Erfahrungen mit der Unerfahrenheit
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Erfahrungen mit der Unerfahrenheit
Gefährlich und gefährdet Fahrverhalten und Risiko junger Fahrerinnen und Fahrer Prof. Dr. Bernhard Schlag, TU Dresden, Verkehrspsychologie DVR-Presseseminar “Junge Fahrer”, Erfurt, 30.11.-1.12.2006 Prof. Bernhard Schlag Kfz-Unfälle nach Altersgruppen 0 ,3 5 V e r te ilu n g G e tö te te r , V e r u n g lü c kte r im K f z .- V e r ke h r n a c h A lte r ( 2 0 0 0 ) 0 ,3 Anteil 0 ,2 5 0 ,2 0 ,1 5 0 ,1 0 ,0 5 0 u n te r 15 15-18 18-25 25-35 35-45 45-55 55-65 A lt e r V e r u n g lü c kte G e tö te te B e v ö lke r u n g • Hochrisikogruppe: 18-24jährige • Straßenverkehrsunfälle = Todesursache Nr. 1 Prof. Bernhard Schlag über 65 Getötete bei Pkw-Unfällen pro Million Einwohner nach Ländern und Altersgruppen [Gregersen, 1999], gerahmt: Länder mit begleitetem Fahren ab 16 Jahren Prof. Bernhard Schlag Junge Fahrer • Häufig Alleinunfälle, Abkommen von der Fahrbahn, oft durch überhöhte Geschwindigkeit • 3-4faches Risiko, im Straßenverkehr zu sterben, 5faches Risiko zu verunglücken Prof. Bernhard Schlag D 2004: Von 440 126 im Straßenverkehr Verunglückten waren 90 954 18-24J. Je 100.000 Einwohner 1 351,7 (im Mittel: 533,3) Prof. Bernhard Schlag D 2004: Von 5842 im Straßenverkehr Getöteten waren 1269 18-24J. Je 100.000 Einwohner 18,9 (im Mittel: 7,1) Prof. Bernhard Schlag Fahrversuche: Unterschiede Jung/Erfahren 1. Keine Unterschiede in psychophysischer Leistungsfähigkeit 2. Unterschiede in der Fahrzeugbeherrschung besonders im ersten halben Jahr aktiven Fahrens. 3. Dabei steigt subjektive schneller als objektive Sicherheit. 4. Unterschiede zwischen jungen Fahrern, bes.: Risikoverhalten 5. Unterschiedliches Fahrverhalten ist sowohl auf lückenhafte Fähigkeiten wie auf motivationale Ursachen (bes. nach Ansteigen subjektiver Sicherheit) zurückzuführen. 6. Fragen: – Wünsche, Erwartungen, Auslebenstendenzen? – Welche sozialen und entwicklungspsychologischen Funktionen hat ein Kfz für junge Fahrer? – Wie sind Fahrmotive zu beeinflussen? Prof. Bernhard Schlag Exemplarische Kennwerte des Fahrverhaltens auf einem Landstraßenabschnitt Erfahren G as (% ) v ( k m /h ) B r e m s b e tä tig u n g Jung, risikobereit G as (% ) v ( k m /h ) B r e m s b e tä tig u n g Prof. Bernhard Schlag Junge Fahrer sind Anfänger (... unerfahren) und jung (Entwicklungslage, Motivation) Prof. Bernhard Schlag Der FahrANFÄNGER: muß lernen .... Probleme junger Fahrer in der .... - Fahrzeugbeherrschung: Beansprucht Ressourcen, Überreaktion bei Fehlern - Fehlende Automatismen - Gefahrenerkennnung: Weniger zuverlässig, langsamer - Visuelle Suche: Fahrzeughandling statt Fahrsituation - Aufmerksamkeitszuwendung: Ablenkbarer (Nebenaufgaben, Mitfahrer) - Gefahrenantizipation: Voraussehen der Situationsentwicklung - Risikowahrnehmung: Unterschätzung - Selbsteinschätzung: Überschätzung Prof. Bernhard Schlag Handlungen werden - je nach Art der Handlung und nach Expertise/ Erfahrung - auf unterschiedlichen Ebenen reguliert Wissensbasiert Verstehen Überlegen, was zu tun ist planen Regelbasiert Erkennen Sehen, was zu tun ist Regel anwenden Symbole Zeichen Gewahr werden Fertigkeitsbasiert Hinweisreize (cues) Reiz-ReaktionsKopplung (prompting) automatisch reagieren Zielgerichtetes Verhalten Sensorischer Input (Wahrgenommene Situation) Modell des Erwerbs von Fahrexpertise (nach Rasmussen, 1984; vgl. Leutner & Brünken, 2002) Prof. Bernhard Schlag Wie entsteht Automatisierung? Dreistufiger Prozeß (Anderson, 1983; Fitts, 1964): – Deklarative Phase (Kognitive Phase): »Schritt für Schritt handeln, nach „Drehbuch“; relevante Reize erkennen – klassifizieren – entsprechend handeln ---> Hoher Zeitbedarf; Ressourcen konsumierend; bewußtseinspflichtig; sequentiell – Kompilierungsphase (Assoziative Phase): »Verkettung einzelner Handlungsschritte; Ausblendung falscher Reaktionen – Prozedurale Phase (Autonome Phase): »Automatisierte Handlungsausführung ---> Niedriger Zeitbedarf; Ressourcen schonend; parallel möglich Prof. Bernhard Schlag Der junge Mensch will vorankommen (Motivation): Räumlich ... mobil sein, Sozial ... besser als andere sein, Als Person ... sich weiterentwickeln, wachsen. Passform zwischen seinen Wünschen, seiner Motivation und den Möglichkeiten, die Fahrzeuge und Straßen versprechen. Fahrzeuge werden nicht nur als Transportgefässe erlebt, gerade für junge Menschen “bedeuten” sie mehr: Soziale Vorteile, Ich-Erweiterungen, Kraft und Entfaltung, Entwicklungschancen ... Angebot und Nachfrage passen zusammen: “gesucht und gefunden”. Prof. Bernhard Schlag American Graffiti, Easy Rider, Rebel Without a Cause, Thelma and Louise: Fahren wird assoziiert mit Freiheit, Rebellion, Offenheit für neue Erfahrungen, mit persönlichem Wachstum, einem überlegenen Leben „auf der Überholspur“. Fahrzeuge markieren Status, symbolisieren Macht, sind ein Mittel der Individuation und ein Instrument der Unabhängigkeit. Ihre Beherrschung ist das sichtbarste Zeit der Initiation ins Erwachsenenleben. Prof. Bernhard Schlag Entwicklungspsychologie und Fahrsozialisation 1. Neues zu erfahren ist immer mit Risiken verbunden. Erfolg ist nie sicher ... 2. Bereits vor Erwerb der Fahrerlaubnis wird gelernt: Erwartungen, Wünsche, Modelle ... 3. Nach der Fahrerlaubnis wird weitergelernt – oft in sicherheitsabträglicher Weise. 4. Die Annäherung an Grenzen und ihre Überwindung ist eine Entwicklungsaufgabe des Jugendalters. 5. Aktivationslust (“sensation seeking”) ist im jungen Alter und speziell bei jungen Männern höher. Risikobereitschaft erhöht die Unfallwahrscheinlichkeit - aber: “alles Andere ist langweilig”. 6. Erwerb der Fahrerlaubnis als Übergangssymbol zum Erwachsenenalter (“Initiation”). 7. FE und Kraftfahren sind entwicklungspsychologisch überladen: Als Symbol persönlicher Entwicklung und des gesellschaftlichen Status´. 8. Die Beherrschung dieser Impulse und des sozialen Drucks überfordert junge Menschen: FAHREN??? FAHREN!!! FAHREN.... 9. Die Lernphasen stellen unterschiedliche Anforderungen. Verteiltes Lernen, je nach Problemlage, ist effektiver als massiertes Lernen nur zu Beginn. Prof. Bernhard Schlag Annäherungs- und Vermeidungstendenzen in Abhängigkeit von Sensationslust und Angst (nach Zuckerman, 1976) Prof. Bernhard Schlag 16 Die Situation der Fahranfänger in Deutschland 1. Auf sich allein gestellt 2. Entwicklung von Gefahrenkognition und -antizipation – nach FEErwerb ohne gezielte Unterstützung 3. Von formalen zu informellen Regeln - unter sozialem Druck 4. Volles Risiko - ohne Schonraum. 5. Intuitives Lernen nach „Versuch und Irrtum“ 6. Hoher Stellenwert des Erprobens - jugendtypisch 7. Subjektiv geringe Irrtumswahrscheinlichkeit: Selbstüberschätzung 8. Zumutbar für Neulinge in einem gefährlichen Lebensbereich? Prof. Bernhard Schlag Konsequenzen: 1. Gesellschaftliche Verantwortung für schützende Rahmenbedingungen. 2. In der gesamten Fahrsozialisation müssen die Entwicklungs- und Lernstufen passend aufgegriffen werden. 3. Entwicklung und Lernen brauchen Zeit! Entwicklungsschritte, die beim selbständigen Fahren wichtig sind - wie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, oder die Kontrolle der eigenen Emotionen, gerade wenn es Probleme gibt - brauchen Zeit! Prof. Bernhard Schlag Drei Bereiche unterschiedlicher Kompetenzen als Voraussetzung sicheren Fahrens 1. Fahrzeugbeherrschung und Reaktionsfähigkeit Voraussetzung des Fahrenlernens 2. Wahrnehmungskompetenz Gefahrenkognition und Gefahrenantizipation: Situationseinschätzung 3. Psychosoziale Kompetenz Grundlage des Sozialverhaltens im Straßenverkehr Wodurch selbst “gelenkt”? ... Von der Kontrolle des Fahrzeugs zur Selbstkontrolle ... Prof. Bernhard Schlag 19 W e lc h e W e g e w e rd e n g e n u tz t? F a h ra u s b ild u n g F ö rd e ru n g d e r a k tiv e n u n d g e z ie lte n E rfa h ru n g : N e u e s le rn e n R e s trik tio n e n u n d A u fla g e n fü r F a h ra n fä n g e r K o n tro lle d e r A n fä n g e r: S e le k tio n u n d R e h a b ilita tio n a u ffä llig e r K ra ftfa h r e r D ia g n o s tik u n d g g f. V e rä n d e ru n g v o n P ro b le m v e rh a lte n R is ik e n m e id e n Prof. Bernhard Schlag P ä d a g o g is c h e O rie n tie ru n g , v o r a lle m F a h rs c h u le n (b e v o rz u g t in d e n m e is te n e u ro p ä is c h e n L ä n d e rn ) J u ris tis c h e O rie n tie ru n g (b e v o rz u g t in d e n U .S .A ., in N e u s e e la n d u n d A u s tra lie n ) P s y c h o lo g is c h m e d iz in is c h e r S c h w e rp u n k t Erfahrung und Lernen sind Voraussetzungen für sicheres Fahren. Problem: Diese Erfahrung wird meist in der gefährlichsten Phase gewonnen - in den ersten Jahren selbständigen Fahrens: "experience paradox“. Was tun? Ist Erfahrung komprimierbar? Lösungsansätze: - Supervision in dieser Lernphase: Begleitetes Fahren, - Auflagen zur Verringerung des Risikos, bes. 0 Promille, - Graduierungssysteme. Prof. Bernhard Schlag Ziele von begleitetem Fahren und Auflagen: Lernen bei verringertem Risiko, gleichzeitige Unterstützung und Kontrolle • 1 : 1 Lernsituation, • Unmittelbare Einwirkung (kontingent), • eingeschränkte Fahrzeugnutzung; auch: Desattraktivierung des Autofahrens? • verlängertes und verteiltes Lernen, • psychische Entlastung durch klare Regeln, • verstärkte Motivation, nicht aufzufallen. Prof. Bernhard Schlag 22 „Auflagenbasierte“ Fahrsozialisation : Verbreitete Restriktionen und Auflagen u.a. in den U.S.A. (die nicht erst nach Auffälligkeit = spezialpräventiv greifen): - - - Supervision / Begleitung durch Erwachsene mit größerer Fahrerfahrung, im weiteren besonders auch während riskanter Fahrzeiten (nachts); Tw. mit Kennzeichnung von Anfängerfahrzeugen („L“); Null-Promille-Regel (Bsp: Österreich u.a.) - soweit nicht ohnehin Alkoholverbot; Nachtfahrbeschränkungen (night-curfews, unterschiedlich zwischen 1 - 4 Uhr in Massachussets bis 21 - 5 Uhr in New York); Restriktionen bei der Mitnahme von Passagieren; schnellere Intervention bei Auffälligkeit; Nachweis einer "clean record" als Voraussetzung für den regulären Führerschein; spezifische Gestaltung des vorläufigen Führerscheins; in Deutschland: Geschwindigkeitsbegrenzung. Prof. Bernhard Schlag Junge Fahranfänger – 0 Promille? Unerfahrenheit + Risikobereitschaft + alkoholbedingte Enthemmung Prof. Bernhard Schlag Lern- und entwicklungsbezogen: Graduierungssysteme die Zukunft auch in Deutschland? Stufe Learner's Permit Zugangsvoraussetzungen - schriftliche und mündliche Tests - Tests der Seh- und Hörfähigkeit Auflagen - Supervision* - kein Alkohol Restricted License - 6 Monate Fahrerfahrung mit dem Learner's Permit (3 Monate, wenn ein anerkannter Fahrkurs erfolgreich absolviert wurde) - Praxistest - kein Alkohol - keine Passagiere (außer bei Supervision) - Nachtfahrverbot zwischen 22 Uhr und 5 Uhr (außer bei Supervision) Full License - 18 Monate Fahrerfahrung mit der Restricted License (9 Monate, wenn ein anerkannter Kurs bestanden wurde) - die Periode der Restricted License wird bei unsicherem Fahrverhalten (Auffälligkeiten, Unfälle) ausgedehnt * Ein Supervisor muß mindestens 20 Jahre alt sein und eine Full Driver's License seit mindestens zwei Jahren besitzen. (Bsp. Neuseeland; aktuell zu Graduated licensing: Journal of Safety Research, 2002, über unsere homepage) Prof. Bernhard Schlag 25 Prof. Bernhard Schlag 26 Was tun? – Zusammenfassung (u.a.: OECD/ECMT: Young drivers – The road to safety, 2006. • Öffentliches Bewußtsein schaffen. Trotz ihres großen Potentials sind Verkehrssicherheitsmaßnahmen oft wenig beliebt. • Allgemeine Verkehrssicherheitsmaßnahmen nutzen jungen Fahrern besonders, v.a. Geschwindigkeitsmaßnahmen. • Verfügbarkeit und Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel stärken. Umgekehrt z.B. für Alkohol und Drogen. Soziale Normen stärken. • • • • Begleitetes Fahren. Protektive Restriktionen in der ersten Phase selbständigen Fahrens. Verbesserung der Fahrausbildung: stärkerer Fokus auf Selbstreflexion. Integration in ein Graduierungssystem: Verteiltes, effektiveres Lernen. Prof. Bernhard Schlag Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Bernhard Schlag