st. helena - dertexter.ch

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ST. HELENA:
DIE INSEL DER VERBANNTEN
Text: Marius Leutenegger
Fotos: Jacques Alliod
Notizen aus dem Südatlantik
St. Helena ist als Napoleons letztes Exil in die Geschichte eingegangen. Noch immer leben auf der Insel im
Südatlantik über 5’000 Menschen – und kommen von dort nicht mehr weg.
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Ascension
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Es gibt Orte, deren Namen sich tief in
unser Bewusstsein eingegraben haben –
ohne dass wir jemals da waren oder wissen, wo genau sie liegen. Sie sind Symbole
geworden. Hiroshima zum Beispiel. Auch
St. Helena ist ein solcher Ort, dessen Name viel mehr bedeutet als nur eine geografische Bezeichnung. St. Helena heisst: Verbannung. Jeder weiss, dass Napoleon auf
diese Insel geschafft wurde, nachdem er
1815 die Schlacht von Waterloo – wo ist
Waterloo? – verloren hatte und für den
Rest seines Lebens aus der Geschichte
herausgehalten werden sollte. Zuvor war
Napoleon schon einmal verbannt worden;
er durfte damals, 1814, sein Exil selber
wählen und entschied sich für Elba, eine
Insel vor der toskanischen Küste. Kein guter Ort für eine Verbannung: Der Kaiser
der Franzosen kam zurück über das wenige Wasser, das ihn vom Festland trennte,
und machte noch einmal Krieg. Nach Waterloo legten die Siegermächte selber fest,
wo der masslose kleine Korse auf den Tod
zu warten hatte. St. Helena, ein britischer
Stützpunkt zur Sicherung des Schiffsverkehrs um das Kap der Guten Hoffnung,
war eine zweckmässige Wahl. Von dieser
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Insel, 2’000 Kilometer von Afrika entfernt,
ist nicht leicht wegzukommen.
Die Isolation der Insel hat sich seit dem
Tod Napoleons 1821 nicht verringert. Im
Gegenteil. Die Drähte zum Rest der Welt
sind heute dünner als vor 200 Jahren. Als
1869 der Suez-Kanal eröffnet wurde und
der Schiffsverkehr um das Kap der Guten
Hoffnung zusammenbrach, fiel St. Helena
in einen Dornröschenschlaf, aus dem es
seither nicht mehr erwacht ist. Immer weniger Schiffe legten vor dem Hauptstädtchen Jamestown an, um frisches Wasser
aufzunehmen, Soldaten wurden abgezogen, die Bars für die Matrosen machten
dicht. Doch die etwa 5’000 Menschen auf
dem gerade einmal 10 mal 17 Kilometer
grossen Eiland – Nachfahren von Soldaten, ehemaligen Sklaven, Gestrandeten
oder frühen Siedlern – blieben. Bis heute.
Isolation, das bedeutet: Keine Verbindung
nach aussen. St. Helena, das noch immer
zu Grossbritannien gehört, erreicht man
nur auf dem Seeweg. Einen Flughafen gibt
es nicht, obwohl über den Bau einer Piste
schon seit zwanzig, dreissig Jahren debat-
tiert wird. Die Chancen, dass auf dem hügeligen Terrain bald ein Rollfeld gebaut
wird, stehen schlecht. Bislang ging es auch
ohne. Man hat sich mit dem bescheiden
ausgebauten Schiffsverkehr arrangiert.
Ein einziges Schiff, das Royal Mail Ship St.
Helena, pendelt zwischen Cape Town in
Südafrika und Cardiff in England und
läuft die Insel durchschnittlich alle zwei
Wochen an. Die Post, jede Rolle Toilettenpapier, Autos, Zement, jeder Stuhl und
sämtliche Reisende gelangen nur mit dem
RMS St. Helena zur Insel.
Immerhin ist es seit einigen Jahren möglich, die Reise nach St. Helena abzukürzen:
Zweimal wöchentlich kann man von Brize
Norton, einem Militärflughafen in der
Nähe von Oxford, auf eine kleine Vulkaninsel fliegen, die genau in der Mitte des
Atlantiks und südlich des Äquators liegt:
Ascension. Dort macht das RMS St. Helena Halt und nimmt Passagiere auf.
Der Flug von Brize Norton nach Ascension dauert etwa acht Stunden. Die Tristar
untersteht dem Kommando der Royal Air
Force, der britischen Luftwaffe. Frauen
sind an Bord die Ausnahme, Bürsten-
schnitte die Regel. Die Kotztüten stammen
aus dem Nato-Bestand, und es gibt nur
eine Klasse: ungefähr die zweieinhalbte.
Luxus wäre nicht gerechtfertigt, es ist
schliesslich niemand zum Spass hier. Die
meisten Passagiere werden von Ascension zu den Falkland Islands weiterfliegen,
der zu Grossbritannien gehörende Inselgruppe vor Argentinien. Wir steigen aus.
Der Flughafen von Ascension ist ein Kuriosum, denn er verfügt über eines der
längsten Rollfelder der Erde. 1982 stand er
für einen kurzen Moment im Scheinwerferlicht der Geschichte. Die Argentinier
hatten damals die Falkland Islands überfallen, worauf die britische Premierministerin Maggie Thatcher eine exorbitante
Streitmacht losschickte, um die Argentinier zurück ins Meer zu werfen. Ascension wurde zur wichtigsten Basis in diesem
Krieg, in dem es um wenig Boden und viel
Prinzipien ging.
Noch immer verströmt Ascension den
herben Charme einer Militärbasis. Erst
seit 1998 sind private Reisen auf die Insel
möglich. Doch es kommen kaum Zivilisten. Es gibt keine touristische Infrastruk-
Georgetown,
Ascension
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tur, keine Restaurants, nur zwei oder drei
Bars für die Soldaten, die Angestellten der
Regierung und der wenigen hier angesiedelten Unternehmen.
Die Zollformalitäten im Flughafenhüttchen sind militärisch, man sitzt herum,
wartet. Wir lernen die wichtigste Lektion,
die einem in den Übersee-Territorien beigebracht wird, gleich zu Beginn: Zeit spielt
keine Rolle. Es gibt niemanden, der auf
einen wartet, und nichts, was man verpassen könnte. Das Schiff nach St. Helena
wird erst in vier Tagen auslaufen. Das
bedeutet: Vier Tage auf Ascension, vier
Tage im Guesthouse der Hauptstadt
Georgetown.
Hauptstadt ist gut. Georgetown ist eine
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um zu arbeiten, und wer seinen Vertrag
erfüllt hat, muss gehen. Etwa die Hälfte
aller Angestellten stammt aus St. Helena.
Die Saints, wie sie sich selber nennen, verdienen mehr, wenn sie auf Ascension oder
den Falklands Toiletten reinigen, als wenn
sie zu Hause als Lehrer oder Krankenschwester arbeiten. Doch der Entscheid,
die Heimat zu verlassen, ist einschneidend. Eine Angestellte erzählt, sie bekomme nur einmal alle drei Jahre Heimaturlaub – immerhin werde jetzt auf Zweijahresrhythmus umgestellt.
Spaziergang in Georgetown. Nichts von
Südsee-Romantik. Vor Millionen Jahren
war Ascension eine dampfende, heisse,
bewegte, lebendige Masse, die aus dem
Inneren der Erde quoll. Heute ist alles tot,
Ascension
hier ein dichtes Kunstwerk geschaffen als
Erinnerung an etwas, das längst verloren
ist. Der Ort, Tausende von Kilometern von
allem entfernt, passt zur Zeit, die hier abgebildet wird: eine Zeit, die Millionen von
Jahren zurückliegt und vom Menschen
noch nicht geprägt werden konnte.
Es ist drückend heiss, nur wenige Bäume
spenden Schatten, ein steifer Wind fegt
dauernd über die kahlen Böden. Im kleinen Shop nebenan gibt es keinen Überfluss, aber ein ausreichendes Angebot an
Import-Gütern. Ascension liefert nicht
einmal ausreichend Trinkwasser. Es gibt
Natur hier, natürlich, doch man weiss, wie
der Mensch ist: Die meisten einheimischen Tiere und Pflanzen sind ausgestorben. Mit den Matrosen kamen die Ratten,
gegen die Ratten wurden Katzen eingeführt, doch die frassen lieber die Vögel als
die Nager. Zurück blieben Stein, Wind,
Ruhe. Und natürlich Abfall.
zur Ankunft von Napoleon auf St. Helena
war Ascension unbewohnt. Dann kamen
die englischen Soldaten, um den Korsen
aufzuhalten, falls er flüchten sollte. Doch
er starb, ohne St. Helena jemals verlassen
zu haben. Die englischen Soldaten blieben. Seit dem Zweiten Weltkrieg geniessen auch noch Amerikaner Gastrecht.
Neben uns im kleinen Guesthouse wohnt
seit einer Woche ein deutscher Journalist.
Er möchte die hier stationierten Amerikaner interviewen, weil Ascension eine Rolle beim geplanten 60 Milliarden Dollar
teuren Raketen-Schutzschild der USA
spielen soll. Doch die Offiziere geben sich
zugeknöpft. Das Thema ist heikel. Wir sehen unzählige Antennen überall. Der
Journalist begleitet uns in den Exile’s
trag verlängern. Er macht inoffiziell den
Unterhaltungschef der Insel; wo immer
etwas abgeht, Pete ist dabei, mit charmantem Lächeln und offenem Herzen. Was
hält ihn hier? «It’s safe», sagt er. Man könne die Schlüssel im Auto stecken lassen,
kein Mensch klaue es. Wohin auch mit
dem Diebesgut? Wir wenden ein, neben
dem Polizeigebäude stehe ein kleines Gefängnis. Pete lacht: «Einmal im Jahr, meist
um die Weihnachtszeit, stecken die dort
jemanden wegen Trunkenheit rein. Weil
Gefangene aber bewacht werden müssen
und das viel Arbeit macht, lässt man sie
nach 24 Stunden wieder laufen.» Bedeuten
Isolation und Monotonie des Alltags Langeweile? Nicht für Pete. «Ich habe genug
zu tun. Und ich absolviere einen InternetKurs, alle zwei Tage eine Stunde lang. Ich
Im Militärflughafen Brize Norton warb
ein Plakat für die Schönheiten von Ascension: «Fragments of a lost world». Ein Fragment sind die riesigen Wasserschildkröten, die von Brasilien herschwimmen –
eine monatelange Reise, während der sie
keine Nahrung aufnehmen – und am
Strand ihre Eier legen. Am Long Beach
finden wir Spuren eines Massakers: von
Seevögeln massenhaft ausgegrabene und
zerhackte Schildkröteneier und aufgeknackte Babyschildkröten. Auf tausend
Eier kommt ein überlebendes Jungtier.
Das Leben ist hart auf Ascension.
Ansammlung weniger Container- und
Fertigbauten, die verstreut auf schwarzem Vulkangestein stehen. Die Zersiedlung erinnert an eine verlassene Grossbaustelle am Sonntagmorgen. Auf der
Arbeitsinsel gibt es etwa 1’200 Menschen,
aber keine Bevölkerung; niemand kann
ein Haus erstehen oder mieten. Man findet hier keine Alten, kaum Jugendliche,
schon gar keine Sozialfälle. Alle sind da,
kalt, erstarrt. Der abgedroschene Begriff
«Mondlandschaft» scheint gerechtfertigt –
schliesslich testete die NASA einst ihre
Mondfahrzeuge auf den Lavalandschaften von Ascension, die sich wie schwarze
Gletscher über die Insel erstrecken. Die 44
Vulkane von Ascension, alle erloschen,
alle in verschiedenen Farben glitzernd,
bilden eine Skyline, die der kleinen Insel
etwas Unwirkliches verleiht: Die Natur hat
In der kleinen weissen Kirche der heiligen
Maria, die am Meer steht. An den Wänden
Tafeln zur Erinnerung. Zum Beispiel an
Thomas A. Shanks, der 1852 auf der Bananeninsel starb. Draussen kreischen Seevögel, rauscht der Wind, brandet das
Meer. Man fühlt sich gestrandet, nicht angekommen. Kolumen mit den Namen ganzer Schiffsbesatzungen hängen an den
Wänden. Die Matrosen und Offiziere starben alle jung, und die meisten beerdigte
man auf See. Man denkt an Menschen, die
von den Seeleuten zurückgelassen wurden, meist im fernen England, und die
nicht einmal wussten, dass ihr George
oder Charles bei den Haien gelandet war.
Die Vulkanlandschaft von Ascension wurde 1501 vom portugiesischen Seefahrer
Juan da Nova entdeckt, den der Wind
auch als ersten nach St. Helena blies. Bis
Club, eine Bar, die fast nie geöffnet hat
und immer menschenleer ist. Die Terrasse bietet einen grossartigen Ausblick auf
den Sonnenuntergang. Nun kommt ein
wenig Stimmung auf. Pete, der Barkeeper,
stammt aus Südengland. Er ist zwanzig
Jahre lang zur See gefahren. In Ascension, wo er hauptamtlich für die Europäische Raumfahrtagentur ESA tätig ist,
gefällt es ihm, und er möchte seinen Ver-
mag es so.» Seine Frau wird in einem Monat aus England anreisen. Er müsse vorher noch gut aufräumen, man wisse ja, wie
Frauen seien. Überall das gleiche Lied.
Delphia, die in der Siedlung Two Boats am
Fuss eines Vulkans wohnt, lebt seit zwanzig Jahren auf Ascension. Ihr Mann arbeitet bei der BBC, die hier eine Station betreibt. Beide sind Saints. Hat sich Ascensi-
on in den letzten 20 Jahren verändert? «Es
regnet viel mehr als früher, aber es hat
auch wieder mehr Bäume.» Was tut Delphia abends? «Fernsehen.» Seit wenigen
Jahren kann sie zwei Programme empfangen. Am Bildschirm sieht sie Bilder
einer anderen Welt. Hat sie keine Lust, Teil
dieser anderen Welt zu werden? «Ach, ich
war einmal in London», meint sie, «schon
verrückt, was man da kaufen kann. Aber
mir ging dort alles viel zu schnell.» Zeit ist
auf Ascension aus anderem Material als
andernorts. Langsamkeit schleicht sich
ein, kaum merklich – aber plötzlich ist sie
da. Nach zwei Tagen sind zwei Stunden
für uns nichts mehr. Wir haben Zeit. Und
geniessen das. Der Wind bauscht die Vorhänge, der Ventilator surrt, es ist wie im
Film. Wir sitzen herum, schauen den Wolken zu, werden Zuhörer. Beobachten die
wilden Schafe und Esel, die vom einzigen
Bauern, den es auf der Insel gab, in die
beschränkte Freiheit von Ascension entlassen wurden und nun zwischen den
Häusern herumlungern. Napoleon sagte
auf St. Helena: «Das einzige Ding, von dem
wir hier zu viel haben, ist Zeit.» Er langweilte sich zu Tode, weil er sich weigerte,
den Rhythmus des europäischen Kaiserlebens mit jenem der Inseln auszutauschen. Wer herkommt, ohne dem Begriff
Zeit eine neue Bedeutung zu geben, wird
unruhig und melancholisch.
Ausflug ins Innere der Insel. Und eine
Überraschung: Der Green Mountain, der
höchste Vulkan, ist dicht bewachsen mit
tropischem Dschungel – Bananenstauden,
Bambuswälder. Am Fuss des Berges entdecken wir alte Kasernen, die vor wenigen
Jahren verlassen wurden und bereits jetzt
am Zerfallen sind. Riesige Antennenanlagen rosten vor blauem Himmel. Wir gehen
vorbei an der einst prächtigen Farm. Die
Gärten sind zerfallen. Wozu auch etwas
anpflanzen? Alles kommt per Flugzeug,
niemand fragt nach Ökobilanzen oder
Abhängigkeiten. Dann: Ein plötzlicher,
tropischer Schauer von unerwarteter Heftigkeit. Wir flüchten in den Two Boats
Club, wo wir so herzlich empfangen werden, als seien wir schon seit einer Ewigkeit
hier.
Die Freundlichkeit der Menschen auf
Ascension hat etwas Beschämendes. Weil
man ihr erst misstrauisch begegnet und
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ST. HELENA FORTSETZUNG VON SEITE 33
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dann die eigene Voreingenommenheit erkennen muss. Die wenigen Leute, denen
man begegnet, grüssen spontan, Autofahrer winken einander zu, immer, ausnahmslos. Inselgefühl: Die soziale Kontrolle ist gross. Man muss miteinander
auskommen, es gibt keine Möglichkeit,
dem anderen auszuweichen. Doch keiner
wird vor dem Fernsehgerät sterben und
erst Wochen später gefunden werden.
Vermutlich gibt es auf Ascension Einsamkeit wie überall. Anonymität nicht. Als wir
am zweiten Tag auf dem kleinen Polizeiposten eine Fahrbewilligung lösen, werden wir gebeten, gleich noch die Landegebühren zu entrichten. Die Polizeiangestellte hält die rosa Personalkarten in der
Hand, die wir vortags am Flughafen auf
der anderen Seite der Insel ausgefüllt haben. Wir fragen uns, wie wir die Gebühren hätten bezahlen sollen, wenn wir nicht
selber und in anderer Absicht zur Polizei
gegangen wären. Aber die Polizisten wissen wohl, dass ihnen niemand entgeht. Sie
brauchen den Fremden nicht nachzurennen, früher oder später begegnen sie ihnen. Es eilt ja nicht.
Was macht einsam? Was verleiht mir das
Gefühl von Einsamkeit? Ist es das Wissen,
dass es hier und daheim Menschen gibt,
die ich nicht erreichen kann? Anders
gesagt: Machen Menschen einsam? Es ist
19 Uhr 30 und stockdunkel. Keine Möglichkeit, noch unter Leute zu kommen –
keine Fluchtwege. Wir sitzen mitten im
Südatlantik, so weit weg von allem wie
noch nie im Leben. Die Welt bleibt draussen. Die Unmöglichkeit, etwas zu tun, hat
aber auch einen befreienden, entlastenden Aspekt: Man trägt keine Verantwortung für das, was nicht geschieht.
Wieder ein Ausflug auf die andere Seite
der Insel. Wir wähnen uns auf einem
fremden Planeten, weil wir noch nie solche Landschaften gesehen haben, solche
Farben, solche Böden – der erstarrte Basalt wirkt so lebendig, dass man sich das
Grollen der strömenden Lava gut vorstellen kann, die Klippen sind unbeschreiblich. Ascension kann Glück bedeuten, unbedingt. Erst jetzt entdecken wir, wie
schön die Insel ist, wie vielfältig die Landschaft auf kleinstem Raum. Doch immer
wieder blitzt zwischen Steinen eine leere
Cola-Dose auf. Es ist nicht zu fassen.
Jamestown, St. Helena
Am Ende der Strasse, hoch über den Klip-
pen, steht das kleine Gebäude der ESA im
ewigen Wind. Wir klopfen. Ian öffnet, bittet uns herein und erklärt, was er und seine zwei Kolleginnen und Kollegen hier
tun. Viel ist es nicht: Bei den Starts der Ariane-Raketen verfolgen sie sechs Minuten
des Fluges. In den Wochen, Monaten zwischen zwei Starts führen sie Tests durch.
Die High-Tech-Anlage im Häuschen beeindruckt. Ian ist seit zwei Jahren hier. Er
war bei der Navy, nun hat er das Schiff gegen eine Insel ausgetauscht, die in so vieler Hinsicht nichts anderes ist als ein vor
Anker liegendes Schiff aus Stein. Es gefällt ihm auf Ascension, wo jeder jeden
kennt, auch das soziale Leben, das er als
Herausgeber des wöchentlich erscheinenden Info-Blättchens «The Islander» mitgestalten kann. Sorgen bereitet ihm die Qualität der kleinen Schule. Sie befriste seinen
Aufenthalt auf der Insel, denn der achtjährige Sohn solle eine gute Ausbildung
erhalten. Nein, er langweile sich nicht, sagt
Ian. Man gewöhne sich an dieses Leben.
Am nächsten Tag besteigen wir das RMS
St. Helena für die zweitägige Seereise
nach Jamestown. Ein mittelgrosses Schiff
für Cargo (vorne) und Passagiere (hinten).
Das Übersetzen von Ascension auf einer
rostigen Fähre und der gefährliche Einstieg ins königliche Postschiff sind nichts
für die fidelen britischen Rentner, die wir
an Bord erwarten. Doch das Publikum ist
gemischt; Touristen gibt es kaum, die meisten reisen nach St. Helena, weil sie dort
zuhause sind oder im Auftrag der Regierung arbeiten.
Der Kapitän des Schiffs heisst Smith. War
das nicht der Name des Titanic-Kapitäns?
Und trägt unser Smith nicht einen ähnlich
pittoresken Bart wie jener unglückselige
Kollege? Die gleiche weisse Uniform mit
goldenen Knöpfen? Man muss sagen: Gewisse Traditionen sehen einfach gut aus.
Bei aller Ähnlichkeit wäre es aber doch
recht erstaunlich, sollten wir hier in Äquator-Nähe von einem Eisberg versenkt werden. Wir sehen jedenfalls nur Delfine, die
verspielt neben dem Schiff herjagen. Das
RMS rauscht um Ascension herum und
dann aufs offene Meer hinaus. Die Insel
wirkt nun vertraut. Nach zwei Stunden
Fahrt kann man sie noch immer als dunklen Dunst am Horizont ausmachen. Der
Wellengang gegen die Strömung ist dramatisch, und der Fotograf wird seekrank.
Was, wenn ein Saint keine Schiffsreisen
erträgt?
In der Nacht schaue ich vom oberen Kajütenbett aus dem Fenster. Gischt spritzt im
Mondlicht. Manchmal scheint das RMS zu
einem Sprung über das Wasser anzusetzen, um dann in ein Wellental zu krachen.
Seit fünf Wochen hat kein Schiff mehr vor
Jamestown angelegt. Alle, die seither nach
St. Helena wollten, befinden sich in den
wenigen Kabinen neben und unter uns.
Keine 60 Leute. Es gibt wirklich kaum ein
Hin- oder Wegkommen von jener Insel;
ein Anachronismus in mobiler Zeit. Beim
formal-steifen Abendessen meinte Jeannie, die Offizierin, die unserem Tisch zugewiesen wurde, um die Konversation in
die rechten Bahnen zu lenken: «St. Helena
ist eine sterbende Gesellschaft. Man sagt
immer, das dortige Leben ähnle dem in
England in den fünfziger Jahren, aber das
ist nicht wahr. Auf St. Helena ist etwas entstanden, das einzigartig ist, sich aber nicht
mehr entwickelt.»
Auch am Tisch: Zwei Wissenschaftler, die
sich mit der Erhöhung des Meeresspiegels
beschäftigen und eine Station in St. Helena kontrollieren müssen. Jedes Jahr steige das Wasser weltweit um 1,5 Millimeter,
sagen sie. Eine Folge der globalen Erwärmung. St. Helena wird so schnell nicht
versinken, der höchste Berg, Diana’s Peak,
ragt 823 Meter in den Himmel. Gefahr lauert anderswo.
Sie ist beispielweise logistischer Art. Fällt
das RMS St. Helena aus – und das geschieht immer wieder –, wird die Isolation
zur Bedrohung. Im November 1999 lag das
Schiff wegen eines Schadens wochenlang
in Europa vor Anker. Es gab keine Margarine mehr, kein Kochöl, kein Mehl, und der
Gouverneur von St. Helena meinte: «Einen
Monat lang halten wir durch. Länger
nicht.» Das Schiff kam früh genug. Seit 500
Jahren finden sich immer wieder Wege,
die finale Episode in der Geschichte der
Insel abzuwenden.
St. Helena, die Spitze eines sich 5’000 Meter
vom Meeresboden erhebenden Vulkans,
wurde 1502 von den Portugiesen entdeckt
– am 21. Mai, dem Tag der Heiligen Helena.
Die Seefahrer hielten ihre Entdeckung
geheim und nutzten sie als Wasserbasis.
1588 stiessen auch die Briten auf das unbewohnte Eiland und betrachteten es fortan
als ihren Besitz. Zwar wurde St. Helena
1633 für kurze Zeit von den Holländern
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besetzt, doch das schien die Engländer
nicht sonderlich zu irritieren. 1659 übergaben sie die Insel der Ostindiengesellschaft. Die ersten Siedler waren Farmer
und Angestellte der Gesellschaft, dann
kamen Sklaven aus Goa, Malaysia und
Madagaskar. Und vor allem Soldaten. St.
Helena wurde zur wichtigsten britischen
Befestigung im Südatlantik. Ironie der
Geschichte: Napoleon wusste um die strategische Bedeutung der Insel und wollte
diese 1804 annektieren. Zwar änderte er
seine Pläne, aber erobert hat er St. Helena
schliesslich doch. Gewissermassen.
Napoleon war nicht der einzige Verbannte auf St. Helena. 1890 brachte man Zulukönig Dinizulu mit seiner Familie hierher,
Jamestown,
St. Helena
1900 wurden 6’000 Besiegte des Burenkrieges interniert. Und von 1957 bis 1960 hielten die Briten drei Prinzen aus Bahrain
auf der Insel fest.
Heute sind die Einwohner von St. Helena
selber Verbannte. Denn ihr Mutterland
zwingt sie, dort zu bleiben, wo sie sind, wo
sie kaum etwas verdienen können, oft
nicht einmal Arbeit finden. 1981 hat man
ihnen die britischen Pässe abgenommen;
wollen sie seither zum Beispiel nach London fahren, benötigen sie – im Gegensatz
zu Einwohnern aus EU-Staaten – ein Visum. Zwar sind die Saints laut einem Edikt
von König Charles II. im Jahre 1673 Bürger von England, doch 1833 wurde die
Insel zur Kolonie erklärt. Das entbehrte
jeder Grundlage, denn auf St. Helena hatte nie eine Urbevölkerung gelebt, die man
hätte kolonialisieren können; nie wurde St.
Helena einem Staat oder Volk weggenommen. Doch die Briten mussten ihr koloniales Weltreich klassifizieren und wollten
dabei auf den winzigen Sonderfall St. Helena keine Rücksicht nehmen.
Der Kolonial-Status führte dazu, dass St.
Helena im gleichenTopf landete wie Hongkong – und dass eine gegen die Hongkong-Chinesen gerichtete Massnahme
auch die Saints betraf. London befürchtete, dass vor der Rückgabe der asiatischen
Kronkolonie an China im Jahre 1997 eine
Masseneinwanderung nach Grossbritannien einsetzen könnte. Man wollte dies mit
einer neuen Bürgerrechts-Regelung verhindern. Fortan waren die Einwohner der
Kolonien nur noch «British subjects» und
nicht mehr «British residents» – und verloren das Recht, sich frei im Staat zu bewegen. Besonders ungerecht muss den
Saints erscheinen, dass die Bewohner der
Falkland Islands, die von der Gesetzesänderung ebenfalls betroffen waren, bereits
1982 ihre Pässe zurückerhielten; das war
eine politische Massnahme, mit der die
Briten während des Falkland-Kriegs ihre
Verbundenheit mit den Insulanern unterstreichen wollten.
Am Hafen von Ascension hatte ein Saint
auf einen flatternden Union Jack gezeigt
und seinen Mund zu einem missmutigen
Lächeln verzogen. «Siehst du, dies hier ist
Grossbritannien. Auch in St. Helena wirst
du diese Flagge finden. Aber wir gelten
nicht als richtige Briten. Das ist lächerlich.» Wir fragten ihn, ob er nach Grossbritannien ginge, wenn er einen Pass besässe. Er schaute uns an, als ob wir ihn
beleidigt hätten. «Würdet ihr eure Heimat
verlassen? Weshalb? Wenn ich einen Job
habe, dann bleibe ich. St. Helena ist mein
Zuhause!»
Dem realitätsfremden Kolonial-Status von
St. Helena folgte eine realitätsfremde, bis
heute gültige Resolution der UNO. Die
Vereinten Nationen haben sich am Kolonial-Begriff von 1833 festgekrallt und ver-
langen nun von Grossbritannien, die Insel
in die Unabhängigkeit zu entlassen. Auf
der Insel gab es jedoch niemals eine Autonomiebewegung; man verhielt sich stets
loyal zur Krone und tat, was London verlangte. 45 Prozent der Saints arbeiten im
öffentlichen Dienst. Man knabbert vielleicht ein wenig an der Hand, die einen füttert, aber man beisst sie nicht. Die Saints
haben den politischen Diskurs bis heute
nicht gelernt, nicht lernen können. Wo
strategische Interessen im Spiel sind,
kann Demokratie nur schlecht gedeihen,
und in einer Kolonie ist die Meinung der
Bevölkerung ohnehin nie gefragt. Zwar
gibt es auf St. Helena inzwischen eine Art
Bürgerparlament, doch was geht und was
nicht, bestimmt der von London eingesetzte Gouverneur. Das hat sich seit den
Zeiten Napoleons nicht geändert. Eigentlich eine Schande für Grossbritannien, eine der Wiegen der Demokratie. Allmählich wächst Unmut über diese frustrierende Situation. 1996 kam es zu einem
Zwischenfall: Einige Saints besetzten das
Büro des damaligen Gouverneurs David
Smallman und packten den hohen Herrn
an der Krawatte. «Niemand hat je den
Gouverneur angegriffen», wetterte Smallman, obwohl er, ganz Diplomat, auch so
etwas wie väterliches Verständnis für seine Insulaner äusserte.
Smallman irrte. 1693 wurde der Gouverneur von Soldaten getötet. Die Meuterer
endeten am Galgen.
Wer zahlt, befiehlt. Und die Briten zahlen,
wenn auch immer weniger und immer
weniger gern. Die etwa neun Millionen
Pfund, die sie jährlich in die Insel pumpen,
sind keine Investition in die Zukunft, sondern eine in die Vergangenheit. Ein Volk
hat eine Insel und wird sie nicht mehr los.
Weil ein Gefängnis so wenig rentieren
kann wie eine Befestigung, legte St. Helena in seiner langen Geschichte ein einziges Mal einen ausgeglichenen Haushalt
vor – 1951, als der Handel mit Flachs florierte. Seit dem Zusammenbruch der
Flachs-Industrie ist man wieder dort, wo
man immer war: in tiefroten Zahlen. Regelmässig schickt London Experten nach
St. Helena, die dicke Gutachten über die
wirtschaftlichen Perspektiven der Insel
verfassen. Zwischen den Zeilen schwingt
Resignation. St. Helena hat ökonomisch
nichts zu bieten: Keine Strände, keine moderne Infrastruktur, schon gar keine Bo-
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denschätze. Weshalb sollten sich Industrien, Banken, Hotelketten in dieser Isolation
niederlassen? Die Regierung von St. Helena zählt die Gründe gerne auf: Über
Steuerregelungen liesse sich reden, die
politischen Risiken sind gering, Gewerkschaften gibt es keine. Geringfügige
Pluspunkte gegenüber unüberwindlichen
Nachteilen. Nicht einmal Landwirtschaft
lässt sich richtig betreiben: Das Land ist zu
hügelig, das eigentlich milde tropische
Wetter unberechenbar. Die ewige Hoffnung bleibt der Tourismus. Im letzten Jahr
reisten 5’000 Personen nach St. Helena,
davon waren keine 1’000 Touristen im en-
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echte Sorgen machen müsste, wenn jetzt
ein Eisberg auftauchte: Das wäre ein recht
deutliches Zeichen dafür, dass wir in die
falsche Richtung führen. Und wenn es
schrummelt im Bauch des Schiffs – wie
eben? Könnte das nicht doch ein Zusammenstoss mit einem klitzekleinen verirrten Eisberg sein? Oder wenigstens mit einem Wal? Die zweite Offizierin, eine 23jährige Saints, kreuzt die Finger und lacht.
Bis jetzt sei alles gut gegangen. Puh, Glück
gehabt, dann können wir ja in aller Ruhe
die Seekrankheit geniessen.
Morgen der Ankunft in St. Helena. Mon-
Jamestown,
St. Helena
geren Sinn. Die Auslastung der drei kleinen Hotels beträgt magere 15 Prozent.
Wenn das RMS ausgelaufen ist, können
sie dichtmachen.
Sonntagmorgen. Messe auf dem Schiff.
Kapitän Smith leitet die Andacht. Es wird
gebetet für die Königin, den Frieden und
alle Schiffsreisenden. Ab Band: Orgelmusik aus einer Londoner Kirche. We’re so
far, so far from home. Von denen, die wir
lieben. Und die uns wiederlieben. (Hoffentlich.) Nach der Messe erklärt die zweite
Offizierin auf der Brücke, dass man sich
tag? Man verliert das Zeitgefühl auf Reisen leicht; alles, was einem daheim die
Woche strukturiert, fällt weg. Auf See
wird die zeitliche Orientierung noch
schwieriger, es gibt kein Fernsehen, keine
Zeitung, die einem Daten in Erinnerung
rufen.
Am frühen Nachmittag taucht die Insel
vor uns als undeutliche Silhouette am Horizont auf. Die Passagiere stürmen an
Deck, der Schatten in der Ferne wird auf
vielen Fotos und Videofilmen zu Erklärungsbedarf führen: Ja, das da hinten,
das ist St. Helena! Je näher wir dem Ziel
1815 – 1821:
NAPOLEON AUF ST. HELENA
kommen, desto ruhiger werden wir.
Stumm starren alle nach vorn, versunken
in Gedanken, die wahrscheinlich so wenig
neu und originell sind wie die meisten
Gedanken überhaupt: Dass es erhebend
ist, wie die Natur aus dem Nichts des Ozeans eine eigene Welt wachsen lässt. Oder
dass die Schroffheit dieses Eilands erschüttert. Die kahlen Klippen fallen fast
senkrecht ab, es gibt nichts Einladendes,
keinen Strand, keine sanften Hügel. «Das
ist kein sehr angenehmer Ort», soll Napoleon gesagt haben, als er seine neue Welt
zum ersten Mal durch das Fernrohr betrachtete. Man kann ihn verstehen.
Das 1’000-Seelen-Städtchen Jamestown
hat keinen Hafen; nach der unsinnigen
Abfertigung durch die Einwanderungsbehörde bringen einen kleine Fähren zum
Landungssteg. Dort darf man sich fühlen
wie die Queen auf Staatsbesuch: Die Pier
ist schwarz von Menschen, die auf Schiff
und Passagiere gewartet haben. Fünf lange Wochen war das RMS nicht mehr hier,
das heisst: Fünf Wochen lang keine neuen
Gesichter, keine Güter, keine frischen
Waren. Fünf Wochen lang war St. Helena
ein Fötus ohne die Nabelschnur, an der
sein Leben hängt. Natürlich wird an der
Pier jeder Fremde sofort als solcher erkannt. Die Einheimischen grüssen ihn,
doch es besteht jetzt kein Interesse an ihm.
Unter den Heimkehrern befinden sich
schliesslich viele, die jahrelang getrennt
waren von Familien und Freunden.
Wir drängen uns durch die Menschenmenge und gehen die Main Street durch
Jamestown hoch, vorbei an geweissten
Häusern, historischen Kanonen und Blumenbeeten. In mir steigen Gefühle auf, die
ich von jeder Ankunft an einem fremden
Ort kenne: nervöse Begeisterung für das
Neue und die Befürchtung, unter dem
Zuviel an Eindrücken die entscheidenden
nicht zu gewinnen, etwas zu verpassen.
Jamestown ist eine Stadt, wie ich sie noch
nie gesehen habe und wie ich sie wohl nie
wieder sehen werde. Sie besteht, eingezwängt zwischen bedrohlich steilen Felswänden, eigentlich nur aus einer einzigen
Strasse mit einer Häuserreihe auf beiden
Seiten. Wären die Gebäude in einem besseren Zustand, man würde sich in Disneyland wähnen, so einheitlich und konsequent im Gestern verankert ist die Architektur. Menschen sitzen herum, viele Menschen, alle mit dunklen Gesichtern. Saints
erkennt man an ihrem olivfarbenen Teint
Longwood, St. Helena
leeres Grab
ml. Damit hatte der Kaiser der Franzosen nicht gerechnet: Als
sich Napoleon Bonaparte nach der Niederlage bei Waterloo den
Briten ergeben hatte, ging er davon aus, sein Leben künftig in
einem englischen Landhaus verbringen zu können. Doch Wellington, der Besieger, bewies wenig Gastfreundschaft und entschied
sich, den Besiegten auf der isoliertesten Insel der Welt zu internieren: auf St. Helena. Napoleon hatte zuvor die Möglichkeit
gehabt, nach Amerika zu flüchten. Niemand weiss, weshalb er sie
nicht nutzte und sich Wellington auslieferte.
Der Gefangene kam nicht allein in den Südatlantik. Ihn begleiteten
Diener, Anhänger, drei Offiziere mit ihren Angehörigen, insgesamt
25 Männer, Frauen und Kinder. Und mit ihm kam ein Heer von
Bewachern; 1816 waren insgesamt 2’784 Soldaten auf St.
Helena stationiert. Dabei konnte niemand an eine Flucht aus diesem Gefängnis ohne Mauern denken.
Napoleon betrat die Insel in der Nacht vom 17. Oktober 1815.
Auf dem Schiff, der Northumberland, hatte er noch seinen 46.
Geburtstag gefeiert. Weil der vorgesehene Aufenthaltsort, die abgelegene, langgezogene Residenz Longwood im Innern der Insel,
noch kräftig renoviert werden musste, lebte der Ex-Kaiser für sieben Wochen bei einer Familie in The Briars. Er nannte dies später
seine glücklichste Zeit auf St. Helena.
Von Beginn weg war Langeweile das grösste Problem in Longwood. Napoleon und seine Getreuen, die halb Europa erobert
und wieder verloren hatten, wussten nichts anzufangen mit der
Zeit und sich selbst. Man begann, sich in der Vergangenheit
einzunisten, entsann sich besserer Tage, der Gestürzte diktierte
seine Memoiren und ging alle geschlagenen Schlachten noch
einmal minutiös durch. Und man spielte Kaiserhof, legte Wert auf
Etikette, versuchte, den Schein zu wahren. Das funktionierte so
lange, wie Napoleon hoffen konnte, wieder nach Europa zurückzukehren. Als sich diese Hoffnung zerschlagen hatte und sich die
kleine Gesellschaft mit der Endgültigkeit der Situation abfinden
musste, verfiel sie in Trübsinn – und zerfiel. Die Loyalität bröckelte, die Franzosen wollten nach Hause. Napoleon versank in
Melancholie. «Ich besass so viele Kronen, doch England verlieh
mir die höchste Krone überhaupt», stellte er fest, «jene, die vom
Retter der Welt getragen wurde, die Krone des Märtyrers.» Bescheidenheit war noch immer nicht sein Ding.
Manchmal sass der Gefangene, der sich wie ein Herrscher aufführte, stundenlang in der Badewanne, oder er verliess sein Zimmer tagelang nicht. Zwischendurch begeisterte er sich für Gartenarbeit, doch als sich zeigte, dass im feuchten Hof von Longwood
kein Gemüse wachsen konnte, verlor er jede Lust, überhaupt noch
das Haus zu verlassen. Er hatte resigniert und wartete nur noch
auf den Tod. Seinem letzten Gegner, dem übermässig diensteifrigen Gouverneur Hudson Lowe, klagte er: «Die Insel ist zu klein für
mich. Das Klima ist nicht wie unseres, es ist nicht unsere Sonne,
und es gibt auch keine Jahreszeiten wie bei uns. Alles hier atmet
eine tödliche Langeweile. Die Situation ist unerfreulich und ungesund. Es gibt kein Wasser. Dieser Teil der Insel ist eine Wüste.
Sie hat alle ihre Bewohner verjagt.» Ja, er hatte Recht, Napoleon,
aber was erwartete er? Bald gar nichts mehr. Er wurde fett und
aufgedunsen, die Beine schwollen an, er litt an Kopf-, Bauch-,
Zahn- und Leberschmerzen, verkam.
Napoleon starb nach langer Krankheit am 5. Mai 1821 im Salon
von Longwood, vermutlich an Magenkrebs, der in seiner Familie
gehäuft vorkam. Es gab Gerüchte über eine Vergiftung mit Arsen;
möglich, dass einer der Diener, Spione, Freunde nachhalf, den
unwürdigen Zustand zu beenden. Napoleon wurde in vier Särgen
aus Mahagoni, Blei, Holz und Zinn im Tal der Geranien unterhalb
von Longwood begraben. 19 Jahre später holten die Franzosen
das, was von ihrem Kaiser geblieben war, mit viel Pomp nach
Paris und setzten es im Invalidendom bei. Königin Victoria verkaufte Longwood und die Grabstätte später für 178’565 Francs an
Napoleon III. Seither weht die Tricolore über dem letzten Exil des
Mannes, der auf einer Insel geboren wurde und auf einer Insel
starb.
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leicht – eine Mischung aus Indern, Afrikanern und Weissen, wie es sie sonst nirgends gibt auf der Welt und deren Einheitlichkeit belegt, wie alt die Inselbevölkerung schon ist.
Im kleinen Consulate Hotel, das ebensogut im French Quarter von New Orleans
stehen könnte, beziehen wir unser Zimmer. Und dann hinaus, schnell hinaus. Der
Mensch ist ein Wanderer und die Neugier
sein Treibstoff. Wir sehen die berühmte
Jacob’s Ladder, eine 699-stufige Treppe,
das Wahrzeichen von Jamestown. Sie
führt hinauf auf den Hügel, auf dem einst
ein Fort stand. Wir scheuen die Herausforderung des Aufstiegs und bitten Mr.
Peters, uns in seinem Taxi zum Fort zu
bringen.
Der Blick von dort über das Meer ist berauschend. Das tiefblaue Meer wirkt unendlich. Undenkbar, sich dieser Insel unbemerkt anzunähern; St. Helena ist eine
einsame Burg in einer Wüste von Wasser.
Wer hier geboren wurde und nie wegkam
– und das gilt für die meisten Einwohner –,
für den ist dieses winzige Stück Land die
ganze Welt.
Wir fahren weiter. Es regnet. So klein die
Insel ist: Ihre Vielseitigkeit macht sie zum
Mikrokontinent. Wenn auf der einen Seite tiefe Wolken die Sicht verdecken und
einen der Nieselregen frösteln lässt, kann
auf der anderen die Sonne hinunterbrennen. Von aussen mag St. Helena ein Fort
sein, doch im Inneren gibt es malerische
Flecken, die an die Voralpen erinnern. Fette Kühe grasen auf fetten Wiesen, Hühner
rennen über die Strasse. Hie und da ein
Wäldchen, Gegenden, die unberührt wirken.
Wir stehen vor Plantation House, dem Sitz
des Gouverneurs. Eine piekfeine Villa mit
52 meist überflüssigen Zimmern in einem
formidablen Park, gerade recht für den
Repräsentanten Ihrer Majestät. Über den
Gouverneur und seine Wirkung sprechen
die Saints nicht gerne. Die Frage, ob man
mit ihm zufrieden sei, beantwortet ein
Schulterzucken. «Besser als der letzte ist
er auf jeden Fall», sagt beispielsweise Tracey. Der habe St. Helena nicht ausstehen
können und mehr Zeit in England als hier
verbracht. «Wir nannten ihn nicht Ihre Exzellenz, sondern Ihre Absenz.» Mr. Peters
glaubt, ein Gouverneur könne hier ein gutes Leben führen, wenn er es akzeptiere.
Was das heisse? «Wenn du eine Orange
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kaufen kannst, gut. Wenn nicht, hat es keinen Sinn, dich darüber aufzuregen.» Weil
das nächste Schiff ohnehin erst in ein
paar Wochen kommen wird.
Tracey, unsere Fahrerin am zweiten Tag,
ist 28 und hat einen 12-jährigen Sohn. Viele Mütter auf St. Helena sind jung. Die 16jährige Michelle erzählt, sie habe mit zehn
zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen – Tracey bestätigt, dies sei nicht
unüblich. In sexuellen Dingen verhält man
sich auf St. Helena liberal, was für eine so
ländlich geprägte Insel erstaunen mag.
Die Leichtigkeit, mit der Beziehungen eingegangen werden, spürt man am Abend
in den drei oder vier Bars von Jamestown.
Was sollen die Jungen auch anderes tun,
als sich um ihr Liebesleben zu kümmern?
Ihre Perspektiven auf der Insel, wo es
nicht einmal ein Kino gibt, sind gleich null.
Die meisten von ihnen wollen nur eines: So
schnell wie möglich weg. Mindestens nach
Ascension oder auf die Falklands, lieber
noch nach Europa oder Südafrika aufs
Festland. Egal, was sie dort tun werden.
Doch der Traum, aus der Isolation herauszukommen, bleibt für die Mehrheit der
Jugendlichen Schaum. Nicht nur, weil sie
keine rechten Pässe besitzen; die wenigsten könnten sich ein Ticket für das RMS
leisten. Die Reise nach England und
zurück kostet 1’000 Pfund. Ein Angestellter verdient etwa 40 Pfund in der Woche –
das sind gerade einmal 100 Franken.
Dabei ist das Leben so teuer wie überall,
wo man auf Import angewiesen ist. Wie
man da überleben könne, fragen wir Tracey. Ihre Mundwinkel weisen nach unten.
Man gebe sein Geld eben erst für das
wirklich Notwendige aus, das Essen, den
Strom. Und dann müsse man sich etwas
einfallen lassen.
Viel zu kaufen gibt es ohnehin nicht. Die
rührenden Schaufenster an der Main
Street sollen nicht zum Konsumrausch anregen, sondern darüber informieren, was
gerade angekommen oder noch vorrätig
ist. Ein schmucker Toaster. Zahnpasta.
Wassermelonen. Zeitungen gelangen nie
hierher. Weshalb auch? Bis das RMS die
Insel erreicht hat, wären sie veraltet.
Die meisten Läden gehören der Regierung; auffallend viel Personal in altertümlich wirkenden Schürzen steht herum.
Einen Job zu haben, bedeutet noch lange
nicht, auch Arbeit zu haben. Die einen fahren ein bisschen Taxi, die anderen räumen
das RMS aus und ein. Man tut viel dafür,
dass die Menschen das Gefühl bekommen, beschäftigt zu sein. Doch das Arbeitstempo ist nicht nur gemächlich, sondern einschläfernd. Schön, viel Zeit zu haben. Hässlich, dass man sich für diesen
Rhythmus nicht freiwillig entscheiden
kann. Wahrscheinlich muss man hier geboren sein, um hier auch langfristig Zufriedenheit finden zu können. Die Hölle,
das ist St. Helena – für alle, die sich nicht
nur auf ein inneres Fortkommen beschränken, sondern auch äusserlich etwas erreichen wollen.
Als ich um ein Uhr früh aus der Bar komme, stehe ich vor dem dunklen und verriegelten Hotel. Ich gehe zum Polizeiposten gleich nebenan; natürlich gibt es auf
der Insel auch ausreichend Polizisten, 31
im Moment. Der diensthabende Offizier,
der mir Zugang zu meinem Bett verschafft, erzählt, die Arbeitslosigkeit sei ein
drängendes Problem. «Kriminalität ist
noch immer auf einem sehr tiefen Niveau,
aber es wird zu viel getrunken.» Als am
frühen Abend die Polizei an der Veranda
der Consulate-Bar vorbeifuhr, liessen die
Minderjährigen rasch ihre Biere verschwinden. «Bist du erst mal da drin»,
meinte der 16-jährige Neville und zeigte in
Richtung des kleinen Gefängnisses, «dann
kommst du hier nicht mehr weg.» Neville
sieht seine Zukunft wie viele andere junge
Saints in der Armee; man schätzt die RAF,
die auf Ascension so viele Arbeitsplätze
geschaffen hat. Kampfanzüge gehören
bei den Jungen zur Freizeitkleidung. Regelmässig kommen Armeevertreter her
und rekrutieren junge Saints – dem Land
dienen und allenfalls dafür sterben dürfen sie, in ihm herumreisen nicht. Neville
war schon einmal weg. Auf Ascension. Es
gefiel ihm gut, «es ist cooler als St. Helena».
Besuch in der 1989 eröffneten Prince Andrew School, in der etwa 330 Schüler zwischen 12 und 18 unterrichtet werden. Corinne führt uns herum. Die gebohnerten
Böden, die Zeichnungen an den Wänden,
die elektrisierende Hektik zwischen zwei
Schulstunden – alles wie überall. Die clevere, kleingewachsene Corinne ist felsenfest davon überzeugt, dass sie bald anderswo leben wird. «Natürlich wäre es
möglich, hier Arbeit zu finden, aber es ist
unmöglich, auf St. Helena Karriere zu
machen. Hier kommt man nicht weiter.
Alles steht still.» Nein, sagt Corinne mit der
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selbstverständlichen Überzeugung einer
18-Jährigen, St. Helena habe keine Zukunft. Ihre Kollegin Kirstine nickt. Sie hat
eine Stelle auf Ascension gefunden, und
man sieht, dass sie das freut.
Die meisten Lehrer an der Prince Andrew
School stammen aus England und bleiben
nur zwei Jahre. Sie verdienen, entschädigt
nach britischen Ansätzen, ein Vielfaches
mehr als die lokalen Lehrkräfte wie etwa
Karen, die Biologie unterrichtet. Die 24Jährige war in der Nähe von London an
der Universität und kehrte dann auf ihre
Insel zurück. «Mir gefällt es nirgends so
gut wie hier. Auf St. Helena leben meine
Freunde, hier ist es ruhig, überschaubar.
Nein, ich will nicht weg», erzählt sie am
Abend in «Danny’s Place» und wendet sich
wieder ihren Freundinnen zu, mit denen
sie schon seit zwei Stunden herumalbert –
unter ihnen auch die 2. Offizierin vom
RMS. Im Leben begegnet man einander
bekanntlich zweimal, auf St. Helena hingegen ständig.
Hinter der Frauengruppe steht ein hünenhafter Schwarzer, Soldat auf Heimaturlaub. Er sagt: «Es ist gut, hier zu sein. Du
musst eine Heimat haben. Aber auch die
Chance, sie immer wieder verlassen zu
können.» Ob das jetzt die Zusammenfassung meines Artikels sei, frage ich ihn. «Ja,
klar!» ruft er und zeigt ein breites Grinsen.
Daheimsein, aber freiwillig: Das wäre
schön.
Dass man nicht weg kommt, kann tödlich
sein – nicht nur im übertragenen Sinne.
Ein trauriges Beispiel dafür ist das Schicksal der sechsjährigen Danni Clifford. Ihre
Eltern arbeiteten – wie so viele Eltern – auf
den Falkland Islands, als die auf St. Helena
zurückgebliebene Danni im vergangenen
November plötzlich zusammenbrach. Sie
wurde ins kleine Spital der Insel gebracht,
wo man sie mehreren Tests unterzog. Die
Resultate wurden an Spezialisten in Südafrika gemailt, und diese diagnostizierten
akute Leukämie. Eine sofortige Rückenmarktransplantation mit einem Geschwister wäre nötig gewesen, um Dannis Leben
zu retten. Doch für eine so schwierige Operation ist man auf St. Helena nicht eingerichtet. Das RMS St. Helena war in weiter Ferne, und man informierte die Eltern,
dass das Kind sterben werde. Die Royal
Air Force prüfte, ob sich die Eltern mit
Tandem-Fallschirmsprüngen nach St. Helena schaffen liessen, damit sie bei Danni
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sein könnten. Inzwischen wurden Hilferufe an alle Schiffe im Südatlantik gefunkt.
Das Containerschiff Nomzi, das sich etwa
500 Kilometer südlich der Insel befand,
empfing die Signale. Der Kapitän entschied sich, der kleinen Danni zu helfen,
und 18 Stunden später legte die Nomzi vor
Jamestown an. Bei extrem schwierigem
Wellengang wurde das todkranke Kind
aufs Schiff und dann nach Cape Town in
ein Spital gebracht. Die Eltern flogen von
den Falkland Islands nach Ascension, von
dort nach London und dann hinunter
nach Cape Town. Doch die Reise hatte
Danni zu sehr geschwächt; sie starb zwei
Wochen später. Begraben wurde sie in der
Heimat, auf dem Friedhof neben der kleinen Kathedrale des Heiligen Paul.
In der Nähe der Kathedrale befindet sich
das Studio von Radio St. Helena, einem
von der Regierung finanzierten Sender.
Der für die täglichen Lokalnachrichten
zuständige Redaktor Jeremy findet kaum
Stoff für seine Sendungen. Mal ist ein
Hund entlaufen, mal wird ein Besucher
interviewt. «Frustrierend.» Und die Kleinräumigkeit der Insel habe noch andere
Nachteile: «Du darfst keine Kontroversen
auslösen. Wenn du jemanden gegen dich
aufbringst, wird das Arbeiten schwierig –
du bist auf alle angewiesen.» Offiziell gibt
es keine Zensur, aber als Jeremy einmal
einen kritischen Bericht über das Erziehungswesen ausstrahlte, kriegte seine
Frau, die als Lehrerin arbeitet, Probleme.
Jeremy ist halb Saint, halb Engländer. Er
kam 1982 her und will bleiben. «Es gibt hier
so vieles, was man anderswo vermissen
würde. Das langsame Tempo. Man kann
mit allen ins Gespräch kommen. Wenn
meine Kinder draussen sind, brauche ich
keine Angst zu haben, dass ihnen etwas
geschieht.» Eine schöne Insel, gut. Aber
wie weiter? «Der Flughafen ist der Schlüssel in die Zukunft. Kein Unternehmen, das
sich selber ernst nimmt, wird in St. Helena
investieren, solange das Schiff die einzige
Transportmöglichkeit bleibt. Einmal Post
alle fünf Wochen!» Jeremy ist Realist. Er
weiss, dass auf St. Helena niemals Massentourismus einsetzen wird. «Aber es gibt
50’000 Menschen auf der Welt, die einen
persönlichen Bezug zur Insel haben – die
hier geboren wurden, deren Verwandte
hier leben und so weiter. Sie würden herkommen, wenn sie nicht derart viel Zeit
und Geld in die Anreise investieren müss-
ten.» Das Argument mit den fehlenden
Stränden lässt Jeremy nicht gelten. «Ja, St.
Helena ist kein Badeparadies. Aber Ascension könnte eines sein. Man müsste ein
Insel-Package anbieten – mit dem Flughafen wäre es möglich, auf Ascension zu
baden und St. Helena für zwei oder drei
Tage zu besuchen.» Doch der Weg zu Veränderungen sei steinig. Die Alten hätten
Angst vor den Konsequenzen eines Flughafens. «Aber die Jungen wissen, dass er
ihre einzige Chance ist.»
town, in der sie ein Café betreibt, im Minutenrhythmus mit ihrem grollenden Lachen. Doch auch sie, die sich hier offensichtlich wohl fühlt, wünscht sich, endlich
wegzukommen von der Insel; die meisten
ihrer Kinder und Grosskinder sind fort,
arbeiten auf Ascension oder haben nach
England geheiratet. «Aber weisst du, die 40
Pence, die du mir für den Kaffee schuldest, sind für mich bereits viel Geld. Wie
soll ich da 1’000 Pfund für die Reise aufbringen?»
Wir fahren nach Longwood – zu jenem
Haus, in dem Napoleon länger residierte
als in jedem anderen, zu jenem Haus, in
dem er an der Isolation verzweifelte, in
dem er resignierte und starb. 1858 kauften
die Franzosen das Gebäude den Engländern ab, seither weht die Tricolore im gepflegten Garten. Das Haus wurde so hergerichtet, wie es während Napoleons Exil
aussah. Man kann kaum begreifen, weshalb der Verbannte derart litt; die Lage ist
hübsch, die Residenz gefällig. Gut, die teilweise winzigen und meist dunklen Räume
vermögen mit dem Spiegelsaal von Versailles nicht ganz mitzuhalten. Und Tracey
erklärt, dass die Bäume um das Anwesen
jüngeren Datums seien und die ewige Brise, der Nebel und die Luftfeuchtigkeit das
Leben in der Tropenschwüle einst sehr
unangenehm gemacht habe. Aber trotzdem: Gleich daran zugrunde gehen? Napoleon war kein Saint. Die meisten Engländer, die auf der Insel einen Vertrag
erfüllen – als Lehrer, Ärzte, Beamte –, sind
froh, dass ihr Exil zeitlich begrenzt ist.
Nach zwei Jahren haben die meisten genug von der permanenten Schläfrigkeit.
Doch dem französischen Konsul, der bei
Longwood lebt – ein begnadeter Blumenmaler –, scheint es zu gefallen; sein Vater
vertrat hier schon während etwa vierzig
Jahren die République.
Abfahrt, endlich heim. Wir blicken vom
Schiff aus auf die Insel im Abendlicht.
Schön. Schön schroff. Unzählige Arbeiter
bringen unzählige Container. Es gibt keine Hektik. Die Abfahrt verzögert sich um
eine Stunde. Die Abschiede, die wir gesehen haben, waren kurz. Die Absenzen
werden lange sein. Wer wegkommt, der
kehrt nicht so schnell zurück. Selbst wenn
er wollte.
Mittwochmorgen auf der Veranda des
Consulate-Hotels. Qualmende und stinkende Lastwagen tuckern vorbei, prallvoll
mit Fracht aus dem RMS. Ein Berg von
Margarine, ein Berg von Haushaltspapier.
Auf jedem Laster ein halbes Dutzend
Männer.
Der letzte Kaffee bei Dot, dem Inseloriginal. Die 66-Jährige hat acht Kinder grossgezogen, «und ich kann dir sagen, keines
davon ist ein Narr geworden». Sie kennt
jedes Gerücht beim Vornamen und erschüttert die kleine Markthalle in James-
Eine Reise nach
St. Helena?
St. Helena verfügt über keinen Flughafen und
kann nur mit dem RMS St. Helena erreicht
werden. Das Schiff pendelt praktisch ununterbrochen zwischen Cape Town, St. Helena,
Ascension, Teneriffa und Cardiff. Zusteigemöglichkeiten bestehen in all diesen Häfen.
Der Insel am nächsten liegen Cape Town und
Ascension. Der Flughafen von Ascension wird
militärisch genutzt, doch befördert die Royal Air
Force auch Zivilisten ab Brize Norton bei
Oxford. Selbst auf diesem schnellsten Weg benötigt man für einen kurzen Besuch von St.
Helena alles in allem drei Wochen. Und günstig
ist die Reise nicht – der Minimalpreis beläuft
sich auf 4’500 Franken.
Der einzige schweizerische Anbieter von Individualreisen nach St. Helena ist Xanadu Travel in
Weggis. Urs Steiner, der Inhaber des kleinen
Reisebüros, ist ein leidenschaftlicher St.-Helena-Fan, der mit seiner Familie schon einige
Monate auf der Insel verbrachte.
Kontakt: [email protected]
Tel. 041/390’26’82.
Nachtrag: Die Schiffsreise zurück verlief
ruhig, auch diesmal kreuzte kein Eisberg
unseren Weg. Wir schwammen mit dem
Strom, was immer vorzuziehen ist, wenn
man seine Ruhe will.
Der französische Fotograf Jacques
Alliod, 57, lebt und arbeitet in
München.
Noch mehr von St. Helena?
Schauen Sie nach unter
www.hangar21.ch.