„Boombay“, annabelle Nr. 17/2010

Transcription

„Boombay“, annabelle Nr. 17/2010
boombay
In keiner Stadt wird der
Aufbruch Indiens so intensiv
gelebt wie in Mumbai,
dem einstigen Bombay. Wo
eine moderne Mittelklasse
Risotto isst, mit iPhones spielt
und von New York träumt.
— Text: Stefanie Rigutto — Fotos: Malte Jäger
Abenddämmerung
über Mumbai:
­F lanieren am ­Marine
Drive und später
auf ­einen Mojito
in ­einen der neuen
schicken Clubs
70 annabelle 17/10
M
umbai ist wie ein weisses Blatt
Papier: Man kann darauf zeichnen, was man will. So jedenfalls
fühlt es sich für Kenneth Lobo an, einen Vertreter der jungen, modernen Generation der
Metropole. 29 Jahre alt, Typ Intellektueller, hört
Drum’n’Bass, liebt Cappuccino von Barista
(einer ziemlich mässigen Starbucks-Kopie), hat
2000 Facebook-Freunde, kennt jeden Club in
der Stadt und war – dank seines Vaters, der bei
Air India arbeitet – schon in London und New
York. Er spricht schnell, sagt dauernd «hell
yeah», tippt auf seinem Black­berry herum und
gibt sich wahnsinnig beschäftigt. Sorry, ein
wichtiges Mail, und oh, fuck, ein ­Anruf, den
müsse er kurz annehmen («Wassup, maaan?»,
nuschelt er ins Telefon). Einzig die ­biederen,
ausgeleierten Ledersandalen passen nicht zu
seinem betont coolen Auftreten.
Vor ein paar Jahren hat Kenneth Lobo mit
zwei Freunden das Bombay Elektrik Projekt
aufgezogen. Sie organisieren alternative Partys,
Comedy-Abende, Kurzfilmtage und haben das
Musikmanagement von einigen der hippsten
Clubs übernommen. Sie entscheiden, was dort
gespielt wird, «und das ist garantiert kein Bollywoodsound». Sondern? «Elektronische Musik,
made by Indians!», sagt Kenneth Lobo. Der Zeitgeist der Stadt. Noch vor zehn Jahren hätte er mit
seinen Ideen keine Chance gehabt. Doch heute,
in Zeiten von Youtube, Twitter und günstigen
Reisen, haben sich den Mumbaikars – wie sich
die Einheimischen selbst nennen – neue Horizonte geöffnet. Kenneth Lobo kann auf Feldern
experimentieren, die noch völlig unbeackert sind,
und ausprobieren, was dort am besten gedeiht.
Mumbai ist vieles: Moloch mit geschätzten
22 Millionen Einwohnern, Hafenstadt am Arabischen Meer, Heimat schnulziger Bollywoodfilme. Doch Mumbai ist vor allem eines: die
grösste Hoffnung Indiens. Man nennt sie auch
Mayanagri, Stadt der Träume. Wie keine andere
indische Grossstadt steht sie für den Boom, die
Moderne, den Aufbruch. Während in Delhi die
Gesetze des Landes gemacht werden, entstehen
annabelle 17/10 71
Viel Jupidu am
Juhu Beach:
Breakdance in der
Brandung
Im Zug ­scheiden
sich die ­Geschlech­ter:
Im 2.-KlasseMännerwaggon eines
­Regionalzugs
Sie kuscheln
ganz eng – das
ist für indische
verhältnisse
schon fast
zügelloser sex
Kontraste II:
Hindu-Tempel
zwischen heruntergekommenen
Altstadthäusern
Kontraste I:
Auf dem Weg nach
oben muss das alte
rote Münztelefon
reichen. Wer es
geschafft hat, darf
in der BlackberryLiga mitspielen
72 annabelle 17/10
hier die gesellschaftlichen Trends. Mumbai ist
ein Raumschiff, das vom Mittelalter in die Zukunft gestartet ist. Nun schwebt es irgendwo
zwischen Sari und Gucci, zwischen TandooriChicken und Foie gras. Dort die Ziegen, da der
Vitra-Laden, dort der stinkende Slum Dha­ravi,
Schauplatz des Kinofilms «Slumdog Millionaire», dahinter der Wolkenkratzer mit den
klimatisierten Apartments. Während die einen
mit ihrem iPad spielen, stehen die anderen vor
einem Holzverschlag Schlange, um das grosse
rote Telefon zu benützen.
Zwischen diesen Extremen hat sich eine
Mittelklasse herausgebildet mit Menschen wie
Kenneth Lobo. Er ist ein Secondo im eigenen
Land, spricht mit seinen Kollegen die ganze
Zeit englisch, fehlerfrei, aber mit starkem Akzent – nicht nur weil im Land der 122 Sprachen
die wenigsten dieselbe Muttersprache haben.
Sondern weil es die Sprache der Zukunft ist.
Er spricht sogar englisch mit seinen Eltern. Die­
se verstünden ihn kaum, sagt er, doch seien sie
«very very proud», einen so modernen Sohn
zu haben. Es gab nie eine bessere Zeit für
Mumbais Mittelklasse: Neue Wohnhäuser
sind entstanden, ein Künstlerviertel, Galerien,
Restaurants, Musikfestivals, Zeitungen, Fernsehsender, Blogs und das erste indische Sinfonieorchester. Internationale Firmen haben sich
niedergelassen, ebenso Markenshops und
Fastfood-Lokale (derzeit besonders beliebt:
Crêpes gefüllt mit Chicken Tikka Masala).
Mumbai erlebt eine Renaissance, und Ken-
neth Lobo ist mittendrin. «Mumbai ist wie
New York», sagt er, «nur dreckiger.»
Wir hatten ihm vorgeschlagen, uns am
Chowpatty Beach zu treffen, einem langen
Sandstrand mit Blick auf den Nariman Point,
das «Manhattan Mumbais» (New York, schon
wieder!). Kenneth Lobo jedoch fand, der Ort
sei «absolut uncool» und schlug stattdessen
das Szeneviertel Bandra vor, das sei the place
to be. Wir verabreden uns für Mitternacht im
«Janata», einem angesagten Lokal, es wird uns
in den nächsten Tagen noch mehrmals empfohlen. Im Taxi auf dem Weg dorthin passieren wir vier Polizeikontrollen, bei der letzten
werden wir angehalten und müssen aussteigen.
«M’am, where are you from?» – «Switzerland.»
– «Oh, Swisserland! Nice country!» – «Ah,
Sie waren schon dort?» – «No, but nice country!» – «Okay, danke. Was jetzt?» – «Jetzt
können Sie wieder ins Auto steigen», sagt der
Polizist, während ihm der Taxifahrer verstohlen ein paar Rupien in die Hand drückt.
or dem «Janata» steht eine Ansammlung rauchender junger Leute. Der Taxifahrer rauscht zweimal an ihnen
vorbei («No good place, please don’t go!»), bis
wir schliesslich aussteigen dürfen. Das Lokal
wirkt etwas versifft, auf jeden Fall unprätentiös, sicher kein Ort des Designs. «Hello,
M’am», flüstern die Kellner, «please come»,
gurren sie und schauen einem verstohlen in
den Ausschnitt. Es riecht nach fremden Gewürzen und Bier. Die Luft ist eiskalt, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren, draussen
quält die Tropenhitze. Kenneth Lobo sitzt zuhinterst im Lokal, so sehr an seine Freundin
gekuschelt, dass man es für indische Verhältnisse schon fast als zügellosen Sex bezeichnen
muss. (Zitat aus dem Reiseführer: «Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit sind tabu!») Jetzt
küsst er sie auf die Wange – in einem Land,
in dem sinnliche Tanzauftritte in Filmen bereits als Sexszenen gelten! Seine Freundin
V
3 LOOKS –
1 GEHEIMNIS
Augen zu
und durch!
Besuch beim
Strassenfrisör
Muslimischer Tourist vor dem Gateway to India, dem Wahrzeichen Mumbais
Im Zentrum:
Das legendäre
Taj Mahal
Palace Hotel (o.)
und Einschusslöcher, die an
die blutigen
Terrortage von
2008 erinnern
Ein Strassenhändler verkauft
Chai, den würzigen Tee
“Mumbai ist wie New York, nur dreckiger”
74 annabelle 17/10
terausgang führt in eine stockdunkle Gasse, in
der Bettler am Boden sitzen und auf Essensresten warten. Vor einer halben Minute war alles
noch modern, es schmeckte nach Auflehnung –
jetzt hört man die Ratten quieken, unter den
Füssen spürt man den Dreck.
ie Tür zum Herzen der Inder ist ein
Lächeln, heisst es. Die Tür zu Mumbai ist der Gateway of India aus dem Jahr 1924,
der indische Arc de Triomphe. Das Wahrzeichen
liegt im Süden der Stadt, am Hafen, dahinter ragt
das berühmte Taj Mahal Palace Hotel in die
Höhe. Wir sind in Colaba, dem Stadtzentrum,
umgeben von Horden indischer Touristen und
dem Erbe britischer Kolonialherren. Händler verkaufen farbige Riesenballone, Kinder rennen
jauchzend herum – nichts erinnert an das Blutbad vom November 2008, als hier bei Terror­
anschlägen 195 Menschen starben. Nur wer genau hinschaut, entdeckt die Einschusslöcher im
«Leopold», einer beliebten Touristenbar und
Schauplatz des Bestsellers «Shantaram». An anderen Orten wurden die Löcher farbig umrandet,
darüber schrieb man: «We condemn the attacks!»
D
Das Image der Muslime – mit zwanzig Prozent
die zweitgrösste Religionsgruppe Mumbais nach
den Hindus – ist seit den Anschlägen wieder mal
auf dem Tiefpunkt angelangt. «Ich wohne in
einem guten Viertel», meint ein Taxifahrer und
begründet: «Dort leben wenige Muslime.»
In einer Seitengasse von Colaba suchen wir
nach der Volte-Galerie. Penner schlafen am Boden, ein junger Mann bietet uns Pot an, ein ande­
rer Crack («M’am, psst, crack? No? Why not?»),
eine Bettlerin kneift uns in den Arm (autsch!).
Das Glasschild mit dem eingravierten Namen
Volte erscheint uns wie das Ticket in die Zivilisation. Wir betreten einen schönen Raum mit
weiss getünchten Wänden, Lounge-Musik, angenehmer Kühle, vorzüglichem Latte macchiato.
Von der Decke der Galerie hängen zerschnittene
Leinwände, die zusammengewoben wurden mit
Dingen, die das Chaos der Stadt hergibt: zerrissene Plastiksäcke, kaputte Tischdecken, rostige
Metalle, alte Saris. Es ist das Werk von Boshu­
dhara Mukherjee, Bo, wie sie sich nennt.
Dies ist Bos erste Ausstellung, und sie hat
alle Werke verkauft, das Stück zu stolzen 4500
NEU
Gaelle trägt Max Volume Twist Mascara und:
Glamour Look – Creative Eyes Trio 816 Lanzarote
Diva Look – Creative Eyes Pure Diamond 478 Galactic Blacks,
Eye Line & Design Pencil Pure Black.
trägt einen kurzen Jupe und ein Trägershirt.
(Reiseführer: «Vor allem Frauen sollten darauf
achten, sich nicht zu leicht zu bekleiden.») Die
Freundin ist 23 Jahre alt und Möbeldesignerin.
Sie arbeite viel, sagt sie, oft bis Mitternacht.
«Man kann es sich nicht leisten, faul zu sein,
denn draussen wartet eine Schlange von Leuten, die ebenso gut qualifiziert sind.» Mumbai
habe sich rasant verändert, findet sie. «Vor allem
die Menschen», ergänzt Kenneth Lobo. Alle besässen mehr Geld. Bis vor kurzem sei es für viele
in seinem Alter nicht erschwinglich gewesen, einen Mojito in einem schicken Club zu trinken.
Das junge Paar lebt zusammen, doch das
wissen die Eltern natürlich nicht. Sie grinsen
sich an, verschwörerisch. Und heiraten sei –
entgegen dem elterlichen Wunsch – «gar kein
Thema». Seine Freundin sei noch so jung, erklärt Kenneth Lobo, «sie soll zuerst die Welt
entdecken». Diese nickt und erhebt sich, die
Kellner werfen uns raus, Punkt 1 Uhr 30. Wir
müssen durch die Küche, wo Currys über dem
offenen Feuer köcheln und Männer in schmutzigen Lumpen die Töpfe schrubben. Der Hin-
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Rechts: Die erste
Ausstellung von
Boshu­dhara
Mukherjee,
Künstlername
Bo, war ein
Riesenerfolg.
Unten: Seit
Arjun Ahuna in
Texas studiert
hat, trägt er eine
coole Mütze
über dem Turban
“Hier kann man
die schrägsten
Ideen ver­
wirklichen. Es
gibt immer
jemanden, der
dich gut findet”
W
die gerade hereingeschlüpft kommt. (Sie wird
später ein Gedicht aus ihrer College-Zeit vortragen, von dem sie allerdings nur noch die erste
Strophe weiss.) «Poetry is not dead in Bombay,
yeah», johlt der Moderator immer wieder. Mittlerweile sind zwanzig Dichter aufgetreten, der
letzte, ein junger Mann mit beachtlichem Bauch,
liest von seinem Handy ab («My first cell phone
poem!»). Plötzlich klingelt es: «Oh, eine Nachricht von meiner Mutter», sagt er. Gelächter. Es
hat Platz für jeden, und jeder will dabei sein, denn
Poetry-Slam, das ist etwas Neues, Besonderes,
etwas, an dem der Geruch des – na was wohl? –
hippen New York haftet.
ew York? Ja klar, sei er schon dort gewesen, was für eine Frage. Der junge
Mann fiel uns auf dem Flug von Zürich nach
Mumbai auf. Heineken-Shirt, gefälschte LouisVuitton-Jeans, Eagles-Kappe, schwarzer Vollbart. Er schaute sich «Avatar» an und tippte auf
seinem iPhone mit dem Ed-Hardy-Cover herum.
Nach der Landung begegneten wir ihm beim Taxistand wieder. Wir erzählten von unserer Reportage. «Sicher macht er mit», antwortete sein
Onkel, ein stattlicher Sikh, für ihn. «Er ist der
Prototyp des modernen Mumbai», freute sich der
Onkel weiter. Arjun Ahuna, so heisst der junge
Mann, lächelte verlegen, fühlte sich aber zu geschmeichelt, um zu widersprechen. Er ist 22 Jah­
re alt, hat einen amerikanischen Akzent, vier Jahre studierte er in Dallas, Texas. Dort hat er sich
angewöhnt, eine Mütze über dem Turban – dem
Merkmal der Sikhs – zu tragen. «Mit meinem
Bart hielt mich eh jeder für den Cousin von Osama bin Laden, da hätte mir der Turban nur noch
mehr Probleme bereitet.» Geholfen hat es nichts,
sein Spitzname in den USA war «Terrorist». Seine Familie besitzt in Mumbai eine Stickerei und
Weberei. Er besuchte die Schweiz, um mit einer
neuen Maschine vertraut zu werden – schliesslich soll er einst das Geschäft übernehmen.
Arjun Ahuna schlug als Treffpunkt das Marriott Hotel am Juhu Beach vor. Der Strand im
Norden der Stadt ist am Sonntag eine einzige
Chilbi. Buben und junge Männer stürzen sich
kreischend in die Fluten, die Frauen stehen bekleidet am Strand, Bikinis sind nirgends zu sehen (womit sich die im Reiseführer beschriebene
Prüderie doch noch bewahrheitet). Jeder will ein
Geschäft machen, einer führt seine dressierten
Affen vor, ein anderer bietet Flöten feil («Look,
nice saxophone!»). Eine Numerologin sucht nach
Kunden: «Wie ist Ihr Geburtsdatum?», fragt sie.
«27. November 1979.» Sie konsultiert eine Liste
und meint dann: «Sie sollten nicht heiraten!» –
«Warum nicht?» – «Sie werden noch viele Män-
N
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Brachte den
Poetry-Slam in
die Stadt:
Kenneth Lobo
(l.), mit seinem
Geschäftspartner
US-Dollar. «Bombay ist der Ort, wo man jetzt als
Künstler sein muss», findet ihr Galerist. Anders
als in New York (nicht schon wieder!), wo jeder
Kellner sagt «You know, I’m an artist», fällt man
hier als moderne Künstlerin auf. Bo ist Anfang
zwanzig und eine XXS-Person, so klein und fein,
dass man sich neben ihr wie ein Elefant vorkommt. Sie hat diese dicken, schwarzen Haare
und macht mit ihrem Lachen jeder Miss Universe
Konkurrenz. Bo ist Hindu, ging jedoch in eine
katholische Schule und isst – obwohl unüblich
im Land der heiligen Kühe – am liebsten Rindfleisch. Anything goes, das gilt für Bo wie für ihre
Stadt. Die Gelegenheit zur Ausstellung bekam
sie, weil sie mit einem ihrer Objekte in die Galerie spaziert ist. Sie hatte Glück – «nein», korrigiert sie sich gleich selbst. «Das ist nicht Glück.
Das ist Mumbai. Hier kann man die schrägsten
Ideen verwirklichen. Unter all den Millionen findest du immer jemanden, der dich gut findet.»
Anfang des 16. Jahrhunderts entdeckten portugiesische Seefahrer Bom Bahia, die gute Bucht.
Schnell wurde aus dem Fischerdorf ein Handelshafen, den sich die Briten im 17. Jahrhundert
unter den Nagel rissen und fortan Bom Bay nannten. 1947 erkämpfte sich Indien die Unabhängigkeit, doch erst 1995 beschloss man, um sich von
den Kolonialmächten zu distanzieren, die Stadt
in Mumbai umzutaufen. Was auf Regierungs­
ebene ein Politikum war, ist für die jungen Mumbaikars eine Nebensache. Bombay, Mumbai –
who cares! Wen interessiert die Vergangenheit,
wenn die Zukunft so verheissungsvoll ist? In ihren Augen sollte sich die Regierung lieber um die
Wohnsituation kümmern. Die Hälfte der Stadtbevölkerung lebt immer noch in Slums. Auf
einem Quadratkilometer wohnen in Mumbai fast
32 000 Menschen, beinahe doppelt so viele wie
in Delhi. Und achtmal mehr als in Zürich.
ir treffen Kenneth Lobo erneut, an
einem Poetry-Slam, den er organisiert. Er habe einst einen Slam in New York erlebt – wie oft wird er die Stadt noch erwähnen?
– und sei so begeistert gewesen, dass er die Idee
nach Mumbai bringen wollte. Nur: Hier wusste
niemand, was ein Poetry-Slam ist. «Zuerst haben
wir den Leuten DVDs von Events in Brooklyn
gezeigt», sagt er. Damit sie eine Vorstellung bekamen, was von ihnen erwartet wird. Gebracht
hat es nicht viel, das zeigt sich schon beim ersten
Teilnehmer. Dieser – Typ Banker, Mitte dreissig – liest sehr würdevoll ein Gedicht von einem
Notizblock ab, erhält viel Applaus und einen
Gratis-Shot. Etwa fünfzig Leute sind gekommen,
davon hätten sich zehn Dichter angemeldet, sagt
der Moderator. «Elf», ruft eine ältere Frau im Sari,
NEW EBEL CLASSIC SPORT
76 annabelle 17/10
lieber ein lasches Sandwich als ein gutes Curry
ner haben.» – «Oha! Auch Inder?» – «Nur das
nicht», antwortet sie und verwirft die Hände.
Wer ins «Marriott» will, muss einen Sicherheitscheck wie am Flughafen über sich ergehen
lassen. Seit den Terroranschlägen vom November 2008 sind die Sicherheitsvorkehrungen der
Luxushotels gross. Arjun Ahuna erscheint im
Sakko und ist gut gelaunt («Tell me I’m looking
good!»). Er führt uns in die korrupte Etikette der
Stadt ein, zückt einen Stapel glänzender Memberkarten, die Statussymbole des jungen Mumbaikars, fischt diejenige des «Marriott» heraus
und spaziert zum Pool. Die Karte ist abgelaufen,
aber das sei kein Problem. «Man faltet ein paar
Scheine zusammen, legt sie sich in die rechte
Hand und überreicht sie dem Türsteher beim
Händeschütteln.» Ohne solche Tricks sei das
Leben in Mumbai «ziemlich anstrengend».
m heute Abend in den Club Enigma
im «Marriott» zu gelangen, wird er die
Masche aber nicht brauchen – seine Eltern feiern die Welcome-back-from-Switzerland-Party
für ihren Sohn. Ein überdimensionaler Kronleuchter hängt über der Bar, auf den Sofas liegen
U
die glitzernden Clutches der weiblichen Gäste,
alle in Abendkleid und spitzen Highheels. Arjun Ahuna flirtet mit der Miss India 2004, die
seine Firma als Model verpflichtet hat. Seine
Freunde tragen zerrissene Jeans, weisse, bis zu
den Brusthaaren aufgeknöpfte Hemden und benehmen sich wie Bollywoodstar Shahrukh
Khan, wenn er auf der Leinwand vom Motorrad
steigt, seine Sonnenbrille abnimmt (Slow Mo­
tion!) und zu einer indischen Schönheit sagt:
«Hey babe.» Es sind also moderne Inder hier im
«Enigma». Aber was heisst modern? Die Frauen feiern unter sich, in einem Kreis. Kurze
Haare? Trägt keine. Und wenn statt BanghraRhythmen mal ein paar Takte der Black Eyed
Peas gespielt werden, stehen sie ratlos herum –
wie bewegt man sich zu dieser (neuen) Musik?
Mumbai ist die Raupe, die sich verpuppt hat,
aber noch nicht als Schmetterling geschlüpft ist.
Akash Kapur, der Indien-Kolumnist der «International Herald Tribune», spricht von einer
«oberflächlichen Modernisierung». Sie drücke
sich aus in einem modernen Lifestyle und einem
materialistischen Konsumverhalten, nicht je-
doch in Werten wie Toleranz, Gleichberechtigung oder Demokratie. Zweifelsohne, resümiert
Akash Kapur, sei Indien offener, optimistischer,
selbstbewusster und ehrgeiziger geworden. Ein
Geisteszustand allerdings sei die Modernität in
Indien noch nicht. Doch die Sehnsucht nach
Veränderungen spürt man an jeder Ecke. Anders
lässt es sich nicht erklären, dass so viele junge
Mumbaikars voller Inbrunst behaupten, sie
wüssten nicht, welcher Kaste sie zugehören würden. Denn Kaste, das passt ihrer Meinung nach
nicht ins 21. Jahrhundert. Dennoch werden in
Indien jedes Jahr, so die jüngste Statistik, etwa
tausend Ehrenmorde begangen, weil Verliebte
verschiedener Kasten Heiratspläne schmieden.
Die Mumbaikars wollen modern sein. Deshalb sprechen sie sogar englisch mit ihren Eltern.
Deshalb ist ihnen ein lasches Sandwich lieber als
das gute Curry. Der Wille zählt. Wie etwa der
Wille zu Pasta mit Auberginen in diesem hippen
Restaurant in Bandra. Das Design ist internatio­
naler Standard, House tröpfelt aus dem Lautspre­
cher. Die Karte ist fast so dick wie «Shantaram»,
der tausend Seiten schwere Roman, und führt
von Thai bis Spaghetti jede Nation auf. Und
eben auch: Pasta mit Auberginen. «Oh, die würde ich Ihnen nicht empfehlen», sagt der Kellner.
«Warum nicht?» – «Sie werden enttäuscht sein»,
meint er. «Aha, wieso denn?» – «Yes», gibt er zur
Antwort. «Was, yes?» Zerknirschtes Gesicht:
«Wir haben keine Auberginen.»
Das ist Mumbai. Die Stadt, wo man von Pas­
ta mit Auberginen träumt. Und am Schluss doch
ein Daal-Curry mit Naan verzehrt. Mayanagri,
Stadt der Träume.
Ein Blick hinter die Kulissen von …
Mumbai: Mit dem Vorortszug fährt
man zum Einkauf auf einen Markt,
besucht den Wäscheplatz, isst in einem
Quartierrestaurant und geniesst in
der trendigen Cha Bar einen hauseigenen Tee-Cocktail.
Delhi: Zusammen mit einem Reise­
führer und einer jungen Person aus
dem «Hope Project», das sich um
Strassenkinder des NizamuddinQuartiers kümmert, macht man eine
Walkingtour durch das Gewusel der
belebten Gassen.
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Downtown
Mumbai