbahnkorridors ist der Regel der Selbstversorgung, ausser in den insbesondere die inzwischen asphaltierte Strasse noch flachen Tälern am Rande des Hochlandes. von Massaua nach Asmara von überregionaler 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 435 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Bedeutung, auf der sowohl regelmässiger Per- Streckenentwicklung geprägt. Ein Bild der Eri- sonen- als auch Güterverkehr (Autobusse und trea-Bahn ziert den eritreischen Geldschein im Lastkraftwagen) abgewickelt werden. Wert von 10 Hakfa. Wahrnehmung Die Wahrnehmung der die Bahn umgebenden Landschaft wird weitgehend durch Kargheit geprägt, doch auch vereinzelte Eukalyptuswälder, wie in der Region zwischen dem Pass und Asmara, bestimmen das Bild. Der gebirgige Abschnitt zwischen Ghinda und Asmara wird als «Darjeeling of Africa» apostrophiert. Im Zentrum der Visualisierung stehen die schleifenförmige Linienführung sowie Motive der Bahn mit «standardisierten» Vogelschau-Perspektiven in den rund 1000 m tiefer gelegenen Talboden. Das Bild des vierzehnbogigen Viaduktes über den Trockenfluss Obel («Torrent») ziert den eritreischen Geldschein im Wert von 10 Hakfa. Dieser steinerne Viadukt wurde im Bürgerkrieg teilweise zerstört, Mitte der 1990er Jahre aber wieder aufgebaut Die eritreische Eisenbahnstrecke vom Hafen Massaua nach Asmara (und weiter nach Akordat) hat eindeutig eine kolonialistische Ausrichtung; ihre Planung begann 1897 mit der Verlegung des Sitzes der italienischen Kolonialverwaltung ins Hochland nach Asmara. Die von der Eisenbahn durchfahrene Landschaft ist stellenweise naturnah und kaum berührt (Wüstenstreifen; unzugängliche Gebirgsbereiche), ansonsten aber durch die Kulturtätigkeit des Menschen geprägt (Siedlungen, religiöse Bauwerke, in geringerem Mass auch agrikulturell genutzte Landschaftsabschnitte). Die Wahrnehmung dieser Eisenbahnstrecke – in ihrem spektakulärsten Teil auch als «Darjeeling of Africa» bezeichnet – wird durch schroffe Gebirgslandschaften, Tiefblicke und Schleifenführung der 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 436 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Südamerika | www.rhb-unesco.ch schaftlicher Nutzung geprägt, welche sich durch weitläufiges Weideland als auch kleinräumig ge- Guayaquil & Quito Railway, Ecuador gliederten Ackerbau auszeichnet. Der ecuadorianische Guayaquil & Quito Railway führt vom Pazifikhafen Guayaquil zu der Bauwerke im Hochland gelegenen Landeshauptstadt Qui- Die Bauwerke entlang des Bahnkorridors wei- to (2’817 m ü.M.). Der Bau der Bahn nahm eine sen einen grossen Variantenreichtum auf: Ge- aussergewöhnlich lange Zeit in Anspruch: Be- mauerte Gebäude aus der Kolonialzeit (z.B. gonnen 1871, konnte sie erst im Jahr 1908 den Quito, Yaguachi) finden sich ebenso wie ein- durchgehenden Betrieb aufnehmen. In den ver- einhalb Meter über dem Boden stehende gangenen Jahrzehnten wurden auf der ganzen Holzhütten in dem immer wieder von Über- Strecke sukzessive einzelne Abschnitte einge- schwemmungen heimgesuchten sumpfigen Tief- stellt oder gar durch Strassen überbaut. Heute land. In der Region um Alausi, wo im Tagbau sind nur mehr Teilstücke für touristische Zwe- Schwefel gewonnen wird, befinden sich das cke in Betrieb, darunter auch der technisch Landschaftsbild prägende Bergwerke. anspruchsvolle Abschnitt im Bereich der «Teu- Zahlreiche Städte werden von der Bahn direkt felsnase». Jüngste Entwicklungen deuten auf ei- durchfahren, die Bahn ist dort sehr unmittelbar ne Reaktivierung der Eisenbahn in Ecuador hin. in die Stadtlandschaft integriert. Jedoch wurden viele dieser Abschnitte seit Ende der 1990er Agrikultur Jahre kurzfristig demontiert, so beispielswei- Die Eisenbahn durchfährt zahlreiche Klima- se in Milagro oder Ambato. Ansonsten trägt und damit auch verschiedene Vegetationsstufen. die Eisenbahn in erster Linie mit der spekta- Im ersten Abschnitt, dem teilweise sumpfigen kulären Streckenführung in den Gebirgstälern Tiefland um Guayaquil, prägen Plantagen (Reis, (Spitzkehren bei der «Teufelsnase») zur Kul- Zuckerrohr, Kakao, Kaffee und Bananen) das turlandschaft bei. Die kleinen Brücken an der Landschaftsbild. Mit dem Erreichen der Kor- Strecke sind als Stahlbauten ausgeführt. Die dilleren erfolgt der Wechsel zu kleinräumig ge- Betriebsgebäude bestehen aus Holz oder Stein, gliederten, gemischt genutzten Landschaften viele von ihnen wurden – auch in jüngster Zeit (Weide, Wald, Ackerbau). In den Gebirgstälern noch – durch Neubauten ersetzt. Der hölzerne geht die landwirtschaftliche Nutzung auf ein Bahnhof von Duran trägt zum Gedenken an den Minimum zurück und wird nur kleinsträumig ehemaligen Präsidenten von Ecuador den Na- im nächstem Umfeld der Besiedlungen betrie- men Eloy Alfaro (im Amt zwischen 1895 – 1901 ben. In den höchsten von der Bahn erreichten sowie 1906 – 1911; unter seiner Regentschaft Lagen – der Kulminationspunkt der Bahn liegt wurde die Bahn nach Quito fertiggestellt). Auf- auf 3’609 m ü.M. – finden sich aufgrund der Tro- grund der Bedeutung des Namensgebers wurde ckenheit sowie der Bodenbeschaffenheit (Treib- das Bahnhofsgebäude jüngst von der Regierung sand und Vulkanasche) keine agrikulturellen zum nationalen Monument erklärt. Damit konn- Nutzungen. Im Hochland um Quito hingegen ist te ein Abbruch verhindert werden, obwohl die das Klima mild und der Boden sehr fruchtbar. Bausubstanz als schlecht bezeichnet werden Deshalb ist diese Region stark von landwirt- muss. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 437 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Guayaquil & Quito Railway > Touristenzug kurz vor der spektakulären Passage an der «Teufelsnase». V. Barnes Guayaquil & Quito Railway > Verzweigung in der Nähe von Alausí. unbekannt Guayaquil & Quito Railway > Abschnitt bei der «Teufelsnase», wo die Bahn mittels Spitzkehren an Höhe gewinnt. Illustration aus FEUEREISSEN G.: Dampf über Südamerika. Die letzten Dampflokomotiven im Regeldienst zwischen dem Äquator und Kap Horn, München, 1990. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 438 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Transportwege prägten das Bild der Kulturlandschaft rund um Insbesondere in den gebirgigen Regionen besteht die Bahnstrecke. Insbesondere die technisch das Wegnetz im Umfeld der Bahn aus nicht be- schwierigen, mit Spitzkehren bewältigten Ab- fahrbaren Saumpfaden. Überregional erfolgte in schnitte im schroffen, kargen Gebirge machten den vergangenen Jahrzehnten der massive Aus- diese Strecke weltweit bekannt. Die beiden Mo- bau des ecuadorianischen Strassennetzes. Di- mente, im Topos der technischen Bezwingung es hatte Auswirkungen auch auf die Bahn: Der der Umwelt gebündelt, haben auch touristisch ei- Rückgang der Fahrgäste und der beförderten Gü- ne grosse Bedeutung; so sind es eben diese spek- ter führte zur Stillegung einzelner Streckenab- takulärsten Streckenteile, auf denen heute noch schnitte, wo das Bahntrassee in der Folge für den ein – touristischer – Betrieb aufrechterhalten Strassen(aus)bau verwendet wurde. Der öffent- werden kann. Wo die Bahn die Strasse durch die liche Personenverkehr zwischen der Hauptstadt Orte mit benutzte, wurde der Betrieb eingestellt Quito und Guayaquil wird heute mit Flugzeugen und das Trassee für den (Aus)bau der Strassen oder Autobussen abgewickelt, der Güterverkehr herangezogen. mit Lastkraftwagen. Wahrnehmung Bei der Wahrnehmung der Landschaft entlang des Guayaquil & Quito Railway stehen zwei Motivgruppen im Vordergrund: die Bergregion im Bereich der «Teufelsnase» sowie die Gegend um den 6’267 m hohen Vulkan Chimborazo. Während das «Teufelsnase»-Motiv auf die Überwindung der naturräumlichen Schwierigkeiten der steilen und schroffen Gebirgstäler durch die Eisenbahn verweist (Spitzkehren zur Überwindung eines grossen Höhenunterschiedes auf geringer Distanz bei hohen und sehr steilen Talhängen), erfolgt im zweiten Fall der Rückgriff auf die Bildstrategie des schneebedeckten Berges als Symbol der nahtlosen Eingebundenheit in eine ästhetisch wahrgenommenen Naturlandschaft. Der Guayaquil & Quito Railway ist nur mehr in einzelnen Abschnitten in Betrieb. In seiner Gesamtlänge quert er diverse Klima- und Vegetationszonen (von Meeresniveau bis 3’609 m ü. M.), die von ihm durchfahrenen Landschaften werden in unterschiedlich starkem Masse vom Menschen genutzt. Plantagen, Felder, aber auch Bergbau 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 439 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Cumbres & Toltec Scenic Railway > Dampfzug beim «Windy Point» hinter dem Cumbrespass. N. Holmes Cumbres & Toltec Scenic Railway > Animas Canyon bei Silverton auf 2’800 m ü.M. P. Gloor Cumbres & Toltec Scenic Railway > Die Naturlandschaften machen den besonderen Reiz der CumbrespassRoute aus. N. Holmes 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 440 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Nord- und Mittelamerika | www.rhb-unesco.ch Ortschaften gruppierte Bauten aus lokalem Stein (z.B. Lavastein bei Antonito) oder Holz, umfang- Denver & Rio Grande Railroad (bes. Cumbres & Toltec Scenic Railway), USA reiche Bergwerksanlagen und verarbeitende In- In den Rocky Mountains im Westen der USA Jahrhunderts begannen Bergwerke die Förde- wurde von der Bahngesellschaft Denver & rung von Uranerzen. Rio Grande Railroad ab den 1870er Jahren bis Die schon bei den seit der Mitte des 19. Jahr- 1929 ein mehr als 2’500 km langes schmalspu- hunderts verstärkt in Reservate abgedrängten riges Streckennetz errichtet. Die südliche, über Ureinwohnern der Region (Utes und Apachen) 300 km lange Strecke verbindet Antonito mit bekannten heissen Quellen in Pagosa Springs Durango und verläuft über den 3’053 m hohen wurden 1880 zu Staatseigentum erklärt und ei- Cumbrespass in den San Juan Bergen. Die Er- ner touristischen Nutzung zugeführt. Die dort öffnung dieser Strecke erfolge 1880 (bis Chama), errichteten Badehäuser erfreuen sich noch heute bzw. 1881 (bis Durango), nur kurze Zeit nach- – auch wegen der therapeutischen Wirkung des dem – Ende der 1870er Jahre – eine Fahrstrasse Wassers – grosser Beliebtheit. über den Pass errichtet worden war. Heute ist sie Die Eisenbahn selbst trägt im Streckenabschnitt in grossen Teilen eingestellt; ein rund 112 km Alamosa – Durango in erster Linie mit den un- langes Teilstück zwischen Antonito und Chama terschiedlich gestalteten Betriebsgebäuden, aber wird temporär als Museumsbahn betrieben. auch mit der Streckenführung über den Cumb- dustrien (z.B. in Durango). Ab der Mitte des 20. respass (teilweise Talschleifen) zur KulturAgrikultur landschaft bei; dazu kommen einzelne eiserne Die Eisenbahn verläuft durch eine dünn be- Bahnbrücken (insbesondere «Trestle-Work» siedelte und teilweise schroffe Gebirgsregi- - Fachwerkträger, z.B. Cascade Creek, Loba- on in der Höhenlage zwischen rund 2’000 und to Trestle) wie auch der Streckenabschnitt bei 3’000 m ü. M. Agrikulturelle Nutzungen sind der Toltec Schlucht. Beim westlichen Portal des nur spärlich anzutreffen. Die Regionen bei Ala- Toltectunnels befindet sich ein Gedenkstein für mosa und Durango zeichnen sich durch Trocken- den US-Präsidenten James A. Garfield aus dem heit aus und sind nur gebietsweise für Ackerbau Jahr 1881, der im gleichen Jahr ermordet worden geeignet. Vereinzelt finden sich, auch in höheren war. Lagen im Passgebiet, Weideflächen; sie ermöglichen eine bescheidene Tierzucht (Schafe, Rin- Transportwege der). Im Passbereich selbst überwiegen Wälder; Schon vor Ankunft der Siedler in der zweiten diese sind stellenweise von Graslandflächen Hälfte des 19. Jahrhundert dürften Verbindungen durchbrochen. über den Cumbrespass bestanden haben und zwar in Form von Saumpfaden. Mit der Inbe- Bauwerke sitznahme des Landes durch die Siedler erfolgte Die Bauwerke entlang der Bahn zeugen von auch die industrielle Erschliessung der Region der Inbesitznahme des amerikanischen Wes- (Bergwerke). Für die Zeit vor 1876 gibt es keine tens durch weisse Siedler im Gefolge des Silber- Hinweise für einen befahrbaren Weg über den Booms in den späten 1870er Jahren: kleine, zu Cumbrespass. Danach wurde eine Strasse ange- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 441 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch legt und kurze Zeit später, zu Beginn der 1880er vollen Gegenden. Jahre, erfolgte der Bau der Eisenbahn durch die Durch diese gezielt propagierte Wahrnehmung Naturlandschaft. In den 1950er Jahren wurde die der natürlichen Landschaft entlang der Eisen- Eisenbahnstrecke und mit ihr auch der reguläre bahnstrecke tritt die Rezeption kulturland- Personen- und Güterverkehr stillgelegt. Nur der schaftlicher Elemente (etwa agrikulturelle oder landschaftlich eindrucksvollste Abschnitt zwi- industrielle Nutzungen) in den Hintergrund. In schen Antonito und Chama konnte – als reine den 1950er Jahren erfolgte die Einstellung wei- Tourismusbahn – erhalten werden. ter Streckenabschnitte der Denver & Rio Grande Railroad und teilweise zeugen nur noch Ein- Wahrnehmung schnitte und Dämme von der ehemaligen Bahn- Die Wahrnehmung der Landschaft entlang der linie. Der Streckenteil über den Cumbrespass Cumbrespass-Route (wie der gesamten Den- wird derzeit im Sommer als Tourismusbahn mit ver & Rio Grande Railroad) ist von der Natur Dampflokomotiven betrieben. geprägt: grosse markante Felsformationen, die Pflanzenvielfalt und die Farbenpracht im Wechsel der Jahreszeiten. Demgegenüber werden die die Naturlandschaft verändernden Bergwerke (besonders deren Schuttkegel des tauben Gesteins) sowie die landwirtschaftlichen Nutzungen erst an zweiter Stelle in die Wahrnehmung eingebunden. Die ästhetische Bedeutung der Landschaft für die Eisenbahn spiegelte sich von Beginn an beispielsweise im Logo der Bahngesellschaft wieder. Der Zusatz «Scenic Line of the World» avancierte zum Markenzeichen und in weiterer Folge wurde der Name Denver & Rio Grande Railroad zum Synonym für eine Eisenbahn in einer «schönen» (Natur-)Landschaft. Die Strecke Dunedin – Cromwell in Neuseeland etwa wird als die «Denver & Rio Grande» der südlichen Hemisphäre apostrophiert. Die Denver & Rio Grande Railroad mit ihrer Überquerung des Cumbrespasses ist der Prototyp einer Eisenbahnstrecke, bei der von Beginn weg die Wahrnehmung der von der Eisenbahn durchfahrenen Naturlandschaft als Markenzeichen eingesetzt wurde. Als «Scenic Line of the World» wurde sie weltweit zum Vorbild für den Bau von Eisenbahnen in landschaftlich reiz- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 442 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Europa (exkl. Schweiz) | www.rhb-unesco.ch aufgelassene Äcker. Mit dem Erreichen der zentralpyrenäischen Hochlagen wandelt sich das Train Jaune, Frankreich Bild grundlegend: Im Boden der hier wesentlich Der elektrisch betriebene Train Jaune ver- breiteren Täler findet sich neben Weidewirtschaft bindet das Roussillon mit der Region um das auch Ackerbau und vereinzelt gar Obstbau. Hochplateau der Cerdagne im östlichen Teil Erst an den höheren Hanglagen beginnen ge- der französischen Pyrenäen und führt von Vil- schlossene Wälder. Die niedrigen Steinmauern, lefranche (415 m ü.M.) nach La Tour-de-Carol mit denen in den Hochlagen (insbesondere bei (1’230 m ü. M.). Der Streckenkorridor verbindet La Tour-de-Carol) die Weideflächen und Feld- die beiden transnationalen Eisenbahn-Fernlinien er eingegrenzt sind, weisen auf kleinräumige Toulouse – Barcelona (Puymorens Trans-Py- landwirtschaftliche Eigentums- und Nutzungs- renäenlinie) und Montpellier – Barcelona (von strukturen hin. Perpignan nach Villefranche führt eine normalspurige Linie). Von besonderer Bedeutung für Bauwerke die Erschliessung der Region sind die seit der Die Bauwerke entlang des Train Jaune entstam- römischen Zeit bekannten Thermalquellen, de- men unterschiedlichen Epochen: Die Reste mit- ren therapeutische Wirkung besonders ab der telalterlicher Wehrarchitektur, wie sie vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen von Kur- im Tal der Têt anzutreffen sind (z. B. Citadelle aufenthalten genutzt wurde. Auch für Luftkuren Mont Louis; zwei Türme der «El Bastida Nova») schienen die zentralpyrenäischen Hochlangen weisen auf die Bedeutung der Region als Grenz- besonders geeignet. land hin. Mit dem Aufkommen des Tourismus wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gleich- Agrikultur zeitig mit dem Bahnbau, mondäne Grosshotels Die Eisenbahn verbindet Regionen mit unter- wie beispielsweise jene in Font Romeu errich- schiedlicher klimatischer Ausprägung – von tet. Die Eisenbahn selbst trägt vor allem mit ih- mediteranem Klima bis zum Gebirgsklima. ren grossen Brücken – der Hängebrücke bei La Dementsprechend fallen auch die agrikulturellen Cassagne sowie dem zweistöckigen Viadukt bei Nutzungen entlang der Strecke höchst unter- Fontpédrouse– sowie dem Stausee Bouillouses schiedlich aus. Im normalspurigen Streckenab- (für die Elektrizitätserzeugung zur Versorgung schnitt zwischen Perpignan und Villefranche der Eisenbahn) wesentlich zur Wahrnehmung überwiegen landwirtschaftliche Nutzflächen, vor der Landschaft als Kulturlandschaft bei. allem der Obst- und Weinanbau. Von Villefranche bis zum Scheitelpunkt auf dem Perchepass Transportwege – dem höchsten ganzjährig auf Schienen erreich- Neben dem im 20. Jahrhundert ausgebautem baren Punkt in Frankreich (1’592 m ü.M.) – führt Strassennetz prägt die Eisenbahn die Land- die Eisenbahn durch das Tal des Flusses Têt. Die schaft nachhaltig, nicht nur mit den erwähnten Landschaft dort wird durch ausgedehnte Laub- Brücken, sondern auch mit den Anlagen der wälder beherrscht, in der näheren Umgebung technischen Ausrüstung der Strecke: Wäh- von Siedlungen sowie an klimatisch geeigneten rend die seitlich des Gleiskörpers angebrachte Stellen (Südhänge) finden sich auch Wiesen und Stromschiene im Vergleich zu den im heutigen 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 443 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Train Jaune > Hängebrücke bei La Cassagne. Aufnahme um 2000. UTBM Train Jaune > Streckenverlauf in der Region Cerdagne. Aufnahme um 2000. UTBM Train Jaune > Brücke über den Fluss Têt in der Nähe von Villefranche. Aufnahme 2002. UTBM 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 444 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Eisenbahnbetrieb üblichen Oberleitungen im Burgen und Ruinen sowie ein künstlicher Stau- Landschaftsbild eher zurücktritt, so markieren see zur Energiegewinnung für den Bahnbetrieb die Stromzuleitungen vom Kraftwerk zur Bahn- zeigen das breite Spektrum an den die Kultur- linie einen zusätzlichen Transportkorridor. Aus landschaft konstituierenden Bauwerken. Die Sicherheitsgründen erfordert die niedrig liegen- agrikulturellen Nutzungen haben sowohl in der de Stromschiene die weitestgehende Absperrung Cerdagne als auch in der Rousillon eine land- des Bahnkorridors durch Maschendrahtzäune. schaftsprägende Wirkung. Zeitgleich mit dem Durch diese rigide Trennung wird eine wohl ein- Bahnbau wurde in der Gegend die touristische zigartige Gliederung des Landschaftsraumes Entwicklung angestossen, was sich in der Prä- bewirkt. Weitere landschaftsprägende Elemente senz von Grosshotels manifestiert. Die Eisen- wie die langen Druckrohrleitungen, Stauseen bahn selbst wurde schliesslich wesentlich zur und Kraftwerks-Maschinenhäuser sind ein Ab- Identitätsbildung der Menschen in der Cerdagne bild dessen, was in der Frühzeit des elektrischen herangezogen. Eisenbahnbetriebes notwendig war: grosse Höhenunterschiede innerhalb kurzer Distanzen für die Anlage von den Kraftwerken zur Erzeugung der elektrischen Energie, Wahrnehmung Die Wahrnehmung der Landschaft entlang des Train Jaune wird von den Siedlungen, den Befestigungsanlagen der Grenzregion sowie den schneebedeckten Bergen der Pyrenäen geprägt. Von der Eisenbahnlinie selbst bilden die beiden grösseren Brücken in der bewaldeten Landschaft ein beliebtes Sujet. Insbesondere der zweistöckige Viadukt bei Fontpédrouse gilt als Markenzeichen der Bahnlinie und wurde beispielsweise auch auf Briefmarken abgebildet. Aufgrund der Lage in der französisch-spanischen Grenzregion wirkt der Train Jaune auch identitätstiftend – insbesondere erfolgte seine Einbindung bei der Ausformung der katalanischen Identität in der Region Cerdagne. Die Kulturlandschaft entlang des Train Jaune ist besonders vielfältig; dies erklärt sich einerseits aus dem Umstand, dass verschiedene Klimazonen durchfahren werden, andererseits aus dem Traditionsreichtum der Region. Thermalquellen, 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 445 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Semmeringbahn > Viadukt über die Kalte Rinne. Aufnahme zwischen 1890 und 1900. unbekannt Semmeringbahn > Viadukt über die Krauselklause. P. Glitzner Semmeringbahn > Links der Viadukt über die Kalte Rinne, rechts der Viadukt über die Krauselklause. P. Glitzner 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 446 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Semmeringbahn, Österreich bustere Nutzpflanzen wie Kartoffeln wurden in Die Semmeringbahn führt «schräg» durch die kleinem Rahmen in allen Tälern der Semmerin- Alpen von Gloggnitz (439 m ü.M.) durch ei- gregion angebaut (z.B. bis Breitenstein). Bis um nen Scheiteltunnel mit Kulminationspunkt auf 1900 erfolgte bei Gloggnitz auch der Anbau von 898 m ü.M. nach Mürzzuschlag (681 m ü.M.). Wein. Der Grossteil des Semmeringgebietes, ins- Die Kulturlandschaft am Semmering sowie de- besondere die Region südlich des Passes, ist von ren Wahrnehmung ist äusserst eng mit der Ei- Wiesen und Wäldern bedeckt: Die Wiesen die- senbahn verknüpft. Der erste Aufschwung betraf nen sowohl als Weide- wie auch als Mähflächen das Reichenauer Tal, das durch die 1842 eröff- für die Produktion von Heu als Wintervorrat für nete Eisenbahn Wien – Gloggnitz von der Re- die Tiere, die Wälder vornehmlich als Holzliefe- sidenzstadt aus schneller erreichbar geworden ranten (Rodungen und Sammeln von Streuholz). war. Die zweite Phase begann im Jahr 1882, als Der Holzeinschlag erfolgt grundstücksabhängig die Inhaberin der Semmeringbahn, die Südbahn- und hat so durchaus signifikanten Einfluss auf Gesellschaft, am Semmering ein grosses Ho- das Landschaftsbild, indem Blickachsen durch tel errichtete und damit sowohl einen Hotel- als Kahlschläge ermöglicht bzw. durch Zuwachsen auch einen Villen-Bauboom auslöste. Nach dem der freien Flächen verunmöglicht werden. Im Ersten Weltkrieg kam der Semmering-Tourismus Umfeld der verstreut liegenden Bauernhöfe (z. B. nahezu zum Erliegen und erst in jüngster Zeit ist bei Breitenstein) sind Obstbaumgärten prägend wieder ein Aufschwung des Tages- und Wochen- für das Landschaftsbild. endtourismus zu verzeichnen. Die Semmeringbahn wurde im Jahr 1998 in die Bauwerke Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenom- Unter den unterschiedlichen Bauten der Sem- men. Die Kernzone besteht in Form eines rund meringregion stechen besonders jene vom En- 42 km langen Eisenbahn-Korridors. Darüber de des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts hinaus wurde die umgebende Landschaft eben- hervor. Mehrere Grosshotels (Südbahnhotel von falls mit einbezogen und insbesondere der Ho- 1882, Hotel Panhans von 1888, Hotel Erzherzog tel- und Villenkolonie am Semmering besondere Johann, Kurhaus Semmering von 1909, Palace Beachtung geschenkt; diese Kulturlandschaft Hotel von 1912) und zahlreiche Villen (bis 1900 konnte jedoch bis jetzt (2006) wegen der bisher wurden deren 26 gebaut) im Bereich des Semme- unpräzisen Ein- und Abgrenzung der Schutz- ringpasses stehen vereinzelten Bauerngehöften zonen (Kern-, Pufferzone etc.) noch nicht als (z.B. bei Breitenstein), kleinen Orten (z.B. Spital Welterbestätte anerkannt werden. am Semmering), Sakralbauten (z.B. Kirchen bei Klamm, Spital am Semmering; Wallfahrtskir- Agrikultur che Maria Schutz; weitere in der gesamten Re- Die zerklüftete Landschaft auf der nördlichen gion verstreute Kapellen), Industriebauten (z.B. Seite des Semmeringpasses eignet sich nur sehr Schlöglmühl) oder auch einer Ruine (Klamm) bedingt für eine landwirtschaftliche Nutzung. gegenüber. Die ältesten Bauwerke in der Sem- Im Talboden wird Getreide angebaut, wie dies meringregion finden sich an dem schon seit dem früher auch an den günstig exponierten Hangla- 10. Jahrhundert begangenen Passweg, insbeson- gen, am Eichberg oder bei Klamm, geschah. Ro- dere auf der südlichen Seite, bei Spital. Auf der 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 447 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch nördlichen Seite des Passes ist insbesondere der «neue Hochstrasse» zwischen Semmering und Ort Schottwien zu erwähnen, welcher vor dem Orthof. Die Elektrifizierung der Semmeringbahn Bau der Eisenbahn durch das Fuhrgewerbe ei- nach dem Zweiten Weltkrieg bedingte den Bau nen Aufschwung erlebt hatte. Bauten der eisen- einer zuliefernden Starkstromleitung, brachte al- verarbeitenden Industrie befanden sich südlich so einen neuen Transportkorridor mit sich. Der des Semmeringpasses im Mürztal, in der Nähe rapide Anstieg des Automobilverkehrs führte in von Schottwien sowie von Reichenau (erhaltener den 1990er Jahren zum Bau einer Schnellstras- Holzkohlen-Hochofen aus dem frühen 18. Jahr- se, welche mit einer grossen Spannbeton-Brü- hundert bei Edlach). cke über dem Ort Schottwien sowie im Talboden Die Bauwerke der Bahn prägen die Kulturland- des Mürztales nun das landschaftsdominierende schaft am Semmering wesentlich mit. So sind die Verkehrsbauwerk darstellt. massiven Bahnviadukte, vor allem jener über die Kalte Rinne, zu eigentlichen Markenzeichen der Wahrnehmung Region geworden, doch auch die Linienführung Am Beispiel der Semmeringregion lässt sich in Form von Talschleifen (z.B. bei Payerbach) so- deutlich aufzeigen, wie Modifikationen im wie bei schroffen Felswänden (z.B. Galerie in der Transportwesen zu einer Änderung in der Wahr- Weinzettlwand) treten markant in Erscheinung. nehmung der durchfahrenen Landschaft führen können. Zur Zeit des Säumerwesens stand die Transportwege geglückte Überquerung des Passes im Zentrum Wie erwähnt, bestand seit dem 10. Jahrhundert der Rezeption. In den 1830er Jahren liess Fürst ein Saumpfad über den Semmering. Er war Teil Liechtenstein im Adlitzgraben einen Garten mit eines Handelsweges zu den Mittelmeerhäfen in künstlichem See, Wasserfall und Tempel er- Venedig und Triest. Im Jahr 1728 erfolgte der richten; angesichts dieser von Menschenhand erste umfangreiche Ausbau des Weges über den geformten Anlage erhielt – quasi im Gegenzug Semmering (abschnittsweise heute noch vorhan- – die ungestaltete schroffe Natur im Hintergrund den). 1841 wurde die in Serpentinen geführte die Zuschreibung des «Wildromantischen». «neue» Semmeringstrasse eröffnet, die im Ver- Auch wenn jener von Fürst Liechtenstein künst- gleich zu ihrer Vorgängerin deutlich geringere lich angelegte Garten durch den Eisenbahnbau Neigungen aufwies; die damals errichtete grosse zerstört wurde, ermöglichte die Eisenbahn ein Steinbrücke über den Myrthengraben ist heute neues panoramatisches Wahrnehmen der durch- noch in Gebrauch. Kurze Zeit später erreichten fahrenen Gebirgslandschaft. In diesem Zusam- die ersten Eisenbahnen den Rand der Semme- menhang ist der Semmering auch prototypisch ringregion und schon 1854 konnte die «eiserne hinsichtlich der Wahrnehmung von Gebirgsregi- Strasse» des neuen Transportmittels «Dampf- onen durch die Eisenbahnfahrt. Die Empfindung eisenbahn» über den Semmering in Betrieb ge- der Bahnstrecke als «linear» findet ihre Entspre- nommen werden. Insbesondere der touristische chung im gefalteten, linearen Panorama (Ghega Aufschwung gegen Ende des 19. Jahrhunderts 1854; dieses Panorama erfuhr im Laufe der Zeit bewirkte den Bau von neuen Fahr- und Spazier- zwar Veränderungen in Grösse und Farbe, ist al- wegen in der Region, wie beispielsweise jene lerdings bis heute fixer Bestandteil des visuellen mit zahlreichen Panorama-Ausblicken angelegte Gedächtnisses der Semmeringbahn). Der Via- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 448 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch dukt über die Kalte Rinne vor der in der Tiefe nehmung der die Bahn umgebenden Landschaft gestaffelten Landschaft wurde zum zentralen wurde seit jeher eine hohe Bedeutung beige- Wahrzeichen der Region; gar auf Briefmarken messen: Gezielte Blickkonstellationen prägen und Geldscheinen wurde die Szenerie als Bild- bis heute das Bild von Eisenbahn und Land- motiv verwendet. In der Frühzeit fanden zudem schaft. Reiseführer weisen schon im Vorfeld der real nicht vorhandene Landschaftselemente Fahrt auf die beste Aussicht hin, Panoramen der wie etwa Felstürme Eingang in die Visualisie- gesamten Bahnstrecke unterstützen die visu- rungen; das Hinzufügen solcher romantischer elle Imagination und zusammen mit der umge- Versatzstücke zeugt von der Verklärung der von benden Landschaft dargestellte und rezipierte der Eisenbahn durchfahrenen Landschaft. In Brückenbauten oder Talschleifen zeugen von den 1890er Jahren wird die Semmeringregion der Integration von Bahn und Landschaft zu ei- rhetorisch als den aufstrebenden Schweizer Tou- ner gemeinsamen ästhetischen Wahrnehmung. rismusorten, etwa St. Moritz oder Davos, gleich- Einzelne Ansichten von Bahnbauten (Viadukt gestellt propagiert. über die Kalte Rinne) wurden am Semmering Die Wahrnehmung der Landschaft als Natur- zu Markenzeichen und fanden Verwendung auf landschaft tritt am Semmering gegenüber jener Briefmarken und Geldscheinen. Die Region am als Kulturlandschaft deutlich zurück; die Rezep- Semmeringpass entwickelte sich gegen Ende des tion der Natur beschränkte sich im Wesentlichen 19. Jahrhunderts zu einer Hotel- und Villenko- auf die Darstellung von schroffen Felspartien lonie, welche von Künstlern besucht wurde und und der Alpenflora und mündete in der Errich- inspirierend wirkte (Rosegger, Altenberg, Loos, tung des Landschaftsschutzgebiet «Rax-Schnee- Schnitzler, Kokoschka, Friedell). berg» im Jahre 1955, welches auch die von der Die Kulturlandschaft im Umfeld der Semmering- Semmeringbahn durchquerte Region umfasst. bahn ist bis heute noch nicht Bestandteil des UN- Der Semmering und die Semmeringbahn ESCO-Weltererbes, da eine präzise Festlegung wirkten anziehend auf Künstler: Peter Roseg- des Raumes der Schutzzonen noch nicht erfolgte. ger hielt in seiner Erzählung Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen sass von 1877 seine Eindrücke während der Fahrt mit der Bahn fest, der Architekt Adolf Loos baute hier 1929/30 das Landhaus Khuner und Peter Altenberg hinterliess seine Skizzensammlung «Semmering, 1912». Arthur Schnitzler, Oskar Kokoschka, Egon Friedell verbrachten in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mehrere Sommer am Semmering. Die Semmeringbahn gilt als Prototyp einer Eisenbahn in gebirgigen Regionen. Ihre Inbetriebnahme führte zum Ausbau der Land- und Forstwirtschaft in der Region wie auch zum Aufkommen des Tourismus daselbst. Der Wahr- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 449 Kandidatur UNESCO-Welterbe Gotthardbahn > Plakat von 1932 mit stilisierter Darstellung der Kulturlandschaft. Sammlung G. Dinhobl | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Gotthardbahn > Verkehrslandschaft um Wassen: Eisenbahn mit Schleifenentwicklung auf drei Ebenen aus dem späten 19. Jahrhundert, Autobahn aus dem späten 20. Jahrhundert. Aufnahme um 1980. Illustration aus EGGERMANN ANTON [et al.]: Die Bahn durch den Gotthard, Zürich 1981. Gotthardbahn > Ursprüngliche Kerstelenbach-Fachwerkbrücke aus Stahl, um 1881. Sammlung G. Dinhobl 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 450 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Schweiz | www.rhb-unesco.ch Gebirgsstufen beherrscht die Viehwirtschaft mit Wiesen und Weiden das Bild. Entlang der Gott- Gotthardbahn hardlinie wurde seit 1900 mehr als 100 ha Wald Die Gotthardbahn führt vom nördlich der Al- aufgeforstet, um die Bahnlinie vor Lawinen- pen gelegenen Luzern (436 m ü.M.) mittels eines und Murgängen zu schützen. Über der Baum- rund 15 km langen Tunnels durch das Gott- grenze wurden zahlreiche weitere Schutzbauten hardmassiv (Kulminationshöhe 1’151 m ü.M.) errichtet. nach Chiasso (226 m ü.M.) am Südrand der Alpen. Ein Weg über den Gotthardpass lässt sich Bauwerke bereits für die Bronzezeit nachweisen. Mit der Die Gotthardbahn führt vom nördlichen, ale- Erschliessung der Schöllenenschlucht im 13. mannisch-deutschen in den südlichen, roma- Jahrhundert wurde hier die kürzeste alpenque- nisch-italienischen Kulturkreis mit je eigenen rende Nord–Süd-Verbindung geschaffen. Ein baulichen Vorlieben sowohl im Profan- wie weiterer Ausbau der Gotthardroute erfolgte im auch im Sakralbau; sogar in der Anlage der Ort- 16. Jahrhundert; er deutet auf deren damals hohe schaften unterschieden sich die beiden Räume. Bedeutung als Transitkorridor hin. Der mit Last- So herrschten im nördlichen Teil Streusied- tieren abgefertigte Warentransport wurde zum lungen vor, während im südlichen Abschnitt die wichtigen Erwerbszweig für die örtliche Bevöl- Haufendörfer dominieren. Zahlreiche Burgen kerung. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und Kirchen weisen auf die Bedeutung der Re- erfolgte – wie auch bei zahlreichen anderen Al- gion im europäischen Transitverkehr bereits in penpässen – der Ausbau der Strasse. Die gegen früheren Epochen hin. Die Burgen von Bellinzo- Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Eisenbahn na fanden im Jahre 2000 Aufnahme in die Liste veränderte die Landschaft am Gotthard grund- des UNESCO-Welterbes (ebenfalls in unmittel- legend. Etwa ein Jahrhundert später nahm die barer Umgebung des Gotthardbahn-Korridors durchgehende vierspurige Autobahn das ohnehin liegt der als UNESCO-Naturerbe deklarierte schon schmale Gebirgstal nahezu vollständig in Monte San Giorgio). Im zentralen Abschnitt der Beschlag. Gotthardbahn, zwischen Erstfeld und Biasca, bewirkte die Eisenbahn eine bescheidene tou- Agrikultur ristische Entwicklung, etwa in Göschenen, Ai- Die Gotthardregion umfasst Gebirgstäler von rolo und Faido; Grand Hotels wie im Engadin unterschiedlicher Breite und Beschaffenheit. In oder am Semmering wurden hier allerdings nicht den Talböden dominieren landwirtschaftlich ge- errichtet. nutzte Flächen (in höheren Lagen vornehmlich Die Bauwerke der Bahn selbst prägen die Gott- Weiden, in niedrigen Höhenlagen auch Getreide hardregion stark. Kritik erwuchs der Gotthard- und Obst); diese sind teilweise, wie etwa im Tes- bahn von der sich anfangs des 20. Jahrhunderts sin zwischen Bellinzona und Locarno, erst durch formierenden Heimatschutzbewegung (vgl. Kap. Flusskorrekturen gewonnen worden. In den süd- 2.a.4); beanstandet wurde, dass für die Brücken lichen Abschnitten im Tessin herrscht ein me- kein ortsübliches Material, sondern der aus an- diteranes Klima vor, das den Anbau von Wein, deren Regionen zugelieferte Stahl zur Anwen- Kastanie und Feige ermöglicht. In den höheren dung kam, und dass die gerade Linienführung 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 451 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch eine Harmonie von Bahn und Landschaft nicht das landschaftsdominierende Verkehrsbauwerk aufkommen liess. Solcherart wurde die Gott- am Gotthard. hardbahn zum Symbol eines sich nicht in die natürliche Umgebung einpassenden technischen Wahrnehmung Bauwerks. Heute sind alle originalen Stahl- Vor der Eröffnung der Gotthardbahn standen brücken der Gotthardbahn durch Spannbeton- die Schwierigkeiten bei der Überwindung der brücken ersetzt. Als Industriebauwerke in der schroffen Hochgebirgsregion im Zentrum der Gotthard-Region sind insbesondere die Kraft- Rezeption, sowohl der bildlichen, wie auch der werksbauten für den elektrischen Betrieb der literarischen. Mit dem Bau der Eisenbahn ver- Bahnlinie zu erwähnen (Ritom, Amsteg). schobt sich der Fokus hin zur Kulturlandschaft. In weiterer Folge bewirkte die Gotthardbahn In Reiseführern finden sich präzise Vorgaben be- den Bau militärischer Befestigungsanlagen von treffend der «richtigen» Blickachsen. Der weit nationaler Bedeutung; 1886 begonnen, wurden verbreitete Baedeker-Reiseführer von 1909 etwa sie während des Zweiten Weltkrieges zur «Gott- weist an: «Von Luzern bis Amsteg rechts sitzen, hardfestung» ausgebaut. von Amsteg bis Faido links, von Faido bis Bellinzona wieder rechts». Dabei wird der Blick der Transportwege Reisenden sowohl auf die Kulturzeugnisse – und Der Gotthard nimmt eine bedeutende Stellung hier insbesonders auf Kirchen oder Burgen – als im Handel zwischen Italien (insbesondere dem auch auf die Bergwelt gelenkt. Bei Ansichten der Hafen von Genua) und den nördlich gelegenen Gotthardregion wiederum werden nun die Bau- Ländern (insbesondere Deutschland) ein. Die werke der Bahn, etwa Brücken oder die (Kehr- Transportwege am Gotthard sind stark durch die ) Schleifenentwicklung in den Mittelpunkt der von den Flüssen Reuss und Ticino geschaffenen Visualisierungen gestellt und damit – schon Täler vorgegeben. Eine Schlüsselstelle war die früh – die Einbettung der Bahn in die vom Men- Schöllenenschlucht oberhalb von Göschenen. schen kultivierte Umgebung thematisiert. Be- Bis zum 13. Jahrhundert führte ein Saumweg sonders prominent war dabei das Bild der Kirche oberhalb der Schlucht über den Bätzberg. Mit von Wassen, welche von mehreren Schleifen der dem Bau der so genannten «Teufelsbrücke» Bahn umschlossen wird. Panoramen der Bahn wurde die Möglichkeit geschaffen, die Schlucht werden im Falle der Gotthardbahn als Über- direkt zu passieren; die Brücke fand einen Wi- schaulandschaften dargestellt (und nicht mehr derhall in den Sagen der Region. als lineare Panoramen wie am Semmering). Die Bahn veränderte mit ihren Tunnels, Brü- Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahr- cken und der Anlage des Trassees die Täler der hunderts gewann die Gotthardbahn eine grosse Reuss und des Ticino sichtbar. Einen bedeu- Bedeutung als nationalen Ikone. tend grösseren Eingriff in die Landschaft allerdings brachte der Bau der Autobahn im 20. Die Gotthardbahn im Kontext der umgebenden Jahrhundert; in einzelnen Abschnitten – etwa Landschaft bildet in erster Linie einen durch das bei Wassen – besetzt die Autobahn mit ihren Zu- gesamte Gebirge führenden Transitkorridor. Die- fahrtsstrassen den ganzen Talboden. Heute ist ser ermöglichte einen schnelleren und leichteren nicht mehr die Eisenbahn, sondern die Strasse Transport von Menschen und Gütern von Italien 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 452 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch nach Mittel- und Nordeuropa und umgekehrt. Die aber überall erst im Gefolge des Eisenbahnbaues Bahn ist eng mit der Kulturlandschaft verwoben, eine Intensivierung und Erweiterung (wobei indem sie diese selbst direkt (Linienführung des auch gegenläufige Entwicklungen durch die Ver- Bahntrassees) wie auch indirekt (Schutzwälder billigung des Transportes von landwirtschaft- und Lawinenverbauungen bis in hohe Lagen) mit lichen Produkten zu beobachten sind). In dieser gestaltet oder indem sie als nahtlos in die Kul- Hinsicht ist die Kulturlandschaft des Eisenbahn- turlandschaft eingebettet visualisiert wird (Stre- korridors Albula/Bernina durchaus mit anderen ckenentwicklung und Kirche bei Wassen). Im Gebirgsbahnen vergleichbar. Unterschied zu anderen Eisenbahnstrecken (etwa der Semmeringbahn) ging von der Gotthardbahn Bauwerke keine prägnante touristische Wirkung auf die Die Bauwerke entlang der Eisenbahnstrecken durchfahrene Region aus. zeigen auf, ob die betreffende Landschaft schon vor dem Einzug der Bahn als Kulturlandschaft Zusammenfassung bestanden hatte oder ob sie erst im Zuge des Bahnbaus als solche geschaffen worden ist. Ei- Die Kulturlandschaft des Eisenbahnkorridors ne besonders grosse Vielfalt an Bauwerken tritt Albula/Bernina weist zahlreiche Merkmale auf, dort auf, wo eine «historische» Kulturlandschaft die als typisch für Gebiete mit Gebirgsbahnen durch die Eisenbahnstrecke ergänzt wird. In al- bezeichnet werden können. Bei anderen As- len untersuchten Beispielen ist die Eisenbahn pekten wiederum fehlen die Ähnlichkeiten, wes- auch mit dem Tourismus verknüpft. Insbeson- halb dieser Bahnkorridor als von eigenständigem dere in den Alpen und den Pyrenäen bestanden Charakter qualifiziert werden kann. Gerade in teils schon vor dem Bahnbau touristische Desti- der Kombination von zahlreichen einzigartigen nationen, hatte also der Tourismus mit Anlagen und typischen Elementen ist die Kulturland- wie Hotels oder Spazier- und Wanderwegen die schaft des Eisenbahnkorridors Albula/Bernina «alte» Kulturlandschaft bereits verändert. Die- ein hervorragendes Beispiel von aussergewöhn- se expandierten nach der bahntechnischen Er- lichem universellen Wert. schliessung der betreffenden Region, in anderen Gegenden kam der Tourismus durch den Bahn- Typisches bau erst in Gang (man denke etwa an die Hotel- Die typischen Elemente lassen sich anhand einer und Villenkolonie am Semmering, die nach dem Zusammenfassung der vorangegangenen Aus- Eisenbahnbau entstand). Im Engadin setzte mit führungen entlang des bekannten Analyserasters dem Bahnbetrieb am Albula und der damit gege- aufzeigen. benen ganzjährigen Erreichbarkeit des Gebiets als auch der Versorgungssicherheit der Hotels der Agrikultur Wintertourismus ein. In vielen Fällen finden sich im Umfeld der Ei- Die Eisenbahnbauten selbst prägen die Kultur- senbahn agrikulturelle Nutzungen. Diese waren landschaften in bestimmendem Masse. Gerade in einzelnen Beispielen schon vor dem Bahnbau bei Gebirgsbahnen sind es oftmals herausragende vorhanden (Berglandwirtschaft in den Alpen; Brücken bzw. Viadukte, welche – in die Land- Teeplantagen im kolonialen Indien), erfuhren schaft eingebettet – das unverkennbare Charak- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 453 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch teristikum der jeweiligen Strecke bilden und als beginnt insbesondere in der zweiten Hälfte des eigentliche «Wahrzeichen» der Landschaft Ver- 20. Jahrhunderts eine neue Entwicklung und es breitung finden: Im Falle des Albula/Bernina- kommt zum Rückbau von Eisenbahnen, wobei Korridors sind es der Landwasserviadukt und der insbesondere Ortsdurchfahrten der Eisenbahn Kehrviadukt von Brusio, am Semmering der Vi- auf den Strassen abgebaut werden (z.B. Guaya- adukt über die Kalte Rinne, beim Train Jaune der quil & Quito Railway). Die Ortsdurchfahrten zweigeschossige Viadukt bei Fontpédrouse oder der Berninaline sind somit zwar typische, aber die Hängebrücke bei La Cassagne, am Gotthard nicht mehr häufig anzutreffende Ensembles der die (heute nicht mehr vorhandenen) Gitterträger- gegenseitigen Verschränkung von Strasse und Brücken, bei der Yunnan-Bahn die Gitterträger- Eisenbahn. Brücke über die Pei Ho Schlucht. Die Bahn wird so gewissermassen als Zitat von Kultur in der Wahrnehmung schroffen Gebirgslandschaft eingesetzt. In allen Fällen führte der Bahnbau zu einer verstärkten ästhetischen Wahrnehmung von Transportwege Gebirgslandschaften. Der Wahrnehmung der Die Eisenbahnen werden von einer Vielzahl an Landschaft entlang von Eisenbahstrecken kommt Transportwegen umgeben. In den meisten Fällen eine spezielle Bedeutung zu: Eigenheiten wer- sind es Strassen, die sich zumindest streckenweise den vor allem bei touristisch besuchten Bahnen in der näheren Umgebung der Bahn befinden oder betont, wobei besonders das mit der Romantik sogar gemeinsam mit ihr geführt werden (z.B. bei einsetzende verstärkte Interesse an Landschaften Ortsdurchfahrten, so beim Guayaquil & Quito in die Art und Weise der Wahrnehmung bei einer Railway und bei der Berninabahn). Durch die Ei- Eisenbahnfahrt Eingang findet. Aufgrund der senbahn wird die Bedeutung bestehender Trans- Vielfältigkeit der Eindrücke konnte die Wahr- portwege wesentlich verändert und andere, neue nehmung der Landschaft bei der Fahrt roman- Transportwege gewinnen an Bedeutung. Wäh- tisierend zu einem «Ballett der Blicke» werden. rend jene Transportwege, die den Bahnkorridor Die Wahrnehmung der Umwelt als Kulturland- entlang führen, tendenziell an Gewicht verlieren, schaft korrespondiert mit der Wahrnehmung von steigt der Stellenwert der kleinräumigen Trans- Bauwerken: Schon vor dem Bahnbau bestehen- portwege (beispielsweise Verbindungswege de Bauten, etwa Kirchen (Mistail am Albula, zwischen Bahnhöfen und Siedlungen, wie etwa Klamm am Semmering; Wassen am Gotthard), im Falle von Stugl/Stuls im Albulatal, bzw. tou- ebenso wie die im Gefolge des Eisenbahnbaues ristischen Orten [vgl. die Wege von der Station entstandenen Hotelbauten (z.B. Semmering, Al- Semmering zur Passhöhe und den Hotels] oder bula, Train Jaune) oder die Brücken, Viadukte Aussichtswege, aber auch Pfade von und zu den bzw. Tunnelportale der Eisenbahn selbst (z.B. agrikulturellen Nutzflächen). Des Weiteren sind Landwasserviadukt am Albula, Kalte Rinne am insbesondere dann Rohr- und Stromleitungen Semmering, Gotthardtunnel) bilden den visu- (sowie Stauseen) in Bahnnähe anzutreffen, wenn ellen Zusammenschluss von Bahn und Land- die Bahn elektrisch betrieben wird (Train Jaune, schaft. In den Streckenabschnitten mit einer teilweise Semmering, Berninabahn). naturnahen Landschaft wird die Eisenbahn qua- Mit der raschen Verbreitung der Motorisierung si als Signatur aus Menschenhand wahrgenom- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 454 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch men (Denver & Rio Grande Railroad; Adderley Schwierigkeiten ausschliesslich vom Flachland Viaduct der Nilgiri-Bahn; Streckenentwicklung (teilweise von Seehäfen) zu Destinationen im im Bereich der «Teufelsnase» des Guayaquil & Gebirge, sind also keine gebirgsquerenden Bah- Quito Railway; Berninapass). All diese Beispiele nen. Der Aspekt der Überquerung eines Gebir- sind Ausdruck der als Kulturlandschaft wahrge- ges ist insbesondere in kulturlandschaftlicher nommenen Umwelt von Eisenbahnkorridoren in Hinsicht von Interesse: Gebirge hatten seit je- Gebirgen. her eine trennende Wirkung, was zu je unterschiedlichen Kulturen und damit einhergehend Einzigartigkeit auch unterschiedlich ausgeprägten Kulturland- Die Einzigartigkeit der Albula/Bernina Strecke schaften führte (beim Albula/Bernina-Korridor ist in erster Linie auf die Vielfalt der von der Ei- deutsch, rätoromanisch und italienisch; vgl. Kap. senbahn durchfahrenen Landschaft sowie auf 2.b.8). die Vielzahl der durchfahrenen Vegetations- und Ein weiteres Moment der Einzigartigkeit der Klimazonen zurückzuführen: Unter den Ver- Kulturlandschaft entlang der Albula/Bernina- gleichsbeispielen ist die Albula/Bernina Linie Strecke sind die Bauwerke der Bahn. Insbeson- neben der Gotthardbahn die einzige Eisenbahn- dere die steinernen Viadukte der Albulalinie strecke, die ein Gebirge in seiner Gesamtheit wurden schon kurz nach deren Eröffnung vom überquert: Bei einer Luftlinienentfernung von Heimatschutz als der Landschaft angepasst und rund 80 km beträgt die von der Albula/Berni- damit als vorbildlich angesehen, während die ei- na-Linie überwundene maximale Höhendiffe- sernen Fachwerkträger-Brücken am Gotthard als renz an der Nordseite etwa 1’550 m und an der Negativbeispiele dargestellt wurden. Dies bildet Südseite etwa 1’700 m, jene der Gotthardbahn einen Unterschied auch zur Semmeringbahn, in- dagegen nur rund 910 m. Die Semmeringbahn sofern, als dort die Harmonie von Technik und am östlichen Rande der Alpen ist als «schräger» Landschaft erst Jahrzehnte nach Inbetriebnahme Alpendurchgang mit einer Luftlinienentfer- der Strecke, nämlich erstmals zu Beginn des 20. nung von etwa 21 km zwischen den Bahnhöfen Jahrhunderts artikuliert wurde. Zur Bauzeit in Gloggnitz und Mürzzuschlag vergleichsweise den 1850er Jahren allerdings ermöglichte es die kurz. Auch beträgt die maximale Höhendiffe- Semmeringbahn, dass die von ihr durchfahrene renz dort lediglich rund 450 m, was mit einer Region - zuvor nur als «Gegend» bezeichnet - als deutlich geringeren landschaftlichen Vielfalt «Landschaft» ästhetisch wahrgenommen werden einhergeht. Die Denver & Rio Grande Railroad konnte: Am Semmering wurde die Eisenbahn als am Cumbrespass liegt innerhalb des Gebirgs- die Kulturlandschaft konstituierend rezipiert, im zuges der Rocky Mountains und hat mit einer Falle der Albula/Bernina-Linie als in die (beste- maximalen Höhendifferenz von rund 660 m hende) Kulturlandschaft eingepasst. (Chama – Cumbrespass) ebenfalls einen geringeren Höhenunterschied zu bewältigen. Alle übrigen Vergleichsbahnen verlaufen bei durchwegs beachtlichen Höhendifferenzen (z.B. beim Guayaquil & Quito Railway rund 3’600 m) sowie entsprechenden eisenbahnbautechnischen 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 455 Kandidatur UNESCO-Welterbe Technische Daten, Erhaltungszustand | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina Begründung für den Bau Ursprünglicher und heutiger Betrieb Bahntyp - Jahr der Eröffnung, ursprüngliche Betriebsart - max. erreichte Seehöhe - Spurweite - Anzahl Tunnel - Anzahl Brücken - Sicherungsbauten Yunnan-Bahn - 1910, Dampf betrieb - 2026 m ü.M. - Schmalspur / 1000 mm - 172 Tunnels - 107 grössere Brücken - Wenige Sicherungsbauten Überregionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr durch französische Kolonialverwaltung: Verbindung der Küstenstadt Hanoi mit der chinesischen Provinzhauptstadt Kunming Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; heute gesicherter Betrieb nur abschnittsweise, Absicht der Wiederaufnahme des durchgehenden Betriebes Darjeeling-Bahn - 1889, Dampf betrieb - 2258 m ü.M. - Schmalspur / 610 mm - keine Tunnels - eine bedeutende Brücke - kaum Sicherungsbauten Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr durch britische Kolonialverwaltung Nilgiri-Bahn - 1903, Dampf betrieb - 2094 m ü.M. - Schmalspur / 1000 mm - Abschnitt mit Zahnstange - 16 Tunnels - 32 grössere Brücken - Sicherungsbauten Eritrea-Bahn www.rhb-unesco.ch Bahn in der Kulturlandschaft (ursprünglich) Technische Innovation keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn- Bauten Geringer bis mässiger baulicher Aufwand zur Erreichung einer Provinzhauptstadt im Gebirge Ursprünglich fahrplan- Kolonialbahn mässiger Personen- und - Schmalspurbahn Gütertransport; heute - Gebirgsbahn – nicht ausschliesslich Persogebirgsquerend, sonnentransport mit zumeist dern ins Gebirge touristischer Bedeutung hineinfahrend keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn- Bauten Hervorragendes Beispiel einer «light railway» Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr durch britische Kolonialverwaltung Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; heute ausschliesslich Personentransport mit zumeist touristischer Bedeutung - Kolonialbahn - Schmalspurbahn - Gebirgsbahn – nicht gebirgsquerend, sondern ins Gebirge hineinfahrend keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn-Bauten Beispiel einer Eisenbahn im Mischbetrieb (Zahnrad- / Adhäsionsbetrieb) - 1911, Dampf betrieb - 2395 m ü.M. - Schmalspur, 950 mm - 30 Tunnels - 532 Brücken und Durchlässe - Wenige Sicherungsbauten Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr durch italienische Kolonialverwaltung: Verbindung von der Hafenstadt Massaua mit der Hauptstadt Asmara Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; heute ausschliesslich Tourismusverkehr - Kolonialbahn - Hauptlinien-Charakter - Schmalspurbahn - Gebirgsbahn – nicht gebirgsquerend, sondern ins Gebirge hineinfahrend keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn- Bauten Geringer bis mässiger baulicher Aufwand zur Erreichung einer Hauptstadt im Gebirge Guayaquil & Quito Railway - 1908, Dampf betrieb - 3609 m ü.M. - Schmalspur / 1067 mm - Keine Tunnels - Nur geringe Zahl an Brücken - Wenige Sicherheitsbauten Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr: Verbindung der Hauptstadt Quito mit dem Seehafen an der Pazifikküste Ursprünglich fahrplan- Hauptlinien-Charakter mässiger Personen- und - Schmalspurbahn Gütertransport; heute nur - Gebirgsbahn – nicht mehr auf einzelnen Abgebirgsquerend, sonschnitten ausschliesslich dern ins Gebirge Tourismusverkehr hineinfahrend Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn- Bauten Anwendung des selten verwendeten Spitzkehren-Systems zur Gewinnung von Höhe Cumbres & Toltec Scenic Railway - 1880, Dampf betrieb - 3053 m ü.M. - Schmalspur / 914 mm - Zwei Tunnels - Zwei grössere Brücken - kaum Sicherungsbauten Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr, insbesondere Bergbauprodukte Ursprünglich fahrplan- Schmalspurbahn mässiger Personen- und - Gebirgsbahn – nicht Gütertransport; heute nur gebirgsquerend, sonmehr auf einzelnen Abdern ins Gebirge schnitten ausschliesslich hineinfahrend Tourismusverkehr keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn-Bauten, Funktion als «scenic railway» erst in jüngerer Zeit Geringer baulicher Aufwand zur Überwindung eines Gebirgspasses Train jaune - 1911, Elektrobetrieb - 1592 m ü.M. - Schmalspur / 1000 mm - 19 Tunnels - 106 Brücken, davon 14 grössere Brücken - Wenige Sicherungsbauten Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr und Verbindung der beiden transnationalen Eisenbahnstrecken durch die Pyrenäen Ursprünglich fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport, heute nur mehr bescheidener Touristenverkehr - Schmalspurbahn - Gebirgsbahn – nicht gebirgsquerend, sondern ins Gebirge hineinfahrend Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn- Bauten An Elektrobetrieb angepasster Trasseeverlauf (grössere Neigung als bei Dampf betrieb) Semmeringbahn - 1854, Dampf betrieb - 898 m ü.M. - Normalspur / 1435 mm - 15 Tunnels (bis 1,5 km Länge) - 16 Viadukte - aufwändige Sicherungsbauten Überregionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr: Verbindung der Residenzstadt Wien mit dem Mittelmeerhafen Triest Ursprünglich und heute fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; Basistunnel zur Verkehrsverlagerung in Planung seit 1989 - Hauptlinie / Transit - Gebirgsbahn – gebirgsquerend in niedriger Höhe Keine umfassenden landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten EisenbahnBauten; Verbindung von Eisenbahn-Kunstbauten und Landschaft erst nach Bau im Zuge der touristischen Erschliessung thematisiert Erstes Beispiel einer Haupteisenbahn durch ein Gebirge (Alpen) Gotthardbahn - 1882, Dampf betrieb - 1151 m ü.M. - Normalspur / 1435 mm - 80 Tunnels (15 km langer Scheiteltunnel) - 79 grössere Brücken - aufwändige Sicherungsbauten Überregionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr: Verbindung von Nord- und Südeuropa Ursprünglich und heute fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport; Basistunnel zur Verkehrsverlagerung in Bau, Eröffnung geplant 2014 - Hauptlinie / Transit - Gebirgsbahn – gebirgsquerend in mittlerer Höhe Keine landschaftsgestaltenden Intentionen im Sinn von harmonisch an die Umgebung angepassten Eisenbahn-Bauten, Brücken zur Bauzeit als fortschrittsbringend, bald darauf aber als an die Umgebung nicht angepasst bezeichnet Beispiel einer Haupteisenbahn mit Spiraltunnel und langen Scheiteltunnel durch ein Gebirge (Alpen) Regionale Erschliessung für Handel und Personenverkehr (bes. Tourismus) bei Einbindung in überregionales Eisenbahnnetz Berninabahn als “Nebenprodukt” von Stromproduktion durch Kraftwerke Ursprünglich und heute fahrplanmässiger Personen- und Gütertransport - Hauptlinien-Charakter - Schmalspurbahn - Gebirgsbahn – gebirgsquerend in grosser Höhe Landschaftsgestaltende Intentionen im Sinn von bewusst an die Umgebung angepassten EisenbahnBauten (z.B. durch Wahl des Baumaterials) Beispiel einer (schmalspurigen!) Haupteisenbahn mit Spiraltunnels und langem Scheiteltunnel durch ein Gebirge bei Erreichung grosser Höhen im Ganzjahresbetrieb aus der Spätzeit des Alpenbahnbaues; Charakteristische Unterschiede des Trasseeverlaufs aufgrund Wahl der Betriebs-Technologie, insbes. dem Elektrobetrieb (Bernina: grössere Neigung) Albula/Bernina-Linie - 1903 / 1910, Dampf / Elektrobetrieb - 1823 / 2257 m ü.M. - Schmalspur / 1000 mm - 41 / 11 Tunnels (Albula: knapp 6 km langer Scheiteltunnel) - 65 / 21 grössere Brücken - aufwändige Sicherungsbauten - Kolonialbahn - Hauptlinien-Charakter - Schmalspurbahn - Gebirgsbahn – nicht gebirgsquerend, sondern ins Gebirge hineinfahrend | 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.3 Kulturlandschaftsvergleich 456 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.c.4 Gesamtschau des Vergleichs Die vorangegangenen Analysen (vgl. Kap. 3.c.2 Europa dagegen wurden bereits andere Kraft- und Kap. 3.c.3) machen deutlich, dass für die quellen für den Eisenbahnbetrieb erprobt. Es war «Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Al- vor allem die elektrische Traktion, die seit der bula/Bernina» im weltweiten Zusammenhang Jahrhundertwende zunehmend an Bedeutung ge- zahlreiche einzigartige wie auch typische As- wann. Dies hatte wichtige Auswirkungen auf die pekte identifiziert werden können. Zur bessern Parametrierung der Strecken, besonders auf die Übersicht ist die Gesamtschau des Vergleichs in maximale Steigung. Die mit Gleichstrom betrie- die Abschnitte «Bauzeit», «Wirtschaftliche Be- bene Berninabahn zeugt von dieser innovativen deutung», «Technische Bedeutung», «Kultur- Erprobungsphase des elektrischen Eisenbahnbe- landschaftliche Bedeutung» sowie «Heutige und triebes (wie auch der Train Jaune). Im Laufe des zukünftige Bedeutung» unterteilt. Zum Schluss 20. Jahrhunderts setzte sich der Wechselstrom- werden die wichtigsten Erkenntnisse im Ab- betrieb als normale Elektrifizierungsart durch schnitt «Internationale Einordnung der Albula- (Albulabahn: seit 1919). Spätestens seit der zwei- und Berninastrecke» zusammengefasst. ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit dem Bau von Hochgeschwindigkeitszügen (etwa Shinkan- Bauzeit sen in Japan, TGV in Frankreich), gilt der Elek- In der Mitte des 19. Jahrhunderts stand der Ge- trobetrieb als zeitgemässe Antriebsform. birgsbahnbau noch in der Erprobungsphase; die Im Umfeld dieser Entwicklung ist die Albula/ Semmeringbahn war diesbezüglich eine Pio- Bernina-Strecke etwas Spezielles. Der Bernina- nierleistung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr- bahn kommt dabei die Rolle des Einzigartigen hunderts wurde der Tunnelbau mechanisiert, die zu, weil zu ihrer Bauzeit noch keine Vorbilder ei- Errichtung langer und spezieller Durchstiche ner elektrischen Eisenbahn in derartigen Höhen (Scheiteltunnels, Spiraltunnels) wurde so ermög- bestanden. Sie ist noch heute die höchstgelegene licht. Ein sehr frühes, beeindruckendes Beispiel alpenquerende Eisenbahn mit Ganzjahresbetrieb aus dieser Epoche ist die Gotthardbahn. Europa und in Bezug auf den elektrischen Bahnbetrieb nahm bei diesen technischen Neuerungen eine von vergleichbarer Bedeutung wie die Sem- Vorreiterrolle ein. Zur gleichen Zeit erfolgte in meringbahn hinsichtlich der dampfbetriebenen verschiedenen Kolonien die bahntechnische Er- Gebirgsbahnen. Bei der Semmeringbahn, die schliessung des Hinterlandes, auch im Westen während eines Jahrzehnts den Rekord bezüglich der USA dehnte sich das Bahnnetz beeindru- des Kulminationspunktes einer Eisenbahnlinie ckend aus. Beim Bau all dieser Bahnen standen hielt, wurden die Leistungsgrenzen von Dampf- in erster Linie politische, wirtschaftliche (Berg- lokomotiven erprobt und letztlich auch erweitert, bau) und militärische Interessen im Vorder- was in der Folge die Erschliessung von Gebir- grund. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte gen in aller Welt ermöglichte. Die Rolle des Ty- man beim Bahnbau ausserhalb Europas auf die pischen kommt der Albulalinie zu, orientierte bewährte Technologie des Dampfbetriebs, in man sich doch bei deren Bau bezüglich Antriebs- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 457 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch art und Streckenparametern an den dampfbetrie- zu den letzten Alpenbahnen, deren «grosse benen Haupteisenbahnlinien. Einzigartig bleibt Zeit» mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu allerdings, dass bei der Albula-Strecke alle bei Ende ging; nach dieser Zäsur kam keine der ge- normalspurigen Gebirgsbahnen angewendeten, planten alpenüberquerenden Eisenbahnstrecken bautechnisch höchst aufwändigen Massnahmen mehr zur Ausführung. Steht die Semmering- wie Spiraltunnels oder lange Scheiteltunnels für bahn als Symbol für den Beginn des Gebirgs- eine Schmalspurbahn Anwendung fanden. bahnbaus, so bildet die Albula/Bernina-Strecke Die Strecken Albula/Bernina sind für das begin- den abschliessenden Höhepunkt. Gemeinsam nende 20. Jahrhundert Höhepunkte in der Über- illustrieren sie auf emblematische Weise die windung eines Gebirges durch Eisenbahnen: Entwicklung des Gebirgsbahnbaus von der Mit- Die Berninabahn wegen der Wahl des damals te des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des höchst innovativen Elektrobetriebes, der sich Ersten Weltkriegs. Erst seit Ende des 20. Jahr- schliesslich durchsetzen sollte; die Albulabahn hunderts werden wieder neue alpenquerende wegen der Perfektionierung einer zwar kon- Eisenbahnstrecken geplant und errichtet, so ventionellen, aber aufgrund der Anwendung insbesondere die neue Alpentransversale (NE- spezieller Tunnelbauarten einer sehr aufwän- AT) in der Schweiz. Diese untertunnelt aller- digen Betriebsart und deren Umsetzung für den dings das Alpengebirge gänzlich (Gotthard- und Schmalspurbau. Beide Bahnen gehören zudem Lötschberg-Basistunnel). Höhenlage und Länge der Scheiteltunnel der «grossen Alpenbahnen», 1912 Plan aus Robert Ritter von Reckenschuss: Die ausgeführten und geplanten Alpenbahnen, Wien 1912. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 458 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Wirtschaftliche Bedeutung der regionalen Versorgung. Beim Bau der stark Der Bau von Eisenbahnen erfolgte in erster Li- von touristischen Belangen geprägten Bernina- nie aus wirtschaftlichen Überlegungen. Bei den bahn war zudem der Aspekt des Mehrwertes des Vergleichsbahnen in aussereuropäischen Regi- Kraftwerkbaues auf der Südseite des Bernina- onen bilden die koloniale Unterwerfung und die passes entscheidend. Das Kraftwerk wurde vor Erschliessung von Bodenschätzen und landwirt- allem zur Stromerzeugung für die norditalie- schaftlicher Nutzflächen wichtige Gründe: So nische Industrieregion Mailands errichtet und nur zeugt die von der vietnamesischen Hafenstadt ein Teil des Stroms wurde für den Bahnbetrieb Haipong ins südchinesische Kunming führen- benötigt. de Yunnan-Bahn vom einstigen Einfluss der französischen Kolonialmacht, die Eritrea-Bahn Technische Bedeutung widerspiegelt den kolonialen Einfluss Italiens, Im technischen Bereich decken die Vergleichs- die Darjeeling-Bahn jenen Englands. Die Yun- bahnen ein breites Spektrum ab. Art und Um- nan- und die Eritreabahn wie auch der equado- fang der technischen Ausstattung stehen in rianische Guayaquil & Quito Railway dienten direktem Zusammenhang mit den jeweils an gleichzeitig auch der Erschliessung des Hinter- den Bahnbau geknüpften wirtschaftlichen Er- landes der Seehäfen und der Städte (Kunming, wartungen, sind natürlich aber auch von den bzw. Asmara und Quito). Ausschliesslich zur technologischen Möglichkeiten der Zeit abhän- Ausbeutung von Bodenschätzen (Silber, Eisen gig. Mit einer aufwändige Streckenführung und und Steinkohle) wurde die Denver & Rio Grande einer Vielzahl von Kunstbauten wie Brücken Western gebaut. und Tunnels wird auf eine eisenbahntechnisch Zwei der europäischen Vergleichsbahnen ge- schwierige Topographie reagiert. Grosse und hören zur Kategorie «Transitbahn mit grossem verzweigte Gebirgstäler können mit normalem Einzugsgebiet» (Semmering-, Gotthardbahn), Anstieg (Denver & Rio Grande Railroad) oder während die dritte, der Train Jaune, klar als «Tou- mit Trasseeschleifen in Seitentäler (Semmering, ristenbahn» gebaut wurde. Auch im Falle der Yunnan-Bahn) bewältigt werden. Schmale und Tranistbahnen wurde ein touristischer Mehrwert steile Täler benötigen dagegen betriebstechnisch erzielt, bei der Semmeringbahn allerdings ein umständliche Spitzkehren (Guayaquil & Ecua- deutlich grösserer als bei der Gotthardbahn. dor Railway) oder bautechnisch sehr aufwän- Die Albula/Bernina-Strecke hat hinsichtlich ih- dige – und kostenintensive – Spiraltunnels oder rer wirtschaftlichen Dimension Ähnlichkeiten einen Scheiteltunnel (Gotthard, Albula). Offene mit dem Train Jaune: In beiden Fällen wird eine Schleifen («loops»), wie sie die Darjeeling-Bahn bestehende, bzw. im Aufbau begriffene Touris- aufweist, oder Zahnradbetrieb, wie bei der Nilgi- musregion erstmals mit der Bahn erschlossen ri-Bahn ausgewendet, bilden aussergewöhnliche und an ein grösseres, überregionales, ja trans- technische Lösungen. nationales Eisenbahnnetz angebunden. Die tou- Die Wahl der Trassierungsparameter – Neigung ristische Bedeutung des betreffenden Gebietes und Kurvenradius – ist abhängig von der einge- wird durch den Bahnbau markant gesteigert (Ent- setzten Technologie: Bei ursprünglich dampfbe- wicklung des Ganzjahrestourismus im Enga- triebene Strecken betrug die maximale Steigung din). Gleichzeitig dienen diese Bahnen aber auch 35 ‰ – 50 ‰ (Semmering-, Gotthard-, Yunnan- 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 459 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch und Eritrea-Bahn). Die Stärke der Neigung be- deutlich, etwa im Falle der Semmeringbahn, wo einflusst die Länge des Bahntrassees im Gebrige. der Weinbau zurückging, als mit der Bahn die Bei den elektrisch betriebenen Strecken konnte Einfuhr fremder Weine einsetzte. Bei den die die Neigung bis auf 70 ‰ erhöht werden – eine Kulturlandschaft bestimmenden Bauwerken wir- doppelt so grosse Neigung verkürzte entspre- ken die Eisenbahnbauten als Zeichen der Moder- chend die Trassee-Länge (Train Jaune). ne, als Ergänzung zur historischen Architektur Die Albula- und die Berninalinie verkörpern auf (Train Jaune, Darjeeling-Bahn). Prägende Wir- einzigartige Weise typische Bahnstrecken aus kung entfalten bei allen Vergleichsbeispielen die der «grossen Zeit» des Gebirgsbahnbaus: War Bahnbrücken. Sie schreiben sich als eigentliche die Anlage des Bahntrassees der Albulastrecke Ikonen ins visuelle Gedächtnis ein. Vereinzelt noch ganz auf Dampfbetrieb ausgelegt und des- gilt dies auch für die gesamte Streckenführung halb mit zahlreichen Kunstbauten wie grossen (Darjeeling-Bahn, Guayaquil & Quito Railway, (Stein-)Brücken oder bautechnisch aufwändigen Gotthardbahn). Wo die Eisenbahn eine historische Spiraltunnels und einem lange Scheiteltunnel Kulturlandschaft durchfährt, finden Motive wie bestückt, führte die Wahl der damals neuesten «Bahn und Burgruine» oder «Bahn und Kirche» Technologie (Elektrobetrieb) bei der Bernina- in der bildlichen Verarbeitung der Werteträger bahn zu einer ganz neuen Art der Trassierung eine besondere Aufmerksamkeit; letztlich wird und einer markanten Erhöhung der Maximalstei- so die Verbindung von Tradition und Moderne gung. Der Wechsel der Technologie innerhalb ei- apostrophiert. ner Strecke, wie er bei der Albula/Bernina-Linie Die Vergleichsbahnen sind von einer Vielzahl erlebt werden kann, findet sich sonst bei keiner von weiteren Verkehrsinfrastrukturen umgeben: der Vergleichsbahnen und ist daher weltweit von Strassen, Pfaden und Wegen. Besonders bei elek- einzigartiger Bedeutung. trisch betriebenen Bahnen (Train Jaune, Berninabahn) bilden Rohr- und Stromleitungen prägende Kulturlandschaftliche Bedeutung Bahnbegleiter. Eisenbahnen und Kulturlandschaften sind eng Die Albula/Bernina-Strecke zeigt hinsichtlich der miteinander verwoben. Eisenbahnen bewirken ei- kulturlandschaftlichen Bedeutung zahlreiche Ei- ne Veränderung bestehender Kulturlandschaften, genständigkeiten, aber auch Gemeinsamkeiten: so wie sie auch neue entstehen lassen. Besonders Sie durchfährt eine besonders grosse Anzahl von die Hoch- und Kunstbauten der Bahn bestimmen Vegetations- und Klimazonen und überwindet ein die Wahrnehmung der vorbeiziehenden Land- Gebirge in seiner gesamten Ausdehnung, was bei schaft aus dem Fenster des fahrenden Zuges. den Vergleichsbahnen nur für die ebenfalls die Bei allen Vergleichsbahnen erfolgte nach deren Alpen überschreitenden Bahnen am Semmering Eröffnung eine Veränderung der agrikulturellen und am Gotthard gilt. Weil die Semmeringbahn Nutzungen der umgebenden Landschaft. Meist jedoch eine deutlich geringere Höhendifferenz wurde die Landwirtschaft intensiviert (etwa der überwindet – lediglich etwa ein Viertel im Ver- Teeanbau entlang der Darjeeling-Bahn), denn gleich zur Berninabahn – durchfährt sie auch die Bahn ermöglichte den leichteren, bzw. billi- deutlich weniger verschiedene Vegetations- und geren Transport der produzierten Güter. Verein- Klimazonen. Die übrigen Vergleichsbahnen füh- zelt werden aber auch umgekehrte Tendenzen ren vom Flachland (teilweise von Seehäfen) zu 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 460 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Destinationen im Gebirge und durchqueren daher sind die Ortdurchfahretn noch erhalten. ebenfalls eine grosse Anzahl an Vegetations- In den Veränderungen der agrikulturellen Nut- und Klimazonen. Eine gebirgsquerende Bahn zungen, bei den Transportwegen und bei der verbindet nicht nur tief am Bergfuss gelegene Rolle des Tourismus (inkl. Aufkommen des Regionen mit solchen in höheren Lagen, sondern Wintertourismus in den Alpen ab Beginn des 20. zusätzlich auch verschiedene Gebiete beidseits Jahrhunderts) weist die Albula/Bernina-Bahn des Gebirges – und damit auch unterschiedlich Ähnlichkeiten mit einzelnen Vergleichsbeispie- geprägte Kulturlandschaften. Die Albula/Berni- len auf. na-Linie verbindet den nördlich der Alpen liegenden deutschsprachigen Kulturraum mit dem Heutige und künftige Bedeutung südlich der Alpen liegenden italienischspra- Trotz der viel zitierten «Eisenbahn-Renaissance» chigen und durchfährt dabei den im Gebirge lie- im 21. Jahrhundert ist die heutige Bedeutung der genden rätoromanischen Kulturraum. Vergleichsbahnen höchst unterschiedlich: Sie ste- Einzigartig ist die Wahrnehmung der Bahnbau- hen zwar alle noch in Betrieb, aber oft nur noch werke im Falle der Albula/Bernina-Strecke. Sie abschnittweise und nur selten in ihrer ursprüng- wurden zu Beginn als «vorbildlich in die Land- lichen Funktion. Wegen der zunehmenden Ver- schaft angepasst» beurteilt. Bei der Semmering- lagerung des Verkehrs auf die Strasse wurden bahn hingegen hat man dies erst Jahrzehnte nach bei einzelnen Bahnen nach dem Zweiten Welt- dem Bau artikuliert, während am Gotthard die krieg ganze Streckenabschnitte eingestellt oder originalen eisernen Fachwerkträger-Brücken als sie sind akut von der Einstellung bedroht. Einzig vom Menschen künstlich gesetzter Kontrast zur das Überleben als Tourismusbahn mit teilwei- Landschaft und daher als störend empfunden se stark ausgedünntem oder nur noch saisonal wurden. Die Albula/Bernina-Strecke beweist, verfügbarem Verkehrsangebot ermöglicht den dass der Bau einer Eisenbahn in einer histo- weiteren, meist unsicheren Fortbestand (z.B. Eri- rischen und als wertvoll wahrgenommenen Kul- trea-Bahn; Guayaquil & Quito Railway; saisonal: turlandschaft viel rücksichtsvoller erfolgte als Denver & Rio Grande Railroad). Ausser bei den dort, wo das entsprechende Bewusstsein fehlte. Transitbahnen Gotthard und Semmering ist heu- Jedenfalls steht die Bauweise der Albula/Berni- te der Güterverkehr bei allen Vergleichsbahnen na-Linie in markantem Gegensatz zum Bau eingestellt. Bei der Yunnan-Bahn sind einzelne der Kolonialbahnen, wo die wirtschaftliche Er- Streckenabschnitte im Jahre 2002 durch Unwetter schliessung des Hinterlandes die Leitidee war. schwer beschädigt worden, sie wurden zunächst Bei europäischen Bahnen sind Ortsdurchfahrten nicht wieder instandgesetzt. Ihr baulicher Zustand auf Strassen, wie sie bei der Berninabahn vor- ist – wie auch bei den meisten der anderen Ver- kommen, selten. Ausserhalb Europas waren gleichsbahnen – durchgängig unzureichend, wenn solche Linienführungen einst häufiger, doch auch das chinesische Eisenbahnministerium im wurden sie in der Zwischenzeit meist umgebaut Jahr 2004 grundsätzlich den Willen bekundete, oder die Strecken wurden eingestellt. Ein Bei- die Strecke aufrecht erhalten zu wollen, und di- spiel für eine teilweise aufgehobene Strecke es trotz des geplanten Baus einer normalspurigen mit Ortsdurchfahrten ist der Guayaquil & Qui- Trans-Asia-Bahn von Kunming nach Singapur. to Railway. Bei der Darjeeling-Bahn allerdings Bei den verglichenen Transitbahnen Gotthard und 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 461 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Semmering wurde der Betrieb wie bei der Albula- angepasst bewertet. Heute befinden sie sich noch bahn im 20. Jahrhundert von Dampf auf elektrisch weitgehend im Originalzustand. Die 1999 eröff- umgestellt, was die Errichtung von Fahrleitungen nete, im Abstand von etwa 22 km parallel zur erforderte. Diese durch die Elektrifizierung be- Albulabahn verlaufende Vereinalinie mit dem dingten Veränderungen sind betriebstechnisch Vereinatunnel, wurde als Ergänzung der Albula- notwendige Massnahmen zur längerfristigen Er- bahn errichtet und ist als Autoverlad konzipiert. haltung des Bahnbetriebes. Bei der Semmeringund der Gotthardbahn wurden darüber hinaus Internationale Einordnung der Albula/ aber noch weitere Eingriffe getätigt: Am Sem- Bernina-Strecke mering hat man bei einigen Bahnviadukten die Die Albula/Bernina-Linie ist die jüngste der ursprünglich auf Sicht gemauerten Ziegelgewöl- grossen Alpenbahnen und wurde als Schmal- be verputzt sowie die ursprünglichen Naturstein- spurbahn angelegt. Während die Semmeringbahn Brüstungen durch einfache Geländer ersetzt. den eigentlichen Beginn des Gebirgsbahn- Gegegenwärtig finden erneut betriebstechnisch baus markiert, repräsentiert die Albula/Berni- bedingte, die Gestalt der Viadukte verändernde na-Strecke dessen Glanzzeit. Nach dem Ersten Anpassungsarbeiten statt. Am Gotthard wurden Weltkrieg kamen zwei Generationen lang keine alle um 1880 errichteten stählernen Fachwerkträ- alpenquerenden Bahnen mehr zur Ausführung. ger-Brücken durch Betonkonstruktionen ersetzt. Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts werden Bei beiden Bahnen sind Basistunnel in Planung wieder neue Alpenbahnen geplant oder gebaut; (Semmering) oder schon im Bau (Gotthard). Der diese bestehen aber allesamt aus langen Basis- Erhalt des Betriebes über die historische Bergstre- tunnels (Semmering, Gotthard, Furka, Lötsch- cke nach Eröffnung des Basistunnels ist bis heute berg, Brenner). Der Eisenbahnbau der zweiten in beiden Fällen ungeklärt. Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte im Tunnelbau Die Albula/Bernina-Strecke steht nach wie vor zu zahlreichen Neuerungen geführt: Besonders in Vollbetrieb, d.h. auf ihr wird sowohl Per- hervorzuheben sind die Spiraltunnels sowie die sonen- wie auch Güterverkehr abgewickelt. Zwi- langen Scheiteltunnels, beiden begegnet man schen Thusis und St. Moritz besteht tagsüber eine bei der Albulalinie. Aufgrund des grossen Auf- Schnellzugsverbindungen im Stundentakt – eine wands in bautechnischer wie in finanzieller Hin- Seltenheit bei europäischen Schmalspurbahnen. sicht kamen sie meist nur bei normalspurigen Zwischen St. Moritz und Tirano verkehren täglich Hauptbahnen zur Anwendung. Ihre Errich- sieben Zugspaare. Zudem ist auf der ganzen Albu- tung bedingte die Existenz mechanischer Tun- la/Bernina-Strecke ganzjährig der «Bernina-Ex- nelbohrmaschinen, wie sie in den 1860er Jahren press» in Betrieb. Die Bauwerke der Albula- und entwickelt worden waren. Die Tunnels der Sem- Berninabahn sind aussergewöhnliche Zeugnisse meringbahn etwa waren noch gänzlich händisch aus der grossen Zeit des Alpenbahnbaues: Ihre geschlagen worden. Im heutigen Eisenbahnbau steinernen Brücken galten zur Zeit des Bahnbaues kommen Spiraltunnels nicht mehr vor. als die dauerhaftesten und widerstandfähigs- Die Albula/Bernina-Strecke bildet in ihrem ten, im Gegensatz zu den unterhaltsaufwändigen Wechsel der Antriebstechnologie in hervorra- Stahlbrücken. Sie wurden durch die Verwendung gender Weise die Entwicklung in der Eisenbahn- der örtlichen Baumaterialien als der Landschaft technik ab: Während die für den Dampfbetrieb 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 462 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch gebaute Albulabahn herkömmliche Technik schen China und Vietnam erhalten bleiben. anwendet, zeugt die Berninabahn von jener Weltweit einzigartig bei der Berninabahn ist die in technischen Innovation des frühen 20. Jahr- einzelnen Streckenabschnitten getroffene Linien- hunderts, die heute bei Eisenbahnen dem Stan- führung zugunsten der Touristen. Dieser bereits dard entspricht: dem elektrischen Betrieb. Mit vor dem Bahnbau ausgedrückte Wille entstand der Berninabahn wurde die Leistungsfähigkeit unter dem Einfluss des im 19. Jahrhundert auf- der neuen Technologie demonstriert. Lang an- gekommenen Alpentourismus. Dieser wurde zu haltende, sehr starke Steigungen und geringe Beginn des 20. Jahrhundert vor allem durch den Krümmungsradien sowie eine maximale Kulmi- witterungsunabhängigen Bahnbetrieb zum Ganz- nationshöhe von über 2’200 m ü.M. kennzeichnen jahrestourismus weiterentwickelt. die Strecke. Bis heute ist die Albula/Bernina-Li- Weltweit einzigartig ist auch die begeisterte An- nie die höchstgelegene, die Alpen im Ganzjahres- erkennung der Albula/Bernina-Strecke, die von betrieb querende Eisenbahn. Auf eindrückliche Beginn an als vorbildlich in die Kulturlandschaft Weise wird bei der Berninabahn deutlich, wie sich eingebettet begrüsst wurde. Andere Eisenbahnen die Anwendung von technischen Innovationen und deren Bauwerke wurden meist erst später auch auf die Streckenführung auswirkte: Die Nei- (Semmering, Denver & Rio Grande Railroad) als gung bei der Berninabahn ist doppelt so gross wie mit der umgebenden Landschaft harmonisierend bei der Albulabahn. Bei der Nilgiri-Bahn war es wahrgenommen, im Falle der Eisenbrücken der die Anwendung des Zahnradbetriebes in Kom- Gotthardbahn wurde gar von einer Rücksichts- bination mit dem System des Dampfbetriebes, losigkeit der Technik gegenüber der Landschaft die zur Überwindung steiler Strecken eingesetzt gesprochen. Bei einigen Vergleichsbeispielen wurde. Die Berninabahn betont die Vorreiterrolle wurde erst durch die Wandlung zu reinen Tou- Europas bei technischen Innovationen im Eisen- rismusbahnen der umgebenden Landschaft mehr bahnbau; nur eine einzige Vergleichsbahn wurde Bedeutung beigemessen (Denver & Rio Grande von Beginn an elektrisch betrieben – der in den Railroad; Guayaquil & Quito Railway). Heute Pyrenäen liegende Train Jaune. steht bei fast allen Vergleichsbahnen die Wahr- Die vergleichende Analyse muss leider erkennen, nehmung der Eisenbahn in der Gebirgslandschaft dass sich viele der Vergleichsbahnen in schlech- im Vordergrund. Einzigartige Ensembles von tem baulichen Zustand befinden, und dass deren Bahn, Landschaft und Baudenkmälern prägen Zukunft sehr ungewiss ist. Regelmässiger Perso- spezifische Idealbilder der jeweiligen Strecke, nenverkehr erfolgt auf den verglichenen Schmal- auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Ein- spurbahnen oft nur noch abschnittsweise oder zigartig ist die Albula/Bernina-Linie vor allem saisonal als Museumsbahnbetrieb und der Güter- wegen der weitgehend im Originalzustand erhal- transport ist in der Regel vollständig eingestellt. tenen Bauwerke sowie wegen der Einbettung in Die einzigen beiden Ausnahmen hinsichtlich eine längst vor dem Bahnbau gepflegte Kultur- eines regelmässigen Personen- und Güterver- landschaft. Aussergewöhnlich ist die Überwin- kehrs, sind die verglichenen (normalspurigen) dung des Gebirgskammes in seiner gesamten Haupteisenbahnen über den Semmering und den Ausdehnung durch die Eisenbahn, welche dabei Gotthard. Die Yunnan-Bahn soll gemäss jüngeren eine Verbindung verschiedener Kulturräume und Pressemeldungen für den gesamten Verkehr zwi- der verschiedenen Kulturlandschaften bildet. 3. Begründung der Eintragung > 3.c Vergleichende Analysen > 3.c.4 Gesamtschau des Vergeichs 463 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Albulastrecke > Bernina Express bei Bergün/Bravuogn, im Hintergrund links der Weiler Latsch. P. Donatsch 3. Begründung der Eintragung > 3.d Authentizität und Integrität 464 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit Sowohl die Albula / Bernina-Bahn wie auch die von ihr durchfahrene Kulturlandschaft sind au- thentisch. Innerhalb des definierten Perimeters der Stätte sind alle den aussergewöhnlichen und universellen Wert des Objekts begründende Charakteristika abgebildet. Die Bahn ist bezüglich ihrer Streckenführung sowie der Hoch- und Kunstbauten fast gesamthaft original erhalten und funktioniert nach wie vor als Vollbahn. Wie jede lebendige Kulturlandschaft wandelt sich auch die Landschaft Albula / Bernina. Anhand der Betrachtung verschiedener Attribute (Materialität und Substanz, Konzeption und Struktur, Nutzung und Funktion, Sprache und anderes Immaterielles, Gesamtcharakter) wird deutlich, dass ihr Wandel der kontinuierlichen und massstäblichen Entwicklung ihrer ursprünglich wirksamen kulturellen und natürlichen Werte entspricht. Bei Baudenkmälern betrifft die Frage nach de- menschlicher Aktivität – entwickelt haben. We- ren Authentizität vornehmlich die «Originali- sentliche Aussagen zur Authentizität lassen tät» bezogen auf die ursprüngliche materielle sich in diesem Fall auch über eine Betrachtung Substanz. Bei einer Bahn handelt es sich um der Entwicklung typischer, identitätsstiftender ein technisches System; hier wird die Authen- Eigenheiten und Besonderheiten machen. Zu tizität in erster Linie über das Mass an funkti- beachten ist des Weiteren der Wandel von imma- onaler Integrität definiert. Um seine Funktion teriellen Werten wie der Sprache und kultureller erfüllen zu können, muss sich dieses Denkmal Traditionen, sowie – bezüglich des gesamtheit- laufend neuen Erfordernissen stellen, stetige lichen Landschaftscharakters – auch der subjek- bauliche Anpassungen sind daher unabdingbar. tiv fassbare, grossmasstäbliche «Eindruck». Die Bahn kann als «lebendiges Denkmal» apostrophiert werden, genauso wie eine Kulturland- Sind die Faktoren ursprünglicher kultureller schaft; auch sie untersteht einem steten Wandel, Werte sowie der typischen Eigenheiten oder his- wenn sie als solche lebensfähig sein will. Die torischen Besonderheiten auch heute noch in der lebendige Kulturlandschaft reagiert auf die sich Landschaft wahrnehmbar und prägend, ist eine stets ändernden Bedürfnisse von Gesellschaft hohe Kontinuität der Kulturlandschaftsentwick- und Wirtschaft und den technischen Fortschritt, lung gegeben und die Kulturlandschaft kann als ebenso haben natürliche Prozesse Einfluss auf authentisch gelten. Ohne eine nachhaltige Ent- ihre Gestalt. Die Authentizität einer Kulturland- wicklung dieser Elemente wäre eine Kulturland- schaft hängt ab von der Art und Weise, wie sich schaft zwar als museal erhalten, nicht aber als deren Attribute – die erhaltene materielle Subs- gegenwärtig authentisch zu bezeichnen. tanz und die Konzeption der Siedlungsstruktur oder die Nutzung und Funktion des Raums Die Albula/Bernina-Linie der Rhätischen Bahn und die damit verbundenen baulichen Zeugen besteht heute seit mehr als hundert Jahren. Nach 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 465 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Solisviadukt > Classic Alpine Pullman Express. Die Rhätische Bahn verfügt über einen grossen Bestand an historischem Rollmaterial. P. Donatsch / Rhätische Bahn Landwasserviadukt > Eine bis ins kleinste Detail authentische historische Zugskomposition auf dem über 100 Jahre alten Landwasserviadukt. P. Donatsch / Rhätische Bahn 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 466 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch wie vor erfüllt sie als Vollbahn ihre Aufgaben im original bewahrt. Weil sie durch Änderungen Personen- und Güterverkehr. Die Streckenfüh- im Bahnbetrieb nach und nach ihre angestamm- rung hat sich seit dem Bahnbau kaum verändert. te Funktion verlieren, werden diese wichtigen Die Erschliessung des Hochtales Engadin und Bauzeugen neuen, verträglichen Nutzungen die Weiterführung der Strecke bis nach Italien zugeführt. sind auch heute noch bis hin zu technischen Ein- Im Bestand des Rollmaterials ist eine bedeutende zelheiten original erhalten. Lediglich im Bereich Anzahl historischer Bahnwagen und Lokomoti- der Berninastrecke wurden kurze Abschnitte ven vorhanden. Dank der Arbeit von Spezialisten aufgrund des eingeführten Winterbetriebs und und besonderen Trägervereinen sowie der Unter- den damit verbundenen Naturgefahren schon stützung der Bahn, der öffentlichen Hand (Denk- bald nach der Bauzeit verlegt: Die Linienführung malpflege Graubünden) und privater Sponsoren dieses Abschnitts war von Beginn weg als verän- ist es möglich, dass heute auf der Albula/Bernina- derbar angelegt worden, die Möglichkeit der ge- Strecke immer noch Bahnfahrten in historischen wissermassen «empirischen Nachbesserung» bei Zugskompositionen stattfinden, deren Lokomo- der Planung bereits impliziert (vgl. Kap. 2.b.6). tiven und Bahnwagen bis ins kleinste Detail au- Die Kunstbauten – Bahntrassees, Brücken und thentisch konserviert und restauriert worden sind. Tunnels auf der gesamten Strecke – sind in hohem Masse in ihrer ursprünglichen Gestalt und im ur- Der Schutz von Landschaft und Natur sowie der sprünglichen Material aus der Bauzeit überliefert respektvolle Umgang mit dem Bestehenden wur- (vgl. Kap. 2.a.4). den schon während des Bahnbaus selbst disku- Auch die Hochbauten der Bahn sind weitgehend tiert und dann bald gesetzlich vorgeschrieben. original erhalten (vgl. Kap. 2.a.5). Die kleinen Die seither stattfindende Entwicklung der Land- Aufnahmegebäude der Bahnstationen an der Al- schaft wird deshalb heute in der Regel als mass- bula- und Berninastrecke sind meistens noch in stäblich und verträglich wahrgenommen. Freilich ihrer ursprünglichen materiellen Substanz und begann der Wandel der Landschaft bereits lange Form vorhanden. Bisweilen sind sie der fortschrei- vor der Erschliessung mit der Bahn, im Prinzip tenden Automation wegen allerdings nicht mehr mit dem Beginn menschlicher Besiedlung. Durch dauernd bedient. Auch die grösseren Bahnhöfe die archäologischen Funde lässt sich der Beginn sind in der Regel – wie zum Beispiel der Bahnhof der Kulturlandschaft in diesem Sinne nachwei- in Bever – in ihrer originalen Form überliefert. sen (vgl. Kap. 2.b.1). Die überlieferten Sakral- und Das markante Aufnahmegebäude von St. Moritz Profanbauten entlang der Albula/Bernina-Strecke wurde zwischen 1902 und 2002 mehrmals um- sind vielfach in ihrer ursprünglichen Materiali- gebaut, ist aber weiterhin eine qualitätsvolle Ge- tät und Form erhalten oder sie widerspiegeln in samtanlage und verkörpert ein besonderes Stück ihrer nachträglich modifizierten Gestalt bedeu- Eisenbahngeschichte. Die Bahnhöfe von Samedan tende historische Epochen, in denen innerhalb und Thusis sind in den letzten Jahren durch Neu- der entsprechenden Region grundlegende Verän- bauten ersetzt worden. Andere dem Bahnbetrieb derungen vor sich gingen (vgl. Kap. 2.a.6). Kon- dienenden Hochbauten – Kleinstationen, Güter- servierungen und Restaurierungen wertvoller schuppen sowie Transformatoren- und Bahn- Baudenkmäler wurden nach dem Ersten Welt- wärterhäuser – haben sich in der Regel ebenfalls krieg von der Eidgenossenschaft gefördert und 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 467 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch Landeskarte von 1938 Vergleich der Landeskarten von 1938 und 2004 des mittleren Albulatals > Der Charakter der Landschaft ist unverändert geblieben. Landeskarte (1:25’000) von 2004 swisstopo, Wabern (MB 062220) 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 468 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch überwacht. Seit l960 besteht in Graubünden ein wurde die Land- und Forstwirtschaft mechani- kantonales Amt für Denkmalpflege. Seither wur- siert und es entstanden neue Ökonomiegebäude den alle Sakralbauten entlang der Strecke unter sowie Land-, Forst- und Alpwege. Dank der da- fachkundiger denkmalpflegerischer Begleitung durch geschaffenen guten Voraussetzungen für restauriert. Auch bei den Profanbauten, die sich eine moderne Betriebsführung (neue und grössere meist in Privatbesitz befinden, wurden entspre- Ställe, Wegnetz für den Maschineneinsatz, Güter- chende Massnahmen in der Regel unter Beizug zusammenlegungen) und dank spezifischer und von Bauberatern der Denkmalpflege realisiert. auch im Sinne der Nachhaltigkeit die Entwicklung Die Siedlungen bestehen seit Jahrhunderten, die steuernde Beiträge der öffentlichen Hand wird die historischen Kerne sind, was ihre Struktur und Landschaft nach wie vor bewirtschaftet und ge- Substanz betrifft, weitestgehend gut erhalten pflegt (vgl. Kap. 4.a.2). (vgl. Kap. 2.b.4); sie wurden nach und nach um neue Quartiere ergänzt. Diese Siedlungserwei- Mit der Bahnerschliessung der Kulturlandschaft terungen sind als Zeichen eines wirtschaftlichen Albula/Bernina entstanden landschaftsprägende Aufschwungs – dies betrifft insbesondere die Eigenheiten und besondere Merkmale, die als Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Merkmal menschliche Interaktion mit der Natur im Raum jeder lebendigen Kulturlandschaft. Heute exis- ablesbar wurden. Bestimmte, bei der Linienfüh- tieren ältere und neuere Siedlungsgebiete neben- rung vorrangig behandelte Faktoren wie etwa die einander und sind als solche klar voneinander Einhaltung eines ausgeglichen Längenprofils bei unterscheidbar. Die Dörfer und Weiler sind seit der Albulabahn führten dazu, dass die Bahn nicht jeher Wohn- und Arbeitsort von teilweise densel- immer direkt an die bestehenden Dörfer entlang ben Familien. Der moderne Strassenbau mit Um- der Strecke angebunden werden konnte. Mit dem fahrungsstrassen (z. B. Samedan und Celerina) Bahnbau erfuhren daher einige alte Siedlungen entwickelt die zahlreichen Verkehrsverbindungen eine erste besondere Erweiterung: Im Falle von fort, die schon seit langem das Gebiet durchque- Filisur, Bergün/Bravuogn, Samedan, Pontresi- ren. An ihnen wurde den aktuellen Bedürfnissen na und Poschiavo wurden von Bäumen gesäumte und Verkehrsmitteln entsprechend weitergebaut Strassenzüge, eigentliche Alleen, zwischen Bahn- (vgl. Kap. 2.b.3). Galerien, Tunnel und Verbau- hof und Dorf angelegt. Die alten Siedlungskerne ungen sowie auch Fluss- und Bachverbauungen blieben dadurch in ihrer Struktur und Qualität wurden als Schutz vor Naturgefahren errich- erhalten und bilden als Zeugen intakter Dorf- tet. Solche Gefahren wurden bereits zur Zeit des strukturen «Schmuckstücke» mit einer hohen Bahnbaus erkannt und baulich eingeschränkt. Baukultur; neben den genannten Beispielen seien Durch die Ausdehnung des Siedlungsraums und diesbezüglich auch Bever und Brusio speziell her- durch das sich ändernde Gefahrenpotential wur- vorgehoben. Die Stromgewinnung mit den Kraft- den bisweilen zusätzliche Schutzmassnahmen werkzentralen, Speicherseen, Ausgleichsbecken, notwendig. Sie beeinträchtigen die Authentizität Hochspannungsleitungen und Wohnsiedlungen der Landschaft kaum. Die land- und forstwirt- für die Angestellten der Stromgesellschaften (z. schaftliche Nutzung dominiert ausser im Raum B. in Preda bei Tiefencastel oder in Filisur) ist Thusis und im Oberengadin die Kulturlandschaft die direkte Weiterentwicklung der eigentlichen Albula/Bernina. Seit dem Zweiten Weltkrieg conditio sine qua non des Bahnbaus, zumindest 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 469 Kandidatur UNESCO-Welterbe | Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina | www.rhb-unesco.ch im Falle der Berninabahn. Die zur Wasserkraft- auch kulinarische Besonderheiten, etwa spezielle nutzung benötigten Bauten und Anlagen sind Brotformen im Puschlav oder typische Gerichte seit dem beginnenden 20. Jahrhundert prägender des Engadins (vgl. Kap. 2.b.2). Faktor im Albula/Bernina-Gebiet und damit authentischer Bestandteil der Landschaft (vgl. Kap. Der grossmassstäbliche Eindruck der Land- 2.b.7). Die touristische Entwicklung äussert sich schaft, ihr Charakter, ist unverändert: Im fernen im Bau von Infrastrukturen (z. B. Seilbahnen, Sichtbereich der Bahn hat sich die Erscheinung Hotels und Ferienhäuser) – letztlich lässt sich der Natur- und Kulturlandschaft seit dem Bahn- der Bahnbau selbst als eine frühe grosse touristi- bau kaum verändert. Punktuelle Ausnahmen be- sche Infrastruktur qualifizieren. Seither wird die treffen Masten mit Leitungen, Seilbahnanlagen Landschaft touristisch genutzt, der Wandel in den oder Steinschlag- und Lawinenverbauungen. Sie Freizeitbedürfnissen der Besucher hat sich in der schmälern die Authentizität der Kulturlandschaft Kulturlandschaft seit den frühesten touristischen und der sich abwechselnden Landschaftskulisse Erscheinungen bis heute lückenlos abgebildet: Die nicht. Insbesondere das anderswo häufig zu be- grossen Hotelpaläste aus dem ausgehenden 19. obachtende, grossmassstäbliche Phänomen der Jahrhundert wurden von Ferienhäusern mit ein- «Supermarktperipherie» (Periurbanisierung) mit zelnen Wohnungen abgelöst, neue Bergerschlies- seinen negativen Einflüssen auf die Gestalt der sungen sind hinzugekommen, insbesondere in Landschaft ist im Gebiet Albula/Bernina nicht zu den 1950er bis 1960er Jahren. Der Tourismus ist beobachten. authentischer Teil dieser Landschaft geworden. Die Integrität der Stätte ist gewährleistet: Die Die Kulturlandschaft Albula/Bernina war und ist Bahnlinie der Albula/Bernina-Strecke bildet das durch eine grosse kulturelle Diversität auf engem Rückgrat der Landschaft, der vorgeschlagene Pe- Raum gekennzeichnet. Verschiedene Traditionen rimeter umfasst die Strecke von ihrem Anfangs- und Bräuche prägen die Identität der Talschaften. punkt in Thusis bis zu ihrem Endpunkt in Tirano Am augenfälligsten ist sicher die sprachliche Viel- in Italien. Die eigentliche Kernzone umfasst dar- falt: Deutsch, Romanisch und Italienisch werden über hinaus den relevanten Kulturlandschafts- in unterschiedlichen Varianten gesprochen. Durch bereich in Bezug auf die Bahnlinie: Sämtliche die wachsende Mobilität und die dadurch ver- Werte der Kriterien gemäss Kapitel 2 sind in ihm stärkt wirksamen Einflüsse von aussen, was teil- abgebildet. Die Horizontlinie bildet die visuell weise auch auf den Bahnbau zurückzuführen ist, wahrnehmbare Grenze jeder Landschaft. Sie be- hat sich das Sprachgefüge zwar leicht verändert. stimmt hier die Grenze der Pufferzone der Kul- Die unterschiedlichen Sprachen sind aber nach turlandschaft Albula/Bernina. Um bezüglich der wie vor lebendig und werden stark gefördert (vgl. Stätte sinnvolle Schutzbestimmungen in der Puf- Kap. 2.b.8). Zahlreiche regionale Bräuche wer- ferzone definieren zu können, wurde diese in ei- den seit jeher gepflegt und sind ein Zeichen für die nen Nahbereich und in den ferneren Sichtbereich kulturelle Identität der Bewohner. Die breite Be- aufgeteilt. Damit sind alle wertbestimmenden teiligung am religiösen Brauchtum hat sich zwar Charakteristika der Rhätischen Bahn in ihrer abgeschwächt, die konfessionell unterschiedlichen Kulturlandschaft Albula/Bernina umfassend im Feiertage haben sich jedoch gehalten. Dazu zählen Perimeter der Kandidatur enthalten. 3. Begründung der Eintragung > 3.d Unversehrtheit und/oder Echtheit 470